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Kosmopolitische Solidarität

Serhat Karakayali

/ 15 Minuten zu lesen

Bei dem Wort Solidarität denken nicht alle an dasselbe: Manchen mag der "Solidaritätszuschlag" in den Sinn kommen, mit dem seit knapp 20 Jahren die Folgekosten der Zusammenführung zweier deutscher Staaten finanziert werden; andere erinnern sich dagegen an die ein oder andere Parole, die sie vielleicht selbst auf Demonstrationen riefen oder noch rufen. Das ist zunächst nicht weiter erstaunlich. Es gehört zum Kanon des postmodernen Denkens, dass der mögliche Sinn von Zeichen und Symbolen sich niemals vollständig fixieren lässt. Es ist freilich kein Zufall, dass dies vor allem auf jene Begriffe und Zeichen zutrifft, mit denen wir die Modalitäten unseres politischen Gemeinwesens bezeichnen und damit zugleich gestalten. Begriffe wie Freiheit, Revolution oder Demokratie sind daher, wie der Politikwissenschaftler Ernesto Laclau schrieb, "leere Signifikanten". Solche leeren Signifikanten sind dadurch gekennzeichnet, dass ihnen ein stabiler Bedeutungsinhalt entzogen ist. Auch für den Begriff der Solidarität lässt sich eine solche Uneindeutigkeit beobachten. Daraus ließe sich auch folgern, dass politische Begriffe beliebig "mit eigenen Botschaften" füllbar sind. Aus der von Laclau vertretenen hegemonietheoretischen Perspektive wäre demgegenüber einzuwenden, dass es zu verstehen gilt, weshalb sich verschiedene Inhalte gerade in einem gemeinsamen Begriff verdichten.

Anstatt diese Uneindeutigkeit als Folge mangelnder Präzision bei der Begriffsarbeit abzutun, sollte man sie eher – wie bei anderen wichtigen politischen Begriffen – als Indiz für einen Konflikt oder eine Spannung im Herzen des modernen Gemeinwesens interpretieren, eine Spannung, die sich im Rahmen einer gewissen Problematik abspielt, welche die Randbedingungen des Begriffs liefern: Allgemein beschreibt der Begriff nämlich ein prinzipiell – wenn auch nicht immer faktisch – wechselseitiges füreinander Eintreten von Individuen und Kollektiven, in materieller, politischer oder sozialer Hinsicht, mit dem auch der Vereinzelung oder Atomisierung der Individuen in der Moderne entgegengewirkt werden soll.

Zur Begriffsgeschichte

Bevor wir uns mit den verschiedenen Dimensionen dieses Konflikts und seinen Verlaufsformen beschäftigen, ist ein kurzer begriffsgeschichtlicher Blick hilfreich. Die allgemein als Gründungsereignis der modernen bürgerlichen Gesellschaft angesehene Französische Revolution von 1789 brachte eine Parole hervor, in der das Wort Solidarität nicht vorkommt. Stattdessen wurde der Ausdruck "Brüderlichkeit" populär, als im Verlauf der Revolution die soziale Frage, vorangetrieben vor allem durch die Jakobiner, einen zentralen Platz im kollektiven Imaginären der Republik eroberte. Solidarität dagegen war ein Begriff, der damals noch stark mit dem Ancien Régime assoziiert war. Er bezeichnete eine Eigenschaft der Zünfte und religiösen Gemeinschaften, die mit zentralen Zielen der Revolution eher in Konflikt standen, nämlich die starke wechselseitig verpflichtende Bindung der Mitglieder an ihre Gemeinschaften.

Der moderne Solidaritätsbegriff entfaltete sich erst ein halbes Jahrhundert später, vor allem unter dem Einfluss der Arbeiterbewegung, die ihrerseits aus jenen Bruderschaften heraus entstanden war und an deren Erbe sie gewissermaßen anknüpfte. Die moderne Arbeiterschaft gilt einerseits als Erfinderin solidarischer Praktiken und wird andererseits mit einem ganz spezifischen Begriff von Solidarität in Verbindung gebracht: "Die Grundlage der Solidarität der Arbeiterschaft ist ihre soziale Nähe."

Die Solidarität von Menschen, die unter vergleichbaren Bedingungen leben, die sich also in verschiedenen Hinsichten "ähnlich" sind, hat der französische Soziologe Émile Durkheim als "mechanische Solidarität" bezeichnet. Die Unterscheidung zwischen dieser Form von Solidarität (die er traditionalen, segmentären Gesellschaftstypen zuschrieb) und einer "organischen Solidarität" (die für die ausdifferenzierten, arbeitsteiligen Gesellschaften der Moderne angemessener sei) gehört zum Standardrepertoire von Soziologievorlesungen im ersten Semester. Durkheims Vorschlag einer "organischen Solidarität", die auf dem Bewusstsein einer umfassenden Interdependenz der Individuen in einer Gesellschaft beruhen sollte, war die Antwort auf eines der Kernprobleme moderner Gesellschaften: "Wie geht es zu, daß das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt? Wie kann es zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer sein?"

Die politischen Revolutionen und die durch die Industrialisierung verursachten radikalen Umwälzungen der Lebensweisen hatten zur Auflösung der alten korporativen Strukturen und damit auch zum Verlust der sozialen Bindekraft geführt, für welche sie sorgten. So wurde im 19. Jahrhundert die soziale Ordnung zu etwas Problematischem. Dieses Problem war zugleich Geburtsstunde des soziologischen Denkens. Für den Zeitgenossen und Kollegen Durkheims, Ferdinand Tönnies, stellte sich diese große Transformation der sozialen Welt als die Durchsetzung eines neuen Typus von Beziehung, der "Gesellschaft" (Großstadt, Handel, Staat) dar, die er der im Schwinden begriffenen, historisch älteren Formen von "Gemeinschaft" (Nachbarschaft, Familie) entgegenstellt. In der Gemeinschaft fühlen sich nach Tönnies die Menschen einander verbunden, im Rahmen der Gesellschaft hingegen "bejahen" sie einander nur, insofern sie zueinander ein instrumentelles, ja von Konkurrenz geprägtes bis feindseliges Verhältnis eingehen.

Allerdings ist Tönnies’ Rhetorik eines "Verlusts" von Gemeinschaft, die für die späteren Kritiker der Moderne Pate steht, irreführend. Denn der Begriff der Gemeinschaft erlangt erst ab dem 19. Jahrhundert seine heutige Prägung: "Obwohl Sozialität schon immer bedeutete, in Gemeinschaft mit anderen zu leben, und daher die Frage des Zusammenhalts über alle Zeiten und Gesellschaftsepochen hinweg eine zentrale Rolle spielte, wird das Fortbestehen der Gemeinschaft offenbar erst mit der Durchsetzung der modernen Gesellschaft als Problem erkannt." Andere sprechen auch von einer "sozio-optischen Täuschung": Solidarität als neues, modernes Prinzip der Organisation von Verbundenheit sei eine Ausdifferenzierung älterer Formen von Gemeinschaft, werde aber auf die Vergangenheit insgesamt rückprojiziert. Solidarität und Gemeinschaft hängen nicht nur miteinander zusammen, weil beide in der Moderne zu raren Gütern deklariert werden, sie sind auch aus einem anderen Grund miteinander verschränkt. Solidarität als Form von Verbundenheit und gegenseitiger Hilfestellung erscheint wie ein Mittel, mit dem Gemeinschaftlichkeit hergestellt werden kann, oder es wird umgekehrt angenommen, dass Gemeinschaftlichkeit Voraussetzung für solidarisches Handeln ist.

Beide sind jedenfalls Chiffre für etwas, das sich mit dem berühmt gewordenen Diktum des Rechtstheoretikers Ernst-Wolfgang Böckenförde als Quelle oder Ressource gesellschaftlicher Beziehungen beschreiben lässt. Der Staat "lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann". Dieses Argument verweist auf ein Verständnis, wonach zwischen formalen und nicht formalen sozialen Beziehungen ein mindestens komplementäres Verhältnis besteht. Mit anderen Worten: Die Auflösung der Bindekräfte verlangt den nunmehr auf sich gestellten Individuen die reflexive (Re-)Konstruktion einer Sphäre nicht-vertraglicher Beziehungen ab – etwa durch das Engagement in Vereinen oder Klubs und eine insgesamt ausdifferenzierte bürgerliche Öffentlichkeit.

Auch heute noch wird in der Philosophie und in den Sozialwissenschaften diese Spannung zwischen nicht formalen Bindungen und abstrakten beziehungsweise formalen Formen des gesellschaftlichen Verkehrs diskutiert. Es gibt dabei allerdings unterschiedliche theoretische und disziplinäre Herangehensweisen. Im "Kommunitarismusstreit" beispielsweise werden vor allem rechts- und moralphilosophische Argumente vorgetragen, in der Debatte um Biopolitik handelt es sich hingegen um eine gesellschafts- beziehungsweise kapitalismustheoretische Problematisierung.

Solidarität durch Verfahren oder republikanische Solidarität?

Der "Kommunitarismusstreit" entzündete sich an der Gerechtigkeitstheorie des Philosophen John Rawls. Rawls hatte den Kern der Idee der Gerechtigkeit an den Begriff des autonomen Individuums gekoppelt. Er verteidigte zwar den Sozialstaat, das Begründungsmuster dafür war jedoch rein formal und, mit Kant gesprochen, "verstandesmäßig". Ähnlich wie andere liberale Theoretiker, etwa Richard Rorty, plädierte Rawls für eine deontologische Theorie der Politik, in der Themen wie Arbeit, Produktion, Geschlechterverhältnisse, Rassismus und Begehren nicht berücksichtigt werden sollten; das heißt, dass das handelnde Subjekt als rein formales und nicht als in sozialen Beziehungen situiertes gedacht werden sollte.

Kritiker wie Charles Taylor argumentierten nun, dass diese liberale Position Freiheit nur als "negative Freiheit" zu fassen vermöge. Weil andere Individuen nur als potenzielle Hindernisse und die Gesellschaft als ganze nur als allgemeiner Referenzrahmen für die individuellen Ziele gesehen werden, könne soziale Solidarität gar nicht gedacht werden: Wenn alle nur ihre eigenen Zwecke verfolgen, sich also niemand für die Belange der anderen oder des Ganzen einsetzt, drohe im Grenzfall der Zusammenbruch der Gesellschaft selbst.

Problematisch an der Position der Kommunitaristen ist indes, dass ihr Begriff von Solidarität zwar – mit Verweis auf Aristoteles’ Bestimmung des Menschen als gemeinschaftlichem oder sozialem Lebewesen (zoon politikon) – das Leitbild eines atomistischen Individuums verwirft, dafür aber das Gemeinschaftliche substanzialisiert. Ein typisch kommunitaristisches Argument wie das von Alisdair MacIntyre, für eine rein formale Idee von Gesellschaft zöge niemand in den Krieg, veranschaulicht dies genauso wie Taylors Konzept einer "republikanischen Solidarität", die er an die Vorstellung einer geteilten Vergangenheit und eines gemeinsamen Schicksals knüpft. Solidarität wird hier als etwas verstanden, mit dem der Individualismus nur vermittelt durch überindividuelle Wesenheiten wie etwa die "Nation" überwunden werden kann.

Diese (überindividuelle) Bezugsebene ist aus kommunitaristischer Perspektive nötig, um dem Utilitarismus des atomisierten Individuums etwas entgegenzusetzen, das durch individuell-egoistische Zwecke nicht herstellbar ist. Aus der Beobachtung, dass das Individuum immer in einen sozialen Kontext eingebettet ist, folgert etwa Taylor, dass dieser historische Kontext für die jeweiligen Individuen auch unhintergehbar ist. Die kulturellen Grundlagen der Solidarität werden so zu Grenzen der Solidarität, was insbesondere im Kontext der Debatte um postnationale Staatsbürgerschaft und Multikulturalismus in den USA in den 1980er und 1990er Jahren deutlich wurde. Die Menschen seien, so die Annahme, nur zu Verfahren der materiellen Solidarität bereit, wenn sie sich einander auch verbunden fühlten. Das Verbundenheitsgefühl aber wiederum sei ein kulturelles und historisches, das durch die prozeduralen Verfahren moderner Demokratien nicht herzustellen sei.

Solidarität durch Arbeit?

Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive rekurrieren sowohl der Individualismus und der auf ihn gründende Liberalismus als auch dessen kommunitaristische Kritik auf einen verkürzten Subjektbegriff. Während für die Liberalen das Selbst als körperloses und abstraktes Subjekt seiner gesellschaftlichen Beziehungen entleert ist, ist es im Kommunitarismus derart radikal situiert, dass es als Anhängsel der Gemeinschaft, buchstäblich einer Nation, erscheint. Diese Spaltung könnte man als Effekt jener eingangs erwähnten Spannung deuten, die sich mit der Moderne wenn nicht erst entfaltet, so doch radikalisiert. Dass Individuen überhaupt als solche, monadisch angelegte letztinstanzliche Entitäten auftreten, wird von den Kommunitaristen vor allem als ideologisches Problem gedeutet: das einer Verkennung der kommunitären Situiertheit des Einzelnen beziehungsweise der Verbreitung liberaler Ideologien.

Demgegenüber ist es hilfreich, auf den Titel der Arbeit Durkheims zu verweisen, "Über die Teilung der sozialen Arbeit", der zumindest daran erinnert, mittels welchen Mediums die Menschen gesellschaftliche und zugleich gemeinschaftliche Beziehungen zueinander eingehen, nämlich der Arbeit als Produktion und Reproduktion der mittelbaren und unmittelbaren Bedingungen menschlichen Lebens.

Die zunehmende Arbeitsteilung kann man sicherlich unter der Perspektive der Zerstörung des sozialen Bandes, der Anonymisierung und Urbanisierung oder der Ausdifferenzierung von Rollen und Lebensstilen betrachten. Man kann die Arbeitsteilung aber auch kapitalismustheoretisch verstehen als die Aneignung und Subsumtion lebendiger Arbeit unter die politische und ökonomische Kontrolle kapitalistischen Eigentums. In der jüngeren Debatte wird dieser Komplex mit Begriffen wie "Landnahme" (etwa bei David Harvey oder Klaus Dörre) oder als "reelle Subsumtion" diskutiert und mit dem Foucaultschen Begriff der "Biopolitik" verknüpft. Vorannahme dieses Ansatzes ist, dass die gesellschaftlichen Beziehungen eben nicht zuvorderst vertragliche oder formale sind, sondern solche der Kooperation durch Arbeit. Das Verhältnis der verschiedenen Formen von Sozialbeziehungen und deren jeweiliges Gewicht werden als Folge einer fundamentalen Entfremdung der Produzenten verstanden, deren Kooperativität zunehmend unter die Anforderungen marktlich vermittelter Profitabilitätserwartungen gestellt wird. Mit anderen Worten: Die Menschen stellen die Welt beständig durch ihre Kooperationen (ihre Arbeit) her, verfügen aber nicht über diese Kooperation.

Plausibilisiert wird diese These durch eine historische Beobachtung. Wurden anfangs die Produkte handwerklicher oder manufaktureller Arbeit nachträglich und gleichsam äußerlich kapitalisiert, dem Kapital also "formell subsumiert", so bedeutete dies noch keine Veränderung des Arbeitsprozesses selbst. Mit dem zunehmenden Einsatz wissenschaftlicher Erkenntnisse im Produktionsprozess verwandelte sich die Arbeit jedoch: Sie transformierte sich von einer individuellen zu einer genuin gesellschaftlichen Aktivität, in die schließlich alle möglichen menschlichen Verkehrsformen, Praktiken, Kooperationen und Wissen selbst einfließen.

Entscheidend für die gesamte Argumentation ist aber, dass gesellschaftliche Beziehungen als Produkt und Ergebnis von Arbeit verstanden werden. Lebendige Arbeit meint nämlich nicht nur Lohnarbeit, sondern Arbeit wird als "gesellschaftliche Arbeit" verstanden, als materielle und immaterielle und schließlich auch affektive Produktion sozialer Beziehungen, die teils ökonomisch verwertet werden, teils sich aber eher als Randbedingungen der ökonomischen Produktion darstellen.

So ist auch der Umstand zu interpretieren, dass Solidarität – was in der wissenschaftlichen Literatur ständig erwähnt, aber nie problematisiert wird – immer empfunden wird. Solidarisches Empfinden ist dann affektive Arbeit an alternativen Modellen des Gemeinschaftlichen. Solidarität ist aus dieser Perspektive nicht die Wiederherstellung einer verlorenen historischen Form von Gemeinschaftlichkeit, die im Gegensatz zur Arbeitsteilung steht. Vielmehr reflektiert Solidarität die materiellen Bedingungen, unter denen Individuen immer schon Anteil an der Gesamtheit der gesellschaftlichen Wirklichkeit haben.

Nächstenliebe oder Fernstenliebe?

Eine der Hauptsorgen der Theoretiker der Solidarität ist deren Reichweite. Mit wem können wir überhaupt solidarisch sein, wer kommt in den "Genuss" solidarischer Beziehungen? Die Mehrheit in den Sozialwissenschaften und der Philosophie ist in dieser Frage eher nüchtern. Solidarität, so die allgemeine Einschätzung, könne man in der Regel nur für eine überschaubare Gruppe aufbringen. Für die Angehörigen meiner eigenen Gruppe könne ich Solidarität empfinden, so Taylor etwa, für Menschen in anderen Ländern allenfalls Altruismus. Ähnlich sieht es der Soziologe Robert Putnam, für den Solidarität mit weiter entfernten Gruppen und Gemeinschaften nur gelingen kann, wenn diese auf der Ebene der Binnengruppe bereits vorhanden ist.

Die sozialwissenschaftlichen und philosophischen Traditionen scheinen sich darin weitgehend einig zu sein, dass Solidarität wie ein Haus zu denken sei. Das Fundament oder Erdgeschoss stelle die Primärgemeinschaft dar, auf das man optional ein zweites Geschoss bauen und von dem aus man sich dann erst den "Fremden" zuwenden könne. Dies erscheint auf den ersten Blick plausibel, diente als Argument in der US-amerikanischen Debatte um Multikulturalismus und wird auch in der hiesigen Debatte um Multikulturalismus gern bemüht.

Gegen eine solche Konzeption können zweierlei Argumente angeführt werden. Das eine bezieht sich auf das Verhältnis von institutionalisierten Formen der Solidarität und der Konstitution der Primärgemeinschaft. Denn nationale Kollektive entstehen nicht naturwüchsig, sondern sind Produkte politischer und hegemonialer Projekte, die schließlich in der Form des Nationalstaats stabilisiert werden. Im Rahmen dieses Prozesses entstehen Institutionen der sozialen Solidarität, die dann national kodiert werden.

Beispiele hierfür sind die Verschränkung sozialer Rechte mit nationaler Staatsbürgerschaft oder die Tatsache, dass Gewerkschaften die Interessen der Arbeiterschaft mit Strategien der Verknappung innerhalb eines nationalen Raums verfolgen. Beides führt demnach eher zu einer strukturellen Xenophobie, da nun alle, die "von außen" (etwa in den Arbeitsmarkt) kommen, die Löhne "drücken" und damit den Lebensstandard derjenigen bedrohen, die bereits Teil des nationalen Kollektivs sind. In unserem Beispiel führt das etwa dazu, dass die Arbeiterbewegung vor dem Widerspruch steht, einerseits internationale Solidarität zu proklamieren und gleichzeitig die Interessen derjenigen zu vertreten, die gerade kein Interesse daran haben, dass die Grenzen des Arbeitsmarkts überschritten werden.

Vieles scheint also gegen einen emphatisch universalen Begriff von Solidarität zu sprechen. Wie sollen wir dann aber den Einsatz und das Engagement so vieler erklären, die sich für so etwas wie internationale Solidarität, für die Rechte und die Kämpfe von Minderheiten und anderen eingesetzt und dies nicht unbedingt auf der Grundlage einer solidarischen Primärgemeinschaft getan haben? Ihre Solidarität mit "den Anderen" scheint keinerlei Grundlage zu besitzen.

Das zweite Argument ist eine Art Umkehrung von Ansätzen, in denen die Abgrenzung von "den Anderen" Gemeinschaft stiftet (entweder indem "der Andere" uns am "Genießen" hindert oder als Sündenbock fungiert). Diesem Argument nach äußert sich in der Beziehung zu den Minderheiten eine "kommende Gemeinschaft". Das Argument stützt sich auf die gesellschaftstheoretischen Überlegungen der französischen Denker Gilles Deleuze und Félix Guattari, die dabei unter anderem mit dem von Friedrich Nietzsche geborgten Begriff der "Fernstenliebe" arbeiten. Den "Fernsten" zu lieben, meint bereits bei Nietzsche nicht nur die geografische Entfernung, sondern sich in Beziehung zu bestimmten Elementen der kollektiven Existenz zu setzen, die minoritär sind und sich damit dem Moment der rechtlichen, staatlichen und herrschaftlichen Fixierung des Kollektivs entziehen.

Dieses Argument verweist auf die Idee einer prinzipiellen Unabschließbarkeit einer politischen Gemeinschaft: Diese sei niemals vollständig, sondern "unvollendet, konfliktträchtig, dem Eindringen des Anderen ausgesetzt, das sie benötigt, um sich zu konstituieren". Die Geschichte der Gemeinschaften ist eine ihres Werdens, der Suche nach Identität, die in der Geschichte der Revolten, Aufstände und Gehorsamsverweigerungen zum Ausdruck kommt. In dieser repräsentieren Minderheiten oder "Andere" nicht nur die Schließungen des Gemeinwesens, indem sie zu Objekten der staatlichen Gewalt werden.

Das wird immer dann deutlich, wenn sich große soziale Bewegungen nicht im Namen der "eigenen Interessen" formieren, sondern um anderer Willen, etwa im Protest gegen den Krieg in Vietnam in den 1960er Jahren, den zahlreichen Solidaritätsbewegungen gegen Diktaturen in Südeuropa oder in der "Dritten Welt" sowie im Widerstand gegen den Kolonialismus. Mehr noch: Sich die "Sache der Anderen" zu eigen zu machen, ist nicht nur Effekt der Unabschließbarkeit der Gemeinschaft, es geht auch darum, dass das Minoritäre und "Andere" stets ein Moment der Beschleunigung, des sozialen Wandels und der Dekomposition innerhalb eines sozialen Gefüges bewirkt.

Es ist sicher kein Zufall, dass in der Kulturindustrie und im neueren Diskurs um kulturelle Vielfalt "Migration" oder "Migrationshintergrund" bereits per se mit Lebendigkeit identifiziert wird – nicht weil Migrantinnen und Migranten kreativer sind, sondern weil mit der Migration (und mit vielen anderen vergleichbaren Prozessen der Beschleunigung des Sozialen) festgefügte Identitäten, kulturelle Codes und Lebensweisen in Bewegung geraten. Genau dieser Prozess findet in der modernen Gesellschaft unablässig statt, hier werden die kulturellen und sozialen Überschüsse hergestellt und schließlich ökonomisch verwertet. Dies betrifft nicht nur die Migration, sondern alle Bereiche, die in Bewegung gebracht werden.

Solidarität mit den "Anderen" statt den Ähnlichen, den Fernen statt den Nahen ist so gesehen weder multikulturalistische Überforderung noch moralisches Gebot, sondern genau umgekehrt: Erst mit dem Verlassen der engen Grenzen der Gemeinschaft, vermittelt durch die Hereinnahme des "Anderen", gelingt die Herausbildung einer genuinen, weil kosmopolitischen Bürgerschaft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Claudia Fraas, Karrieren geschichtlicher Grundbegriffe, in: Gudrun Loster-Schneider (Hrsg.), Revolution 1848/49, St. Ingbert 1999, S. 13–39.

  2. Karl Otto Hondrich/Claudia Koch-Arzberger, Solidarität in der modernen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1992, S. 30.

  3. Vgl. Émile Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977.

  4. Ebd., S. 82.

  5. Vgl. Faksimile der Originalausgabe von "Gemeinschaft und Gesellschaft" im Deutschen Textarchiv, Externer Link: http://www.deutschestextarchiv.de/toennies/gemeinschaft/1887/viewer/image/9 (26.2.2013).

  6. Lars Gertenbach et al., Theorien der Gemeinschaft, Hamburg 2010, S. 31.

  7. K.O. Hondrich/C. Koch-Arzberger (Anm. 2), S. 11.

  8. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt/M. 1976, S. 60.

  9. Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975.

  10. Deontologische Theorien beschreiben Handlungen unabhängig von ihren Konsequenzen als ethisch gut oder schlecht.

  11. Vgl. Alisdair MacIntyre, Ist Patriotismus eine Tugend?, in: Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, Frankfurt/M. u.a. 1993, S. 84–102.

  12. Vgl. Kurt Bayertz, Solidarität: Begriff und Problem, Frankfurt/M. 1998, S. 15.

  13. Vgl. Klaus Dörre, Kapitalismus, Beschleunigung, Aktivierung, in: ders./Stefan Lessenich/Hartmut Rosa, Soziologie. Kapitalismus. Kritik, Frankfurt/M. 2009.

  14. Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri, Die Arbeit des Dionysos, Berlin 1997.

  15. Vgl. Thomas Atzert et al. (Hrsg.), Empire und die biopolitische Wende, Frankfurt/M. 2007.

  16. Jede Form der sozialen Beziehung, die Gesellschaft macht, dient letztlich der Produktion von Reichtum. Es wird also nicht zwischen produktiven und unproduktiven Tätigkeiten unterschieden, sodass Arbeit in diesem Verständnis nicht nur von denjenigen verrichtet wird, die einen Arbeitsplatz "haben". Michael Hardt und Antonio Negri verwenden hier (vermittelt über die Lesart von Gilles Deleuze, Die Falte, Frankfurt/M. 1995) ein Argument des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz: Durch die Verbindung des Prinzips des zureichenden Grundes mit dem Prinzip der Kausalität enthält eine Substanz bei Leibniz nicht nur alle ihr zugehörigen, sondern eine unendliche Menge von Prädikaten, alles nämlich was ihr "widerfährt" und damit schließlich die gesamte Welt. Deshalb ist in jedem einzelnen Arbeitsvermögen alles enthalten, was in einer unendlichen Kette von Kausalitäten dessen Existenz ermöglicht.

  17. Vgl. für die überaus aufschlussreiche Diskussion des Begriffs des Besitzindividualismus: Étienne Balibar, Gleichfreiheit, Frankfurt/M. 2012, S. 121–170.

  18. Vgl. K. Bayertz (Anm. 12), S. 17.

  19. Laut Lars Gertenbach et al. führen allem Anschein nach "starke Solidarbeziehungen und soziale Banden in einer ‚Primärgemeinschaft‘" eher dazu, "sich Fremden gegenüber vertrauensvoll zu öffnen"; sie sehen aber auch das Problem rassistischer Gemeinschaften. Vgl. L. Gertenbach et al. (Anm. 6), S. 110.

  20. Vgl. Will Kymlicka, Multicultural Citizenship, Oxford 1995.

  21. Vgl. Serhat Karakayali, Vom Staat zum Lager: von der Biopolitik zur Biokratie, in: Daniel Loick (Hrsg.), Der Nomos der Moderne, Baden-Baden 2011, S. 59–76.

  22. Außer im Motiv einer Vereinnahmung und Verwertung des Anderen, wie Moritz Ege nahelegt: Moritz Ege, Schwarz werden: "Afroamerikanophilie" in den 1960er und 1970er Jahren, Bielefeld 2007.

  23. Vgl. Slavoj Žižek, Genieße deine Nation wie dich selbst, in: Joseph Vogl (Hrsg.), Gemeinschaften, Frankfurt/M. 1994.

  24. Vgl. René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt/M. 1992.

  25. Vgl. Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, Berlin 2003.

  26. Vgl. etwa die Überlegungen zur Rolle von Minderheitensprachen und deren transformative Kraft für sich verändernde Gemeinschaften: Gilles Deleuze/Félix Guattari, Kafka, Frankfurt/M. 1976.

  27. É. Balibar (Anm. 17), S. 245.

  28. Jacques Rancière, La cause de l’autre, in: ders., Au bords du politique, Paris 2004.

  29. Das sahen eine ganze Reihe von Soziologen des beginnenden 20. Jahrhunderts – von Max Weber über Robert Park bis Georg Simmel – ähnlich. Vgl. Robert Park, Human Migration and the Marginal Man, in: The American Journal of Sociology, 33 (1928) 6, S. 888; Dimitris Papadopoulos/Niamh Stephenson/Vassilis Tsianos, Escape Routes Control and Subversion in the Twenty-First Century, London 2008.

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Dr. phil., geb. 1971; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Adam-Kuckhoff-Straße 41, 06108 Halle/S. E-Mail Link: serhat.karakayali@soziologie.uni-halle.de