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Politischer Extremismus heute: Islamistischer Fundamentalismus, Rechts- und Linksextremismus | Extremismus | bpb.de

Extremismus Editorial Politischer Extremismus heute: Islamistischer Fundamentalismus, Rechts- und Linksextremismus Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit unter ostdeutschen Jugendlichen Ist der Rechtsextremismus im Osten ein Produkt der autoritären DDR? Gestalt und Bedeutung des intellektuellen Rechtsextremismus in Deutschland

Politischer Extremismus heute: Islamistischer Fundamentalismus, Rechts- und Linksextremismus

Eckhard Jesse

/ 9 Minuten zu lesen

Der Terrorismusanschlag in den USA vom 11. September 2001 verweist auf eine spezifische Form des Extremismus. Es ist der islamische Fundamentalismus.

Einleitung

Als am 11. September dieses Jahres fanatische islamistische Selbstmord-Extremisten zwei Passagierflugzeuge der USA entführten und sie gegen die beiden über 400 Meter in den Himmel ragenden Türme des New Yorker World Trade Centers lenkten, da wurde allen plötzlich die globale Verwundbarkeit der demokratischen Verfassungsstaaten durch Terror in einer Weise gewahr, wie das zuvor nicht einmal in filmischen Horrorszenarios vor Augen geführt worden war. Parallel dazu erfolgte ein Luftangriff auf das Pentagon in Washington, die militärische Schaltzentrale der USA. Dass durch den Absturz eines vierten gekidnappten Flugzeuges ein Angriff auf das Weiße Haus, den Sitz des Präsidenten, vereitelt wurde, ist wahrscheinlich.

Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hatte vor einem Jahrzehnt angesichts des nahezu globalen Zusammenbruchs der kommunistischen Staatenwelt vom "Ende der Geschichte" gesprochen. Die liberale Demokratie sei die finale Regierungsform. Die gegenteilige Position nahm sein Kollege Samuel Huntington ein. Die Zukunft werde nicht mehr von der Auseinandersetzung der Nationalismen (wie im 19. Jahrhundert) und der Ideologien (wie im 20. Jahrhundert) geprägt, sondern unentrinnbar vom "Kampf der Kulturen". Die westliche Zivilisation sehe sich durch die islamische herausgefordert.

Weder die optimistische Annahme Fukuyamas noch die pessimistische Huntingtons ist realistisch; beide verabsolutieren Momentaufnahmen. Nicht das "Ende", sondern die "Offenheit der Geschichte" muss betont werden. Freiheitliche Demokratien stehen vielfältigen Herausforderungen gegenüber, darunter solchen extremistischer Art. Es wäre naiv, nicht wahrhaben zu wollen, dass diese auf die Beseitigung oder zumindest Beschädigung demokratischer Systeme zielt.

Politischer Extremismus lässt sich als Antithese des demokratischen Verfassungsstaates begreifen. Die folgende Differenzierung des Begriffs dient dem Zweck, die verschiedenen Formen des Extremismus aufzufächern, und keineswegs der Relativierung einer bestimmten Ausprägung. Hinlänglich bekannt ist die Unterscheidung zwischen dem Rechtsextremismus und dem Linksextremismus. Der Rechtsextremismus ist in der Regel nationalistisch orientiert, der Linksextremismus internationalistisch. Der Rechtsextremismus strebt die Überlegenheit einer Ethnie an, der Linksextremismus die Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Steht bei der einen Variante die Kampfansage an das demokratische Element (z. B. das Prinzip der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz) im Vordergrund, so negiert die andere mehr die konstitutionelle Komponente (z. B. das rechtsstaatliche Prinzip).

Eine dritte Variante des Extremismus, auf der Rechts-Links-Achse nur schwer einzuordnen, wird mitunter ignoriert: der islamistische Fundamentalismus. Von ihm ist insbesondere seit der Iranischen Revolution des Jahres 1979 die Rede. Es gibt verschiedene Formen des Fundamentalismus, der mit der Moderne und dem weltanschaulich neutralen Staat auf Kriegsfuß steht; gemeinsam ist ihnen die Ablehnung der Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft (Modell der theokratischen Herrschaft). Sie orientieren sich am Koran und der islamischen Rechtsordnung, der Scharia, die u. a. den Frauen mindere Rechte zubilligt. Religiöse "Gotteskrieger" predigen den "heiligen Krieg" (Dschihad) und beschwören eine islamistische Weltherrschaft, den "Gottesstaat".

Alle drei Varianten des Extremismus - der "braune", der "rote" und der "grüne" (nach der Fahne des Propheten Mohammed) - sind sich einig in der Ablehnung des "American way of life". Amerika, "das" Feindbild, firmiert vielfach als die Wurzel allen Übels. Der Antiamerikanismus wird ähnlich begründet. Der "Westen" im Allgemeinen und der "Amerikanismus" im Besonderen gilt mit seinem "one world"-Denken als dekadent, seelenlos, aggressiv-imperialistisch, nur dem materiellen Wohl und dem Egoismus verpflichtet.

Allerdings, und das kann nicht oft genug betont werden, weil dies manche Äußerungen nach dem Terroranschlag vom 11. September nahe legen: Nicht jede scharfe Form der Kritik an den USA, an ihrer Militär- oder Außenpolitik etwa, ist ein extremistischer Antiamerikanismus. Die Offenheit des Westens schließt gerade Kritik an ihm ein, sofern diese nicht den demokratischen Verfassungsstaat an sich zu treffen sucht.

Die Annahme, dass die dreifache Unterscheidung schon ausreichend differenziert, geht jedoh fehl. Denn innerhalb jeder der drei Formen des Extremismus gibt es mannigfache Strömungen, die sich zum Teil heftig untereinander befehden. Um das am deutschen Rechtsextremismus zu zeigen: Die im Jahre 1964 gegründete "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD), die sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre unter ihrem Vorsitzenden Udo Voigt mit einer aggressiv-kämpferischen Dreisäulenstrategie - "Schlacht um die Köpfe" (Programmatik), "Schlacht um die Straße" (Massenmobilisierung), "Schlacht um die Wähler" (Wahlteilnahme) - radikalisiert hat (gegen sie wurde Anfang 2001 ein Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht gestellt), unterscheidet sich grundlegend von der 1983 als Rechtsabspaltung der CSU entstandenen Partei der "Republikaner" (REP). Diese versucht unter Rolf Schlierers Ägide einen betont national-konservativen Kurs zu steuern, damit sie das Etikett "extremistisch" verliert. Die organisatorisch wenig gefestigte "Deutsche Volksunion" (DVU) Gerhard Freys, auf den Tag einhundert Jahre nach der Reichsgründung am 18. Januar 1871 ins Leben gerufen, ist - was die Gefährdung der demokratischen Ordnung betrifft - zwischen den beiden anderen Parteien angesiedelt. Eine Zusammenarbeit scheitert nicht nur an taktischer Distanzierung, sondern auch an prinzipiellen Differenzen.

Noch komplizierter wird es bei einem Blick auf den gewalttätigen unorganisierten Rechtsextremismus. Dieser hat seit der deutschen Einheit zugenommen, ist im Osten stärker als im Westen. Die Ursachen liegen einerseits in der Zeit vor 1989 (die DDR war keine weltoffene Gesellschaft, die Kontakt zu Fremden förderte), andererseits im schwierigen Transformationsprozess von einer Diktatur zu einer freiheitlichen Ordnung. Am anderen Ende steht ein in der Bundesrepublik Deutschland schwach entwickelter intellektueller Rechtsextremismus. Er orientiert sich z. B. an der Konservativen Revolution der Weimarer Zeit und ist in der Regel keineswegs nationalsozialistisch ausgerichtet. Die größte Theoriezeitschrift "Nation Europa", allerdings nicht pauschal der "Neuen Rechten" zuzurechnen, erscheint seit fünfzig Jahren.

Die beiden letztgenannten Formen - der gewalttätige und der intellektuelle Rechtsextremismus - haben mit dem parteipolitisch organisierten in der Regel nur sehr wenig zu tun. Wer vordergründig den organisierten Rechtsextremismus für die Gewalttaten verantwortlich macht, erschwert die Aufhellung ihrer Ursachen. Und wer die Existenz "national befreiter Zonen" behauptet, wertet die Propaganda des gewaltbereiten Rechtsextremismus auf. Schließlich: Die "Antifa" besitzt nicht schon deshalb Legitimität, weil sie gegen die "Anti-Antifa" mobil macht. Extremisten wollen ihre gesellschaftliche Achtung u. a. dadurch steigern, dass sie sich als "Bündnisgenosse" im Kampf gegen eine (andere) Form des Extremismus anbiedern. Sie verdienen jedoch gesellschaftliche Ächtung.

Zwischen den extremistischen Szenen gibt es in der Bundesrepublik zwar ideologische Berührungspunkte (wie am Beispiel des Antiamerikanismus gezeigt), doch sind "Frontenwechsler" (im Gegensatz zur Weimarer Republik) die krasse Ausnahme. Zu ihnen gehört u. a. der Berliner Rechtsanwalt Horst Mahler. Seine extremistische Karriere ist so lang wie wechselvoll: Anfang der sechziger Jahre von der SPD wegen seines anhaltenden Engagements im kommunistisch unterwanderten Sozialistischen Deutschen Studentenbund ausgeschlossen, wurde er 1970 Mitbegründer der linksterroristischen "Roten Armee Fraktion", später Mitglied der (maoistischen) Kommunistischen Partei Deutschlands und wandelte sich Ende der neunziger Jahre zu einem in der Wolle gefärbten Rechtsextremisten mit stark antisemitischem Einschlag. Er trat im Herbst 2000 der NPD bei, verfasst(e) bizarre Schriftsätze für sie und verteidigt sie im Parteiverbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Ungeachtet der vielen Mutationen Mahlers: Antiamerikanismus ist eine Konstante in seinen Ansichten über die Jahrzehnte hinweg.

Das zeigt Mahlers im Kern rechtfertigende Reaktion auf den Terroranschlag vom 11. September. Obwohl heftiger Gegner gegen weitere Zuwanderung und Warner vor einer islamistischen "Überfremdung", zieht er es vor, die Politik der USA zu geißeln. Seine Kritik an der Demokratie ist also weitaus stärker als die Kritik an einer anderen, ebenfalls abgelehnten Form des Extremismus. Unter der zynischen Überschrift "Independence Day live" heißt es, die Luftangriffe markierten "das Ende des Amerikanischen Jahrhunderts, das Ende des globalen Kapitalismus und damit das Ende des weltlichen Jahwe-Kultes, des Mammonismus". Ursachen für die "verzweifelte Kriegsführung der Todeskommandos", die rechtens sei, würden ausgeblendet. "Die Symbolkraft dieser militärischen Operation zerschmettert die Selbstgefälligkeit der auf Heuchelei gegründeten westlichen Zivilisation." Mahler findet den Kampf gegen die USA und Israel nicht nur berechtigt, sondern auch aussichtsreich: "Denn der Feind ist geistlos geworden und ohne Vision für die Welt von morgen."

Ein Artikel Karl Richters, des Redakteurs von "Nation Europa", argumentiert in ähnliche Richtung. Er enthält zwar keine direkte Verteidigung des Terroranschlages, wohl aber eine aggressive Ablehnung der amerikanischen "Weltdiktatur". Der Autor spricht von einer "Weltallianz des Lynchrechts" und von "westlicher Kreuzzugshysterie". "Der Feind, der die Seele der Völker bedroht, indem er sie mit Drogen und Pornographie überschwemmt, der Feind, der den Menschen auf Konsum und Trieb reduziert und Mammon zum Maß der Dinge erhebt - er trägt kein islamisches Antlitz."

Es gibt harte und weiche Formen des Extremismus, aber auch Grauzonen. Nicht immer ist klar, ob es sich noch um Demokratie oder schon um eine (Vor-)Form des Extremismus handelt. Seine härteste Variante (oder, so eine andere Interpretation, eine Steigerung des Extremismus) ist der Terrorismus. Dessen Strategie zeichnet sich durch systematisch betriebene, Schrecken auslösende Gewaltanwendung einer fest organisierten Gruppe aus. Der von der Umwelt abgeschottete Terrorismus agiert aus dem Untergrund - z.T. mit hoher Planungsintensität. Alle drei genannten Formen des Extremismus können in Terrorismus übergehen.

Gewiss existieren Zuschreibungsprobleme und Auseinandersetzungen um Deutungshoheiten, aber wer daraus die Schlussfolgerung ableitet, es gäbe in demokratischen Gesellschaften einen "Extremismus der Mitte", leistet einer Delegitimierung des demokratischen Verfassungsstaates Vorschub. Und: Eine inflationäre Verwendung des Begriffs "Extremismus" erschwert die Identifizierung und Bekämpfung des tatsächlichen.

So ist es absurd, den Islam, dem weltweit ca. 1,3 Milliarden Menschen angehören, generell in die Nähe des Extremismus zu rücken. Gleichwohl gilt: Kein Staat im arabischen Raum ist - bis auf Israel - eine Demokratie. Gerade gegenwärtig bedarf es hier der Differenzierung. Der Dschihadismus Osama Bin Ladens, des mutmaßlichen Drahtziehers der Anschläge vom 11. September, findet wohl Unterstützung bei den sunnitischen Taliban in Afghanistan, längst aber nicht überall in der islamischen Welt. Eine andere Form des fundamentalistischen Islamismus ist die schiitische Ausprägung im Iran. Davon wiederum unterscheiden sich die Kämpfer der Hisbollah im Libanon und die der Hamas in den palästinensischen Autonomiegebieten; Letztere kämpft gegen die israelische Besetzung palästinensischen Landes.

Die demokratischen Verfassungsstaaten hingegen sind offene Gesellschaften. Eine Abschottung gegenüber äußeren Einflüssen wird als abträglich empfunden. Absolute Sicherheit kann es daher nicht geben, wie in jeder demokratischen Gesellschaft ein Bodensatz an Extremisten existiert. Offenheit bedeutet Bejahung der pluralistischen Kräfte und friedlicher Konfliktaustrag. Um diese Offenheit zu wahren, findet sie ihre Grenze dort, wo sie zur Disposition gestellt wird. Demokratische Wehrhaftigkeit ist vonnöten.

Dem Begriff "Wehrhaftigkeit" oder "Streitbarkeit" wohnt eine doppelte Konnotation inne: Zum einem hat sich der Rechtsstaat durch konsequente Anwendung der Gesetze (oder gegebenenfalls durch bessere) zu schützen. Ein Staat verliert bei seinen Bürgern den Respekt, wenn er tatenlos dem Treiben extremistischer Kräfte zusieht, und fördert bei seinen Gegnern den Eindruck mangelnder Selbstsicherheit und Abwehrbereitschaft. Zum andern sei an das Konzept der streitbaren Demokratie erinnert, wie es die Väter des Grundgesetzes als Reaktion auf die leidvollen Erfahrungen der Auflösung der Weimarer Republik verankert haben. Das Instrumentarium basiert auf der Vorverlagerung des Demokratieschutzes. Diese Illegitimierungsstrategie soll einer Legalitätstaktik den Boden entziehen. Um eine Organisation oder eine Person mit Grund als extremistisch zu bezeichnen, bedarf es demnach keineswegs erst der Gewaltpropagierung bzw. der -bejahung. Streitbare Demokratie heißt nicht in erster Linie die Anwendung von Verboten, sondern vielmehr des Gebots, Extremisten als Extremisten zu apostrophieren und damit an die Selbstvergewisserungskraft demokratischer Prinzipien zu appellieren.

Wer einen für das gedeihliche Zusammenleben der Menschen unerläßlichen Minimalkatalog an Werten und Spielregeln negiert, in Frage stellt oder relativiert, verwirft die Idee von der Universalität der Menschenrechte. Folter ist verabscheuungswürdig - ob sie nun in der westlichen, der kommunistischen oder der islamischen Welt propagiert und praktiziert wird. Und die Bekämpfung des Terrorismus darf kein Berufungstitel für ein Freund-Feind-Denken sein, z. B. für die Ausschaltung unliebsamer Kontrahenten. Widerstandshandlungen in Diktaturen fallen nicht unter Terrorismus, auch wenn deren Repräsentanten das glauben machen wollen.

Der 11. September 2001 hat einen Schock globalen Ausmaßes hervorgerufen. Nachhaltige Folgen auf vielen Gebieten - nicht nur in der Politik und in der Wirtschaft - zeichnen sich ab. Extremisten und Terroristen müssen wissen: Sie sind dann ohne Chance, wenn die zivilisierte Welt ebenso besonnen wie entschlossen agiert und reagiert. Das ist bis jetzt geschehen. So hat die eine Katastrophe also keine andere Katastrophe nach sich gezogen.

Dr. phil., Dipl.-Pol., geb. 1948; seit 1993 Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz.

Anschrift: Technische Universität Chemnitz, Politikwissenschaft, 09107 Chemnitz.
E-Mail: eckhard.jesse@phil.tu-chemnitz.de

Veröffentlichungen u.a.: Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung in das politische System, 8. Aufl., Baden-Baden 1997; (Hrsg.) Eine Revolution und ihre Folgen, 2. Aufl., Berlin 2001.