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Finanzindustrie oder Organisierte Kriminalität?

Wolfgang Hetzer

/ 15 Minuten zu lesen

Die amtliche Weisheit ist seit Mai 1990 unverändert. Seit dieser Zeit bildet die von der "AG Justiz/Polizei" verabschiedete Arbeitsdefinition die Grundlage für die Erhebung der relevanten Daten für das vom Bundeskriminalamt jährlich veröffentlichte "Bundeslagebild OK". Im veröffentlichten Teil dieses Lagebildes sind vornehmlich statistische Angaben über Verdachtsgründe für ein kriminelles Geschehen zu finden, das aus behördlicher Sicht folgende Kriterien erfüllt: "Organisierte Kriminalität ist die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig 1. unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, 2. unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder 3. unter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken."

Für die Qualifizierung mutmaßlich kriminellen Verhaltens als Organisierte Kriminalität (OK) müssen alle generellen und zusätzlich mindestens eines der speziellen Merkmale der Alternativen 1–3 der OK-Definition vorliegen. Im Jahr 2011 wiesen laut Bundeslagebild OK von 589 Verfahren (2010: 606 Verfahren) insgesamt 541 Verfahren gewerbliche oder geschäftsähnliche Strukturen auf. Insgesamt ging die Zahl der Ermittlungsverfahren von 2010 auf 2011 um 2,8% zurück. In 270 Verfahren kam es zur Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel. Eine Einflussnahme auf Politik, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft wurde in 165 Verfahren festgestellt. Im Jahre 2010 konnten 288 Ermittlungsverfahren abgeschlossen werden. Die Polizei ermittelte 2011 gegen 8413 Tatverdächtige (2010: 9632 Tatverdächtige). Der Anteil deutscher Staatsangehöriger betrug 38,4% (2010: 36,5%). Die Schadenshöhe belief sich auf 884 Millionen Euro (2010: 1,65 Milliarden Euro). Als "kriminelle Erträge" wurden 347 Millionen Euro festgestellt. Bis zum Jahre 2010 hatte man die geschätzten Gesamtgewinne dargestellt. Seither erfassen die Polizeidienststellen nur die im Zuge von Finanzermittlungen festgestellten (aus der Tat erlangten) kriminellen Erträge der OK-Gruppierung im jeweiligen Verfahren. Deshalb ist kein Wert aus dem Vorjahr verfügbar. Wie in den Vorjahren fielen auch 2011 die höchsten Schäden (576 Millionen Euro) in der Kriminalität im Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben an (Anteil von 65% am Gesamtschaden; 2010: etwa 45%).

Im Hinblick auf die Hauptaktivitätsfelder kommt dem Rauschgifthandel und -schmuggel eine prominente Stellung zu: 36,7% im Jahre 2011 (2010: 39,9%). Danach folgt im großen Abstand die "Kriminalität im Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben": 14,8% (2010: 14,5%). Die Eigentumskriminalität folgt mit 13,1% (2010: 11,9%). In weiter zunehmenden Abständen folgen Steuer- und Zolldelikte, Schleuserkriminalität, Fälschungskriminalität, Gewaltkriminalität, Kriminalität im Zusammenhang mit dem Nachtleben, Geldwäsche, Cybercrime, Waffenhandel/-schmuggel, Umweltkriminalität und sonstige Kriminalitätsbereiche.

Jenseits derartiger statistischer Einzelabgaben ist zu berücksichtigen, dass neben der Prüfung der OK-Relevanz aller gemeldeten Verfahren auch eine qualitative Bewertung des Organisations- und Professionalisierungsgrades der OK-Gruppierungen erfolgt, die mit dem "OK-Potenzial" ausgedrückt wird. Es errechnet sich aus der Anzahl und der Gewichtung der jeweils zutreffenden Indikatoren aus der Liste der "Generellen Indikatoren zur Erkennung OK-relevanter Sachverhalte". Dabei geht es im Kern um eine Bewertung der Tatphasen nach Vorbereitung und Planung der Tat, Ausführung der Tat und der Verwertung der Beute. Für die Feststellung der Indikatoren spielen die Ermittlungsdauer und der Ressourceneinsatz eine entscheidende Rolle: Ein niedriges OK-Potenzial lässt daher nicht ohne Weiteres auf einen geringen Organisations- und Professionalisierungsgrad schließen, wenn dies auf noch unbekannte Aspekte der OK-Gruppierung zurückzuführen ist.

In diesen, hier nur unvollständig zitierten jährlich amtlich veranstalteten mehr oder weniger monotonen "Fliegenbeinzählereien" kommen weder "Finanzindustrie" noch "Banken" gesondert vor. Das ist erstaunlich. Oder auch nicht, beschäftigt man sich mit manchen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Hintergründen. Kaum ein braver Beamter oder um Seriosität bemühter Wissenschaftler dürfte willens sein, etwa Josef Ackermann oder Jürgen Fitschen und Anshu Jain, die ehemaligen und amtierenden Chefs der Deutschen Bank mit einem schmierigen und gewalttätigen Mafia-Boss zu vergleichen. Immerhin glauben aber 74% der deutschen Bevölkerung, dass die Aktivitäten der Banker gefährlich sind. Deswegen ist jedoch nicht jede Bank eine kriminelle Vereinigung. Grundsätzlich ist eine Bank eine Bank. Und eine kriminelle Vereinigung ist kriminell. Gleichwohl wird die Vermutung, dass sich Bankgeschäfte immer und überall von den Aktivitäten der Organisierten Kriminalität unterscheiden lassen, heftig diskutiert.

Banken in der Kritik

Insbesondere die Deutsche Bank ist in jüngerer Zeit in den Ruch einer "Räuberbande" geraten. Sollten sich alle oder einige bestimmte qualifizierte Anschuldigungen justizförmig beweisen lassen, müsste der Begriff OK intensiver diskutiert werden. Die gegen die Deutsche Bank erhobenen Vorwürfe sind wegen ihres Umfangs und ihrer Schadensträchtigkeit besonders besorgniserregend, wenn man daran denkt, dass "Vertrauen" eine Schlüsselkategorie für das Bankgeschäft ist.

Das Spektrum der Vorwürfe reicht von der Nichterfüllung von Beratungspflichten bei Zinswetten über Wetten auf die Katastrophe beim Handel mit strukturierten Hypothekenpapieren miserabler Qualität, kartellrechtswidrige Absprachen im Handel mit Kreditausfallversicherungen, Erschwerung des Markteintritts für Mitbewerber beim Verkauf eines Clearinghauses ("ICE Clear Net"), betrügerischen Zugang der Deutsche Bank Tochter Mortgage IT zu einem amerikanischen Regierungsprogramm, das für Hypotheken bürgte, unrechtmäßige Kündigung von Wohnungen und Häusern unter anderem in Los Angeles, Zwangsräumung und Verfall von Wohnraum, Falschangaben beim Verkauf hypothekarisch gesicherter Wertpapiere (Schadensverursachung zusammen mit 16 anderen Banken über insgesamt 200 Milliarden, davon 14 Milliarden US-Dollar alleine auf das Konto der Deutschen Bank), Betrug bei Geschäften mit elf Finanzvehikeln (Fonds "Loreley") mit Schadenersatzforderungen in Höhe von 440 Millionen US-Dollar, Falschangaben beim Verkauf hochverzinslicher verbriefter Hauskredite, Zinssatzmanipulationen ("Libor" und "Euribor"), Konstruktion einer Kette von Handelsgeschäften zur Erzielung großer Gewinne auch bei kleinen Zinssatzveränderungen durch Zinswetten (mit einem Gewinn von 500 Millionen Euro), Verstöße gegen Sanktionsvorschriften bei Geschäften mit bestimmten Ländern (beispielsweise Iran, Sudan), unangemessen hohe Bewertungen komplexer Derivate-Konstrukte in einem bis zu 130 Milliarden US-Dollar schweren Portfolio, Vertuschung krimineller Vorgehensweisen beim Handel mit Verschmutzungsrechten (CO2-Zertifikate), Versuch zur Sicherung eines höchst lukrativen Geschäfts durch öffentliche Äußerungen über die angeblich mangelnde Bonität eines Medienunternehmers (Leo Kirch), betrügerische Irreführung der Stadtverwaltung von Mailand im Zusammenhang mit Zinsprodukten (mit einem Gesamtschaden von 89,6 Millionen Euro), Beihilfe zur Verschleierung von Verlusten der italienischen Banca Monte dei Paschi di Siena (MPS) durch ein komplexes Absicherungsgeschäft vor der Beantragung staatlicher Hilfe, illegaler Betrieb elektronischer Zahlterminals im Vatikan, Manipulation des Energiemarkts in Kalifornien, Erzielung unrechtmäßiger Gewinne in Höhe von knapp 137.000 US-Dollar durch bewusste Generierung von Verlusten bei physischen Transaktionen im Interesse eines umso höheren Profits auf dem US-Markt mit Energiederivaten, betrügerischer Kauf und Verkauf von Strom, um den Eindruck einer Überlastung des Stromnetzes zu erwecken, sodass die Aufsichtsbehörden den Händlern Prämien zahlten, um die vermeintlich überschüssigen Energiemengen aus dem Markt zu nehmen, bis hin zur Manipulation von Bilanzen.

Vertrauen und Verantwortung

Aus der Sicht der Deutschen Bank treffen bestimmte dieser Vorwürfe nicht zu. Einerseits behauptet sie, dass ihre Strategie auf einer Markteinschätzung über die wahrscheinliche Richtung von Zinssätzen beruhe und nicht auf einem Glauben, dass die Interbank-Zinssätze in unangemessener Weise beeinflusst werden könnten. Zudem handele es sich nicht um Spekulationen auf die eigenen Bücher, sondern um Transaktionen zur Absicherung anderer Geschäfte. Andererseits erklärt einer der Chefs der Bank, Anshu Jain, dass vor allem die Jahre 2006 bis 2008 Jahre des "kollektiven Versagens" gewesen seien. 80% der Fälle, die jetzt die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, stammten aus dieser Phase. Jain bekannte, dass die Deutsche Bank Teil davon war. Im Hinblick auf die Manipulationsvorwürfe beim "Libor-Zinssatz" gab er an, dass ihn dieser "Vertrauensmissbrauch" am meisten enttäuscht habe.

Das alte Vertrauen, dass auch im Finanzsektor Verantwortung und Anstand herrschen, ist erschüttert. Die Deutsche Bank steht aber nur an der Spitze des wahrgenommenen Sittenverfalls. Bei ihr geht es aber, anders als bei anderen Banken (beispielsweise Hypo Real Estate, IKB und Landesbanken), nicht um Selbstüberschätzung und Dummheit im Rahmen eines Missmanagements.

Es hat vermutlich auch deshalb so weit kommen können, weil das Geschäft immer komplizierter wurde. Zu viele Leute haben mit viel zu wenig eigenem Geld riesige "Finanzhebel" bewegen können. Immer aberwitzigere Konstruktionen wurden geboren. Die Banken haben immer mehr Papiere gekauft und verkauft, deren Wirkung sie selbst nicht mehr verstanden.

Vorstände waren Teil dieses Systems. Die schon damals Getriebenen lassen sich auch jetzt noch weiter treiben, indem sie ihren Kollegen und Mittäter den angeblichen Kulturwandel gestalten lassen. Der Idee, den Brandstifter das Feuer löschen zu lassen, wohnt eine gewisse Logik inne. Der Brandstifter dürfte am besten wissen, wo es brennt. Die Legitimation für diese Idee bleibt dessen ungeachtet fraglich. Nach wie vor zieht die Deutsche Bank das meiste Misstrauen gegen die Finanzwirtschaft auf sich.

Kollegen und Komplizen

Schleswig-Holstein und die Freie und Hansestadt Hamburg sind Haupteigner der HSH Nordbank (85,4%). Sie wurde von November 2008 bis April 2011 von Dirk Jens Nonnenmacher geführt. Die Eigner sahen sich unterdessen gezwungen, über der Bank einen "Rettungsschirm" im Radius von zehn Milliarden Euro aufzuspannen beziehungsweise zu vergrößern, um sie vor dem Aus zu retten. Das Landgericht Hamburg hat vor kurzem immerhin eine über sechshundert Seiten starke Anklage gegen Nonnenmacher und weitere Vorstände der HSH Nordbank zugelassen. Das Hauptverfahren wurde vor kurzem in Hamburg eröffnet. Damit steht zum ersten Mal seit Beginn der Finanzkrise in Deutschland ein kompletter Bankvorstand vor Gericht. Der Hauptvorwurf ist die Veruntreuung von Vermögen in einem besonders schweren Fall. Es soll ein Schaden von insgesamt 158 Millionen Euro entstanden sein.

Bislang war dem Angeklagten Nonnenmacher kein persönliches Fehlverhalten nachzuweisen. Der ehemalige Chef der Deutschen Bank und nachmalige Aufsichtsratschef der HSH, Hilmar Kopper, soll übrigens durch eine entsprechende Fassung des Aufhebungsvertrags dafür gesorgt haben, dass der Kollege Nonnenmacher eine Abfindung in Höhe von knapp vier Millionen Euro auch dann behalten darf, wenn er in dem anstehenden Verfahren verurteilt werden sollte. Nonnenmacher befindet sich mittlerweile in bester Gesellschaft. Es wurden Anklagen gegen Top-Banker der SachsenLB erhoben, Verfahren sind eingeleitet gegen Vorstände der Landesbank Baden-Württemberg und der BayernLB. Es versteht sich von selbst, dass für alle betroffenen Personen die Unschuldsvermutung gilt. Man wird sich auch mit der Erkenntnis von Nonnenmacher auseinanderzusetzen haben, dass eine falsche Bilanz keine gefälschte Bilanz ist.

Daneben geht es um eine etwas anspruchsvollere Art der Vergangenheitsbewältigung. Im Herbst des Jahres 2007 war die HSH Bank wegen ihrer dünnen Kapitaldecke besorgt und sah sich wegen des damals beabsichtigten Börsengangs zu bilanziellen Entlastungen gezwungen, um das erforderliche günstige Rating zu erhalten. Der Weg dorthin erscheint nur auf den ersten Blick kompliziert. Die Verantwortlichen der HSH Nordbank versicherten ein milliardenschweres Immobilienpaket bei der französischen Großbank BNP Paribas gegen Verluste. Damit musste es nicht mehr mit Eigenkapital unterlegt werden und die Bilanz war "aufgehübscht". Im Gegenzug übernahm die HSH Bank die Liquiditätsgarantie für ein Finanzvehikel, das auf den Namen "Omega 55" hörte. Es diente der Unterbringung riesiger Pakete mit Ramschhypotheken für die BNP Paribas. Sie erlitten in kurzer Zeit aber einen drastischen Wertverlust. Für die HSH Bank führte das zu einem Abschreibungsbedarf in Höhe von rund 330 Millionen Euro, damals eine enorme Belastung für die Bank. Die Verluste konnten zwar bei der endgültigen Auflösung der Omega-Geschäfte teilweise wieder aufgeholt werden, es blieb aber ein Verlust in Höhe der bereits zitierten 158 Millionen Euro. Den seinerzeit Verantwortlichen wird unter anderem vorgeworfen, die damals vorhandenen Risiken nicht angemessen geprüft zu haben. Das "Schwarzer-Peter-Spiel" hat schon begonnen. Verteidiger der Angeklagten behaupten, es liege auf der Hand, dass von den politischen Kräften in Hamburg und Schleswig-Holstein der Versuch unternommen wird, die eigene Verantwortung für die Lage der HSH Nordbank auf die damaligen Vorstände abzuwälzen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich in der Tat die Frage, ob die altbekannte Mafia, die man auch aus vielen Kinofilmen kennt oder die kriminellen Gruppierungen, auf die sich die amtlichen Statistiken beschränken, im Wettbewerb mit manchen Geschäfts- und Investmentbanken bestehen können.

Inzwischen wird sogar einer ganzen Gruppe internationaler Banken vorgeworfen, über Jahre hinweg Zinsen manipuliert zu haben. Dabei geht es, wie schon angedeutet, vornehmlich um den Libor-Zinssatz. Amerikanische und britische Aufsichtsbehörden haben schon Ende Juni 2012 gegen die britische Bank Barclays Sanktionen in Höhe von etwa einer halben Milliarde US Dollar beziehungsweise mit 290 Millionen Pfund die bislang höchste Strafe verhängt und deren Chef Bob Diamond zum Rücktritt gezwungen. Seitdem herrscht nach dem Empfinden mancher Journalisten in der Finanzbranche eine Art Krieg. Selbst die Deutsche Bank und mehr als ein Dutzend anderer Finanzkonzerne stehen am Pranger, weil ihre Mitarbeiter Manipulationen am Schlüsselzins Libor vorgenommen haben sollen. In Aufsichtsbehörden ist von "organisiertem Betrug" die Rede. Der Chef der Royal Bank of Scotland (RBS), Stephen Hester, betonte hingegen, dass es sich um "Fehler" einzelner Mitarbeiter handle und nicht um ein Versagen des gesamten Systems. Das dürfte allerdings die zentrale Frage auch für die anderen Großbanken sein, die in entsprechende Vorgänge verwickelt sind.

Es gibt Anhaltspunkte, dass es beim "Libor-Skandal" um systematischen Betrug und Bereicherung gehen könnte. Man müsste von einem Organisationsversagen ausgehen, für das die Finanzaufsicht zuständig wäre. Die für Justiz zuständige Kommissarin der Europäischen Kommission Viviane Reding hat unterdessen schon vorgeschlagen, Banker als "Bankster" zu bezeichnen. In Brüssel haben sich über 40 Banken gemeldet, die ihr Wissen über die jahrelangen Manipulationen mitteilen wollen. Als Kronzeuge kann man in diesen Tagen angesichts der Möglichkeit eines Strafrabatts und möglicher Strafen in Höhe von zehn Prozent eines Jahresertrags auch gute Geschäfte machen. Alleine auf EU-Ebene sind in Einzelfällen Sanktionen in Höhe von über einer Milliarde Euro nicht auszuschließen.

14 Händler der Bank Barclays haben über Jahre, vor allem vor der Finanzkrise, systematisch die Refinanzierungskosten dieses Instituts zur Berechnung des Libor und Euribor gemeldet, die in Absprache mit den Kollegen aus dem Derivate-Handel formuliert wurden. Genau das ist verboten, weil Zinsderivate von den Bewegungen des Libor oder Euribor beeinflusst werden. Die Händler hätten ihre Meldungen an den Britischen Bankenverband (BBA) und den Europäischen Bankenverband ohne interne Absprache und Rücksicht auf Handelspositionen der Bank übermitteln müssen. Dagegen hat alleine Barclays über Jahre mindestens in Hunderten von Fällen verstoßen.

Bemerkenswert ist, dass eine Bank alleine die Berechnungen des Libor oder Euribor nicht beeinflussen kann. Sobald die Meldungen der Händler von denen der Konkurrenz stark abweichen, werden sie bei der Ermittlung des Libor und Euribor nicht berücksichtigt. Beide sind die global führenden Zinssätze, an denen sich die Konditionen von Derivaten im Zins- und Devisenhandel ausrichten. Im Juni 2011 summierten sich außerbörslich gehandelte Derivate auf 554 Billionen US-Dollar. Ende 2011 belief sich das Volumen kurzfristiger Zinsderivate an der Londoner Terminbörse (Liffe) auf 477 Billionen Euro. Davon entfielen 241 Billionen Euro auf Euribor-Kontrakte. Zum Volumen aller Finanzprodukte, die auf Libor oder Euribor beruhen, gibt es nur stark schwankende Schätzungen. In der "Financial Times" wurde für den Libor die Zahl von 350 Billionen US-Dollar genannt, während "The Economist" das Volumen auf 800 Billionen US-Dollar veranschlagte. Trotz dieser hohen Varianz ist die enorme Bedeutung der Interbankzinsen unverkennbar. Alleine dieser Umstand nährt den Verdacht, dass für Banken ein Anreiz zu Manipulationen bestand. Deshalb ist auch schon Kritik daran laut geworden, dass das Verfahren beim Libor auf der Basis der Zinsmeldungen von nur 18 Banken ausgeführt wird, während beim Euribor 44 Banken beteiligt sind. Darin liegt aber kein entscheidender qualitativer Unterschied. Die höhere Zahl macht Absprachen beim Euribor zwar schwieriger, aber keineswegs unmöglich. Mitarbeiter von rund 20 Banken sollen über Jahre hinweg versucht haben, den Libor zu frisieren, um Handelsgewinne einzustreichen und die Finanzlage ihrer Banken schönzufärben.

Schlussbemerkungen

Es stellt sich die Frage, ob wir einem Phänomen gegenüberstehen, das mit "Business as usual" korrekt bezeichnet ist oder ob wir mit einem mafiösen Netzwerk in der Bankenwelt konfrontiert sind, das alle konventionellen Vorstellungen sprengt.

Die Wahrnehmung der OK als ein Teil deliktischer Realität wird durch eine Vielzahl von Faktoren bestimmt. Eine öffentlichkeitswirksame Mythologisierung erschwert die inhaltliche Bestimmung des Begriffs und die analytische Bearbeitung der vielfältigen Erscheinungsformen. Definitorische Schwächen, kriminologische Defizite ("Dunkelfeld"), wirtschaftliche Gegebenheiten, politische Ambitionen, behördliche Interessen und massenmediale Verzerrungen tragen ebenfalls zu einem diffusen Gesamtbild bei. In den öffentlich zugänglichen Darstellungen beschränkt man sich zumeist auf statistische Grunddaten und wenig aussagekräftige allgemeine Erläuterungen. Möglicherweise war es der umfassende Charakter der in Deutschland geltenden amtlichen Definition, der dazu führte, dass die Debatte um das Besondere der OK in den vergangenen Jahren merklich abflachte.

Gleichzeitig hob man immer wieder hervor, dass die Existenz der OK jedenfalls in Deutschland unstreitig sei, beklagte aber, dass unter OK häufig nicht jene qualifizierte Form des Verbrechens verstanden werde, die von subtilen Tattaktiken und -techniken bestimmt ist und die sich ausschließlich am zu erwartenden Profit orientiert. Man schien zunächst übereingekommen zu sein, dass es OK auf jeden Fall gibt, um erst danach zu fragen, worin denn das Besondere dieser Kriminalitätsform liegt. Viel wichtiger als alle amtlichen Definitionsversuche ist jedoch die Einsicht, dass es in unserem Zusammenhang nicht lediglich um die Mafia als eine konkrete historische und leider auch aktuelle Variante der OK geht. Wir reden über Systeme unkontrollierter Macht. "Mafia" ist nur eine Metapher, welche für einen pathologischen Machtmissbrauch steht. OK ist nicht nur ein Merkmal strukturschwacher Gesellschaften. Sie hat sich – in unterschiedlichen Formen – in allen politischen Systemen ausgebreitet. Man mag sich mit der These beruhigen, dass intakte Staatswesen mit einer funktionierenden Rechtsprechung, parlamentarischen Opposition und einer freien Presse effektive Abwehrmechanismen gegen eine kriminelle Unterwanderung ausbilden können. Es drängt sich jedoch die Frage auf, wie groß und wie nachhaltig dieser Beruhigungseffekt wäre, wenn man zu dem Ergebnis kommen müsste, dass sich OK als "Wirtschaftsform" und als "politisches Prinzip" etabliert hat. Diese und eine Vielzahl weiterer Fragen, die durch mittlerweile unübersehbar viele anregende Beispiele auf allen Etagen der wirtschaftlichen und politischen Hierarchien hochaktuell geworden sind, müssen in einer Zeit beantwortet werden, in der die angebliche Unterscheidbarkeit von Gewinn und Beute den Erklärungswert und die Überzeugungskraft eines Ammenmärchens bekommen hat. Es ist kaum zu übersehen, dass Steuerhinterziehung, Fehlallokation von Kapital zum Zwecke der Steuervermeidung, steuerlicher Gestaltungsmissbrauch von legalen Unternehmen zum Nachteil der Allgemeinheit, die Degeneration der Finanzmärkte zu Kasinos und Tatorten sowie korruptive Praktiken in weltweit agierenden Konzernen zu einer strukturellen und funktionellen Überschneidung mit der OK geführt haben. Auch aus diesen Gründen ist die Abkehr vom überkommenen Verständnis dieser Kriminalitätsform geboten.

Insbesondere die anhaltende Finanzkrise zeigt, dass sich OK sich zum sicherheitspolitischen Problem erster Ordnung entwickelt hat. Ihre Wirkungsmöglichkeiten haben sich in einem Milieu struktureller Korruption vervielfältigt und intensiviert. Regierungen überall auf der Welt haben erlaubt, dass das Finanzsystem und seine wichtigsten Vertreter außer Kontrolle gerieten. Unzählige Rechnungsprüfer, Rechtsanwälte und andere spezifische Berufsgruppen haben mit Ratingagenturen, Beratungsgesellschaften und Investmentbankern zusammengewirkt, um sich und ihre Klientel mit intransparenten Geschäftsmodellen in obszöner Weise zu bereichern, während Offshore-Finanzzentren Geld jeglicher Herkunft akzeptierten. Sie alle sind Elemente des korrupten Kerns der Finanzkrise, die für die "anspruchsvolle" OK moderner Prägung geradezu ein Jungbrunnen ist. Als transnationales Phänomen hat sie eine globale Ausdehnung und eine gesamtwirtschaftlich relevante Größe erreicht. Dabei geht es längst nicht mehr vornehmlich um die Verletzung konkreter einzelner Rechtsgüter. Die Zerstörungskraft der in der Finanzindustrie beheimateten kriminellen Energie richtet sich mittlerweile auf den Zusammenhalt ganzer Gesellschaften und die Funktionsfähigkeit von Wirtschaftssystemen. Dennoch gibt es keine ernstzunehmende und nachhaltig wirkungsvolle Gegenwehr. Das liegt vielleicht auch daran, dass sich in der OK mittlerweile die Widersprüche einer Gesellschaft aber auch die Gesetzmäßigkeiten bestimmter Sub-Systeme des Wirtschaftlebens spiegeln und bürgerlicher Gemeinsinn in einem Gespinst von Täuschung und Unwahrhaftigkeit zu ersticken droht, das Funktionsträger in Politik, Wirtschaft und Verwaltung für Zwecke des Machterwerbs und der Bereicherung mit egomanisch-asozialer Energie immer dichter werden lassen. Konventionelle Strafverfolgung ist und bleibt dagegen chancenlos.

Dr. jur., geb. 1951; bis 2010 Berater des Generaldirektors des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung, European Anti-Fraud Office (OLAF). E-Mail Link: wolfgang.hetzer@t-online.de