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Gefährliches Souveränitätsspiel im Südchinesischen Meer

Peter Kreuzer

/ 15 Minuten zu lesen

Seit Jahrzehnten stehen sich im Südchinesischen Meer bis zu sieben Staaten mit konkurrierenden territorialen und maritimen Ansprüchen gegenüber. Schon zweimal, 1974 und 1988, hat die Konkurrenz um die Souveränität über Inseln und die damit einhergehende Kontrolle großer Meeresgebiete zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen China und Vietnam geführt. In den 1990er Jahren eskalierte die Situation zwischen China und den Philippinen. Diese Phase wurde mit der Unterzeichnung einer Erklärung zu einem Verhaltenskodex (Declaration on the Conduct of Parties in the South China Sea, DOC) scheinbar überwunden. Danach verpflichteten sich alle Konfliktparteien, "ihre territorialen und rechtlichen Dispute durch friedliche Mittel, ohne die Androhung oder Anwendung von Gewalt, mittels freundlicher Beratung und Verhandlung der direkt betroffenen souveränen Staaten im Einklang mit allgemein anerkannten Prinzipien des internationalen Rechts einschließlich der Seerechtskonvention der Vereinten Nationen zu bearbeiten".

Der Erfolg erwies sich jedoch als trügerisch. In den vergangenen Jahren eskalierten die beständigen kleineren Reibereien zwischen den Hauptkonfliktparteien – China auf der einen und Vietnam sowie die Philippinen auf der anderen Seite – deutlich gegenüber dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Der Verband Südostasiatischer Nationen, ASEAN ist, anders als noch in den 1990er Jahren, als er den DOC initiierte, aufgrund innerer Uneinigkeit gelähmt.

Dadurch, dass die USA, aber in wachsendem Maße auch Japan, mit ihren jeweiligen Interessen in die Region hineinwirken, erhält der Konflikt eine über die Region weit hinausweisende Bedeutung. Die Involvierung Japans verbindet den Konflikt im Südchinesischen Meer mit dem zwischen Japan und China um die Diaoyu/Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer. Im Fall der USA verknüpfen sich deren Unterstützung der Philippinen und Vietnams mit dem US-Interesse an einem ungehinderten Zugang für amerikanische Kriegsschiffe zum Ost- und Südchinesischen Meer und dem übergeordneten Interesse an der Aufrechterhaltung der US-amerikanisch geführten Ordnung in Ostasien. Von besonderer Brisanz ist, dass den eindämmenden Dynamiken der amerikanischen und japanischen Asienstrategien keine ebenbürtigen Versuche zur Seite stehen, ein integratives System kollektiver Sicherheit zu entwickeln, das China einbindet. So ist China in Ostasien trotz umfassender ökonomischer Verflochtenheit sicherheitspolitisch weitgehend isoliert.

Völkergewohnheitsrecht und Seerechtskonvention

Zwar sind die Konflikte um das Südchinesische Meer vielschichtig, doch handelt es sich im Kern um Auseinandersetzungen darüber, zu welchem Staat die verschiedenen Inselgruppen und Atolle gehören. Das heißt, es handelt sich um konkurrierende Souveränitätsansprüche. Damit fallen die Konflikte unter das Völkergewohnheitsrecht. Dieses kennt drei zentrale Konstellationen, unter denen territorialer Erwerb legitimiert werden kann: den Gebietstransfer auf der Grundlage eines Vertrages, die Entdeckung und anschließende Besetzung von Niemandsland (terra nullius) und die Ersitzung, das heißt die Besetzung von und längerfristige Kontrolle über Land.

Sowohl China als auch Vietnam argumentieren, dass sie ein historisches Recht auf die Paracel- und Spratly-Inseln hätten, weil diese schon vor vielen hundert Jahren von ihnen entdeckt und anschließend in die Verwaltung ihrer Reiche eingegliedert worden seien. Demgegenüber argumentieren die Philippinen, dass die von ihnen beanspruchten Kalayaan-Inseln, die einen großen Teil der Spratly-Inseln umfassen, bis 1951 zu Japan gehört hätten. In jenem Jahr verzichtete Japan im Vertrag von San Francisco auf alle Rechte über die Inseln. Damit seien sie terra nullius geworden, da die Rechte an keinen anderen Staat übertragen worden seien. Als solches habe sie der philippinische Abenteurer und Geschäftsmann Tomas Cloma 1956 in Besitz genommen und später seine Rechte an die Philippinen abgetreten.

Spätestens mit dem Inkrafttreten der Seerechtskonvention (UN Convention on the Law of the Sea, UNCLOS) 1994 erweiterten sich die Konflikte auf fast die ganze Fläche des Südchinesischen Meeres, weil alle Küstenstaaten bis zu 200 Seemeilen breite ausschließliche Wirtschaftszonen (Exclusive Economic Zone, EEZ) beanspruchen können, in denen ihnen souveräne Rechte auf alle unterseeischen Ressourcen zukommen. Diese können sich auf der Grundlage der Kontinentalsockelregelungen der UNCLOS auf maximal 350 Seemeilen erweitern. Insoweit als sich alle EEZ- und Kontinentalsockelrechte aus territorialer Souveränität ableiten, gilt auch weiterhin das Primat des Völkergewohnheitsrechts. Jede Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von Ansprüchen auf eine EEZ setzt also die Entscheidung darüber voraus, wem die Souveränität über Land, in diesem Fall die Inselgruppen im Südchinesischen Meer, gebührt.

Ungeachtet der Legitimationsstrategie bestimmter Territorialansprüche können diese nur als rechtlich unumstritten gelten, wenn andere Staaten nicht dagegen protestieren und der Staat seine Ansprüche durch entsprechendes Souveränitätshandeln über längere Zeiträume unterstreicht. Im Konfliktfall gilt es also, alles zu vermeiden, was eine Duldung der gegnerischen Ansprüche nahelegen könnte. Daraus resultiert nicht selten eine Abfolge von Protest und Gegenprotest, von demonstrativem Souveränitätshandeln und entsprechendem Gegenhandeln.

Entlegen, aber umstritten

Abgesehen von einigen Protesten gegen Ansprüche anderer Mächte im späten 19. Jahrhundert wurde den entlegenen Inselgruppen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs kaum Aufmerksamkeit zuteil. Erste ernsthafte Souveränitätsdemonstrationen, generell in Form von Inselbesetzungen, datieren auf die späten 1940er und frühen 1950er Jahre. Im Gefolge entwickelten die unilateralen Aktionen eine eigene Dynamik, die – wie eingangs erwähnt – bislang zweimal in militärischen Auseinandersetzungen resultierte. Unterhalb dieser Schwelle wetteifern die Staaten nicht nur um die territoriale Kontrolle möglichst vieler Inseln und Atolle, sie erlassen auch eine Vielzahl von nationalen Gesetzen, die auch für die umstrittenen Territorien Gültigkeit beanspruchen und in unterschiedlichem Maß dort durchgesetzt werden. Politiker besuchen demonstrativ die Region, die Staaten vergeben Fischerei- und Explorationsrechte und vieles mehr. Inzwischen sind nicht nur alle Inseln, sondern auch eine große Zahl von Atollen, die bei Flut unter Wasser liegen, militärisch besetzt.

Derartige Aktivitäten lassen sich als Züge in einem aus den Regeln des Völkerrechts ableitbaren, politischen "Souveränitätsspiel" verstehen. Sie dienen den Konfliktparteien dazu, die eigene Souveränität zu demonstrieren und gleichzeitig zu verhindern, dass die anderen "Spieler" erfolgreich Souveränitätsrechte ausüben. Dabei können verschiedene Züge auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgeführt werden – etwa von Fischern, die in umstrittenen Gewässern die Netze auswerfen. Zentral ist, inwieweit die anderen Konfliktparteien ein derartiges Handeln als Teil des Spiels begreifen, auf das sie dann mit entsprechenden Gegenmaßnahmen reagieren. Diese können symmetrisch oder asymmetrisch sein. Mangelnder Protest suggeriert Duldung und schafft einen Präzedenzfall: "Ist der Präzedenzfall einmal geschaffen, kann er zur Routine werden, sodass er schwer rückgängig gemacht werden kann – schwieriger noch, als wenn man gegen die erstmalige Ausübung von Souveränität protestiert und sie verhindert hätte." Sind die Handlungsoptionen asymmetrisch verteilt, werden die schwächeren Spieler versuchen, die Konfliktarena auszuweiten, indem sie die mangelnden eigenen symbolischen, ökonomischen und militärischen Ressourcen durch die Einbeziehung zusätzlicher Akteure zu kompensieren suchen.

So versuchen beispielsweise die Philippinen seit Langem, die USA dazu zu bewegen, öffentlich zu erklären, dass die Sicherheitsgarantien des bilateralen Beistandsvertrags auch für die umstrittenen Inselregionen und die von den Philippinen beanspruchte EEZ gelten. Zu dieser Strategie gehört auch, dass der Souveränitätskonflikt als Konflikt um die Freiheit der Schifffahrt dargestellt wird. China, das seine Ansprüche ungenau definiert hat und die Freiheit fremder militärischer Operationen in seinen EEZ bestreitet, wird dabei vorgeworfen, die Freiheit der Schifffahrt im Südchinesischen Meer einschränken zu wollen. Damit wird auf einen zentralen Ankerpunkt US-amerikanischer globaler Sicherheitspolitik rekurriert, die weltweite Operationsfähigkeit der US-Flotte und -Luftwaffe in größtmöglichen Meeresbereichen.

Diese gefährliche Dynamik könnte nur ausgehebelt werden, wenn das Völkerrecht selbst überzeugende und verpflichtende Wege der Konfliktbearbeitung und -lösung bereitstellen könnte. Genau das ist aber nicht der Fall. Zwar können sich Staaten der internationalen Gerichtsbarkeit unterwerfen, müssen dies aber nicht. Das zentrale Fundament des internationalen Rechtssystems ist die Souveränität von Staaten. So formulierte der damalige Vorsitzende des Internationalen Gerichtshofs Mohammed Bedjaoui: "Kein Staat kann den Urteilen der Gerichtshöfe unterworfen werden, wenn er dem nicht vorab zugestimmt hat. (…) Das Gericht kann nur auf Antrag und mit Zustimmung der Betroffenen intervenieren."

Genau dazu sind die im Südchinesischen Meer konkurrierenden Staaten aber nicht bereit. Vielmehr nutzen sie die Komplexität, die partielle innere Widersprüchlichkeit und die Interpretierbarkeit der verschiedenen Rechtsprinzipien, um weitreichende Ansprüche zu erheben, ohne dass sie jedoch bereit wären, ihre maximalistischen Interpretationen einer unabhängigen rechtlichen Prüfung zu unterwerfen. Angesichts jahrzehntelanger Souveränitätsdemonstrationen und der damit einhergehenden nationalistischen Aufladung der Konflikte erscheint der Weg über die internationale Gerichtsbarkeit als kaum gangbar. Zu hoch erscheinen die innenpolitischen Kosten im Fall einer Niederlage. Solange das Souveränitätsspiel weiter gespielt werden kann, werden Verluste in die Zukunft verlagert.

Öl, Gas, Fisch und Namen

Die von allen Konfliktparteien vorgenommene Verbindung der eigenen territorialen Ansprüche mit den durch die Seerechtskonvention geschaffenen maritimen Ansprüchen resultierte seit den 1970er Jahren in einer beständigen Ausweitung des Souveränitätsspiels.

Ein Beispiel hierfür sind unilateral vorangetriebene Öl- und Gasexplorationen in den umstrittenen Regionen des Südchinesischen Meeres. Im Mai und Juni 2014 führten entsprechende Aktivitäten der China National Offshore Oil Corporation zu einer auch von westlichen Medien beachteten, dramatischen Eskalation des Konflikts zwischen Vietnam und China. Anfang Mai wurde bekannt, dass chinesische Schiffe eine Ölbohrplattform zu Explorationszwecken in ein Gebiet westlich der Paracel-Inseln schleppten, das sowohl von China als auch von Vietnam beansprucht wird. Vietnam setzte seine Küstenwache und eine Reihe anderer Schiffe ein, um das chinesische Vorhaben zu verhindern. Im Gefolge beschuldigten sich beide Seiten, Schiffe der jeweils anderen Nation gerammt zu haben. Nachdem in vietnamesischen Medien ausführlich über die Auseinandersetzungen berichtet worden war, gab es im Süden des Landes massive Proteste und Gewalt gegen chinesische Firmen. Diese traf de facto jedoch vor allem taiwanesische Firmen und deren Arbeiter. Mehrere Chinesen starben und Dutzende wurden verletzt, bevor die vietnamesische Regierung der Gewalt ein Ende setzte. Die Auseinandersetzungen um die Bohrinseln setzten sich gleichwohl in vermindertem Maß fort, bis China Mitte Juli 2014 die Bohrinsel verlegte.

Ein Blick in der Vergangenheit zeigt, dass die Dynamiken des Frühsommers 2014 im Wesentlichen Wiederaufführungen alter Schauspiele sind: Erste Schritte der Untermauerung von territorialen Ansprüchen durch die Vergabe von Explorationsrechten datieren auf die frühen 1970er Jahre, als die Republik Vietnam mehrere entsprechende Verträge vergab, die jedoch hinfällig wurden, als China 1974 die westlichen Paracel-Inseln eroberte, die bis dahin von südvietnamesischen Truppen gehalten worden waren. Wenig später vergaben die Philippinen Explorationsaufträge für die Spratly-Inseln an ein US-amerikanisch-schwedisches Konsortium. Die gefundenen Vorkommen werden seit 1979 ausgebeutet. Auf diese und andere Explorationen reagierte China zunächst vor allem mit diplomatischen Mitteln, aber auch mit Militärmanövern in den umstrittenen Regionen. Mit gleicher Münze zahlte China Anfang der 1990er Jahre zurück, als es Explorationsaufträge in umstrittenen Gebieten an die US-amerikanische Crestone Energy Corporation vergab, wogegen Vietnam erwartungsgemäß protestierte. Vietnam setzte das Spiel 1996 fort, als es die US-amerikanische Conoco mit der Exploration von Gebieten betraute, die sich zum Teil mit denen überlappten, die China an Crestone vergeben hatte. Ein Jahr später reagierte China mit eigenen Probebohrungen in umstrittenen Gebieten.

Mitte der 2000er Jahre sah es kurzzeitig so aus, als könnte das gefährliche Spiel zugunsten einer Strategie gemeinschaftlicher Exploration ad acta gelegt werden. 2004 wurde zwischen der Philippine National Oil Company und der China National Offshore Oil Corporation ein bilateraler Vertrag über gemeinsame Explorationen in umstrittenen Meeresregionen unterzeichnet, dem 2005 auch Vietnam nach einigem Zögern beitrat. Dieses Abkommen wurde jedoch wenig später ein Opfer der philippinischen Innenpolitik, sodass der Vertrag 2008 auslief, ohne das gemeinsame Aktivitäten initiiert worden wären. Andere, einseitig von Vietnam oder China beauftragte Explorationen und Probebohrungen scheiterten auf Druck der jeweils anderen Seite.

Im neuen Jahrzehnt beauftragte Vietnam eine Reihe internationaler Unternehmungen mit der seismischen Untersuchung großer Meeresgebiete im Südchinesischen Meer, protestierte aber gegen gleich gelagerte Unternehmungen der chinesischen Seite. Nicht selten kamen sich die gegnerischen Schiffe extrem nahe. Immer wieder gibt es auch Berichte, wonach die Schiffe der jeweils anderen Seite die eigenen, vermeintlich rein defensiv agierenden Schiffe gerammt hätten. Als sich 2011 und 2012 vietnamesische Explorationsschiffe für seismische Untersuchungen in umstrittenen Gebieten aufhielten, durchtrennten chinesische Fischerboote deren Unterwassersonarkabel.

Freilich sollte man die Arena der Rohstoffexploration nicht isoliert betrachten. Weitere Handlungsfelder für Souveränitätsdemonstrationen sind der Ausbau von militärischen Installationen auf den Inseln und Atollen sowie die Durchsetzung nationalen Rechts gegenüber Fischern anderer Staaten. Hierzu haben alle Konfliktparteien nationale Fischereigesetze erlassen, die auch in den von den verschiedenen Ländern beanspruchten Gebieten gelten. Immer wieder werden Fischer wegen "illegalen Fischfangs" verhaftet, was mitunter zu größeren diplomatischen Verwicklungen führt.

Die Bemühungen um symbolische Dominanz werden auch deutlich beim Kampf um die Bezeichnung der umstrittenen Meeresregion und der darin liegenden Inseln und Atolle. Während das Südchinesische Meer in China kurz als "Südmeer" (nanhai) bezeichnet wird, gilt es in Vietnam als "Ostmeer" (Biển Đông). Die Philippinen dagegen haben die von ihnen beanspruchte Meeresregion 2012 per Präsidentenerlass in "Westphilippinisches Meer" (Dagat Kanlurang Pilipinas) umbenannt.

Verschärfende Faktoren

Nicht nur das Völkergewohnheitsrecht erweist sich in seiner Wirkung als politisch konfliktverschärfend, gleiches gilt auch für die UNCLOS selbst – und zwar nicht nur wegen der zusätzlichen Meeresgebiete, über die die Konfliktparteien Souveränitätsrechte reklamieren können. Hinzu kommt die breite Interpretierbarkeit des komplexen Vertragswerks und der Mangel an verbindlichen Streitschlichtungs- und -lösungsmechanismen. Besonders problematisch ist, dass die Konvention über Stichtagsregelungen die Staaten zur rechtlichen Klarstellung ihrer Positionen zwingt, was wiederum Proteste und Gegenmaßnahmen der Konkurrenten nach sich zieht.

So mussten beispielsweise alle Staaten, die über die 200 Seemeilen breite EEZ hinausgehende Rechte auf Basis der Kontinentalsockelregelung einforderten, die entsprechenden technischen Informationen bis zum Mai 2009 bereitstellen. Genau das taten Vietnam, Malaysia und die Philippinen, die fristgerecht bei der UN Commission on the Limits of the Continental Shelf (CLCS) ihre Vorlagen über die von ihnen beanspruchten Kontinentalsockelgebiete einreichten. Diese rechtlich gebotenen Vorlagen resultierten in einem beinahe zweijährigen diplomatischen Schlagabtausch, in dem jeder gegen die Forderungen des anderen protestierte. Auch fügte China in seinem Protest gegen die Vorlagen der anderen Staaten eine seit Langem bekannte Karte bei, welche die eigenen Ansprüche mit gerade einmal neun kurzen Strichen umreißt, ohne sie rechtlich genau zu bestimmen (die sogenannte nine dash-line, siehe Interner Link: Karten). Da dieser Protest der erste Anlass war, zu dem die Karte offiziell einem internationalen Gremium vorgelegt wurde, erregte sie nicht nur besondere Aufmerksamkeit, sondern rief auch den umgehenden Protest von Vietnam und Malaysia, aber auch Indonesien hervor. Die Philippinen protestierten aus unklaren Gründen erst zwei Jahre später, wogegen wiederum Vietnam und China protestierten, da sie die im philippinischen Einspruch vorgebrachten Forderungen nicht akzeptieren konnten. Parallel untermauerten alle Staaten ihre Ansprüche durch nationale Gesetzgebung, etwa durch ein neues Seerecht (Vietnam 2012), neue Bestimmungen zu maritimer Sicherheit sowie Fischereibestimmungen (China, Provinz Hainan 2013).

2013 wandte sich mit den Philippinen erstmalig eine der Konfliktparteien an die Internationale Gerichtsbarkeit. Die Philippinen beantragten, dass der Ständige Schiedshof in Den Haag darüber befinden sollte, inwieweit die von China vorgelegte Karte mit der UNCLOS vereinbar ist und eine rechtlich mögliche Grundlage für eventuelle chinesische Ansprüche darstellt. Dieser Schritt, der die explizite Unterstützung der USA, Japans und einer Reihe anderer Staaten fand, erscheint auf den ersten Blick als ein Versuch, das machtbasierte Souveränitätsspiel zugunsten eines rechtsbasierten Lösungsansatzes zu überwinden. Bei genauerem Hinsehen erweist sich diese Interpretation jedoch als trügerisch. Zum einen hat China die UNCLOS zwar unterzeichnet, hat aber wie viele andere Staaten auch von seinem Recht Gebrauch gemacht, die entsprechenden Artikel, die auf eine Schiedsgerichtsbarkeit verweisen, nicht zu akzeptieren. Zum anderen haben die Philippinen die generelle Frage nach dem rechtlichen Charakter der chinesischen Ansprüche mit konkreten Anfragen verknüpft, die in ihrer überwiegenden Mehrheit darauf abzielen, die philippinischen Ansprüche zu legitimieren. Das liegt jedoch weit außerhalb der Zuständigkeit des Ständigen Schiedshofs.

Der Völkerrechtler Stefan Talmon kommt zu dem Schluss, dass es den Philippinen in dem Verfahren vor allem darum gehe, internationale Unterstützung zu erzeugen: durch die Imagination eines Konflikts zwischen einem auf Rechtstaatlichkeit und friedliche Konfliktbeilegung orientierten "philippinischen David" und einem aggressiven, internationales Recht verletzendem "chinesischen Goliath". Dabei werde dem "Schiedsverfahren die Rolle der Steinschleuder und dem internationalen Recht die der Kieselsteine" zugewiesen. Schließlich gäben die Philippinen vor, selbstlos zu handeln, insoweit als ihr Vorstoß dazu diene, dem Gemeininteresse an ungehindertem Handel und der Freiheit der Schifffahrt Geltung zu verschaffen.

Auch die Unterstützung der USA für die philippinische Entscheidung erweist sich weniger als an der Aufrechterhaltung internationalen Rechts orientiert, denn als politisch motiviert: Die UNCLOS haben sie selbst bislang nicht ratifiziert, und auch sie haben sich in der Vergangenheit der internationalen Gerichtsbarkeit verweigert. Wenn sich einzelne Staaten, wie 2013 die Philippinen, an die internationale Gerichtsbarkeit wenden, so ist dies Teil des Spiels. Es zielt darauf, die philippinischen Ansprüche über den demokratischen und rechtsstaatlichen Charakter der philippinischen Vorgehensweise zu rechtfertigen, über diese wertebasierte Strategie internationale Unterstützung der führenden Demokratien zu erlangen und gleichzeitig China normativ als Aggressor auszugrenzen.

Weg von der Nullsummenlogik

Eine Lösung der komplexen Territorialproblematik im Südchinesischen Meer ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Vielmehr erscheint eine Fortsetzung des Souveränitätsspiels wahrscheinlich. Die Nullsummenlogik der Souveränität, wonach der Gewinn einer Seite immer gleich dem Verlust der anderen ist, sperrt sich gegen Lösungen, solange alle Seiten über genügend Ressourcen verfügen, um das Spiel fortzusetzen. Die machtpolitische Asymmetrie der Konfliktparteien ist nur begrenzt relevant, insofern als die schwächeren Parteien andere Ressourcen in den Konfliktaustrag einbringen und damit die rein militärische Überlegenheit Chinas ausbalancieren können. Dies erhöht gleichzeitig die Komplexität des Konflikts, da der Territorialkonflikt als Auseinandersetzung um die gute Ordnung (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit) und maritime Gemeingüter wie die Freiheit der Schifffahrt dargestellt wird. Hinzu kommt, dass die USA im Rahmen ihres Interesses am Fortbestand einer US-geführten und garantierten internationalen Weltordnung eigene Vorstellungen in den Territorialkonflikt einbringen und Lösungen präferieren, die zwar nicht notwendigerweise auf eine Eindämmung Chinas gerichtet sind, aber seine Einbindung zu amerikanischen Bedingungen anstreben.

Die zurückliegenden Jahrzehnte haben keiner der Konfliktparteien genutzt. Vielmehr trägt die beständige Fortsetzung des Souveränitätsspiels die beträchtliche Gefahr unbeabsichtigter Zusammenstöße und daraus resultierender Eskalationen bis hin zu begrenzten militärischen Konflikten in sich – eine Gefahr, die mit den militärischen Projektionsfähigkeiten der Akteure steigt.

Im Kern dieses Spiels steht die Nullsummenlogik unteilbarer Souveränität. Souveränität ist jedoch teilbar. Wenngleich äußerst selten, finden sich in der Praxis Fälle gemeinsamer Souveränität (Kondominium). Eine derartige Lösung zielt nicht darauf ab, die umstrittenen Territorien aufzuteilen, sondern gemeinsam zu regieren. Gemeinsam ausgeübte Souveränität schafft, verbreitert und vertieft kooperative Arrangements. Sie "erlaubt es den Staaten (…) eine Gemeinschaft geteilter Rechte und Verantwortlichkeiten aufzubauen. Dies, wiederum, kann langfristige Stabilität bieten, insoweit als es die Anreize (…) reduziert, Spannungen zu vertiefen". Eine Kondominium-Lösung könnte die sich gegenseitig ausschließenden und unteilbaren Territorialansprüche in ein Gut verwandeln, das allen Konfliktparteien gleichermaßen zukommt, und die Nullsummenlogik territorialer Konflikte somit aushebeln. Die konkurrierenden Parteien könnten ihre Souveränitätsansprüche weitgehend aufrechterhalten, was verhindern würde, dass eine Seite im Konflikt als Verlierer dasteht. Eine solche Lösung könnte die starken nationalistischen Untertöne langfristig entschärfen und sich als postnationalistisches Modell der Konfliktbearbeitung auch für andere komplexe Territorialstreitigkeiten als zukunftsweisend erweisen.

Angesichts der extremen Souveränitätsfixierung aller asiatischen Staaten dürfte ein solcher Weg allerdings mühsam sein. Entsprechendes Beispielhandeln westlicher Staaten könnte sich jedoch als hilfreich erweisen. So streiten etwa Dänemark und Kanada seit mehreren Jahrzehnten um die winzige Hans-Insel im Kennedy-Kanal zwischen Grönland und Ellesmere Island. Beide verweigern sich einer Teilung der Insel, beharren auf ihren Ansprüchen und unterstreichen diese durch regelmäßige Besuche von Politikern und Militärs in dieser abgelegenen Weltgegend. Eine Einigung auf ein Kondominium wäre ein starkes Signal, dass exklusives Souveränitätsdenken überwindbar ist.

Dr. phil., geb. 1961; Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Baseler Straße 27–31, 60329 Frankfurt/M. E-Mail Link: kreuzer@hsfk.de