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Vermittlungsschwierigkeiten der Sozialwissenschaften

Jürgen Kocka

/ 14 Minuten zu lesen

Die Sozialwissenschaften sind in der öffentlichen Diskussion zwar präsent, aber ihre Professionalisierung hat zu Spezialisierung und Selbstreferentialität geführt. Eine Neuadjustierung ist nötig. Richtig verstandener Publikumsbezug ist ein Kernbestandteil guter sozialwissenschaftlicher Praxis.

Einleitung

Es liegt keineswegs auf der Hand, dass die Sozialwissenschaftler besondere Schwierigkeiten haben, ihr Publikum zu erreichen. Viele von uns glauben das, und der Titel dieses Aufsatzes unterstellt es in gewisser Weise. Aber trifft es auch zu? Zunächst sei ausgeführt, in welcher Hinsicht die These von der besonderen Publikumsdistanz der Sozialwissenschaften nicht zutrifft, sondern auf problematischen Beurteilungskriterien fußt, die ihrerseits "hinterfragt" werden sollten. Dann seien Beobachtungen und Überlegungen vorgetragen, die das Verhältnis der Sozialwissenschaften zu ihrem Publikum tatsächlich als problematisch und verbesserungsbedürftig erscheinen lassen. Im Ergebnis erweist sich das Publikumsproblem der Sozialwissenschaften, soweit es besteht, als Problem ihrer inneren Verfassung.


Die Präsenz der Sozialwissenschaften

Jeder regelmäßige Beobachter von Nachrichten-, Magazin- und Diskussionssendungen des Fernsehens wie jeder aufmerksame Leser anspruchsvoller Presseerzeugnisse kann sich tagtäglich von der Dauerpräsenz einiger Sozialwissenschaften und Sozialwissenschaftler in der medial gestalteten Öffentlichkeit überzeugen. Weil in Deutschland fast immer gewählt wird, stoßen Wahlforscher in der Regel auf mediales Interesse, und gerade jetzt - im Sommer 2005 - riskieren einige von ihnen viel, denn so recht weiß ja niemand, wie der Souverän im September entscheiden wird. Verfassungsrechtler hatten als Autoren, Interviewpartner und Experten Hochkonjunktur, solange nicht eindeutig klar war, wie Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht sich zur Strategie des Kanzlers stellen würden, durch ein bewusst herbeigeführtes Misstrauensvotum die Auflösung des Bundestags zu erreichen. Nicht einzelne Journalisten wie Frank Schirrmacher, sondern einzelne Sozialwissenschaftler wie Meinhard Miegel haben als erste vor den Folgen des demographischen Wandels gewarnt, wenngleich die öffentliche Debatte darauf nicht ansprang. Mit der Schärfung des Bewusstseins von der bevorstehenden demographischen Krise finden Bevölkerungs- und Sozialwissenschaftler zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit. Historisch arbeitende Sozialwissenschaftler und Zeithistoriker haben bei Jahrestagen Hochkonjunktur, die allerdings - den medialen Gesetzen der Kurzatmigkeit folgend - nach dem "Abfeiern" des jeweiligen Gedenktags schlagartig abbricht. Seltener sind die öffentlich bemerkten allgemeinen Zeitdiagnosen sozialwissenschaftlicher Autorinnen und Autoren geworden, doch auch sie fehlen nicht ganz; die Liste reicht von Jürgen Habermas und Ralf Dahrendorf über Wolf Lepenies und Ulrich Beck bis Claus Leggewie und Paul Nolte. Von Nachfrageschwankungen unberührt, melden sich Meinungsforscher und -forscherinnen regelmäßig publikumswirksam zu Wort, und zwar nicht nur mit neuen Ergebnissen zu allem Möglichen, sondern auch mit ehrgeizigen Interpretationen des Zeitgeistes und seiner Wandlungen. Und natürlich interessiert sich die Presse für die Ergebnisse der ersten quantitativen Analyse der sozialen Herkunft von im Westen aktiven Terroristen. Es ist sicherlich berichtenswert, dass ihre große Mehrheit zwar dem Islam angehört, aber nicht aus dessen Kernländern stammt, sondern in den westlichen Staaten geboren und aufgewachsen ist, denen ihre Anschläge gelten. Überhaupt stammen die besten Analysen über die neue Art des Kriegs, über den Qualitätswandel der transnationalen Beziehungen und über Amerika als derzeit einziges Imperium von historisch informierten Politikwissenschaftlern, die ihr Publikum suchen und finden.

Das sind nur einige Beispiele klar zuzurechnender öffentlicher Interventionen von sozialwissenschaftlicher Seite. Hinzu kommen die boomenden Branchen der sozialwissenschaftlichen Politikberatung und des sozialwissenschaftlich fundierten Consulting, die meist halböffentlich oder nichtöffentlich ablaufen, aber doch Beispiele dafür sind, dass sozialwissenschaftliches Wissen sein Publikum findet. Wenn man schließlich noch an die schwer zu fassende, aber verbreitete indirekte Diffusion sozialwissenschaftlichen Wissens denkt (auf die noch zurückzukommen sein wird), wird man mit der These, dass die Sozialwissenschaften vergeblich ihr Publikum suchen, sehr vorsichtig umgehen.

Gegen falsche Erwartungen

Es ist auch davor zu warnen, sozialwissenschaftliche Pioniersituationen oder Nachfrage-Hochzeiten allzu unbedenklich zum Vergleich heranzuziehen, um die Gegenwart daran zu messen und für zu leicht zu befinden. Als Disziplinen wie die Soziologie und die Politikwissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts und erneut in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, ruhte der Aufschwung der jeweiligen Forschung auf den Schultern einiger Pioniergestalten, die noch wenig professionalisiert waren und intellektuell-beruflich aus anderen Bereichen stammten. Sie mussten Generalisten und öffentliche Großdarsteller sein und waren es. In dem Maß, in dem die Professionalisierung der Fächer gelang, trat die Normalität an die Stelle der Ausnahmesituation; damit setzten sich Spezialisierung, Routine und tüchtiges Normalmaß durch. Dass die sechziger und siebziger Jahre - mit ihrer Mischung aus kultureller Traditionskritik und gesellschaftlichem Planungsoptimismus - aus den Sozialwissenschaften und besonders der Soziologie eine Art Leitwissenschaft mit herausragender öffentlicher Resonanz machten, ist unvergessen. Doch ist ebenso klar, dass sie diese Rolle nur vorübergehend hatte; schon die achtziger Jahre waren nicht mehr davon geprägt.

Schließlich sind das Recht und die Pflicht der Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler, Forschung und Lehre nach ihren eigenen Regeln zu betreiben, nicht ernsthaft zu bestreiten. Nicht die Gesetzmäßigkeiten der Politik, des Journalismus, des Unterhaltungsbetriebs oder der Wirtschaft prägen diese, sondern jene der Wissenschaft, in je fachspezifischer Ausprägung. Dazu gehören das Streben nach zutreffender und begründeter Beschreibung und Erklärung der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit Hilfe spezifischer Verfahren empirischer Prüfung, in kritischer, im Prinzip nie beendeter Diskussion und mit häufiger Vertagung der Ergebnisfindung, dagegen kaum der politische Kompromiss oder die rasche Entscheidung unter Zeitdruck und unter Bedingungen begrenzter Information. Dazu gehören in aller Regel ein langer Atem und methodische Gründlichkeit statt Orientierung an der jeweiligen, schnell wechselnden Aktualität. Dazu gehört das Recht, innerhalb der Grenzen, welche die Gesetze, der gesellschaftliche Auftrag der jeweiligen Institution und die finanzielle Förderung setzen, über Inhalte und Methoden der eigenen Arbeit selbst zu entscheiden, und zwar individuell und kollegial. Dazu gehören Spezialisierung und Respekt vor den Grenzen der eigenen Kompetenz - mit der daraus folgenden Zurückhaltung gegenüber ungesicherten Aussagen darüber hinaus. Dazu gehört eine bunte Palette theoretischer Orientierungen und methodischer Verfahren oft sehr elaborierter Art, deren Verwendung in fachsprachlicher Kommunikation der Fachangehörigen untereinander erfolgt und damit für Außenstehende ein gewisses Maß an Unverständlichkeit implizieren kann. Dazu gehört auch der Sinn für Proportion. Nicht alles ist so neu oder so dramatisch in Gesellschaft, Kultur und Politik, wie es die um Aufmerksamkeit miteinander kämpfenden Medien bisweilen ausrufen. Der schrillen Überdramatisierung wirkt das sozialwissenschaftliche Argument oft ernüchternd entgegen, sehr zu Recht, aber nicht zur Freude des Feuilletons, das sich leicht damit langweilt und des Öfteren mit Nichtbeachtung reagiert.

Wissenschaftler, auch Sozialwissenschaftler, werden im Idealfall rekrutiert und ausgebildet, um ihre Wissenschaft im angedeuteten Sinn zu betreiben. Ihr Erfolg bemisst sich danach, wie weit ihnen dies gelingt. Ihr Erfolg oder Misserfolg wird in Verfahren des peer review (Bewertung eines Objekts oder Prozesses durch unabhängige Gutachter ähnlicher Qualifikation) konstatiert; die fachwissenschaftliche Öffentlichkeit ist deshalb für sie von zentraler Bedeutung.

Im Vergleich zu diesen Anforderungen und Leistungen ist die Fähigkeit der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zur Kommunikation mit der Umwelt - z.B. die Fähigkeit zur Darstellung der eigenen Ergebnisse in der Form eines Zeitungsartikels, Interviews oder einer Talkshow - sekundär. Die Differenz zwischen dem Bereich Wissenschaft und den anderen Lebensgebieten (einschließlich der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit) ist ein Konstruktionsprinzip unserer ausdifferenzierten Wirklichkeit und eine Bedingung wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit, wenngleich daraus auch ein Missverhältnis zwischen den an die Wissenschaft herangetragenen Erwartungen und den inneren Möglichkeiten ihrer Erfüllung resultieren kann. Wer über das Verhältnis zwischen den Sozialwissenschaften und ihrem Publikum nachdenkt, sollte all dies berücksichtigen, um nicht von den Wissenschaftlern mehr zu fordern, als sie erfüllen können und sollen.

Wachsende Bedeutung der Öffentlichkeit

Doch machen das Recht auf Eigenständigkeit, die Verpflichtung auf eigene Regeln und die daraus folgende Distanz auch der Sozialwissenschaftler zum nichtfachwissenschaftlichen Publikum nur die eine Seite des Gesamtproblems aus. Die andere Seite besteht - aus der - notwendigen, nicht selbstverständlich gesicherten - gesellschaftlichen Einbettung der Wissenschaften, die Anerkennung, aufwändige Unterstützung und Legitimität außerhalb ihrer selbst brauchen, um funktionieren zu können; - aus der in den letzten Jahrzehnten eher zunehmenden Verflechtung zwischen Gesellschaft und Wissenschaft und - aus der besonderen Dringlichkeit, die diese Problematik für die Sozialwissenschaften besitzt. Was bedeutet dies generell und besonders für den Publikumsbezug der Sozialwissenschaften?

"Die Bürger einer Gesellschaft unterstützen Wissenschaft auf Dauer nur in dem Maße, in dem diese ihre Sinn- und Nutzenerwartungen hinreichend befriedigt. Das setzt bei den Institutionen der Wissenschaft voraus, dass sie das ihnen verliehene Mandat zur Selbststeuerung nicht als Recht auf akademischen Autismus interpretieren dürfen. Die Entwicklung und Sicherung von Ausdifferenzierung erfordert im Gegenzug eine Institutionalisierung integrativer Mechanismen - ein Erfordernis, das im Falle der Ökonomie dazu geführt hat, den frühen Manchesterkapitalismus in Richtung auf die so genannte ,soziale Marktwirtschaft` zu korrigieren. Am Beispiel der Ökonomie lässt sich aber auch erkennen, dass die Dialektik von Ausdifferenzierung und Integration ein Balanceakt ist, der nach zwei Seiten hin misslingen kann. Ausdifferenzierung darf nicht als Desintegration vonstatten gehen, Integration aber auch nicht auf Entdifferenzierung hinauslaufen. Auch im Falle von Wissenschaft gilt es, zwischen Entfremdung und Überfremdung ein Gleichgewicht herzustellen, in dem die wechselseitigen Erwartungen wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher Akteure gegenseitige Anerkennung finden können."

Diese allgemeine Problematik verschärft sich in den letzten Jahren. Wie die Wissenschaft für die Gesellschaft an Bedeutung weiter gewonnen hat (die Rede von der "Wissensgesellschaft" weist darauf hin), dringt die Gesellschaft heute intensiver und vielfältiger in das Teilsystem Wissenschaft ein als früher. Zwar ist fraglich, ob der Wissenschaft heute mehr gesellschaftliches Misstrauen entgegenschlägt als früher - Wissenschaftsskepsis und Wissenschaftskritik waren auch in zurückliegenden Jahrzehnten mächtig. Aber zweifellos sieht sich die Wissenschaft heute mit ausgeprägten Forderungen nach gesellschaftlicher Rechenschaftslegung konfrontiert, wird das herkömmliche Verhältnis von Experten und Laien vielfach in Frage gestellt, dringt außerwissenschaftliche Öffentlichkeit über Ansprüche auf Teilhabe am "agenda setting" und an der Evaluation unmittelbar in die Wissenschaft ein, ist die außerwissenschaftliche Öffentlichkeit für wissenschaftliche Erfolge und Misserfolge der Einzelnen sehr wichtig geworden, hängen diese immer häufiger überdies von Marktprozessen statt von staatlicher Alimentierung ab, und all dies viel stärker als noch vor wenigen Jahrzehnten. Im eigenen Interesse hat die Wissenschaft und haben die Wissenschaftler sich darauf einzustellen, u.a. durch veränderten Umgang mit Öffentlichkeit und durch bewusste Strategien der Selbstdarstellung.

Diese allgemeine Problematik scheint bisher für die Sozialwissenschaften weniger gründlich durchdacht worden zu sein als für die heute im Brennpunkt öffentlicher Diskussionen stehenden Technik-, Lebens- und Naturwissenschaften. Doch stellt sie sich für die Sozialwissenschaften in besonderer Form und mit besonderer Dringlichkeit, und zwar aus zwei Gründen.

Erstens: Seit jeher ist das Verhältnis von Gesellschaft und Sozialwissenschaften durch besondere Affinität geprägt, stärker als es für das Verhältnis von Gesellschaft und Naturwissenschaften gilt. Vieles in den Sozialwissenschaften entstand und entwickelte sich als moderne Antwort auf gesellschaftliche Probleme, sei es in emanzipatorischer, sei es in stabilisierender, sei es in reparierend-verbessernder oder sonstiger Absicht: von den Revolutionen des späten 18.Jahrhunderts über die "soziale Frage" des 19. bis zur Planung des Interventionsstaats im 20. Jahrhundert und bis zu vielfältigen sozialwissenschaftlichen Antworten auf unterschiedliche Fragen, Probleme und Krisen heute. Die hohen Erwartungen an die Kraft der Sozialwissenschaften zur Lösung gesellschaftlicher Probleme sind immer wieder enttäuscht worden, sind in Kontroversen und Misserfolgen versandet und dürften heute weniger ausgeprägt sein als vor dreißig, hundert oder hundertfünfzig Jahren. Doch sie bestehen nach wie vor, und nicht ohne Grund: Moderne Gesellschaften hängen von sozialwissenschaftlicher Selbstberatung und Selbstaufklärung im Innersten ab, wenn auch die Selbstberatung nicht nur über Öffentlichkeit geschieht und öffentliche Aufklärung durch Sozialwissenschaft heute eher dialogisch verstanden und medial anders gestaltet werden muss als früher. Insofern besteht für die Sozialwissenschaften eine besondere Verpflichtung zum Öffentlichkeitsbezug, mit der andere Wissenschaften nicht konfrontiert sind. Die besten, produktivsten Sozialwissenschaftler haben dem auch immer Rechnung getragen und tun dies auch heute. Sie verstehen ihr Fach und wissen auch, es öffentlich darzustellen. Dagegen ist strikte innerdisziplinäre Spezialisierung oft ein Ausdruck der Defensive.

Zweitens: Zugleich muss man daran erinnern, dass die meisten Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler kein Monopol auf die Bereitstellung und Vermittlung des Wissens besitzen, für das sie spezifisch zuständig sind. In Bezug auf die meisten von Sozialwissenschaftlern diskutierten Probleme - von wirtschaftlichem Wachstum über soziale Ungleichheit, Verfassungsstrukturen und historische Erfahrungen bis hin zu Problemen der nächsten Wahl, des letzten Kriegs oder der Globalisierung im Ganzen - besteht erhebliches Wissen auch außerhalb der sozialwissenschaftlichen Disziplinen, besteht "Volkswissen" ohne direkte Abhängigkeit von Experten. Es ist unübersehbar, "dass ,Laienkommunikation und Alltagstheorien` in diesen Zusammenhängen eine ganz andere Art der Legitimität einfordern und beanspruchen können als etwa in den Naturwissenschaften. Eine weitere Öffentlichkeit kann sich also durchaus für kompetent halten, an der Diskussion sozialwissenschaftlicher Fragen teilzunehmen." Daraus folgt mindestens zweierlei.

Zum einen erklärt sich, warum viele sozialwissenschaftlich produzierte Einsichten nicht als Ergebnisse und Thesen spezifischer Experten, also oft nicht in Wissenschaftlerinterviews oder -zitaten und meist nicht durch darauf spezialisierte Wissenschaftsjournalisten (die ja in der Regel nicht auf Sozialwissenschaften spezialisiert sind) vermittelt werden, sondern oft indirekt und "unsichtbar" diffundieren, nämlich integriert in die Aussagen nichtspezialisierter Journalisten, öffentlich argumentierender Politiker oder auch als Teil pädagogischer Anstrengungen. Die Verbreitung sozialwissenschaftlicher Einsichten ist besonders diffus, erlaubt oft keine spezifische Zurechnung zu namentlich bekannten professionellen Produzenten, zumal sozialwissenschaftliche Ergebnisse selten die Form neuer Entdeckungen oder klar identifizierbarer "Produkte", vielmehr häufig die Form von Interpretationen, Erklärungen und Deutungen haben. Sozialwissenschaftliche Einsichten dürften deshalb weiter verbreitet und öffentlich wirksamer sein, als es die statistische Auszählung von einschlägigen Zitaten und spezialisierten Berichten ergibt.

Zum anderen wird klar, dass die gegenseitige Durchdringung von Gesellschaft und Wissenschaft - als Teilaspekt davon: die gegenseitige Durchdringung von Öffentlichkeit und Wissenschaft - im Fall der Sozialwissenschaften besondere Brisanz besitzt. Daraus folgt, dass sich die Sozialwissenschaften dem Problem ihres Öffentlichkeitsbezugs mit besonderem Interesse und besonderer Dringlichkeit widmen müssten, und zwar, wie mir scheint, eher offensiv und auf Öffentlichkeit zugehend als defensiv und nach Grenzziehungen suchend, die nach aller Erfahrung doch nicht zu befestigen sind.

Den Balanceakt neu justieren

Die Professionalisierung der Sozialwissenschaften ist in den letzten Jahrzehnten kräftig vorangeschritten. Als Konsequenz hat nicht nur die innere Spezialisierung, bisweilen Fragmentierung der Soziologie und Politikwissenschaft erheblich zugenommen, auch die Selbstreferentialität sozialwissenschaftlicher Arbeit ist heute ausgeprägter denn je, d.h. die Orientierung der Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen an der Rezeption und am Urteil der engsten Fachgenossen, die Abhängigkeit ihrer Karrieren von innerwissenschaftlicher Evaluation disziplinären Zuschnitts sowie eine gewisse Gleichgültigkeit nicht nur gegenüber dem inneren Zusammenhang der Sozialwissenschaften insgesamt, sondern auch gegenüber den großen gesellschaftlichen Problemen der Zeit, auf die sich die eigene hoch spezialisierte Forschung oft nur noch schwer beziehen lässt. Viele Sozialwissenschaftler - besonders wenn sie ausschließlich forschen und nicht gleichzeitig lehren - sehen sich als Produzenten hoch spezialisierten sozialwissenschaftlichen Wissens über enge Teilgebiete, dessen Deutung, Einordnung und Vermittlung über den disziplinären Kontext hinaus sie gern anderen, nämlich spezialisierten Vermittlern, überlassen wollen, statt diese Vermittlung als Teil der eigenen wissenschaftlichen Arbeit zu begreifen. Entsprechend gering ist ihr Interesse an gekonnter, geschmeidiger sprachlicher Fassung anstehender Probleme. Entsprechend kleinschrittig wirkt ihre Arbeit. Entsprechend unbeachtet bleiben am Ende ihre Ergebnisse.

Die Professionalisierung der Sozialwissenschaften hat deren Beschreibungs- und Erklärungsfähigkeit zweifellos erhöht. Sie ist Triebkraft und Ausdruck ihres Erfolges. Es wäre unsinnig und überdies vergeblich, sie zurückdrehen zu wollen. Aber im Licht der in den letzten Abschnitten geschilderten Veränderungen im Verhältnis von Gesellschaft und Wissenschaft und angesichts der besonderen Situation, in der sich die Sozialwissenschaften befinden, ist es an der Zeit, den "Balanceakt" (Friedhelm Neidhardt) neu zu justieren, den die Sozialwissenschaften zwischen professioneller Ausdifferenzierung und gesellschaftlicher Integration zu leisten haben, und zwar in Richtung stärkerer Integration. Dazu dürfte gehören, dass Sozialwissenschaftler den eigenen Publikumsbezug ernster nehmen und ihre Resonanz über die Fachöffentlichkeit hinaus als ein Erfolgskriterium akzeptieren. Dabei geht es weniger um die Teilnahme an den in Mode gekommenen "Langen Nächten der Wissenschaft" und anderen Anstrengungen des "Public Understanding of Science", die gezielter Öffentlichkeitsarbeit im Interesse von Legitimitätsbeschaffung dienen. Auch unterscheiden sich, wie gesagt, Wissenschaftler hinsichtlich ihrer Neigung und Fähigkeit zum Auftritt in öffentlichen Medien mit gutem Recht von Journalisten. Die Vertreterinnen und Vertreter beider Sparten haben unterschiedliche Aufgaben, und nur in wenigen Glücksfällen gelingt die Verknüpfung auf Zeit. Zu Recht werden sich wissenschaftliche Argumentationen eher als Widerlager statt als Verdoppelung der oft ganz anders gearteten journalistischen Argumentationen verstehen.

Aber wenn die Einsicht in die innere Verflechtung von Gesellschaft und Sozialwissenschaften ernst genommen wird, hat sie zur Folge, dass die Integration der jeweils verfolgten Fragestellungen und der jeweils erzielten Ergebnisse in breitere, auch praktische, vielleicht auch historische Zusammenhänge als Teil der Aufgabe des Sozialwissenschaftlers verstanden und nicht zuletzt durch verschiedene Formen des Dialogs mit dem Publikum realisiert wird. Dies liegt nicht nur im Interesse größerer Geltung und Wirkung der Sozialwissenschaften. Der offensive Bezug auf große Fragen der Gegenwart und damit die entschiedene Öffentlichkeitsorientierung dürften überdies den einzig wirklich begehbaren Weg eröffnen, der inneren Fragmentierung der Disziplinen und ihrem Rückzug in Teilgebiete entgegenzuwirken, ihre intellektuelle Substanz zu erhöhen und die Erkenntnischancen zu nutzen, die in der Verknüpfung unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Ansätze liegen. In diesem Sinn ist Publikumsbezug ein Kernbestandteil guter sozialwissenschaftlicher Praxis.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Im vorliegenden Beitrag geht es um die Sozialwissenschaften im engeren Sinne, das heißt, die Wirtschaftswissenschaften werden hier ausgeklammert.

  2. Vgl. Meinhard Miegel, Sicherheit im Alter. Plädoyer für die Weiterentwicklung unseres Rentensystems, Bonn 1981; ders., Die deformierte Gesellschaft, Berlin 2002; Frank Schirrmacher, Das Methusalem-Komplott, München 2004. - Am besten jetzt Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt/M. 2005; auch Paul Baltes, Oma muss ran, in: Die Zeit, 21/2005.

  3. Vgl. Nikolas Busse, In den Dschihad mit europäischem Pass, in: FAZ vom 22.7. 2005.

  4. Zuletzt: Herfried Münkler, Imperien, Berlin 2005.

  5. Vgl. Peter Wagner, Social Science and Social Planning During the 20th Century, in: ders. u.a. (Hrsg.), Discourses on Sociology. The Shaping of the Social Science Discipline. Yearbook in the Sociology of the Sciences, Dordrecht 1990, S. 591 - 607; sowie Ralf Dahrendorf, Über Grenzen. Lebenserinnerungen, München 2002 (als Blick auf die Gründerjahre der Soziologie in der Bundesrepublik nach der Jahrhundertmitte).

  6. Vgl. dazu grundsätzlich, mit weiterer Literatur, Friedhelm Neidhardt, Wissenschaft als öffentliche Angelegenheit (=WZB-Vorlesungen 3), Berlin 2002, bes.S. 5 - 6, 22 - 31.

  7. Ebd. S. 6.

  8. Vgl. Michael Gibbons u.a., The New Production of Knowledge. The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London 1994; Ulrike Felt/Helga Nowotny (Hrsg.), Social Studies of Science in anInternational Perspective, IWTF 1994; Meinolf Dierkes/Claudia von Grote (Hrsg.), Between Understanding and Trust: the Public, Science, and Technology, Berkshire 1998; Peter Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist (Velbrück) 2001; Helga Nowotny u.a., Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewissheit, Weilerswist (Velbrück) 2004.

  9. Vgl. aber, auch zum Folgenden, Ulrike Felt, Die "unsichtbaren" Sozialwissenschaften: Zur Problematik der Positionierung sozialwissenschaftlichen Wissens im öffentlichen Raum, in: Christian Fleck (Hrsg.), Soziologische und historische Analysen der Sozialwissenschaften (=Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Sonderbd. 5), 2000, S. 177 - 212.

  10. Vgl. Peter Wagner, The Uses of the Social Sciences, in: ders. u.a. (Anm. 2), S. 537 - 52; als Fallbeispiel Eckart Pankoke, Sociale Frage - Sociale Bewegung - Sociale Politik, Stuttgart 1970.

  11. U. Felt (Anm. 9), S. 201.

  12. Vgl. genauer dazu U. Felt (Anm. 9), S. 188, 194f.; sie verweist auf Hartmut Weßler, Verschlungene Pfade, Presse: Deutschland 1993 - 1995, in: Relationen, (1997) 4, S. 117 - 148. Vgl. bereits Ulrich Beck/Wolfgang Bonß (Hrsg.), Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens, Frankfurt/M. 1989.

  13. Vgl. zu den besonderen Schwierigkeiten der "Grenzziehungsarbeit" (zwischen wissenschaftlichem und sonstigem Wissen) im Fall der Sozialwissenschaften noch einmal U. Felt (Anm. 9), S. 199 - 202; im Anschluss an Thomas F. Gieryn, Boundaries of Sciences, in: Sheila Jasanoff u.a. (Hrsg.), Handbook of Science and Technology Studies, Thousand Oaks-London-New Delhi 1995, S. 393 - 443.

  14. Vgl. Anm.6, S.3.

Prof. Dr. Dr. h.c. mult., geb. 1941; Professor für Geschichte an der Freien Universität Berlin und Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Reichpietschufer 50, 10785 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: kocka@wz-berlin.de
Internet: Externer Link: www.wz-berlin.de/wzb/praesident.de.htm