Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Vom genetischen Wissen zum sozialen Risiko: Gendiagnostik als Instrument der Biopolitik | Gentechnik - Biopolitik | bpb.de

Gentechnik - Biopolitik Editorial Forschung an humanen Stammzellen: ethische und juristische Grenzen Die Stammzellforschung - Sachstand und ethische Problemstellungen Zur Problematik der Präimplantationsdiagnostik Vom genetischen Wissen zum sozialen Risiko: Gendiagnostik als Instrument der Biopolitik Neue Formen gespaltener Elternschaft Fortpflanzungsmedizin im europäischen Rechtsvergleich

Vom genetischen Wissen zum sozialen Risiko: Gendiagnostik als Instrument der Biopolitik

Günter Feuerstein Regine Kollek Regine Günter / Kollek Feuerstein

/ 21 Minuten zu lesen

Die Gendiagnostik verspricht, Krankheitsdispositionen frühzeitig zu erkennen. Prädiktive Gentests können allerdings nur selten medizinische Ungewissheiten tatsächlich reduzieren.

I. Einleitung

Genetische Diagnostik, so vielfältig und ausdifferenziert sie in einzelnen Anwendungsgebieten (pränatale und prädiktive Medizin, Pharmakogenetik, Ökogenetik) bereits in Forschung und Praxis etabliert wurde, kann insgesamt als ein Projekt der Moderne charakterisiert werden. Sie erzeugt neue Gewissheiten auf einem von Unsicherheiten geprägten Terrain, sie verspricht Transparenz auf einem Feld, das nicht nur der sinnlichen, sondern auch der medizinisch-apparativen Wahrnehmung entzogen war, und sie holt zukünftig zu Erwartendes in die Kontrollsphäre und den Entscheidungshorizont der Gegenwart. Der erwartete Nutzen der Gendiagnostik liegt zunächst in der erhöhten Qualifizierbarkeit natürlicher Gegebenheiten und in der Kalkulierbarkeit von Risiken. Die gentechnische Erweiterung naturwissenschaftlicher Gewissheiten über den menschlichen Körper und die fortschreitende ökonomische Durchdringung des Lebens zeigen dabei eine "strukturelle Affinität", eine wechselseitige Anziehungskraft: Der gemeinsame Fluchtpunkt beider Zugriffsformen liegt in der Rationalisierung einst unzugänglicher Sphären menschlicher Existenz, in der ausgedehnten Kolonialisierung des Lebens und der Lebenswelt.

Eine bisher wenig diskutierte Frage ist, wie tragfähig diese positiv wie negativ besetzten Visionen überhaupt sind. Trägt die genetische Diagnostik tatsächlich dazu bei, Ungewissheiten in Gewissheiten zu transformieren, den rationalen Umgang mit Risiken zu erhöhen oder Risiken gar zu reduzieren, im Vorgriff auf die Zukunft schon in der Gegenwart entscheidbare Situationen herzustellen und damit die Berechenbarkeit der individuellen Lebenschancen zu erhöhen? Oder sind die Leistungsdimensionen der Gendiagnostik vielleicht nur ein Vexierspiel konstruierter Gewissheiten, vorgespiegelter Rationalitäten, beherrschbarer Risiken? Mit anderen Worten: Verdankt sich die erhöhte Kontrollkompetenz genetischen Wissens vielleicht einfach nur dem biologisch verengten Blick auf einen in seiner Komplexität verfehlten Gegenstand? Produzieren die neu geschaffenen Gewissheiten nicht neue, andere Ungewissheiten? Ist die erhöhte Kontrolle über Biologisches eventuell mit sozialen Kontrollverlusten erkauft? Verdeckt die Vorstellung von der Transparenz und Beherrschbarkeit genetischer Risiken vielleicht nur den Blick auf die Verschärfung oder Neuentstehung anderer Risiken? Insofern könnte man durchaus fragen, ob die Gendiagnostik in Summe zur Erhöhung der "Selbsttechnologie" des Menschen führt, oder ob sie lediglich die Dinge neu arrangiert, das Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem verändert, und damit die sozialen Wahrnehmungsmuster und Relevanzstrukturen umbaut.

II. Das Versprechen: Reduktion von Ungewissheiten und Kontrolle der Zukunft

Als Selbsttechnologien sind diejenigen (technik-) vermittelten Handlungen zu verstehen, die auf den Menschen gerichtet sind und ihn prägen, definieren und formieren. Selbsttechnologien, die auf eine wissenschaftlich-rationale Selbsterklärung des Menschen, seiner leiblichen, sozialen und seelischen Existenz abzielen, gewannen seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung und beförderten die Transformation des Menschen zum Objekt des Technologischen. Durch die sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts herausbildenden Gen- und Reproduktionstechnologien erreichen die Möglichkeiten der Selbstfiguration einen neuen Höhepunkt. Sie begründen heute den Anspruch, die körperliche Existenz des Menschen zumindest in gewissem Umfang kontrollieren und korrigieren zu können: die "Reprogenetik" als Selbsttechnologie der Zukunft rückt die Korrektur und teilweise Neugestaltung der menschlichen biologischen Konstitution in den Bereich des Möglichen.

Zur Entwicklung der Instrumente dieser Selbsttechnologie entscheidend beigetragen hat das Projekt der Gesamtsequenzierung des menschlichen Genoms, das im Juni des Jahres 2000 zu einem vorläufigen Abschluss kam. Genau ein Jahrhundert hatte es gedauert, bis von der im Jahre 1900 formulierten Chromosomentheorie der Vererbung der letzte Bereich der menschlichen Anatomie bis in seine molekularen Größenordnungen hinein durchleuchtet war. Heute haben sich auch Nichtfachleute daran gewöhnt, dass der Begriff "Genom" für die Summe aller Erbanlagen steht, die in einem Organismus vorzufinden sind. Grundsätzlich kann jede einmal definierte DNA-Sequenz inklusive ihrer Veränderungen mithilfe einer molekulargenetischen Untersuchung - kurz Gentest - erkannt werden.

Mit den rapide anwachsenden Informationen über das menschliche Genom wächst die Tendenz, Krankheiten in Begriffen der molekularen Genetik zu beschreiben. Die Entwicklung baut dabei auf den Erfolg der Ursachenanalyse so genannter monogener Erbkrankheiten auf: Sie entstehen durch die Strukturveränderung und die dadurch ausgelöste Funktionsstörung in einem Gen. Paradigmatische Fälle sind hier beispielsweise die bei Afrikanern häufig vorkommende Sichelzellanämie, welche die Sauerstoffbindungskapazität des Blutes beeinträchtigt, oder die Chorea Huntington, die bei den Merkmalsträgern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in mittlerem Lebensalter zu Bewegungsstörungen und geistigem Verfall führt. Da die Vererbung dieser Krankheiten grundsätzlich den mendelschen Vererbungsregeln folgt, konnte das Erkrankungsrisiko der Kinder eines betroffenen Elternpaares vor der Verfügbarkeit von Gentests nur als statistisch ermittelte Durchschnittswahrscheinlichkeit angegeben werden, die bei rezessiven Erbkrankheiten wie z. B. der Sichelzellanämie 25 Prozent und bei dominanten Erbkrankheiten wie der Chorea Huntington 50 Prozent beträgt. Die Einführung von Gentests verändert diese Situation entscheidend: Nunmehr kann - vor oder nachgeburtlich - auf der molekularen Ebene erkannt werden, wer die krankheitsrelevante Mutation im Erbmaterial trägt oder nicht. Das Erkrankungsrisiko lässt sich jetzt individuell zuschreiben. Dadurch kann sich die Risikosituation für die Untersuchten dramatisch verändern: Trugen sie vor dem Test ein durchschnittliches Erkrankungsrisiko von 25 oder 50 Prozent, beträgt das Risiko nach dem Test für einige Null, für andere aber 100 Prozent. Statt einer Gruppe mit mittlerem Risiko gibt es nunmehr zwei, deren Erkrankungswahrscheinlichkeit deutlich differiert. Der Test katapultiert die Testpersonen also in völlig andere Risikogruppen. Mit anderen Worten: die zuvor bestehende 75- oder 50-prozentige Chance, nicht zu erkranken, wird für die einen zur Gewissheit und für die anderen unsäglich klein.

Mithilfe genetischer Tests ist also hinsichtlich des Erkrankungsrisikos für viele Erbkrankheiten eine Prognosesicherheit möglich, die zuvor nur selten erreicht werden konnte. Damit erscheinen nicht nur eigene gesundheitliche Zukunftsrisiken vorhersagbar, sondern auch genetische Erkrankungsrisiken nachfolgender Generationen durch vorgeburtliche Untersuchungen und einen selektiven Schwangerschaftsabbruch kontrollierbar. Bei der (in Deutschland gesetzlich verbotenen) Präimplantationsdiagnostik setzt die genetische Untersuchung bereits bei Embryonen an, die mittels der künstlichen Befruchtung im Reagenzglas erzeugt wurden, diese erweitert somit den Zugriff genetischer Tests auf alle Existenzphasen menschlichen Lebens. Gentests stellen also ein Stück Zukunftsgewissheit her. In Zeiten der Unübersichtlichkeit bilden sie eine "utopische Oase" , und ein verführerisches Angebot, die neuen Unsicherheiten und Risiken des modernen Lebens, die nicht zuletzt durch sich dramatisch verändernde Familienstrukturen entstanden sind , zu kompensieren oder wenigstens zu verdrängen.

III. Neue wissenschaftliche Unsicherheiten

Die bei der molekularen Analyse klassischer, dem mendelschen Vererbungsschema folgenden Erbkrankheiten erzielten Erfolge werden jedoch durch die wachsende Tiefenschärfe der molekularen Analyse zunehmend relativiert. Zum einen zeigt sich, dass eine in einem Gen festgestellte Veränderung nur selten genau voraus sagt, wann und mit welcher Schwere die Krankheit eintritt. Manche Merkmalsträger entwickeln sie auch gar nicht . Zum anderen ist der Anteil der Krankheiten, die durch Störungen in einem einzigen Gen bedingt sind, begrenzt. Obwohl es bis zu fünftausend solcher Krankheiten gibt, sind sie zumeist sehr selten und machen nur zwei bis drei Prozent der gesamten Krankheitslast aus. Die meisten verbreiteten Krankheiten entstehen durch das komplexe Wechselspiel zwischen verschiedenen Genen, körperlichen Zuständen und Umweltfaktoren. Von daher konzentriert man sich heute auf die Entwicklung von Tests zur Erfassung von Genvarianten, denen ein negativer Einfluss bei der Entwicklung häufig vorkommender Krankheiten bzw. Zivilisationskrankheiten zugeschrieben wird.

Bei einigen familiär häufig auftretenden Formen dieser Krankheiten sind bereits Genvarianten gefunden worden, die mehrfach im Zusammenhang mit solchen Krankheiten auftreten oder ursächlich zu ihrer Entwicklung beitragen. Die entsprechenden Gentests zeigen dann eine Erhöhung des Erkrankungsrisikos des Merkmalsträgers gegenüber dem des Bevölkerungsdurchschnitts an, geben aber keine Auskunft darüber, ob er tatsächlich von dem Leiden betroffen sein wird. Ein bekanntes Beispiel dafür sind die "Brustkrebsgene" BRCA1 und BRCA2. Einige Studien zeigen, dass Veränderungen in diesen Genen die Wahrscheinlichkeit von Brustkrebs bei Frauen von einem etwa zehnprozentigen Durchschnittsrisiko je nach Familie auf etwa 50 bis 80 Prozent steigen lässt. Allerdings ist der tatsächliche Vorhersagewert eines positiven Testresultats äußerst strittig, weshalb sich der anfängliche Enthusiasmus über die Entdeckung dieser Gene inzwischen bei vielen Wissenschaftlern in große Zurückhaltung verwandelt hat .

Entscheidend ist bei diesen prädiktiven Gentests, dass sie lediglich Erkrankungswahrscheinlichkeiten angeben. Obwohl sie den Anspruch erheben, die Unsicherheit eines statistischen Gruppenrisikos durch die Identifikation eines individuellen, risikorelevanten genetischen Merkmals zu reduzieren, bleibt das individualisierte Risiko unsicher: Es besteht immer die Möglichkeit, dass eine belastende medizinische Intervention unnötig ist, weil eine beachtliche Chance besteht, dass die Krankheit nicht ausbricht oder weniger gravierend verläuft als befürchtet. Eindeutige Handlungsanweisungen oder Verhaltensmaximen lassen sich aus einer solchen Situation zumeist nicht ableiten. Zwar stehen in einigen Fällen medizinische Interventionen zur Verfügung, die bei Gesunden mit positiven Testresultaten das spätere Auftreten der betreffenden Krankheit verhindern oder verzögern. Aber trotz mancher viel versprechender Ansätze hat bislang keine der Präventionsstrategien, die auf der Grundlage einer Krankheitsbezogenen Genvariante entwickelt wurde, ihre Sicherheit und Effektivität wissenschaftlich unter Beweis gestellt . Obwohl beispielsweise intensive Früherkennungsuntersuchungen und prophylaktische chirurgische Eingriffe die Lebenserwartung bei verschiedenen genetischen Veranlagungen für Tumorerkrankungen verbessern können, ist mangels systematischer Untersuchungen nach wie vor unklar, wie ausgeprägt diese Verbesserungen tatsächlich sind, und welchen Einfluss die vielfach belastenden Eingriffe wie beispielsweise eine Entfernung der Brustdrüsen bei einer Veranlagung für Brustkrebs auf die Lebensqualität haben. Ob sich hier wirklich die erhofften Erfolge werden erzielen lassen, wird sich nach unvermeidbar langen Studien möglicherweise erst nach Jahrzehnten erweisen. Selbst dann ist eine wissenschaftlich fundierte Sicherheit mangels adäquater Vergleichsgruppen nicht immer zu erreichen.

Die einfache Gleichung: Wissen gleich Nutzen geht also bei den meisten Gentests nicht auf. Wissen schafft nicht nur Sicherheit, sondern bringt auch neue wissenschaftlich-medizinische Unsicherheiten hervor. Eine bisher als schicksalhaft wahrgenommene und individuell kaum beeinflussbare Ungewissheit wird so durch genetische Tests zum kalkulierbaren Risiko, das Entscheidungen erfordert, ohne dass diese Sicherheit bringen könnten.

IV. Der Preis: Neue soziale Unsicherheiten und Risiken

In einer Situation, in der die Frage nach dem medizinischen Nutzen prädiktiver genetischer Tests nicht zu einer wissenschaftlich oder subjektiv befriedigenden Antwort führt, rücken die Risiken in den Vordergrund. Nahezu unbestritten ist, dass Gentests, die Aussagen über zukünftige Gesundheitszustände erlauben, bei den Testpersonen nicht nur positive, sondern auch nachteilige psychische Folgen haben können. Ängste können ausgelöst oder verstärkt, Depressionen hervorgerufen werden. Obwohl die Testpersonen gesund sind und möglicherweise auch bleiben, können sie sich nach einem positiven Test als gefährdet ansehen. Das Testergebnis, das ein mehr oder weniger gesichertes statistisches Risiko benennt, erscheint wie eine Hypothek, die auf dem Leben des Gesunden lastet. Das Wissen um die Möglichkeit zukünftiger Krankheiten ist zwar allen gegenwärtig. Durch eine wissenschaftlich objektivierbare Diagnose bekommt es aber einen anderen Realitätsbezug, als wenn es sich dabei nur um eine abstrakte Möglichkeit handeln würde. Eine neue Personengruppe, die der "gesunden Kranken", entsteht .

Es ist anzunehmen, dass sich dieser besondere Status der "gesunden Kranken" oder "noch-nicht-Kranken" mit wachsender Entwicklung und Anwendung genetischer Tests im Gesundheitssystem etablieren, und sich zu einem organisierenden Prinzip medizinischen Handelns und sozialen Verhaltens entwickeln wird. Dies ist mit einer Reihe riskanter Entwicklungen verbunden, die zum Verlust der sozialen Kontrolle über spezifische Handlungen und Prozesse führen können. Denn mit den Fortschritten der präventiven Diagnostik wachsen möglicherweise auch die Erwartungen an das Individuum, präventive Maßnahmen zu ergreifen. Dies könnte Einschränkungen in der Freiheit der eigenen Lebensgestaltung nach sich ziehen, die von der Entstehung von Spannungsverhältnissen zwischen Familienmitgliedern bis zum Verzicht auf Kinder reichen könnten. Weitere soziale Risiken bestehen in der Stigmatisierung von Familien, von denen bekannt wird, dass sie eine erbliche Krankheitsdisposition tragen; sie reichen bis zum Risiko der Diskriminierung von Personen mit festgestellten Krankheitsrisiken durch private Kranken- oder Lebensversicherungen und Arbeitgeber.

Weiterhin zeichnet sich das Entstehen einer "seitenverkehrten Verantwortungsethik" ab: Haben bislang Solidarität mit und Nichtdiskriminierung von Kranken/Patienten einen hohen Stellenwert gehabt, so geht es jetzt um eine Verschiebung von Verantwortungslasten auf genetisch Belastete in Verwandtschafts-, Arbeits- oder Versicherungsverhältnissen. Eine solche Verantwortung kann sozialen Druck sowohl hinsichtlich der Durchführung von Genanalysen als auch hinsichtlich der Offenbarung gewonnener genetischer Daten entfalten . Im Extremfall kann sich sogar eine Art von Sozialverpflichtung zur Offenbarung genetischer Daten oder auch zur Teilnahme an Bevölkerungsstudien etablieren, wenn dies nach Maßgabe wissenschaftlicher Expertise erforderlich würde, um neue genetische Prädispositionen ausfindig zu machen, die nur durch Massenuntersuchungen identifiziert werden können.

Prädiktive Tests können dort von medizinischem Nutzen sein, wo sie Risiken für Krankheiten und Anfälligkeiten identifizieren helfen, deren Entfaltung durch erfolgreiche Prävention und Therapie verlässlich zu verhindern oder zu bekämpfen ist. Besonders bei Krankheiten, für die es weder eine wirksame Prävention noch eine erfolgreiche Therapie gibt, stiften solche Tests jedoch nicht automatisch Nutzen, sondern können auch erheblichen Schaden anrichten. Angesichts festgestellter Krankheitsanfälligkeiten oder Leistungsfähigkeitsdefizite könnten sich die Getesteten als "Mängelwesen" begreifen, deren Lebensführung nur noch bei Berücksichtigung ihrer genetischen Konstitution als verantwortete begriffen werden kann. Spätestens hier wird sichtbar, dass die genetische Diagnostik eine handlungsstrukturierende Realität entfaltet, die weit über die Feststellung genetischer Strukturabweichungen hinausreicht. Wie es scheint, geht es auch darum, die Beziehungen zwischen Menschen und zwischen Menschen und sozialen Institutionen in der Sprache der Genetik neu zu beschreiben. Es geht also um den Kern des Sozialen. Der menschliche Körper wird in seiner inneren Struktur zum Objekt von Politik und Ökonomie. Unter Rückgriff auf scheinbar naturhafte Prozesse entpuppt sich die genetische Diagnostik von daher als das Instrument einer auf das Biologische zurückgreifenden Politik - einer Biopolitik -, die das natürliche Leben des Menschen zunehmend in die Mechanismen und Kalkulationen der Macht einbezieht.

V. Verblendung gesellschaftlicher Risiken

Das Sichtbarmachen genetischer Risiken trägt erheblich dazu bei, den Blick auf das biologische Risiko menschlicher Existenz im Alltagsbewusstsein zu verankern. Positive genetische Tests auf Krankheitsanfälligkeit konfrontieren das Individuum mit seinem quasi in den Bauplan des Erbgutes eingeschriebenen Lebensschicksal. Die Chancen auf ein Leben in Gesundheit oder gar die Chancen auf Erfolg und Lebensglück scheinen bereits beim Start ungleich verteilt. In dieser Fokussierung ist die vielleicht wesentliche Verengung und Verschiebung der Wahrnehmungsstruktur gesellschaftlicher Risiken angelegt: die Biologisierung der sozialen Kontexte des Lebens. Zwar werden biologische Risiken erst durch ihr genetisches Sichtbarmachen zu einem sozial relevanten Faktor. Die soziale Bedeutung, die einem genetischen Risiko gesellschaftlich und, davon geprägt, in der Selbstwahrnehmung der betroffenen Individuen zugeschrieben wird, haftet nicht ursächlich an der genetischen Konstellation eines Menschen, sondern hängt vor allen Dingen von den normativen und institutionellen Rahmenbedingungen der Gesellschaft ab, in der genetische Informationen inszeniert, verarbeitet und behandelt werden. Aus dieser Perspektive erweist sich das biowissenschaftliche Konstrukt genetischer Risiken selbst als eine soziale Konstruktion und damit als eine Konstruktion, die auf vorhandenen Strukturen gesellschaftlicher Risikowahrnehmung und Risikoverarbeitung aufsetzt.

Deutlicher noch zeigt sich die gesellschaftliche Abhängigkeit der Bedeutung genetischer Risiken in der tatsächlichen Lebenssituation der Betroffenen. Denn die soziale Diskriminierung, die ein Individuum aufgrund eines genetischen Risikos erfährt, variiert nicht so sehr analog zur statistischen Höhe des jeweiligen Risikos, sondern wird in erheblichem Umfang durch kulturelle und institutionelle Faktoren bestimmt. Dies betrifft zum einen die Toleranz im persönlichen Umgang mit Behinderung, zum anderen aber die gesellschaftliche Codierung der Lebenschancen, der differenziellen Bewertung menschlicher Eigenschaften und Potenziale. Dasselbe genetische Risiko kann also völlig unabhängig von seiner medizinischen Bedeutung in seinem Einfluss auf die individuellen Lebenschancen erheblich variieren, beispielsweise je nachdem, wie das System der sozialen Sicherung gebaut und damit der Zusammenhang zwischen genetischer und sozialer Ungleichheit konstruiert ist. Der Umfang, in dem genetisches Wissen zum sozialen Risiko wird, hängt insbesondere davon ab, inwieweit dieses Wissen in strategisches Kalkül gesellschaftlicher Teilsysteme und ihrer Akteure (Arbeitgeber, Krankenversicherungen, Lebensversicherungen) Eingang finden kann, und inwieweit die Individuen in ihrer Existenzsicherung von den Selektionsleistungen dieser Akteure abhängig sind. Unterschiedliche Sozialsysteme bieten hier ein variantenreiches Bild. Dies betrifft zum einen die grundlegende Frage des Vorhandenseins solidargemeinschaftlicher Strukturen und die Zugangsbedingungen zu diesen Systemen, zum anderen die gesetzlichen Regelungen und die praktische Handhabung im privatwirtschaftlichen Sektor der Kranken-, Lebens- und Rentenversicherung .

Die sozialen, kulturellen und institutionellen Rahmenbedingungen, die das Diskriminierungspotenzial einer genetischen Krankheitsveranlagung ausmachen, können weltweit deutlich differieren. Unterschiede zeigen sich schon innerhalb Europas: Während in Ländern wie den Niederlanden oder Frankreich, deren Krankenversicherung durch den Staat finanziert ist, Gentests nicht zur Risikoselektion eingesetzt werden, ist dies in einigen anderen Ländern bei privaten Krankenversicherungen durchaus der Fall. In Großbritannien, wo es ein staatlich finanziertes Gesundheitssystem sowie private (Zusatz-)Versicherer gibt, müssen bei Abschluss einer Zusatzversicherung vorhandene Ergebnisse einiger Gentests mitgeteilt werden; die Versicherungsbeiträge werden dann entsprechend dem genetisch ermittelten Risiko berechnet. In Deutschland sind hingegen genetische Tests in quantitativer Hinsicht bislang kaum relevant: 1999 wurden den Antragsstellen der Privaten Krankenversicherungen nur in ca. 50 Fällen Ergebnisse solcher Tests mitgeteilt . Ähnliche Unterschiede, die im Wesentlichen der Struktur der Kranken- und Lebensversicherungen geschuldet sind, zeigen sich auch außerhalb Europas.

Auch die unterschiedliche kulturelle Wahrnehmung menschlicher Besonderheiten birgt ein Diskriminierungspotenzial. Chromosomenveränderungen, die zur Verminderung geistiger Fähigkeiten führen könnten, gelten in den stark durch kognitive Anforderungen geprägten westlichen Staaten als besonderes Problem. In eher traditionell geprägten Gesellschaften könnten hingegen genetische Veränderungen, die zur Unfruchtbarkeit führen, weit oben auf der Liste unerwünschter Merkmale stehen und bei der Partnerwahl oder Familienplanung eine wichtige Rolle spielen.

Unabhängig von der aktuellen Situation und konkreten Auslegung institutionalisierter Bedingungen genetischer Diskriminierung zeigt sich in nahezu allen westlichen Gesellschaften eine Tendenz zur Individualisierung von Risiken. Auf dem weiten Feld der genetischen Ungleichheit ist die Anti-Diskriminierungspolitik vor allem eine Domäne von Behindertenverbänden geblieben, aber noch kein Gegenstand wirksamer gesetzgeberischer Aktivität geworden. Gleichwohl das Szenario der genetischen Risikokonstruktion und ihre Auswirkungen in nahezu allen Dimensionen zutiefst gesellschaftlich geprägt ist, wird der Umgang damit dem Geschick des Einzelnen überlassen. Die biologisierte Schicksalhaftigkeit all jener sozialen Risiken, die aus einer ungünstigen genetischen Konstellation erwachsen, belastet die Betroffenen mit Zwängen zur erhöhten Anspannung ihrer Kräfte, mit Pflichten zum risikogerechten Verhalten oder mit der Aufforderung zur Kompensation ihrer "natürlichen" Mängel.

Im Kontext pränataler Tests gilt dies für Reproduktionsentscheidungen im Gefolge prädiktiver Gentests für das eigene Präventionsverhalten. Beides wird zunehmend mit dem Aufforderungscharakter konfrontiert, der im Begriff der "genetischen Verantwortung" mitschwingt. Als verantwortungsvoll werden dabei vor allem Reproduktionsentscheidungen verstanden, welche die Gesellschaft nicht mit vorhersehbaren Risiken eines behinderten Kindes belasten und, damit in vollständiger Harmonie, die Eltern der sozialen Diskriminierung aussetzen. Subtiler sozialer Zwang, könnte man mit Günter Anders sagen, übernimmt hier in Gestalt des Wunsches die Regie. Genetische Verantwortung im Umgang mit eigenen genetischen Risiken steht dagegen eher unter Vermeidungsimperativen. Hier regiert vorwiegend die Angst vor dem persönlichen Versagen, der Nichterfüllung sozialer Normen. Risikobewusstes Verhalten als Reaktion auf eine genetische Normabweichung erfolgt unter Anpassungsdruck. Eine als defizitär erfahrbare Naturausstattung begibt sich in fiktive Konkurrenz mit dem Idealbild des genetisch Unverdächtigen. Das körperliche Selbstmanagement kann zwar ebenfalls allein auf subtilen Zwängen gründen, auf Versagensängsten und der verinnerlichten Vorstellung, mehr als andere für sich tun zu müssen, es kann aber auch durch gesellschaftliche Sanktionsmechanismen wach gehalten oder erzwungen werden.

Ansätze dafür sind auch im deutschen Sozialgesetzbuch bereits erkennbar, wenn auch noch nicht explizit praktiziert. Denn die dort enthaltene Mitwirkungspflicht des gesetzlich Krankenversicherten könnte durchaus auch als handfester Zwang zur Prävention gegenüber festgestellten genetischen Gesundheitsrisiken ausgelegt werden. Und dieser Zwang zur Prävention, der Eigenverantwortung des Versicherten, umfasst nicht nur den Konsum medizinischer Vorbeugungsmaßnahmen, sondern reicht potenziell in die gesamte Lebensführung der Betroffenen hinein: insbesondere das Ernährungsverhalten, das Ausmaß sportlicher Aktivitäten, den Genussmittelgebrauch. Dass bisher kein sanktioniertes Präventionsregime gegen genetische Risiken etabliert worden ist, bedeutet keinesfalls, dass damit nicht gerechnet werden muss. Wahrscheinlicher ist, dass gegenwärtig die medizinischen, technischen, administrativen und normativen Voraussetzungen noch nicht gegeben sind.

Im Ergebnis trägt das Wissen um die genetischen Risiken einer Person zur Vervielfachung der individuellen Existenzrisiken bei, wobei ihre gemeinsame Quelle, die soziale Verankerung und gesellschaftliche Inszenierung von Risiken, hinter einem aus biologischer Schicksalhaftigkeit und Eigenverantwortung komponierten Vorstellungsbild verborgen ist. Die Diagnose, dass sich die Gesellschaft einfach aus ihrer Verantwortung zurückzieht, wäre dennoch falsch. Denn es handelt sich dabei keinesfalls um einen Rückzug aus Passivität oder gar Resignation, sondern um den aktiven Versuch, neue ökonomische und politische Ressourcen zu mobilisieren sowie neue Formen der sozialen Integration attraktiv zu machen oder einfach zu erzwingen.

VI. Gendiagnostik als Instrument der Biopolitik

Während der letzten Jahre scheint Biopolitik zu einem sehr zentralen Gegenstand der Politik geworden zu sein. Enorme Fördersummen wurden und werden in die Gen- und Genomforschung geleitet, zunächst mit der noch vagen Hoffnung, Standortvorteile in einem rasch expandierenden und hochrentablen Zukunftsmarkt zu sichern, aber auch mit dem vielstimmigen Versprechen, zahlreiche schwerwiegende Krankheiten mittels neuer Biotechniken früh erkennen und effektiv behandeln zu können. Investitionen, auch staatliche, wollen legitimiert sein. Insofern könnte man letzteres als Verneigung vor einem Publikum betrachten, das, wenn es gefragt wird, als höchsten Wert im Leben die Gesundheit angibt. Genau das bietet der Politik jedoch einen weiteren, vielleicht viel tiefgreifenderen Ansatzpunkt zur Verhaltenssteuerung und Kontrolle ganzer Bevölkerungsschichten. Denn Biopolitik, verstanden als wachsende Einbeziehung des natürlichen Lebens (des Körpers) des Menschen in die Mechanismen und Kalküle der Macht, drängt in letzter Konsequenz zum Höchstmaß der Vergesellschaftung des Subjekts.

Foucaults frühe Analysen zur "Mikrophysik der Macht", die sich in der Militär- oder Gefängnisdisziplin idealtypisch entfalten konnte, bezeichnen lediglich die Vorstufe bzw. Frühform biopolitischer Machtentfaltung. Diese konzentrierte sich auf die Dressur des Körpers, war von äußerem Zwang bestimmt und in ihren wesentlichen Zügen streng dem Denkmodell der mechanischen Maschine verhaftet. Biopolitik in ihrer modernen Form, wie sie beispielsweise von Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke unter dem Foucault'schen Begriff der "Gouvernementalität", einer semantischen Verbindung von Regieren ("gouverner") und Denkweise ("mentalité"), diskutiert wird, verweist auf qualitativ neue Dimensionen der Bemächtigung des Körpers. Sie bezeichnet eine Herrschaftstechnik, in der individualisierte Akteure zu Techniken des Selbst greifen, in denen die Differenz von Wollen und Sollen erlischt, und das gesellschaftlich geforderte Verhalten als Ausdruck des eigenen Willens erscheint. Für Lemke ist in der genetischen Gouvernementalität nicht nur die "Konstitution eines ,rationalen' Gesundheitsbürgers" angelegt, sondern die eines sich eigenverantwortlich selbstoptimierenden Subjekts, das als freier Marktteilnehmer seinen Körper, seine Gesundheit in Kosten-Nutzen-Analysen objektiviert .

Natürlich ist die Denkfigur der "Selbstinstrumentalisierung" des Körpers und der Psyche nicht gänzlich neu. Anknüpfungspunkte finden sich bei Norbert Elias, der den Prozess der Zivilisation als eine Verlagerung vom Fremd- zum Selbstzwang beschrieb , bei Erich Fromm in der auf Plessner zurückgehenden Unterscheidung zwischen "Körper sein" und "Körper haben" und der damit verknüpften Kritik am zunehmenden Marketingcharakter des Umgangs mit dem Körper , oder bei Jacques Attali, der die Tendenz zur "Selbstüberwachung und Selbstdenunziation" des Körpers als individuelles Anpassungsprogramm an die Herausbildung normalisierender Codes der physischen Funktionsfähigkeit und als Ausdruck der industrialisierten Organisation der Gesellschaft verstand . Ähnlich gibt es auch im Vorfeld der breiten Diffusion genetischer Techniken bereits empirische Tendenzen zum selbstoptimierenden Subjekt, sei es in Form der prophylaktischen Bypass-Chirurgie, die von amerikanischen Managern nachgefragt wird, sei es in Form der Perfektionierung von Körperoberflächen, die sich in einer prosperierenden kosmetischen Chirurgie spiegelt oder im Vordringen von Lifestyle-Drogen, deren rasante Verbreitung dem Wunsch nach erhöhter Leistungsfähigkeit oder attraktivem Habitus geschuldet ist. Der Boden für den Prozess, in dem das Subjekt sich selbst objektiviert, sich selbst als Subjekt an eine Macht der externen Kontrolle bindet, ist insofern schon bestellt. Genau hierauf kann sich die Biopolitik ansiedeln.

Eine neue Qualität der genetischen Gouvernementalität liegt allerdings in der Intensität, mit welcher der Körper zum Objekt von Politik und Ökonomie gemacht wird, mit der sich die Dispositive der Biomacht in unterschiedlichen Sphären der Gesellschaft verankern. Dazu gehören nicht nur öffentlich inszenierte Genetikvisionen und Nutzenversprechen ("Jahr der Lebenswissenschaften") oder aufwendig arrangierte Versuche, die Moral der Gesellschaft durch ein Überangebot an ethischen Legitimationsmustern und die institutionelle Erzeugung ethischer Autorität (Nationaler Ethikrat) "innovationsfreundlich umzucodieren" , sondern auch der flankierende Umbau konzeptioneller Grundzüge der sozialen Sicherung und gesundheitlichen Versorgung. Allein diese abgestimmte Formation zeigt, dass sich "Biomacht" erst noch entfaltet. Der Aufbau von Fremdzwängen und die Ingangsetzung von anreizgetriebenen Selbsttechnologien vollzieht sich noch Hand in Hand. Es entsteht eine komplexe Gemengelage aus dem individuellen Wunsch nach Gesundheit, dem gesellschaftlichen Versprechen ihrer Machbarkeit, der moralischen Unbedenklichkeit des medizinischen Einsatzes gentechnischer Verfahren, und schließlich den eventuell drohenden sozialen Sanktionen für genetisch "verantwortungsloses" Verhalten.

Der Aufbau dieser handlungsleitenden Strukturen verläuft nicht ohne tiefgreifende Widersprüche und Interessenkonflikte. Biomacht oder genetische Gouvernementalität entfaltet sich daher keineswegs als geschlossenes Konzept, sondern im trial- and error-Verfahren oder als "muddling-through". Der vielleicht konstanteste Faktor in diesem vielstimmigen Ensemble ist die Hartnäckigkeit der gesellschaftspolitisch verfolgten Absicht.

Die Formierung der Biopolitik hat durchaus ihren Preis. Dazu gehören auf der einen Seite die sozialen Kosten, die von der pränatalen und prädiktiven Diagnostik insbesondere dort erzeugt werden, wo dem genetischen Wissen keine effektive Prävention gegenüber steht. Auf der anderen Seite sind es die ökonomischen Reibungsverluste, die in der Ausbalancierung ökonomischer Interessen entstehen. Tatsächlich gibt es zahlreiche ungeklärte Widersprüche bei der Etablierung von Biomacht. Einer davon betrifft die soziale Diskriminierung genetischer Defizienz und damit die Frage, ob es für die zukünftige Entwicklung und Verbreitung (Diffusion) genetischer Techniken hinderlich ist, wenn die von einer genetischen Normabweichung betroffenen Individuen letztlich mit sozialen Benachteiligungen (durch Kranken- und Lebensversicherungen oder durch Arbeitgeber) oder mit Stigmatisierung rechnen müssen oder wenn die Gesellschaft subtile Zwänge ausübt, sich entsprechend der genetischen Konstitution "verantwortungsvoll" zu verhalten, um einer drohenden sozialen Diskriminierung zu entgehen.

Der gesellschaftliche Aufbau solcher Diskriminierungs-Risiken, die zu Bezugspunkten des persönlichen "Unsicherheitsmanagements" und der "Technologien des Selbst" werden, kann mit verhaltenswirksamen Effekten allerdings nur dann rechnen, wenn sich die Individuen der genetischen Information nicht folgenlos entziehen können. In der pränatalen Diagnostik besteht die Möglichkeit dazu nur sehr begrenzt. Die Geburt eines behinderten Kindes ist gerade durch seine "Verhinderbarkeit" enorm stigmatisierend geworden. Im Fall der prädiktiven Diagnostik ist die gegenwärtige Situation etwas anders gelagert. Zwar besteht auch hier ein mehr oder weniger reales Bedrohungspotenzial der sozialen Diskriminierung, aber genau dies ist der vielleicht wesentliche Grund für die ausgeprägte Zurückhaltung der Bevölkerung, sich prädiktiven genetischen Tests oder genetischen Screenings zu unterziehen. Genetisches Wissen ist irreversibel, während die Regelungen im Umgang damit nicht endgültig festgelegt sind und wohl auch auf längere Sicht im Fluss bleiben werden. Niemand kann daher wissen, welche Nachteile die genetische Information in zukünftigen Vertragsbeziehungen mit sich bringen wird. Ganz unabhängig von der aktuellen gesetzlichen Regelung zur Verwertung genetischer Daten durch Dritte und der gegenwärtig geübten Praxis gesellschaftlich relevanter Vertragsparteien ist also allein schon die Möglichkeit der sozialen Diskriminierung genetischer Normabweichungen ein nachvollziehbarer Grund für die mangelnde Akzeptanz prädiktiver Gentests. Das Nicht-Wissen über seine genetische Konstitution wird, sofern es nicht selbst durch versicherungsvertragliche oder sonstige soziale Nachteile sanktioniert wird, daher zu einem ebenso wichtigen Teil des persönlichen "Unsicherheitsmanagements" wie die möglichen Vorteile der persönlichen Nutzung genetischen Wissens.

Den Befürwortern der Gendiagnostik und den Anbietern genetischer Tests wird dieser Zusammenhang zunehmend bewusst. Damit wird aber auch deutlich, dass die soziale Diskriminierung genetischer Normabweichungen dem biotechnischen Fortschritt und der Diffusion biotechnischer Leistungsangebote mindestens ebenso sehr im Wege steht, wie sich die private Versicherungswirtschaft zumindest die Option auf genetisch ausdifferenzierte Vertragsangebote offenhalten will, um die Grundlage ihres Geschäfts zu wahren. Bei allem politischen Willen zur Etablierung einer genetischen Selbstverantwortungsgesellschaft ist nicht zu übersehen, dass die wirkungsvolle Formierung von Biomacht noch durch zahlreiche Interessenkollisionen behindert wird. Und diese Interessenkollisionen bestehen nicht nur zwischen völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, sondern auch innerhalb der gesellschaftlichen Teilsysteme Wirtschaft und Politik und letztlich sogar als innere Zerrissenheit von Personen, deren genetisches Unsicherheitsmanagement keine Grundlage für ein widerspruchsfreies Handeln findet. Denn letztere sehen sich bei genauerer Betrachtung damit konfrontiert, dass sie unter den gegebenen Bedingungen nicht Sicherheit gegen Risiken, nicht Transparenz gegen Ungewissheit, sondern einfach nur Risiken gegen Risiken eintauschen.

Dennoch kann festgehalten werden, dass eine gesellschaftliche Tendenz zur fortschreitenden Kalkülisierung des Körpers besteht - und dass diese Tendenz sowohl mit wirtschaftsliberalistischen Interessen an der Auflösung sozialstaatlicher Verpflichtungen harmoniert, vom schrittweisen Aufbau gesellschaftlicher Anreize und subtiler Zwänge profitiert als auch von einer enorm gesteigerten Produktion an ethischen und rechtlichen Deutungsmustern flankiert wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Anmerkung der Redaktion: Zur Begrifflichkeit siehe das Glossar auf Seite 16.

  2. Lee M. Silver, Das geklonte Paradies. Künstliche Zeugung und Lebensdesign im neuen Jahrtausend, München 1998.

  3. Jürgen Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1985, S. 161.

  4. Vgl. Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1994.

  5. Dies ist beispielsweise bekannt bei einer der in der mitteleuropäischen Bevölkerung am häufigsten vorkommenden Erbkrankheit, der Mukoviszidose (auch Zystische Fibrose genannt), die mit einer Verschleimung der Lungen und anderer innerer Organe einhergeht. 3 bis 5 Prozent der reinerbigen Merkmalsträger werden nicht krank.

  6. Der derzeitige Stand der Diskussion um den BRCA-Test ist zusammengefasst in: Günter Feuerstein/Regine Kollek, Risikofaktor Prädiktion. Unsicherheitsdimensionen diagnostischer Humanexperimente, in: Ludger Honnefelder/Christian Streffer (Hrsg.), Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 6, Berlin 2000, S. 91-115.

  7. Vgl. Neil A. Holtzman/Theresa Marteau, Will genetics revolutionize medicine?, in: New England Journal of Medicine, (2000) 343, S. 141-144.

  8. Christine Scholz, Biographie und molekulargenetische Diagnostik, in: Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.), Welche Gesundheit wollen wir?, Frankfurt/M. 1995, S. 33-72, hier S. 48.

  9. Vgl. Reinhard Damm, Prädiktive Medizin und Patientenautonomie. Informationelle Persönlichkeitsrechte in der Gendiagnostik, in: Medizinrecht, 10 (1999), S. 437-448, hier S. 448.

  10. Vgl. dazu Günter Feuerstein/Regine Kollek/Thomas Uhlemann, Fortschritte in Gendiagnostik und Gentherapie - Auswirkungen auf das Krankenversicherungssystem in Deutschland. Gutachten im Auftrag des AOK-Bundesverbandes, Hamburg 2000.

  11. Vgl. dazu die von der Münchener Rück-Versicherung erstellte Übersicht: Genetic Testing and Insurance - A Global View. Münchener Rück, September 2000.

  12. Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M. 2000.

  13. Thomas Lemke, Die Regierung der Risiken. Von der Eugenik zur genetischen Gouvernementalität, in: dies. (Anm. 11), S. 227-264.

  14. Vgl. Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1980.

  15. Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München 1979.

  16. Jaques Attali, Die kannibalische Ordnung, Frankfurt/M. - New York 1981.

  17. Günter Feuerstein/Regine Kollek, Flexibilisierung der Moral. Zum Verhältnis von biotechnischen Innovationen und ethischen Normen, in: Claudia Honegger/Stefan Hradil/Franz Traxler (Hrsg.), Grenzenlose Gesellschaft? Kongressband 2 des Freiburger Kongresses der DGS, ÖGS und SGS, Opladen 1999, S. 559-574.

  18. T. Lemke (Anm. 12).

Dr. phil., Soziologe, geb. 1951; wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt "Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt" der Universität Hamburg; Privatdozent an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld.

Anschrift: Universität Hamburg, BIOGUM, FG Medizin/Neurobiologie, Falkenried 94, 20251 Hamburg.
E-Mail:feuerstein@uni-hamburg.de

Veröffentlichungen u. a.: Das Transplantationssystem. Dynamik, Konflikte und ethisch-moralische Grenzgänge, Weinheim 1995; (Hrsg. zus. mit Ellen Kuhlmann) Rationierung im Gesundheitswesen, Wiesbaden 1998.

Dr. rer. nat., Biologin, geb. 1950; Professorin und Leiterin der Forschungsgruppe "Technologiefolgenabschätzung der modernen Biotechnologie in der Medizin/Neurobiologie" des Forschungsschwerpunktes "Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt" der Universität Hamburg.

Anschrift: Universität Hamburg, BIOGUM, FG Medizin/Neurobiologie, Falkenried 94, 20251 Hamburg.
E-Mail:kollek@uni-hamburg.de

Veröffentlichung u. a.: Präimplantationsdiagnostik. Embryonenselektion, weibliche Autonomie und Recht, Tübingen 2000.