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Erneute Gewalteskalation im türkisch-kurdischen Konflikt | Türkei | bpb.de

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Erneute Gewalteskalation im türkisch-kurdischen Konflikt

Gülistan Gürbey

/ 18 Minuten zu lesen

Die türkische Regierung bedient sich einer erneuten Gewaltstrategie, um die PKK und PYD einzudämmen und die HDP zu demontieren. Damit wird der historische Konflikt um die politische Zukunft der kurdischen Bevölkerungsgruppen jedoch nicht nachhaltig gelöst.

Seit Juli 2015 ist der türkisch-kurdische Konflikt wieder aufgeflammt. Rund zweieinhalb Jahre andauernde Friedensgespräche zwischen der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) brachen zusammen. Seit die Regierung am 24. Juli 2015 eine grenzüberschreitende militärische Offensive gegen die PKK startete, eskaliert die Gewalt. Jenseits von Anschlägen auf türkische Sicherheitskräfte und zivile staatliche Einrichtungen trug die PKK erstmals mithilfe ihrer Jugendorganisation, der Patriotisch revolutionären Jugendbewegung (YDG-H), den Krieg in die kurdischen Städte im Südosten hinein, während der Staat monatelang betroffene Städte und Provinzen mit Spezialeinheiten, Militärpanzern und Scharfschützen unter Beschuss nahm. Infolge des erbarmungslos geführten Städtekrieges bis Frühsommer 2016 wurden viele Zivilisten vor allem durch Scharfschützen getötet, darunter Kinder, Frauen und Ältere; mehr als 400.000 Menschen wurden zu Binnenflüchtlingen. Zahlreiche und historische Städteviertel – darunter auch die historische Altstadt der kurdischen Metropole Diyarbakır – sowie Lebensgrundlagen wurden komplett zerstört.

Gleichzeitig geht die Regierung seither bedingungslos auch gegen die kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) und ihre Bürgermeister, die kurdische Presse und Medien sowie kurdisch- zivilgesellschaftliche Organisationen vor. Mit der Eskalationsspirale steigt auch eine antikurdische Stimmung in der Gesellschaft, was sich landesweit in Angriffen auf HDP-Büros und kurdische Geschäfte niederschlägt.

Die wesentlichen Grundlagen der Kurdenpolitik der AKP-Regierung, die Ursachen der erneuten Gewalteskalation und die unterschiedlichen Interessen der Konfliktparteien sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.

Ambivalente Kurdenpolitik der AKP-Regierung

Die seit 2002 regierende AKP ist nicht nur die stärkste und einflussreichste, sondern auch die politische Kraft, die bisher die weitreichendsten Reformen in der Geschichte der türkischen Republik verabschiedete und Friedensgespräche mit der PKK führte. Allerdings änderten sich die klassischen Ziele der türkischen Kurdenpolitik trotz der Diversifizierung der Mittel grundsätzlich nie. Die Kurdenfrage wurde stets als Gefahr für die nationale und territoriale Integrität wahrgenommen, weshalb die Ziele der Kurdenpolitik von Kontinuität gekennzeichnet sind: Verhinderung der Entstehung eines kurdischen Staates, Bekämpfung der PKK, Eindämmung und Kontrolle kurdischer Forderungen und prokurdischer Politik. Die kurdenpolitische Strategie der AKP-Regierung folgt weiterhin dem Primat eines rigiden türkischen Nationalismus, das seit der Gründung der modernen Republik einen autoritären, omnipotenten Staat anstrebt. Dies ist der gemeinsame ideologische Nenner von AKP-Eliten und kemalistischen sowie (ultra-)nationalistischen Eliten. Die Kurdenfrage wird dabei als Bedrohung wahrgenommen, der mit einem militärisch-sicherheitspolitischen Ansatz begegnet wird.

Gleichzeitig dienen die ideologischen Komponenten Islam und Neo-Osmanismus dazu, die nationale Einheit über "religiöse und historische Brüderlichkeit von Türken und Kurden" herzustellen, den türkischen Einflussbereich als "Schutzpatron" der Kurden zu sichern und die regionale Machtposition im Nahen Osten zu untermauern. Diese ideologischen Leitlinien blenden die historische, politisch-nationale Dimension der Kurdenfrage aus und lassen nur eine begrenzte Liberalisierung zu.

So verabschiedete die Regierung zwischen 2002 und 2004 im Zuge des EU-Beitrittsprozesses Verfassungs- und Rechtsreformen, die zu einer Ausweitung der individuellen Freiheiten führten und positive Auswirkungen auf die Kurdinnen und Kurden hatten. Maßnahmen wie die Genehmigung privater Fernseh- und Rundfunksendungen sowie Kurse in kurdischer Sprache bewirkten ein Ende der Illegalität der kurdischen Identität. Im August 2005 räumte der damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan in Diyarbakır ein, dass der türkische Staat in der Vergangenheit Fehler in der Kurdenpolitik gemacht habe und dass er die Kurdenfrage mit "mehr Demokratie, mehr Bürgerrechte(n), mehr Wohlstand" lösen werde. Seine Rede und die verabschiedeten Reformen hatten eine Symbolwirkung und weckten hohe Erwartungen in der kurdischen Bevölkerung.

Mit zunehmender Machtkonsolidierung der AKP-Regierung unter Erdoğan geriet der innere Reformprozess des Landes jedoch immer mehr in den Hintergrund, während die außenpolitische Ambition, eine hegemoniale Regionalmacht zu werden, stärker in den Vordergrund trat. Ankündigungen, leere Versprechen sowie ein autoritärer Kurs prägten immer mehr das Regierungshandeln. Während die politische Konkurrenz zur HDP um die Wählergunst im Südosten des Landes stieg, bestimmten wahltaktische Kalküle den kurdenpolitischen Kurs. Erdoğan und die AKP spielten auf Zeit: Prägnantes Beispiel ist die "demokratische beziehungsweise kurdische Öffnung" von 2009, die im Kern ein Lippenbekenntnis der Regierung blieb, oder auch das enttäuschende "Demokratisierungspaket" vom September 2013. Selbst die Friedensgespräche mit der PKK waren strategisch motiviert, obwohl die Regierung damit erstmals ein Tabu brach und die staatliche Grundposition, mit Terroristen keine Gespräche zu führen, infrage stellte.

Fragiler Friedensprozess und Regionalisierung des internen Konfliktes

Im Auftrag der Regierung führte der Nationale Nachrichtendienst (MİT) 2012 Gespräche mit dem inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan, was auch signalisierte, dass er als Gesprächspartner und Vertreter der kurdischen Nationalbewegung akzeptiert wurde. Auf kurdischer Seite waren zudem die PKK-Führung und die HDP an den Gesprächen beteiligt. Die HDP vermittelte direkt zwischen Öcalan und der PKK-Führung und tauschte gegenseitige Botschaften aus. Damit wurde sie von der türkischen Regierung als politischer Arm der PKK angenommen. Der Friedensprozess dauerte bis zum Juli 2015.

In einer Botschaft, die zum Newrozfest am 21. März 2013 in Diyarbakır von der HDP vor Millionen Menschen verlesen wurde, forderte Öcalan die PKK zum Waffenstillstand und zum Rückzug aus dem türkischen Gebiet auf. Die PKK reagierte und begann im Mai 2013 mit dem Rückzug, der jedoch ab September 2013 zum Stillstand kam. Die PKK-Führung erwartete von der türkischen Regierung, dass sie im Gegenzug politische Schritte zur Liberalisierung einleitet. Zwar verabschiedete die Regierung Ende September 2013 das "Demokratisierungspaket", das einige Verbesserungen enthielt, etwa die Aufhebung des Buchstabenverbots der im kurdischen Alphabet gebrauchten Buchstaben X, Q und W. Aber substanzielle Fortschritte im Hinblick auf die wesentlichen Forderungen der Kurden wie das Recht auf Erziehung in kurdischer Sprache blieben aus, was Unmut auf kurdischer Seite erzeugte.

Der ins Stocken geratene Friedensprozess drohte im Oktober 2014 zu enden, als die türkische Regierung sich weigerte, einen Hilfskorridor zur syrisch-kurdischen Stadt Kobanê nahe der türkischen Grenze zu öffnen. Kobanê war vom sogenannten Islamischen Staat (IS) eingekesselt, und die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihre militärischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) leisteten erbitterten Widerstand. Als die türkische Regierung Hunderte freiwillige türkische Kurden, die den Widerstand der syrischen Kurden gegen den IS unterstützen wollten, am Grenzübertritt hinderte, eskalierte die Situation: Der wachsende Unmut der türkischen Kurden entlud sich in schweren gewalttätigen Ausschreitungen in weiten Teilen der Türkei. Öcalan und die PKK-Führung drohten mit dem Ende des Friedensprozesses, sollte Kobanê fallen. Die Ereignisse waren ein Wendepunkt, der zur Regionalisierung des internen Konfliktes beitrug.

Beide Seiten reagierten auf die Eskalation mit der Wiederaufnahme von Gesprächen. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz am 28. Februar 2015 verlasen Regierungsvertreter und eine HDP-Parlamentarierdelegation im Istanbuler Dolmabahçe-Palast eine Absichts- und Zehnpunkteerklärung Öcalans. Öcalan rief darin die PKK auf, einen außerordentlichen Kongress abzuhalten, auf dem die Entscheidung über die Einstellung des bewaffneten Kampfes getroffen werden soll. Diesen Appell knüpfte er schließlich in seiner dritten Botschaft zum Newrozfest 2015 an drei Bedingungen: die Übereinkunft über die zehn Punkte als Rahmen für Verhandlungen, die Bildung eines Beobachterkomitees zur Überwachung des bislang nicht formalisierten Friedensprozesses und einer Wahrheitskommission aus Parlamentsmitgliedern und Mitgliedern des Beobachterkomitees. Diese sogenannte Erklärung von Dolmabahçe blieb jedoch aufgrund der Ablehnung Erdoğans wirkungslos. Vor allem mit Blick auf die bevorstehende Parlamentswahl im Juni 2015 wollte Erdoğan konservative und nationalistische Wählerstimmen nicht verlieren, um die absolute parlamentarische Mehrheit zu erlangen und damit den Weg für die Einführung eines Präsidialsystems freizumachen. Der stagnierende Friedensprozess gelangte somit an sein Ende. Die Fronten verhärteten sich zunehmend, was sich unter anderem darin niederschlug, dass die Regierung seit April 2015 den Kontakt zwischen der HDP und Öcalan nicht mehr erlaubte.

Kurdengebiete im Nahen Osten (© mr-kartographie. Gotha 2017)

"Krieg gegen den Terror" und eskalierende Gewalt

Allen voran drei Faktoren beschleunigten den Ausbruch der Gewalt: Erstens gelang es der YPG – unterstützt von Luftangriffen der USA – Kobanê im Januar 2015 zu befreien, während Staatspräsident Erdoğan und die türkische Regierung den Fall Kobanês erwarteten. Die zunehmende internationale Unterstützung für die Kurden und die steigende Reputation der PKK beziehungsweise PYD lagen nicht im Interesse Ankaras.

Zweitens überschritt die HDP bei den Parlamentswahlen trotz dauerhafter Diffamierung seitens der AKP im Juni 2015 die undemokratische, aber erforderliche Zehnprozenthürde und schaffte erstmals den Einzug in das Parlament. Damit verfehlte die AKP entgegen ihrer Ziele die absolute parlamentarische Mehrheit. Allerdings war die HDP zahlreichen gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt, darunter einem Bombenanschlag während ihrer Abschlusskundgebung in Diyarbakır im Juni.

Drittens befreite die PYD kurz nach den türkischen Parlamentswahlen mithilfe von US-Luftangriffen die syrische Grenzstadt Tall Abyad vom IS. Damit war nicht nur eine wichtige Versorgungsroute des IS zur Türkei abgeschnitten, sondern auch eine geografische Zusammenlegung der bis dato voneinander getrennten kurdischen Selbstverwaltungskantone Kobanê und Cezire erreicht. Aus türkischer Sicht läuteten damit endgültig die Alarmglocken. Die türkische Regierung betrachtet die drei kurdischen Selbstverwaltungsgebiete Cizre, Kobanê und Afrin in Nordsyrien, die auf Kurdisch "Rojava" genannt werden und unter der Kontrolle und Verwaltung der PYD stehen, als Parallelstrukturen der PKK und damit als Bedrohung für die eigene territoriale und nationale Einheit. Ankara befürchtet, dass aus Rojava in Nordsyrien ein kurdischer Staat mit Zugang zum Mittelmeer entsteht. Staatspräsident Erdoğan machte wiederholt deutlich, dass die Türkei eine kurdische Autonomie in Syrien, ähnlich der im Nordirak, niemals akzeptieren werde.

Das Kräftemessen zwischen der Regierung und der PKK spitzte sich parallel zu den Erfolgen der PYD und PKK in Syrien und im Irak immer mehr zu. Dies hatte negative Folgen auf den ohnehin stockenden Friedensprozess. Aus türkischer Sicht eskalierte die Situation von Kobanê im Oktober 2014 über die Parlamentswahlen bis zur Befreiung Tall Abyads im Juni 2015 und mündete endgültig am 24. Juli in den sogenannten Krieg gegen den Terror. Mit einer nationalistisch-aggressiven Rhetorik gelang es Staatspräsident Erdoğan und seiner AKP bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 1. November 2015, die verlorene parlamentarische Mehrheit wieder zurückzuerobern. Die HDP schaffte trotz Stimmenverluste erneut den Einzug ins Parlament und erhielt die drittmeisten Sitze.

Städtekrieg und Eliminierung der PKK/PYD

Kobanê hatte bereits die fundamentalen Interessengegensätze zwischen der PKK und der Regierung offenbart. Rojava war und ist die "rote Linie" der PKK und sollte gehalten werden, während die Türkei genau das zu verhindern bestrebt war und nach wie vor ist. Gestärkt durch die Erfolge in Rojava setzte die PKK darauf, mithilfe der YDG-H den Krieg in die Städte und Provinzen im Südosten der Türkei hineinzutragen, wo die Unterstützung für die PKK und HDP groß ist, unter anderem in Şırnak, Cizre, Yüksekova, Mardin, Hakkâri und Diyarbakır. Mit dieser Gewaltstrategie versuchte die PKK, die kurdische Bevölkerung in der Türkei zu einem Aufstand anzustacheln und die Regierung dazu zu bringen, die in mehreren Gebieten im Südosten ausgerufene Selbstverwaltung endlich zu akzeptieren. Das Kalkül der PKK ging nicht auf: Der Staat schlug mit exzessiver Gewalt zurück, indem er betroffene Provinzen und Städte bombardierte, monatelange Ausgangssperren verhängte, viele Orte zu speziellen Sicherheitsregionen erklärte und den medialen Zugang komplett kappte.

Der Städtekrieg hielt monatelang an, bis im Frühsommer 2016 die Regierung die Kontrolle wieder erlangte. Ferner verschärfte der Krieg die staatliche Repression nicht nur im Umfeld der PKK, sondern im gesamten kurdisch-politischen Bereich und hatte zahlreiche Verhaftungen und Verbote von Einrichtungen und Medien zur Folge. Die von der PKK erhoffte Unterstützung aus der Bevölkerung blieb weitgehend aus, da sie kollektiv zur Zielscheibe der Gewalteskalation wurde. Viele Kurden kritisieren die neue Gewaltstrategie der PKK, während sie über das staatliche Vorgehen und die fehlende Solidarität aus dem Westen des Landes zutiefst enttäuscht sind.

Die AKP-Regierung weitete ihren militärischen Konfrontationskurs auch jenseits der türkischen Grenze gegen die PYD und ihren militärischen Arm YPG aus. Am 24. August 2016 startete das türkische Militär gemeinsam mit von ihr unterstützten islamistischen und dschihadistischen Kräften der Freien Syrischen Armee unter dem Codenamen "Schutzschild Euphrat" eine Militäroffensive in der nordsyrischen Dscharabulus-Region. Sie reagierte damit auf den militärischen Erfolg der YPG, unter deren Führung die Demokratischen Kräfte Syriens mithilfe von US-Luftangriffen im August 2015 die strategisch wichtige Stadt Manbidsch an der Grenze zur Türkei vom IS befreit und unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Damit hatte die YPG eine weitere Verbindungslinie des IS zur Türkei abgeschnitten und sich zugleich die Chance erkämpft, in die strategisch wichtige Dscharabulus-Region vorzurücken und eine territoriale Zusammenlegung ihrer Kantone zu erreichen.

Mit der Bodenoffensive wollte die Türkei den Vormarsch der YPG stoppen, die territoriale Zusammenlegung der kurdischen Kantone verhindern und in diesem Gebiet, welches das kurdische Kanton Afrin im Nordwesten vom Rest der übrigen Kantone trennt, de facto eine Sicherheits- und Flugverbotszone errichten. Die Regierung hatte schon zuvor ein Vorrücken der YPG westlich des Euphrats als ihre "rote Linie" bezeichnet und drohte mit allen Mitteln den Vormarsch zu verhindern. Bereits im Februar 2016 hatte die türkische Luftwaffe Stellungen der YPG nördlich der umkämpften syrischen Stadt Aleppo bombardiert.

Demontage der HDP und der lokalen Demokratie

Mit der Gewalteskalation geriet vor allem die HDP zunehmend zwischen die Fronten und faktisch ins politische Abseits. Staatspräsident Erdoğan forderte wiederholt die Aufhebung der Immunität von HDP-Abgeordneten mit der Begründung, dass "Handlanger der PKK" im Parlament nichts zu suchen hätten. So hob das türkische Parlament am 20. Mai 2016 mit Unterstützung der kemalistischen Republikanischen Volkspartei und der ultranationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung die Immunität von mehr als einem Viertel der Parlamentsabgeordneten auf. Zwar waren davon alle Parteien betroffen, insbesondere jedoch die HDP. 50 ihrer 59 Parlamentsabgeordneten verloren durch das Gesetz ihre Immunität.

Der nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 verhängte und bis heute andauernde Ausnahmezustand lieferte letztendlich die Handhabe dafür, per Dekret umfassende "Säuberungen" im gesamten politischen und zivilgesellschaftlichen Spektrum der Kurden vorzunehmen. So wurden am Ende des Sommers 2016 zahlreiche kritische Medien und Zeitungen und im November zudem zivilgesellschaftliche Einrichtungen verboten. Bis zu 14.000 kurdische Lehrerinnen und Lehrer im Südosten wurden suspendiert.

Bei nächtlichen Razzien und unter Blockierung des Zugangs zu sozialen Medien wurden am 4. November die Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie zehn weitere Abgeordnete der HDP wegen "Unterstützung des Terrorismus" festgenommen. Für Demirtaş fordert die türkische Staatsanwaltschaft eine Haft von 142 Jahren, für Yüksekdağ 83 Jahre. Die HDP sprach von "politischer Lynchjustiz" und setzte daraufhin zeitweilig ihre parlamentarische Arbeit in Ausschüssen und im Plenum aus. Im Zuge der laufenden Antiterror-Operationen werden immer wieder HDP-Büros durchsucht und zahlreiche Personen festgenommen, insbesondere nach Terroranschlägen der PKK. So wurden nach den Bombenanschlägen durch die sogenannten Freiheitsfalken Kurdistans am 10. Dezember 2016 in Istanbul mehr als 300 Personen aus dem kurdisch-politischen Spektrum festgenommen.

Die Demontage der HDP läuft derzeit auf Hochtouren. Betroffen sind nicht nur die Führungsriege und Aktivisten der Partei, sondern auch ihr lokaler Ableger, die Demokratische Partei der Regionen (DBP), sowie ihre regierenden Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die seit Jahren von 65 bis 95 Prozent der türkischen Kurden gewählt werden. Per Dekret wurden im September 2016 in über zwei Dutzend mehrheitlich kurdischen Städten oder Gemeinden mehr als 70 Bürgermeister, Tausende von lokalen Verantwortlichen und Mitglieder der HDP und DBP inhaftiert. Mittlerweile wurden zahlreiche Kommunalverwaltungen unter staatliche Kontrolle gebracht und abgesetzte Bürgermeister durch Treuhänder ersetzt.

Auch der Kampf gegen die HDP auf lokaler Ebene wird mit dem Vorwurf des "Terrorismus" und der "Bedrohung für die nationale Sicherheit" begründet: Die lokalen Vertretungen hätten die Gelder aus Ankara zur Unterstützung des Terrorismus verwendet. Die PKK reagierte daraufhin mit mehr Gewalt und weitete ihre Anschläge auf die staatlichen Verwalter und Vertreter der AKP in der Region aus. Durch ihre repressiven Maßnahmen gelingt es der Regierung, die HDP mundtot zu machen und die demokratiepolitischen Errungenschaften der kurdischen Politik insbesondere im Bereich der lokalen Demokratie zu zerstören. Damit werden die Kurden politisch um Jahre zurückgeworfen, während die staatliche Blockade der politischen Partizipation der Kurden durch die Demontage der HDP und der lokalen Demokratie die Eskalation befördert.

Substanzielle Interessendivergenzen

Die gewachsene Rivalität zwischen Ankara und der erstarkten PKK beziehungsweise PYD im Selbstverwaltungsgebiet Rojava sowie grundlegende Interessengegensätze hatten einen entscheidenden Einfluss darauf, dass der fragile Friedensprozess endgültig zusammenbrach. Erstens lief der Prozess ohne einen offiziell formalisierten "Friedensplan", also eine Art Roadmap, der den gesamten Prozess inhaltlich und zeitlich strukturiert und gleichzeitig beide Seiten zu bestimmten Maßnahmen verpflichtet hätte. Folglich stockte der Friedensprozess, und beide Seiten richteten ihr Handeln primär nach strategischen Kalkülen aus, um ihre militärische Handlungsfähigkeit zu erweitern. So stellte die Regierung während des Friedensprozesses neue sogenannte Dorfschützer ein und forcierte den Bau neuer Militärstationen, Sicherheitsstrecken und sogenannter Sicherheits-Staudämme, was wiederum den Verdacht auf kurdischer Seite bestätigte, dass die Regierung den Friedensprozess lediglich als Instrument zur Machtkonsolidierung und Eindämmung der kurdischen Autonomiebestrebungen nutzte. Die durch die militärischen Erfolge in Rojava gestärkte PKK baute währenddessen ihre städtischen Strukturen aus, wappnete sich quasi für einen Städtekrieg und erklärte in einigen Gebieten ihre Selbstverwaltung.

Zweitens vertreten beide Seiten Positionen, die diametral entgegengesetzt sind und Kompromisse erschweren. Grundsätzlich will die Regierung eine bedingungslose Entwaffnung der PKK. Sie lehnt weitere Zugeständnisse ab und will gleichzeitig vermeiden, dass die PKK beziehungsweise PYD im Zuge dieses Prozesses an Legitimation hinzugewinnt. Sowohl Staatspräsident Erdoğan als auch die Regierung sind der Überzeugung, dass die bislang verabschiedeten Reformen zur Stärkung der individuellen Freiheiten und der Nutzung der Sprache ausreichen. Sie lehnen föderale oder autonome Formen der Selbstverwaltung, das Recht auf Erziehung in kurdischer Sprache sowie die Beobachtung und das Monitoring der Verhandlungen durch Dritte strikt ab. Für die kurdische Seite (Öcalan, PKK-Führung und HDP) sind diese Forderungen hingegen unverzichtbar. Sie will grundsätzlich eine "demokratische Lösung" innerhalb der Türkei durch eine Stärkung von Autonomie und Dezentralisierung erreichen. Aus kurdischer Sicht sind vor allem drei Forderungen von vitaler Bedeutung, über die ein weitgehender Konsens innerhalb der kurdischen Politik und Zivilgesellschaft besteht: die verfassungsmäßige Anerkennung der kurdischen Identität, das Recht auf Erziehung in Kurdisch im staatlichen Erziehungssystem sowie die Stärkung der lokalen und regionalen Selbstverwaltung, was mit "demokratischer Autonomie" umschrieben wird.

Bereits 2007 unterbreitete die Vorgängerpartei der HDP einen Vorschlag, in dem das Konzept der "demokratischen Autonomie" konkretisiert wurde. Der Vorschlag sah den Aufbau einer föderalen Staatsstruktur und Einteilung in 20 bis 25 Regionen mit eigener Regierung und eigenem Parlament vor. Weitere Forderungen der kurdischen Seite sind unter anderem die Auflösung des Dorfschützersystems, die Abschaffung des Antiterrorgesetzes und der Zehnprozenthürde, die Freilassung politischer Häftlinge und Öcalans. Schließlich besteht die kurdische Seite auf einem formalisierten Friedensprozess mit Verpflichtungen für beide Seiten. Dies sollte im Rahmen der Zehnpunkteerklärung von Dolmabahçe durch die Einschaltung Dritter und die Beteiligung des Parlaments gewährleistet werden. Zur Beobachtung und zum Monitoring der Verhandlungen sollte ein unabhängiges Komitee gebildet werden, um die beschlossenen Maßnahmen unabhängig zu prüfen und zu bewerten sowie um einer einseitigen Interessenkalkulation der Konfliktparteien vorzubeugen. Aus Sicht der PKK könne erst dann die endgültige Waffenniederlegung stehen, wenn diese Bedingungen erfüllt und im Rahmen einer neuen Verfassung verankert sind.

Ausblick

Bislang ist noch kein Ende der Gewalt in Sicht. Jenseits der unterschiedlichen Zielvorstellungen ist davon auszugehen, dass der Ausgang der Rivalität zwischen der Türkei und der PKK in Syrien und im Irak darüber entscheidet, ob der Friedensprozess wieder aufgenommen wird. Allerdings ist ein Friedensprozess unter Ausschluss der PKK und der HDP, wie ihn die Regierung anstrebt, nicht zu erreichen. Ein erneuter Friedensprozess braucht wirksame Mechanismen wie das Monitoring, um drohenden Gefahren rechtzeitig entgegenzuwirken.

Gleichwohl ist eine dauerhafte Lösung des Konfliktes mit der Gewährung individueller und kultureller Freiheiten allein nicht möglich. Denn die Frage um die politische Zukunft der Kurden ist im Kern eine historische Erblast der Friedensregelungen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zerfall des Osmanischen Reiches. Weil die Kurden als Verlierer weder Autonomie noch Staatlichkeit erhielten, sind die Nachbeben der Friedensregelung auch gegenwärtig besonders deutlich zu spüren. Die Bestrebungen der Kurden um Autonomie und Selbstbestimmung sind historisch gewachsen und können nicht ignoriert werden. Als Grundlage für jedwede Konfliktlösung ist die Anerkennung der kurdischen Bestrebungen unabdingbar. Nur mit einer solchen Herangehensweise hat die türkische Regierung eine Chance, die Gewalt endgültig zu beenden. Dazu braucht es nicht nur politischen Willen, sondern auch neue Wege der Machtverteilung, um eine Lösung durch mehr Autonomie zu erzielen. Derzeit ist die Regierung jedoch von einem solchen Ansatz weit entfernt.

ist Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Friedens- und Konfliktforschung, Defekte Demokratien, De-facto-Staaten, internationaler Minderheitenschutz, die Türkei, Zypern und Kurdistan. E-Mail Link: dapir@web.de