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Richard Wagner als politisches und emotionales Problem | Richard Wagner | bpb.de

Richard Wagner Editorial Lassen sich Werk und Künstler trennen? Wagners politisch-ästhetische Utopie und ihre Interpretation Richard Wagner als politisches und emotionales Problem Richard Wagners Antisemitismus Wagner und Verdi – Nationalkomponisten oder Europäer? Wagner-User: Aneignungen und Weiterführungen Zu den politischen Dimensionen von Musik

Richard Wagner als politisches und emotionales Problem

Sven Oliver Müller

/ 17 Minuten zu lesen

Nur der Mensch Richard Wagner starb 1883 an einem Herzinfarkt – nicht das Phänomen und das Problem Wagner. Seine Faszination hat mehr Menschen in Deutschland angezogen als seine Fragwürdigkeit abgeschreckt. Sicher scheint, dass die widersprüchliche Rezeption Wagner am Leben hält. Er ist vielleicht der einzige Komponist, über den die deutsche Gesellschaft bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist. Um Wagner gab es keinen Frieden, weil zahlreiche Musikfreunde, darunter große Teile der Elite in der deutschen Gesellschaft, keine Ruhe vor ihm haben wollten. Aus kulturhistorischer Perspektive gewann Wagner seine Bedeutung nicht nur durch die Reproduktion seines Werkes, sondern auch durch die einzigartige Figur des Komponisten – genauer: im öffentlichen Umgang mit dieser durch Regierungen, Institutionen, Medien und Publikum. Seine Aneignung lässt sich als eine Form der Politik mit kulturellen Mitteln verstehen.

Die "postume Karriere" Wagners im 20. Jahrhundert ist ein Ausdruck der gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland. Friedrich Nietzsche nannte das zu seiner Zeit den "Fall Wagner". Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ist Wagners Werk fester Bestandteil des musikalischen Repertoires in Deutschland. Monarchen und Politiker, Hörer und Intendanten, Künstler und Journalisten – sie alle ließen in ihrem Interesse für Wagners Musikdramen nie nach. Seine Präsenz in der deutschen Öffentlichkeit bis in die Gegenwart hinein ist erstaunlich und letztlich rätselhaft: Warum veränderten sich die Interpretationen von Richard Wagners künstlerischem Werk so häufig, aber seine politische und emotionale Präsenz so wenig in der an Umbrüchen reichen Zeit zwischen 1883 und 2013?

Die Aneignung seines Werkes stand in einem Wechselverhältnis von affirmativen Wiederholungen und kontroversen Neuschöpfungen. Vielleicht lag genau in diesem Spannungsverhältnis eine der Ursachen des Erfolgs. Der Wagner-Mythos hielt keine unverrückbaren Deutungen bereit, sondern funktionierte offenbar stets durch seine Vieldeutigkeit. Das Werk ließ sich nicht nur leicht weitererzählen, sondern auch den Veränderungen der deutschen Gesellschaft anpassen. Die historischen Versuche, den Rang Wagners und die Botschaft seiner Kunst trennscharf zu bestimmen und mithin für eine bestimmte Deutung zu vereinnahmen, sind jedoch allesamt gescheitert. Die Wagner zugeteilten öffentlichen Rollen folgten größtenteils dem Wandel der deutschen Gesellschaft – und triumphierten und scheiterten mit ihr. Die Wagner-Rezeption kann als eine Suche nach Gewissheit gegen Bedrohungen, Ängste und Unsicherheit gedeutet werden. In Wagners Werk lassen sich zentrale Merkmale des gesellschaftlichen Wandels erkennen, der nicht nur das 19., sondern auch das 20. Jahrhundert prägte: Herrschaft und Gewalt, Politik und Migration, soziales Wachstum und neue Unübersichtlichkeit.

Wer besitzt den "wahren Wagner"?

Verlässt man die Position der Werkimmanenz und blickt auf das Nachleben der Musikdramen in den Inszenierungen und beim Publikum, wird eines deutlich: Wagners Werk ist ästhetisch und politisch eine Herausforderung. Das spezifisch Politische an seinen Bühnenwerken ist, wenn nicht im Notentext und der Handlung, dann im interessengeleiteten Umgang damit zu erkennen. Diese Handlungsmacht des Publikums hat schon Friedrich Nietzsche erkannt und geurteilt, es sei "der Wagnerianer Herr über Wagner geworden".

Wagners Werk vermittelt keine verbindliche Weltsicht. Seine Botschaft bleibt deutungsoffen und unbestimmt. Genau das aber ermöglicht einen Blick auf die zahlreichen, oft widersprüchlichen Rezeptionsweisen. Die Frage nach der "richtigen" oder "falschen" Rezeption eines Wagner-Stückes führt nicht weit. Es gibt keinen abschließend zu bewertenden Wagner, keinen "wahren" Wagner, keine Deutung, der nicht widersprochen werden kann. Der Regisseur Heinz Tietjen hatte mit seiner Bayreuther Lohengrin-Inszenierung 1936 ebenso "recht" wie Christoph Schlingensief mit seinem Parsifal von 2004. Beide realisierten ein authentisches Stück originären Wagnertums.

Im Zusammenhang mit Richard Wagner haben Emotionen stets eine soziale Dimension, die einerseits dem individuellen Empfinden eine besondere Relevanz verleiht und andererseits immer wieder auf Wagner zurückstrahlt. Die Musik, die Sprache, die Handlung und die Bilder der einzelnen Musikdramen bewirken damals wie heute intensive und konfliktträchtige Gefühle. Auf Hass und Hingabe in der Wagner-Rezeption zu blicken, ist deshalb aufschlussreich, weil beide einerseits von einem Kontrollverlust zeugen, andererseits aber auch willentlich herbeigeführte Reaktionen waren, durch die sich bestimmte Interessen befriedigen ließen. Positiven Emotionen wie Stolz, Glück oder Rausch standen in der Wagner-Rezeption negative wie Wut, Scham oder das Gefühl des Verrats gegenüber. Wagners Werk bietet offenbar zu viel, als dass es emotional eindeutig begriffen werden könnte. Auch deshalb enthält es so zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten.

In der Rezeptionsgeschichte Wagners wird deutlicher als wohl bei jedem anderen Komponisten, dass Emotionen im Musikleben auch als Strategien der Macht eingesetzt werden können. Sie oszillieren dann oft zwischen spontaner Reaktion und ausgeklügelter Absicht. Die in der Öffentlichkeit agierenden "Wagnerianer" waren oft versierte Experten mit einer großen Sensibilität für emotionale Interpretationen und die zu erwartenden Reaktionen des Publikums. Die Emotionen ihrer Gegner waren ihnen nicht nur nicht fremd, sie nutzten diese auch, um die Wünsche und die Ängste der Gegner zu treffen, ja um die musikalisch "Ungebildeten" persönlich zu verletzen.

Man kann die Wagner-Rezeption zwischen dem Kaiserreich und der Bundesrepublik als eine Erregungsspirale bezeichnen. Damit ist nicht nur gemeint, dass sich die emotionalen Reaktionen auf die Musik, die Hörgewohnheiten und der Geschmack veränderten. Das Bild der Spirale kann auch das Phänomen beschreiben, dass die emotionale Bewertung Wagners in Deutschland mit der Zeit so wirkmächtig wurde, dass es leichter schien, sie immer weiter zu drehen, als sie zu durchbrechen. Die Benennung von Emotionen hatte immer neue Erregungen zur Folge.

Der Weg der emotionalen Deutungen und Umdeutungen Richard Wagners ist ein Weg voller Hindernisse und Fallen. Der Politikwissenschaftler Udo Bermbach stellt ganz zu Recht die Frage, ob es nicht angemessen wäre, von einer "schiefgelaufenen Rezeption" zu sprechen. Das bezieht sich nicht nur auf die nationalsozialistische Instrumentalisierung Wagners. Wahrscheinlich beging auch die demokratische Linke einen Fehler, indem sie bis in die 1960er Jahre hinein Wagner bereitwillig dem nationalistischen und rechtskonservativen Lager "überließ", ihn dann aber umso engagierter für sich beanspruchte. Was immer durch die Wagner-Rezeption des radikalen Nationalismus bis 1945 angerichtet worden war – nun spielte man unter grundlegend gewandelten politischen Strukturen in der Bundesrepublik und in der DDR dieselben Opern mit neuen ästhetischen und gesellschaftlichen Deutungen.

Die Uneinheitlichkeit der Wagner-Deutungen, die konkurrierenden Begründungen und die unterschiedlichen Praktiken derjenigen, die sich allesamt auf einen "wahren Wagner" beriefen, sind das bestechende Merkmal der Wagner-Rezeption. Wagners Erfolg liegt womöglich darin, dass sich die verschiedenen Erwartungen, Interessen, Verhaltensmuster und Konsumgewohnheiten im Umgang mit seinem Werk und Wirken trotz oder wegen ihrer Diversität immer wieder auf gemeinsame Nenner bringen ließen: auf Mythen, Nationalismen, Gefühle und nicht zuletzt auf das zum Guten oder Schlechten verklärte Genie. Im Konflikt lag immer auch eine Angleichung.

Diese Überlegungen sollen anhand von zwei Themenfeldern verdeutlicht werden, die den politischen und emotionalen Umgang mit Richard Wagner skizzieren: Zunächst wird auf die nationalistische Deutung Wagners bei der Bayreuther Aufführung der Meistersinger von Nürnberg 1924 verwiesen. Anschließend richtet sich der Blick auf den emotionalen Streit um die Bayreuther Ring-Inszenierung 1976 und auf den Kampf zwischen konservativen und politisch links stehenden Deutungen des Werkes.

"Die Meistersinger" als nationaler Fluchtpunkt

Den Meistersingern kommt eine besondere Rolle in der deutschen Wagner-Rezeption zu. Denn man kann von einer symbiotischen Beziehung zwischen der Geschichte der Aufführungen und der politischen und kulturellen Entwicklung in Deutschland reden. Diese Oper versinnbildlicht die Suche nach einer durch kulturellen Zusammenhalt ermöglichten politischen Einheit. In der Weimarer Republik reagierte das Publikum vor dem Hintergrund des verlorenen Krieges und der französischen Besatzung des Rheinlands gerade auf die antifranzösischen Schlussverse des Protagonisten Hans Sachs gegen "welschen Dunst mit welschem Tand" mit Zustimmung. Nach 1933 avancierten die Meistersinger schließlich zur offiziellen Festoper des nationalsozialistischen Deutschlands, etwa auf dem Parteitag der NSDAP 1935 in Nürnberg und bei den "Kriegsfestspielen" in Bayreuth 1943 und 1944.

Dabei wäre es falsch, in diesem Werk reine nationalistische oder gar nationalsozialistische Propaganda zu erkennen. Wagner entwarf vielmehr einen idealen deutschen Staat, der durch die "heilige deutsche Kunst" legitimiert werden sollte. Er hielt den "Volksgeist" für das Medium, durch das die Kunst das Nationalbewusstsein forme. Einiges spricht dafür, dass auch auf die Meistersinger vieles jenseits der Komposition Liegende projiziert wurde. In den 1920er Jahren verachteten viele Musikexperten die neue demokratische Gesellschaft und beriefen sich in ihren Schriften auf die Schlussansprache von Hans Sachs, weil ihnen die Kunst Wagnerscher Bauart eine problembefreite Zukunft in Aussicht stellte. Die Rezeptionsgeschichte der Meistersinger im 20. Jahrhundert ist Bestandteil des eigentlichen historischen Problems: der Frage nach einem möglichen Zusammenhalt zwischen den Rezeptionen vom Kaiserreich über die Weimarer Republik hin zum Nationalsozialismus.

1924 wurden die Bayreuther Festspiele nach einer durch den Ersten Weltkrieg bedingten zehnjährigen Pause wieder eröffnet. Endlich verfügte man wieder über die notwendigen finanziellen Mittel und das Personal. Im Zuschauerraum saß nun ein anders zusammengesetztes Publikum als in der Vorkriegszeit: Der Anteil der ausländischen Festspielgäste war zurückgegangen, stattdessen kamen mehr deutsche Beamte, Lehrer, Ärzte und Studenten. Außerdem zogen die rechtskonservativen Bekenntnisse des "Bayreuther Kreises" neue Besucher an. Das Festspielpublikum wurde sozial betrachtet immer kleinbürgerlicher und politisch gesehen immer rechtskonservativer.

Der offizielle Festspielführer demonstrierte seine Affinität zu Militarismus und Nationalismus des konservativen Lagers und erkannte in Bayreuth "eine deutsche Waffenschmiede". Das Titelbild zeigt ein erhobenes Schwert vor dem Hintergrund des Festspielhauses. Die gerahmte Inschrift verkündet: "Nothung!, Nothung, Neu und Verjüngt! Zum Leben weckt ich Dich wieder!" Der Kulturhistoriker Adolf Rapp steuerte einen Essay mit dem Titel "Wagner als Führer zu deutscher Art" bei. Der Leiter der Bayreuther Festspiele, Richard Wagners Sohn Siegfried, entschied sich dafür, das Haus mit den Meistersingern von Nürnberg neu zu eröffnen. Das Dirigat übernahm Fritz Busch. Zum Auftakt der Festspiele war der Hügel demonstrativ schwarz-weiß-rot geflaggt, vom Dach des Hauses bis zum Restaurant. Diese Farben versinnbildlichten die Sehnsucht nach dem verlorenen Deutschen Kaiserreich und waren ein Affront gegen die junge Republik. Auch in den folgenden Jahren wurde auf dem Grünen Hügel nicht die neue Nationalfahne gehisst, und die Spitzenpolitiker der Weimarer Republik blieben Bayreuth fern.

Siegfried Wagner polemisierte gegen den Niedergang der Kunstproduktion nach dem Ersten Weltkrieg: "Fanatisches Auge, aber keine Liebeskraft darin wie bei Hitler und Ludendorff. Romane und Germane! (…) Famose echte Rasse (…). Es ist schon trostlos, wie Deutschland herabgekommen ist!" So dachte wohl auch ein großer Teil der Festspielbesucher, denn bei der Premiere der Meistersinger am 22. Juli 1924 kam es zu einem nationalistischen Ausbruch: Bereits während des Schlussmonologs des Hans Sachs habe sich, so berichtet eine Freundin Siegfried Wagners, "das ganze Haus wie Ein Mann" erhoben "und hörte stehend den Schluß an, und zuletzt, nach endlosen brausenden Jubelstürmen, wurde noch das Deutschlandlied von allen gesungen". Viele beendeten die Vorstellung mit "Heil"-Rufen.

Der Kritiker der "Frankfurter Zeitung", Karl Holl, war sich nicht sicher, ob er die nationale Begeisterung des Publikums als spontane Tat positiv werten sollte oder als eine dunkle Entstellung der Kunst Richard Wagners, ausgelöst durch die emotionale Verwirrung nach der Niederlage des Krieges: "Wenn dann nach dem ergreifenden Schauspiel, das dem wirklich Hörenden die Rede verschlägt, das Deutschlandlied mehrstrophig abgesungen wird, weicht Begeisterung einem gelinden Erstaunen. Die anschließenden, auch bei späteren Aufführungen immer wiederholten oder doch versuchten Heilrufe aber öffnen (…) dem kritischen Beobachter vollends die Augen. Das also hat man aus dem Erbe des Länder und Herzen umspannenden Genies gemacht! Dies die gesinnungsmäßige Umstellung, die Bayreuth seit 1914 an sich vorgenommen hat." Zudem ärgerte sich Holl darüber, dass "auch von den Deutschen die geistig Freiheitsbedürftigen aus dem Wagnertempel fast gänzlich verschwunden sind. Das gesellschaftliche Bild zeigt eine breite Bürgerlichkeit, in der Vertreter der Großindustrie und des Feudalismus den Ton angeben und das Bayreuth hörige engere Akademikertum als kulturelles Bindeglied erscheint. Dazu ein paar ehemalige Herrscher und (in den Proben) der ehemalige Feldherr Ludendorff".

Am Ende ging diese öffentliche Selbstinszenierung der deutschen Nation wohl auch Siegfried Wagner zu weit, und in der folgenden Festspielzeit erklärte er per Aushang: "Das Publikum wird herzlich gebeten, nach Schluß der Meistersinger nicht zu singen. Hier gilt’s der Kunst!" Eine wiederkehrende Begründung: 1933 stand auf dem Programmzettel, dass der Reichskanzler Adolf Hitler im Interesse der Kunst Wagners keine Hochrufe im Haus wünsche; und 1951 wählten die Wagner-Enkel Wieland und Wolfgang dasselbe Motto der Meistersinger, um als erneuerte Demokraten die Festspiele von jedem Geruch des Politischen zu befreien. Im Bayreuther Kontext wirkten Leitmotive nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch.

Skandal um den "Jahrhundert-Ring"

Am 24. Juli 1976 hob sich der Vorhang zum Vorspiel des Rheingolds als Auftakt zu einer Neuinszenierung des Ring des Nibelungen. Es sollte der "Jahrhundert-Ring" zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Bayreuther Festspiele werden – wurde aber zunächst der Opernskandal des Jahrhunderts. Buhs und Bravos war das Haus mittlerweile gewöhnt, doch der Unmut, der sich in der ersten Festspielwoche des Sommers 1976 Bahn brach, war bis dato einzigartig. Mit Rufen und Pfiffen, Geschrei und Gelächter protestierten Teile des Publikums anhaltend gegen die Inszenierung des jungen französischen Regisseurs Patrice Chérau; mitgebrachte Trillerpfeifen, die wahrlich nicht zur Standardausrüstung der Festspielbesucher gehörten, demonstrierten die emotionale Erwartungshaltung und den organisierten Charakter dieses Protests. Am letzten Abend schließlich, zu Beginn des dritten Aufzugs der Götterdämmerung, schien es sogar, als müsse die Vorstellung abgebrochen werden, so ausladend und lärmend waren die Krawalle im Zuschauersaal. Der Kritiker Joachim Kaiser warnte die Zuhörer an den Radios angesichts der Lärmkulisse ironisch vor Fehlschlüssen: "Der letzte Akt der Götterdämmerung beginnt keineswegs mit Wutgeheul, sondern in F-Dur."

Glaubt man der durchaus sensationslüsternen Berichterstattung, setzte sich der Tumult in den Pausen fort und fand in hitzigen Diskussionen voller Schmähungen und Begeisterung (von "grandios" bis "Schweinerei") seinen Ausdruck. Ein Gast schrieb, er habe "in den Pausen (…) viele Äußerungen aufgeschnappt von Festspielbesuchern, was mit Herrn Chéreau und seinen Genossen zu geschehen hätte. Die Herren gehören aufgehängt, an die Wand gestellt, abgeknallt, umgelegt, gelyncht usw." Vor dem Festspielhaus kündeten Schilder und Plakate vom Protest: "Haltet Wagner rein" war darauf zu lesen, "Disneyland auf dem Grünen Hügel?" und "Verflucht sei dieser Ring".

Im Nachgang der Premierenwoche wurden Flugblätter und Schmähschriften gedruckt; ein Aktionsbündnis wurde gegründet; die Festspielleitung in Person von Wolfgang Wagner erhielt Ankündigungen von Mitgliedern der "Gesellschaft der Freunde von Bayreuth" und anderen Wagner-Verbänden, ihre Spenden zurückzuhalten, und Aufforderungen, das Amt niederzulegen; dem Regisseur wurde nahegelegt, sich "hinter den Vorhang" zurückzuziehen und sich "eine Kugel durch den Kopf" zu jagen. Das Ziel der sich als "Mehrheit der Wagner-Kenner" präsentierenden Gruppe der Gegner dieser Inszenierung wurde rasch deutlich: Die sofortige Absetzung der Neuproduktion.

Was ist dort auf der Bühne zu sehen und zu hören gewesen, das einen solchen Tumult auszulösen vermochte? Chéreau, der auf Empfehlung des bereits engagierten Dirigenten Pierre Boulez mitsamt seinem Bühnenbildner Richard Peduzzi und dem Kostümbildner Jacques Schmidt berufen wurde, war ein Theaterregisseur von 31 Jahren, der erst zwei Regiearbeiten in der Oper vorzuweisen hatte. Auf der Pressekonferenz der Festspiele bekannte er, sich mit Wagners Ring noch nie zuvor beschäftigt, ja, ihn noch nicht einmal auf der Bühne gesehen zu haben. Was die Zuschauer von diesem Team zu sehen bekamen, folgte nicht der verbürgten Bayreuther Tradition der "Originalität" von Wagner. Stattdessen öffnete sich der Vorhang über einer realen Welt voller menschlicher Schicksale. Der Rhein wogte nicht im Urzustand, sondern wurde durch den riesigen Staudamm eines Wasserkraftwerks als gezähmte Natur des industriellen Zeitalters gedeutet. Statt Fellen und Hörnern oder stilisierten Tuniken bestimmten Gehrock, Uniform und Smoking, Biedermeierkleid und Jugendstil-Interieur die Optik. Die Götter dieses Rings waren scheiternde Machthaber der Gründerzeit, die sich im Rheingold ihr in den Tiefen der Erde von Sklaven und Arbeitern geschaffenes Kapital erst hatten erobern müssen.

Der Protest der selbsternannten Retter Wagners hatte zwei Stoßrichtungen: zum einen die politische Diffamierung der "Gegner", zum anderen die auf emotionaler Kränkung basierende Selbstdarstellung. Der Chéreau-Ring war nicht nur die vielleicht politischste Deutung, die es je in Bayreuth gegeben hatte, der Skandal um die Inszenierung machte Richard Wagner und seine Festspiele wieder zu einem handfesten Politikum. Eklatant wie nie zuvor klaffte der für den "Fall Wagner" so charakteristische Widerspruch zwischen politischer Polemik und Anrufung politischer Autorität für die eigene Sache einerseits versus Negation jedweder politischen Bedeutung der Festspiele oder der Musikdramen Wagners andererseits. Diesen Ring könne man allenfalls als "sozialpolitisches Tendenztheater bezeichnen", hieß es. Die für diese Produktion Verantwortlichen könnten "aufgrund ihrer politischen Einstellung gar nicht anders (…) als aus jeder Inszenierung eine politische Demonstration zu machen". Dem Regieteam wurde jedwede künstlerische Intention abgesprochen: "Wer sich zum Marxismus bekennt, ist und bleibt Ideologe." Weiter hieß es daher auch: "Chéreau demonstriert hier allzu deutlich, daß es ihm ausschließlich um die Verunglimpfung unserer Welt geht, wobei ihm die Verfälschungen großer Kunstwerke doppelt nützlich sind." Die ironische Empfehlung, Pierre Boulez "hätte – vielleicht zusammen mit den Herren Stockhausen und Henze – eine eigene Musik dazu schreiben sollen", zielten nicht auf eine gemeinsame musikalische Sprache –, sondern gruppierte sie politisch "links". Die politische "Reinheit" der Inszenierung (die auch auf den Postern vor dem Festspielhaus gefordert worden war) erschien den Anhängern erstrebenswerter als eine kritische Auseinandersetzung mit der politischen Dimension von Wagners Werk.

Eine weitere Argumentationslinie schloss hier unmittelbar an, die politische Färbung wurde jedoch durch eine emotionale abgelöst. Das Verständnis Wagners könne nicht allein durch gründliches Studium erworben werden, sondern erst durch "richtiges" Empfinden. Die sich gegen den Chéreau-Ring erhebenden "Wagnerianer" verstanden sich auch als eine Gefühlsgemeinschaft: "Echte Wagnerianer haben eine bestimmte Antenne, ein ganz bestimmtes Gefühl, es werden ganz bestimmte Schwingungen des Nervensystems oder sagen wir auch der Seele hervorgerufen", erklärte der sich als Sprachrohr der Protestler produzierende Walter Just der Presse. Für diese "echten Kenner" erwies sich schon der Begriff der "Deutung" als abwegig, da "die Musik deutlich und ausschließlich sagt, was zu empfinden und zu fühlen ist". Gefühle wurden zu einem Besitz, sie waren gerade nicht mehr fluide, wechselhaft und subjektiv, sondern etwas von realer Substanz, über das nur die "echten Wagnerianer" wachten. Ekel und Neid standen als emotionale Negative den erhabenen eigenen Gefühlen des Genusses und der Freude gegenüber. Dass diese empfindsame Gemeinschaft auch sehr emotional auf die durch die Ring-Inszenierung erlebte Verletzung ihrer Gefühle reagierte, schien da nur konsequent: Die in den Schmähbriefen und -schriften zum Ausdruck gebrachte Stimmung war auch die von gedemütigten Opfern einer gezielten Provokation.

Die Auseinandersetzungen und Skandale um bestimmte Wagner-Produktionen offenbaren die Grenzen zwischen verschiedenen Wertesystemen, die zu den jeweiligen Zeiten durch die deutsche Gesellschaft verliefen und in expressiven Auseinandersetzungen um die Interpretationen des Wagnerschen Werkes ausgetragen und mitunter neu verhandelt werden konnten. Die emotional aufgeladenen Diskurse um Ehrerhalt und Ehrverletzungen, Schmach und Schande folgten zwei Deutungsmustern, in denen die Exegese der Interpretation gegenüberstand, das Wort der Vergangenheit den Bildern und Gefühlen der Gegenwart. Die Konflikte, die sich um diese Differenzen drehten, sind Kämpfe um eine Deutungshoheit des Werkes und seiner Geschichte – und vor allem, wer sie beanspruchen darf.

Wagner wird "normal"

Die Geschichte der Wirkung Richard Wagners in Deutschland kann helfen, wichtige Probleme der politischen und kulturellen Ordnung zu verdeutlichen. Vielleicht nirgendwo sonst stehen persönliches Musikempfinden und gesellschaftliche Deutungen von Kunstwerken in einem so engen Verhältnis. Daher lohnt es sich, bei der Betrachtung dieser Rezeptionsgeschichte über die künstlerischen Entwicklungen hinauszugehen und die Figur "Wagner" als ein Element der Geschichte der deutschen Gesellschaft zu begreifen. Vielleicht liegt auch darin der Erfolg Richard Wagners begründet, dass der Umgang mit ihm ein Bestandteil der Wandlungen, auch der sich wandelnden Selbstdeutungen der Deutschen im 20. Jahrhundert war. Die Geschichte der Wagner-Rezeption lässt sich daher schreiben als eine "musikalische deutsche Gesellschaftsgeschichte".

Richard Wagner wurde auch an der Wende zum 21. Jahrhundert nicht zu einem Komponisten wie alle anderen. Bis heute besteht eine hohe politische Sensibilität bei seiner Bewertung. In öffentlichen Zeremonien, in Programmheften, im Feuilleton oder in Schulbüchern kritisiert man die Wagner-Rezeption bis 1945 als eine nationalistische Fehlentwicklung. Sich mit Wagners Werk und Welt zu beschäftigen, war und bleibt daher immer mehr als ein unpolitischer Genuss und eine emotionale Laune. Es ist ein Aushandlungsprozess innerhalb der Gesellschaft. Die Rezeption Richard Wagners in Deutschland steht für die Macht nationaler Traditionen, für die kritische Neubewertung des Musiklebens und für dessen Verwandlung durch eine plurale, offene Gesellschaft. Beobachten lassen sich in diesem Aushandlungsprozess Konservatismus, zaghafte Erneuerungsversuche und rapide Brüche. Wagner hat nicht die Deutschen gemacht – es ist umgekehrt: Es sind die Hörer und Zuschauer, die Politiker und Journalisten, die aus Wagner das gemacht haben, was er wurde und was er heute ist. Richard Wagner ist all das, als was er angesehen wurde, sein Werk alles, was über 150 Jahre darauf projiziert wurde.

Auf der anderen Seite dieser Entwicklung ist zwar keine Entpolitisierung, aber doch ein wachsender Musikkonsum und eine neue Medialisierung zu erkennen. Seit etwa 25 Jahren beginnt Wagner in Deutschland "normal" zu werden. Denn mit der Pluralisierung der Deutungsangebote und der gleichzeitigen Fragmentierung der bürgerlichen Kultur schwand zwar nicht die politische Brisanz der Musik insgesamt, wohl aber die politische Brisanz der Kunstmusik. Sogar in die Welt des Breitensports findet seine Musik inzwischen Eingang. Eine CD mit dem Titel "Walking mit Wagner" (vgl. Abbildung in der PDF-Version) gibt dem sportlichen Zeitgenossen Ratschläge, wie das Anhören bestimmter Stücke des "Meisters" beim schnellen Gehen die Gesundheit und die Lebensqualität verbessert. Der Bogen auf dieser CD reicht vom "Warm Up" (Walkürenritt) bis hin zur "Relaxation" (Isoldes Liebestod). Auf der Hülle ist zu lesen: "Die wunderschönen Stücke auf dieser CD entstammen dem Werk des genialen Komponisten Richard Wagner (1813–1883). Wer den energiegeladenen und wohltuenden Klängen beim Walken in freier Natur lauscht, wird erstaunt sein, wie leicht der Boden unter den Laufschuhen wird." Vielleicht ist auch das ein Ergebnis der sich über die Jahrzehnte als gelungen erweisenden "Vergangenheitsbewältigung" der Deutschen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, Leipzig 1889. Vgl. Joachim Fest, Richard Wagner – Das Werk neben dem Werk, in: Saul Friedländer/Jörn Rüsen (Hrsg.), Wagner im Dritten Reich. Ein Schloß Elmau-Symposium, München 2000, S. 24–39; Peter Wapnewski, Richard Wagner. Die Szene und ihr Meister, München 1983.

  2. Vgl. Hartmut Zelinsky, Richard Wagner – ein deutsches Thema. Eine Dokumentation zur Wirkungsgeschichte Richard Wagners 1876–1976, Frankfurt/M. 1976. Abwägender und analytisch treffender ist die Arbeit von Udo Bermbach, Richard Wagner in Deutschland. Rezeption – Verfälschungen, Stuttgart 2011. Wichtig ist auch Hannu Salmi, Imagined Germany. Richard Wagner’s National Utopia, New York 1999.

  3. Vgl. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli, Berlin 1967, S. 323.

  4. Vgl. Sven Oliver Müller, Richard Wagner und die Deutschen. Eine Geschichte von Hass und Hingabe, München 2013. Einen guten Überblick zur Diskussion über das Verhältnis von Musik und Emotion bieten Patrik N. Juslin/John A. Sloboda (eds.), Music and Emotion: Theory and Research, Oxford 2001.

  5. Udo Bermbach, Opernsplitter. Aufsätze, Essays, Würzburg 2005, S. 224. Vgl. Dietrich Mack (Hrsg.), Richard Wagner. Das Betroffensein der Nachwelt. Beiträge zur Wirkungsgeschichte, Darmstadt 1984; Sven Friedrich, "Der Prophet seines Volkes". Der Wagner-Mythos um 1900, in: Laurenz Lütteken (Hrsg.), Musik und Mythos – Mythos Musik um 1900, Kassel 2009, S. 14–71.

  6. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Udo Bermbach in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  7. Vgl. Nicholas Vazsonyi, Introduction, in: ders., Wagner’s Meistersinger. Performance, History, Representation, Rochester, NY 2004, S. 1–20; Herfried Münkler, Kunst und Kultur als Stifter politischer Identität. Webers Freischütz und Wagners Meistersinger, in: Hermann Danuser/Herfried Münkler (Hrsg.), Deutsche Meister – böse Geister? Nationale Selbstfindung in der Musik, Schliengen 2001, S. 45–60.

  8. Vgl. U. Bermbach (Anm. 5), S. 307–322.

  9. Zit. nach: Hans Mayer, Richard Wagner, Frankfurt/M. 1998, S. 311.

  10. Rosa Eidam, Bayreuther Festspielzeiten 1883–1924. Persönliche Erinnerungen, Ansbach 1925, S. 31.

  11. Frankfurter Zeitung vom 3.8.1924. Vgl. Dietrich Mack, Die Bayreuther Inszenierungen der "Meistersinger", in: Attila Csampai (Hrsg.), Die Meistersinger. Texte – Materialien – Kommentare, Reinbek 1981, S. 158–185.

  12. Chéreau-Dämmerung am Grünen Hügel. Die Götterdämmerung verendete als Hafen-Zeremonie, Richard Wagner Nationalarchiv, Bayreuth, A2525.

  13. Private Äußerungen an verschiedene Adressaten. Beschwerden über die Chéreau-Inszenierung, Richard Wagner Nationalarchiv Bayreuth, A2678-1 a–f, e), S. 3ff.; Aus dem Geiste der Musik? Bayreuther Notizen, in: Neue Zürcher Zeitung vom 14.8.1976.

  14. Private Äußerungen an verschiedene Adressaten (Anm. 13), S. 2ff.

  15. Vgl. Pierre Boulez et al., Der "Ring" – Bayreuth 1976–1980, Berlin 1980.

  16. Hans Zeller, Rückmeldung zum Rundschreiben, Bamberg Anfang Dezember 1976, S. 1, Richard Wagner Nationalarchiv Bayreuth, A2525 1976 II.

  17. Richard Wagner Blätter, 1 (1977) 2+3, Richard Wagner Nationalarchiv Bayreuth, A 2324–2+3 1977, S. 91.

  18. Helmut Trommer, "Der Ring des Nibelungen", Rückblick auf die Aufführung Bayreuth 1976. Feststellung und Forderung (Brief ohne Adressaten), Richard Wagner Nationalarchiv Bayreuth, A2525 1976 II.

  19. Private Äußerungen an verschiedene Adressaten (Anm. 13), S. 2ff.

  20. Bermbach meint, dass Bayreuth "spätestens mit Beginn der achtziger Jahre in der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland angekommen" sei. U. Bermbach (Anm. 2), S. 496. Vgl. Jan Ingo Grüner, Die Rezeption Richard Wagners in der Bundesrepublik Deutschland. Rettung eines schwierigen Erbes, Saarbrücken 2008.

  21. Vgl. Herbert Rosendorfer, Bayreuth für Anfänger, München 19996, S. 47f.; Neil Lerner, Reading Wagner in Bugs Bunny Nips the Nips (1944), in: Jeongwon Joe/Sander L. Gilman (eds.), Wagner & Cinema, Bloomington, IN 2010, S. 210–224.

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Dr. phil., geb. 1968; Leiter der Forschungsgruppe "Gefühlte Gemeinschaften? Emotionen um Musikleben Europas" am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung; Autor des Buches "Richard Wagner und die Deutschen. Eine Geschichte von Hass und Hingabe" (2013); Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Lentzeallee 94, 14195 Berlin. E-Mail Link: omueller@mpib-berlin.mpg.de