Politik als "postfaktisch" zu bezeichnen, war im vergangenen Jahr diskursiv überaus erfolgreich. Worin liegt der Erfolg begründet? Und warum wird öffentlich meist ein thematisch "einheitlicher" Diskurs unterstellt, wenn er sehr heterogene Themen verbindet?
Selten scheint ein Begriff den Zeitgeist und die kollektive Befindlichkeit einer Gesellschaft so auf den Punkt zu bringen wie "postfaktisch", den die Gesellschaft für deutsche Sprache 2016 zum Wort des Jahres wählte. Innerhalb weniger Monate erlangte eine Wirklichkeitsdeutung in allen Bereichen der deutschen Gesellschaft – der Politik, den Feuilletons, der Wissenschaft, aber auch der allgemeinen Öffentlichkeit – so breite Akzeptanz, dass von einer neuen "großen Erzählung" gesprochen werden kann. Erzählt wird eine Verfallsgeschichte, in der die großen Errungenschaften der Aufklärung und Moderne – unter anderem Rationalität, Objektivität, Wissenschaftlichkeit, Faktenbezug, Demokratie – verdrängt werden von Emotionalität, Irrationalität und neuen autoritären politischen Strukturen.
In der Sphäre des Politischen werden nicht nur postfaktische Politiker und postfaktische Politik identifiziert, sondern wird bereits eine postfaktische Demokratie gesichtet. Wer von dieser Zeitdiagnose profitiert, ist für manche eindeutig: "Gewinnerin ist die neue Rechte, die über Wahrheit lacht, Emotionen schürt und mit dem Ausruf eines neuen Zeitalters ihre Lügen nun gar noch legitimiert bekommt." Vielleicht ist die neue Rechte die einzige politische Gewinnerin dieser Entwicklung, diskursiv getragen wird die Diagnose jedoch quer durch alle politischen Lager. Der skizzierte Facettenreichtum und vor allem die thematische Breite des "Postfaktischen" führten dazu, dass auch jenseits der neuen Rechten von "postfaktischen Zeiten" gesprochen und der Beginn eines "postfaktischen Zeitalter(s)" ausgerufen wurde.
Unabhängig davon, ob "postfaktisch" kritisch oder eher neutral-diagnostisch genutzt wird oder ob das Postfaktische wie beim Rekurs auf "alternative Fakten" gar affirmativ aufgerufen wird: Immer wird ein reales Phänomen zugrunde gelegt. Das Problem, ob diese Phänomene empirisch zutreffen, möchten wir in diesem Beitrag beiseitelassen und uns stattdessen zwei Fragen widmen, die auf der Ebene der öffentlichen Diskurse über "Postfaktizität" angesiedelt sind.
Die Debatten über Postfaktizität werden zumeist als ein einziger Diskurs wahrgenommen. Das ist ein entscheidender Faktor für die Attraktivität des Begriffes, denn nur hierdurch konnte eine "große Erzählung" konstruiert werden. Empirisch kann jedoch gezeigt werden, dass mehrere klar voneinander abgrenzbare Themen parallel im diskursiven Feld "Postfaktizität" existieren. Vor diesem Hintergrund lautet die erste Frage: Warum werden Debatten über Postfaktizität als ein Diskurs interpretiert?
Begriffe bringen einerseits komplexe empirische Phänomene auf den Punkt und ermöglichen damit die diskursive gesellschaftlich-politische Auseinandersetzung. Andererseits konstruieren sie jene Realität, die sie (vermeintlich) nur benennen. Die Dialektik von Konkretisierung und Konstruktion ist der Ausgangspunkt unserer zweiten Frage: Warum war "postfaktisch" diskursiv so erfolgreich? Hat sich die gesellschaftliche Realität in Deutschland binnen kürzester Zeit so radikal verändert, dass seine Karriere zwingend war? Oder resultiert diese eher aus einer neuen Etikettierung bekannter Phänomene, die thematisch sehr heterogen sind?
Diese beiden Fragen möchten wir im Folgenden beantworten: einerseits empirisch anhand einer Inhaltsanalyse von Zeitungsartikeln, andererseits deutungskulturell, indem wir das Phänomen der Postfaktizität in seinen größeren gesellschaftspolitischen Kontext einbetten.
Empirische Annäherung
Um sich unseren Ausgangsfragen empirisch zu nähern, haben wir eine Inhaltsanalyse aller zwischen Juli 2016 – als die deutschsprachige Diskussion über "Postfaktizität" einsetzte – und August 2017 publizierten deutschsprachigen Zeitungsartikel durchgeführt, in denen "postfaktisch" oder ein verwandter Begriff wie "Postfaktizität" genutzt wurde und die über den Datenbankanbieter LexisNexis abrufbar waren. Nach Ausschluss von Doubletten, Leserbriefen, Inhaltsverzeichnissen und Veranstaltungsankündigungen ergab das ein bereinigtes Textkorpus von 1515 redaktionellen Zeitungsartikeln, die wir mithilfe der Methode des Text-Mining vollständig in die Analyse einbeziehen konnten, ohne eine Zufallsauswahl treffen zu müssen.
Mittels Frequenzanalysen haben wir zunächst die Häufigkeit zentraler Begriffsfelder des "Postfaktisch"-Diskurses im Zeitverlauf und differenziert nach Rubrik nachvollzogen. Da reine Frequenzanalysen nur begrenzt aussagekräftig sind, weil sie die Sinndimension von Texten nicht entschlüsseln können, haben wir anschließend Topic Modeling genutzt, das auf Basis quantitativer Analysen die Interpretation der Sinndimension von großen Textkorpora ermöglicht. Der dem Topic Modeling zugrunde liegende Algorithmus identifiziert Wörter, die im Korpus überzufällig häufig gleichzeitig über alle Dokumente verteilt erscheinen, als Topic (Thema). Sofern sie sprachlich distinkt sind, kann er auch mehrere solcher Themen in einem Korpus identifizieren. Topic Modelle sind wertvoll bei der Exploration von großen Textkorpora, weil sie die Identifikation langfristiger Entwicklungslinien ermöglichen.
Aus der Frequenzanalyse geht hervor, dass die Nutzung des Wortfeldes "postfaktisch" im Untersuchungszeitraum starken Schwankungen unterliegt. Sie findet ihren Höhepunkt im Dezember 2016 mit rund 650 Nennungen im gesamten Monat, um anschließend innerhalb von drei Monaten auf etwa 100 Nennungen zu fallen und danach weiter abzusinken (Abbildung 1). Mit Blick auf weitere zentrale Begriffsfelder des Diskurses kann unsere Häufigkeitsanalyse die gängige These bestätigen, dass Postfaktizität und Emotionen eine thematische Einheit bilden: Die relative Summe der Nennungen dieses Begriffsfeldes liegt zwar konstant rund 50 Prozent niedriger als die von "postfaktisch", die Entwicklung über die Zeit ist jedoch nahezu identisch. Aufschlussreich ist, dass das Namensfeld "Trump" nicht nur früher als das Wort "postfaktisch" intensiv genutzt wird, sondern auch die Nutzungsverläufe der beiden Begriffe sich deutlich voneinander unterscheiden. Die Nutzung des Wortfeldes "Fake" startet ebenfalls später als die von "Trump" und besitzt auch einen eigenständigen Verlauf.
Für die Kontextualisierung dieser Häufigkeitsentwicklungen ist aufschlussreich, dass das Begriffsfeld "post-factual" in den Vereinigten Staaten in einem politischen Sinne bereits seit 2011 genutzt wurde, wie etwa eine Analyse der an Google gerichteten Suchanfragen bei Google-Trends zeigt. Vor allem während des US-Präsidentschaftswahlkampfes 2016 stiegen die entsprechenden Suchanfragen rapide an. Viral wirkte in diesem Zusammenhang ein Interview des US-Nachrichtensenders CNN mit dem Berater Donald Trumps, Newt Gingrich, am 22. Juli 2016, in dem er Gefühle mit Fakten gleichsetzte. Das assoziierte Begriffsfeld "Fake" bezieht sich maßgeblich auf "Fake-News", Trumps Bezeichnung für den kritischen Journalismus des "liberalen Establishments", und wird von ihm kontinuierlich genutzt. Seine Verwendung nimmt in der deutschsprachigen Presse im Zuge der Berichterstattung über die Bezeichnung "alternative Fakten" zu, die Trumps Beraterin Kellyanne Conway popularisierte. Anschließend wird der Begriff auch im Zusammenhang mit innenpolitischen Themen genutzt. Beim "Postfaktischen" handelt es sich also um einen Diskurs, der kulturell in der US-Politik verankert ist und zunächst durch die Berichterstattung über den US-Vorwahlkampf und insbesondere den Präsidentschaftskandidaten Donald Trump in den deutschen Diskurs importiert wurde.
Der Höhepunkt der Nutzung des Wortes "postfaktisch" in deutschsprachigen Zeitungen im Dezember 2016 resultiert aus der Berichterstattung über die am 9. Dezember bekannt gegebene Wahl von "postfaktisch" zum Wort des Jahres durch die Gesellschaft für deutsche Sprache. Wenige Monate vorher, am 19. September 2016, hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach der Berliner Senatswahl zum schlechten Abschneiden der CDU gesagt: "Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen."
Die Nutzung von "postfaktisch" in der journalistischen Berichterstattung hat ihren Zenit im Herbst 2017 deutlich überschritten. Dies impliziert nicht, dass das Konzept obsolet geworden ist. Ruft man sich die kurzen Aufmerksamkeitsspannen öffentlicher Diskurse und die Neuigkeitslogik der Massenmedien in Erinnerung, ist es vielmehr sehr bemerkenswert, wie lange und intensiv "postfaktisch" genutzt wurde.
Um die zeitliche Ausdehnung dieser intensiven Nutzung angemessen deuten zu können, ist es hilfreich, die Verteilung der Zeitungsartikel im Korpus nach Ressorts heranzuziehen (Tabelle). Zeitungen fungieren sowohl als Spiegel als auch als Konstrukteure von Wirklichkeit. Die Berichterstattung im Politikteil (n=317) spiegelt maßgeblich die Handlungen und Äußerungen politischer Akteure und damit die Relevanz von "postfaktisch" innerhalb des politischen Diskurses selbst wider. Anders verhält es sich im Feuilleton (n=426), denn die Kulturseiten sind genau wie Meinung und Kommentar (n=256) jener Raum in einer Zeitung, in dem nicht dem Takt politischer Ereignisse sowie von Pressemitteilungen und Interviews gefolgt werden muss, sondern die Redaktion aktiv in gesellschaftspolitische Debatten eingreifen und eine metareflexive Position einnehmen kann. Vergleicht man allein die Zahlen der veröffentlichten Artikel nach Ressorts, so überwiegen die Reflexionsartikel deutlich.
Thematische Binnendifferenzierung
Die Analyse der Häufigkeitsentwicklung zentraler Begriffe des "Postfaktisch"-Diskurses hat bereits nahegelegt, dass kein thematisch kohärenter Diskurs existiert. Um diese Spur weiter zu verfolgen und die thematische Binnenstruktur des Diskurses zu identifizieren, haben wir ein Topic Modell über das gesamte Textkorpus laufen lassen. Die Zahl der zu findenden Topics kann dem Algorithmus vorgegeben werden. Es existiert keine endgültig optimale Anzahl von Topics, da diese stark vom Analysefokus abhängig ist. Explorativ haben sich für unser Erkenntnisinteresse 20 Topics als gut interpretierbar herausgestellt. Die fünf quantitativ wichtigsten können inhaltlich folgendermaßen charakterisiert werden:
Das Internet-und-Social-Media-Topic umfasst das Internet im Allgemeinen und die sozialen Medien (insbesondere Facebook) im Speziellen. Innerhalb dieses Clusters wird die Rolle, die beide bei der Verbreitung von "Fake News" und Lügen spielen, diskutiert sowie die Nutzung sozialer Medien als Informationsquelle von Journalistinnen und Journalisten.
Das Trump-Topic bildet Donald Trump und seinen "neuen" Politikstil ab, bei dem Tatsachen keine beziehungsweise eine untergeordnete Rolle spielen (Stichwort "alternative Fakten") und zudem eine Anti-Establishment-Haltung dominiert. Innerhalb dieses Themenbereichs stehen zwar die Vereinigten Staaten im Mittelpunkt, thematisiert werden jedoch darüber hinaus auch die Konsequenzen dieses Politikstils für den Rest der Welt und insbesondere für Europa.
Im Wissenschaft-und-Fakten-Topic wird das Verhältnis von wissenschaftlicher Forschung zur Wahrheit thematisiert. Exemplifiziert wird dieses Verhältnis zumeist anhand des Klimawandels und der Frage, inwieweit die Aussage, dass er menschengemacht ist, durch Fakten gedeckt werden kann.
Das Innenpolitik-Topic umfasst die Berichterstattung über Politikerinnen und Politiker sowie über alle etablierten Parteien mit Ausnahme der FDP und einem starken Fokus auf die AfD.
Das "Wort des Jahres"-Topic kreist um die Wahl von "postfaktisch" zum Wort des Jahres 2016. In diesem Zusammenhang erfolgt häufig eine Definition des Begriffs "Postfaktizität" im Sinne einer Aufwertung von Emotionalität bei gleichzeitiger Abwertung von Tatsachenbezügen.
Diese fünf Topics bilden in ihrer Summe den größten Teil des "Postfaktisch"-Diskurses. Das Trump-Topic ist mit einem prozentualen Anteil von fast zwölf Prozent am Gesamtdiskurs mit weitem Abstand das quantitativ wichtigste. Darauf folgen das Social-Media-Topic und das "Wort des Jahres"-Topic. Beide stellen je 6,5 Prozent des Gesamtdiskurses dar. Dicht darauf folgt das Innenpolitik-Topic mit 5,3 Prozent und mit 4,4 Prozent das Wissenschaft-und-Fakten-Topic. Die dahinter platzierten Topics oszillieren um drei Prozent am Gesamtaufkommen.
Der Blick auf die Entwicklung dieser fünf Topics im Verlauf unseres Untersuchungszeitraums verdeutlicht, dass sie zeitlich versetzt erschienen (Abbildung 2). Eine Initialzündung des Diskurses stellt das Trump-Topic dar. Daran schließt sich mit etwa einem Monat Verzögerung das "Wort des Jahres"-Topic an. Das Internet-und-Social-Media-Topic gewinnt wiederum rund einen Monat nach dem "Wort des Jahres"-Topic an quantitativer Bedeutung. Im Vergleich dazu ist das Innenpolitik-Topic auf niedrigem, aber stabilem Niveau von September 2016 bis August 2017 präsent. Das Wissenschaft-und-Fakten-Topic befindet sich ebenfalls auf niedrigem Niveau, gewinnt aber seit Februar 2017 langsam an Bedeutung. Hier scheint die Diskussion über den Ausstieg der Vereinigten Staaten aus der Pariser Klimakonvention eine relevante Erklärung zu sein.
Mit Blick auf unsere Ausgangsfragen ist die empirische Annäherung insofern aufschlussreich, als deutlich wird, dass kein kohärenter "Postfaktisch"-Diskurs im deutschsprachigen Raum existiert – zumindest in den Tageszeitungen. Er zerfällt vielmehr in fünf thematisch einschlägige und quantitativ relevante Topics, die zeitversetzt in den Zeitungen aufkommen und ihre je eigenen Thematisierungsdynamiken besitzen. Darüber hinaus erscheinen die fünf Topics schwerpunktmäßig in unterschiedlichen Rubriken der analysierten Zeitungen. Von einem einheitlichen Diskurs kann also weder thematisch noch "zeitungsräumlich" gesprochen werden.
Leitdifferenz des "Postfaktisch"-Diskurses
Die Inhaltsanalyse liefert den Schlüssel zur Beantwortung unserer beiden Ausgangsfragen. Denn die identifizierten Topics legen nahe, dass der Diskurs über Postfaktizität einer Leitdifferenz folgt. "Postfaktizität" ist auf der einen Seite die zentrale Komponente einer neuen "großen Erzählung" und auf der anderen Seite ein Deutungsrahmen (frame). Beide Seiten dieser ungleichen Medaille verweisen aufeinander, sind füreinander relevant und leiten zugleich ihre eigene Bedeutung aus der jeweils anderen ab. Es besteht also ein komplexes Verweisungsverhältnis zwischen der "großen Erzählung" und "Postfaktizität" als Deutungsrahmen, der jeden Versuch, einfache Erklärungen für den Erfolg des Diskurses zu finden, scheitern lässt.
Die "große Erzählung" vom postfaktischen Zeitalter
Die "große Erzählung" ist thematisch kohärent und entwickelt sich seit dem amerikanischen Vorwahlkampf maßgeblich in Reaktion auf Donald Trump und seinen "neuen" Politikstil. Sie beschreibt in ihrem Kern den Verfall der Rationalität und den Aufstieg der emotionsgetriebenen, autoritären Politik. Aus der Binnenperspektive der Vertreterinnen und Vertreter dieser "großen Erzählung" ist die (kritische) Etikettierung als "postfaktisches Zeitalter" angemessen, da Trump nur als Symptom einer größeren Entwicklung verstanden wird.
Doch worin liegt der außergewöhnliche Erfolg dieser Erzählung begründet? Er kann plausibilisiert werden, indem man demokratietheoretische Überlegungen mit individualpsychologischen verbindet. Das große historische Versprechen des liberalen Konstitutionalismus war die Eindämmung von politischer Willkür durch die kommunikative Rationalisierung demokratischer Macht und Herrschaft. Deshalb ist es der DNA liberaler Demokratien eingeschrieben, dass politische Herrschaft sich diskursiv gegenüber der Opposition und vor allem gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern – vermittelt über die Medien – begründen muss. Diese Leitideen sind selbstverständlicher Bestandteil der westlichen demokratischen Kultur, denn sie werden qua Sozialisation unter einer liberalen Verfassung vermittelt. Trumps Regierungspraxis bricht das historische Versprechen des liberalen Konstitutionalismus, denn er unterläuft die Rationalitätserwartung, indem er in bedeutungsvollen politischen Fragen für alle sichtbar folgenlos lügen kann.
Die damit markierte grundlegende kulturelle Veränderung wurde von der US-amerikanischen Polit-Comedy-Serie "Saturday Night Live" auf den Punkt gebracht: In der Sendung vom 13. Mai 2017 stellten die Macher ein Interview mit Trump nach, in dem der US-Präsident offen zugab, den FBI-Chef aus politischen Gründen entlassen zu haben. Fassungslos angesichts der Enthüllung fragt der Reporter die Redaktion, ob er das Interview jetzt abbrechen könne. Deren Antwort lautet jedoch nur: "Nothing matters anymore. Nothing." Damit wird die tiefe Tragik demokratischer Fehlentwicklungen in einem Satz zusammengefasst.
Auf der individuellen Ebene ist Empörung eine typische emotionale Reaktion auf diese kulturellen Normverstöße. Sie erklärt jedoch nicht die skizzierte Diskursdynamik. Hilfreich ist deshalb der Rekurs auf die Emotionsforschung und die dortige Differenzierung von zwei psychischen Reaktionssystemen: das schnelle "Routinesystem", das in Standardsituationen zur Anwendung kommt, und das langsame "Reflexionssystem", das in unbekannten Handlungssituationen genutzt wird. Die neurologische Emotionsforschung kann zeigen, dass das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert wird, wenn Erwartungen erfüllt werden. Dies bedeutet für unser Argument, dass Menschen dazu tendieren, unbekannte Handlungssituationen zu habitualisieren, um wieder das "Routinesystem" nutzen zu können und belohnt zu werden.
Die kulturellen Normverstöße von Donald Trump haben – zumindest anfangs – massive Irritationserfahrungen erzeugt und Erwartungsstabilität reduziert. Hierauf reagieren Menschen individuell mit dem Bearbeiten des Phänomens im "Reflexionssystem". In den Vereinigten Staaten spiegelt sich das auf gesellschaftlicher Ebene durch die kritische öffentlich-diskursive Thematisierung wider. Diese besitzt jedoch nicht nur eine rationale Dimension im Sinne von "Aufklärung", sondern erfüllt auch eine emotionale Funktion: die Wiederherstellung von Erwartungsstabilität und damit das Umschalten in den Routinemodus des Denkens.
In den USA hat sich zur (kritischen) Charakterisierung der politischen Situation inzwischen die Phrase vom new normal durchgesetzt, die – intendiert oder nicht – den individualpsychologischen Effekt des öffentlichen Diskurses perfekt beschreibt. Nicht nur die Intensität des öffentlichen Diskurses, sondern auch seine Dynamik und letztlich seine tragische Dialektik können so plausibilisiert werden: Denn die diskursive Bearbeitung der "großen Erzählung" in kritischer Absicht führt selbst zur Herstellung einer neuen Normalität, die die affektive Basis des rationalen Diskurses unterminiert. Die Dauer des Diskurses bis zur Herstellung einer "neuen Normalität" ist daher auch ein Indikator für die Intensität der kulturellen Normverstöße.
Doch worin besteht die Verbindung zum deutschen Diskurs? Die Vertreterinnen und Vertreter des "postfaktischen Zeitalters" verstehen die US-amerikanische Entwicklung global, reimplementieren sie in den nationalen deutschen Kontext und deuten die Erzählung aus dieser Perspektive neu. Diskursiv legitimiert wurde diese Strategie durch die Bundeskanzlerin, die, wie gezeigt wurde, bereits sehr früh im Diskursverlauf auf die Deutung der "Postfaktizität" Bezug genommen hat.
Zudem darf die Bedeutung des Internets und insbesondere der sozialen Medien nicht unterschätzt werden. In historisch erstmaliger Schnelligkeit wird US-amerikanische Innenpolitik global wahrgenommen und auf ihre Implikationen für Europa und Deutschland hin befragt. Der Einfluss der sozialen Medien macht es auch in Deutschland unmöglich, die Entwicklungen im US-amerikanischen Politikdiskurs zu ignorieren. Die für die USA exemplarisch diskutierten Mechanismen der diskursiven Herstellung einer "neuen Normalität" können somit – unter Berücksichtigung kultureller Unterschiede – auch für den deutschen Diskurs fruchtbar gemacht werden.
"Postfaktizität" als Deutungsrahmen
Der Homogenität der "großen Erzählung" steht eine Heterogenität gegenüber, die sich auch in der Zahl der gefundenen relevanten Topics manifestiert. Diese Heterogenität ergibt sich aus der Tatsache, dass "Postfaktizität" als Deutungsrahmen genutzt wurde. Die Funktion eines Deutungsrahmens ist es, bestimmte Informationen, Handlungen und Ereignisse im Lichte beziehungsweise im Referenzrahmen von etwas anderem zu verstehen, wodurch sie mit einer neuen Bedeutung aufgeladen werden.
Der Deutungsrahmen "Postfaktizität" basiert auf der "großen Erzählung" und deutet Phänomene, die nicht Teil der Erzählung sind, in ihrem Licht. Politikverdrossenheit, Vertrauensverlust, wachsender Populismus, Entfremdung – all dies sind Themen, die in den vergangenen Jahren nicht nur wissenschaftlich bearbeitet wurden, sondern auch Eingang in die öffentliche Debatte gefunden haben. Diese bekannten Phänomene werden neu gedeutet – und zwar als Symptome oder Aspekte der großen Erzählung "Postfaktizität". Diese Deutung hebt gesellschaftspolitische Entwicklungen, die zuvor isoliert betrachtet wurden, auf eine neue Relevanzebene, weil sie nun Phänomene einer größeren, globalen Erzählung sind.
Aus der Binnenperspektive des Wissenschaftssystems sprechen zwei Argumente dafür, "Postfaktizität" als Deutungsrahmen zu nutzen: Erstens resultieren daraus ein Aufmerksamkeitsgewinn in den Massenmedien und die Steigerung der gesellschaftspolitischen Relevanz der eigenen Arbeit. Zweitens spiegelt sich in den Diskussionen der vergangenen Jahre eine Sehnsucht nach der Einheit der gesellschaftstheoretischen Reflexion in Zeiten ihrer Hyperfragmentierung wider, wie sie in der bundesdeutschen Geschichte schon erfolgreich konstruiert wurde ("Spätkapitalismus", "Risikogesellschaft").
Wichtig aus Sicht des Mediensystems ist, dass durch den Deutungsrahmen "Postfaktizität" Komplexität reduziert werden kann. In Zeiten zunehmend kürzerer Aufmerksamkeitsspannen und des daraus resultierenden Bedarfs an Kontextualisierungen mit hohem Wiedererkennungswert entspricht diese Nutzung als Deutungsrahmen somit direkt den Funktionsimperativen des Mediensystems.
Fazit
Die Bedeutung des Diskurses über "Postfaktizität" in deutschsprachigen Zeitungen ist in den vergangenen Monaten deutlich zurückgegangen – zumindest quantitativ. Dass die Debatte fast ein Jahr lang geführt wurde, zeigt jedoch, wie tief greifend die kulturellen Irritationserfahrungen sind, die in diesem Diskurs öffentlich bearbeitet wurden. Dabei ist die Nutzung des Begriffs weder als "Hype" noch als "belastbare Krisendiagnose" zu deuten, sondern hat eher zu einer "neuen Normalität" beigetragen und sich selbst dadurch obsolet gemacht. Gerade diese Tatsache sollte uns in demokratiepolitischer Perspektive wachrütteln, denn das Empörungspotenzial, das der affektive Brennstoff der rationalen Debatte war, ist anscheinend im Prozess der Herstellung einer "neuen Normalität" aufgebraucht worden. Damit kann der Diskurs über Postfaktizität eine wichtige Aufgabe nicht mehr erfüllen: Frühwarnsystem für gravierende demokratische Fehlentwicklungen zu sein.
Herzlichen Dank an Jennifer Franke für die qualitative Sichtung des Materials in Vorbereitung des Text-Mining und an Alexander Stulpe für eine kritische Durchsicht des Manuskripts und wichtige Anregungen zur Argumentationsstruktur.
ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt politische Theorie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. E-Mail Link: gschaal@hsu-hh.de
ist promovierte Politologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, insbesondere politische Theorie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. E-Mail Link: dannica.fleuss@hsu-hh.de
ist Diplom-Sozialwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, insbesondere politische Theorie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. E-Mail Link: sebastian.dumm@hsu-hh.de
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