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Editorial | Parlamentarismus | bpb.de

Parlamentarismus Editorial Deutschlands "semisouveräner Staat" Auswanderung aus den Verfassungsinstitutionen Der Bundesrat als Oppositionskammer? Regieren als informaler Prozess Information und Entscheidung Demokratie unter Kommunikationsstress?

Editorial

Nicole Maschler

/ 2 Minuten zu lesen

Im politischen Getriebe der Bundesrepublik knirscht es gewaltig. Im Mittelpunkt der Kritik steht der Bundestag: dröge Debatten, zu viele Kommissionen und zu wenig politische Alternativen.

Schon seit Monaten kündigen Kommentatoren einen "heißen Reformherbst" an. Ein rauer Wind wehte bereits in der ersten Sitzung des Deutschen Bundestages nach der parlamentarischen Sommerpause: Die Union drohte Mitte September damit, den Entwurf der Regierung Schröder für den Bundeshaushalt 2004 im Bundesrat zu blockieren; dieser sei unseriös finanziert und die Bilanz von "Rot-Grün" mehr als ernüchternd.

Einst war es der bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß, der die zweite Kammer als Waffe der Opposition entdeckte. In schöner Regelmäßigkeit wirft seither die Regierung der jeweiligen Opposition vor, das Verfassungsorgan für parteipolitische Zwecke zu instrumentalisieren, wie Roland Lhotta in seinem Beitrag beschreibt. Denn auch die SPD unter Oskar Lafontaine erkannte das taktische Potenzial einer Blockade mittels Bundesrat. Ermöglicht wurde die "Sonthofen-Strategie" durch ein Phänomen, das Politologen "Politikverflechtung" nennen: Waren anfangs nur zehn bis 20 Prozent der Bundesgesetze zustimmungspflichtig, haben die Länder heute in 60 Prozent der Fälle ein Mitspracherecht.

Die Folge: Im politischen Getriebe der Bundesrepublik knirscht es gewaltig. Nicht nur Bundespräsident Johannes Rau befand, das staatliche Handeln sei bereits "in bedenklichem Maße entparlamentarisiert". Die Mitte Oktober eingesetzte Kommission "Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung" soll die Stellschrauben des parlamentarischen Regierungssystems neu justieren. Dabei geht es um die Frage, wie die Aufgaben zwischen Bund und Ländern künftig verteilt werden könnten - und letztlich um die Rolle des Bundestages im Verfassungsgefüge.

Der Kritik-Katalog ist lang: Die Debatten im Parlament seien langweilig, die Parteien böten keine echten politischen Alternativen, und die Lobbyisten hätten zu großen Einfluss. Zudem stehe der Bundestag im Schatten von Kommissionen und Konsensrunden. Doch ob Migration oder Bundeswehr, Biomedizin oder Rente, auf eine Rückkopplung mit Fachleuten kann das Parlament angesichts der komplexen Zukunftsfragen nicht verzichten. Nur müssen die Abgeordneten wissen, wann sie selbst die Initiative übernehmen sollten. Ihr Widerstand gegen den von Bundeskanzler Gerhard Schröder einberufenen Nationalen Ethikrat zeige, dass das Beharren auf den verfassungsmäßig festgeschriebenen Kompetenzen auch erfolgreich sein kann, betont Julia von Blumenthal.

Aber den Parlamentariern scheint es an Selbstbewusstsein zu mangeln. Denn Abweichler werden - wie zuletzt beim Streit um Schröders Reformagenda - unter Druck gesetzt. Die Chefs der Koalitionsparteien und ihre Emissäre einigen sich lieber hinter geschlossenen Türen. Die Zitterpartie bei der Bundestagsabstimmung über den Afghanistan-Einsatz im November 2001 war der rot-grünen Regierungskoalition eine Lehre, wie Sabine Kropp zeigt.

Es sind nicht zuletzt die Medien, die ein einheitliches Bild fordern - und auch dazu beitragen. Politische Entscheidungsprozesse, demokratische Verfahren und komplexe Sachverhalte interessieren in der Mediengesellschaft kaum. Ein Paradox: Wenn das Parlament andernorts getroffene Entscheidungen nur noch absegnen kann, gilt es als überflüssig. Wenn es dagegen seinen Auftrag wahrnimmt und diskutiert, gerät die Behäbigkeit der Politik in die Kritik. Einen "Kommunikationsspagat" konstatiert Ulrich Sarcinelli. Die Forderung nach mehr Führung und Geschlossenheit zielt jedenfalls ins Leere. Mehr noch: Sie untergräbt die Idee von der Konsensdemokratie, in der das Parlament mühsam um Kompromisse und Legitimität ringt.