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Digitale Bildungsmedien im Diskurs | Bildung und Digitalisierung | bpb.de

Bildung und Digitalisierung Editorial Der große Verstärker. Spaltet die Digitalisierung die Bildungswelt? "Digitalpakt Schule". Föderale Kulturhoheit zulasten der Zukunftsfähigkeit des Bildungswesens? Digitale Bildungsmedien im Diskurs. Wertesysteme, Wirkkraft und alternative Konzepte Mehr als Digitalkompetenz. Bildung und Big Data Bildung der Jugend für den digitalen Wandel Kita 2.0. Potenziale und Risiken von Digitalisierung in Kindertageseinrichtungen Hochschule(n) im digitalen Wandel. Bedarfe und Strategien

Digitale Bildungsmedien im Diskurs Wertesysteme, Wirkkraft und alternative Konzepte

Felicitas Macgilchrist

/ 15 Minuten zu lesen

Zwei Wertesysteme ringen aktuell um die Frage, wie und von wem Bildung in der digital vernetzten Welt strukturiert und gestaltet werden soll. Der Diskurs bewegt sich zwischen den Lesarten, man könne auf die Digitalisierung nur reagieren, den digitalen Wandel dagegen gestalten.

    Words are never "only words"; they matter because they define the contours of what we can do.

Slavoj Žižek,
First as Tragedy, Then as Farce (2009)

Geht man den heterogenen Wechselwirkungen im Schnittfeld zwischen Sprache und Gesellschaft mit Blick auf die schulische Bildung und das Themenfeld der Digitalität nach, so lassen sich auf drei Ebenen Entwicklungen erfassen: Erstens wandeln sich in einigen Fällen Diskurse in schulischen Bildungsmedien. Neue und teils grundverschiedene Inhalte werden vor allem durch Akteure angeboten, die keine Schulbücher produzieren konnten, nun aber digitale Materialien in relativ guter didaktischer, technischer und ästhetischer Qualität entwickeln. Bildung wird zweitens dadurch verändert, wie digitale Bildungsmedien genutzt werden. Die Art und Weise der Nutzung priorisiert bestimmte Diskurse und Praktiken. Der individuelle Wettbewerb wird beispielsweise als wünschenswert dargestellt, wenn spieldidaktische Elemente das Gewinnen in den Vordergrund rücken; die kollektive Wissensgenerierung wird bevorzugt, wenn kooperative Schreibtools eingesetzt werden. Drittens bilden Diskurse über Digitalität den Rahmen dafür, wie und von wem Bildung in der heutigen, digital vernetzten Welt strukturiert und gestaltet wird.

In diesem Beitrag liegt der Schwerpunkt auf den Diskursen über digitale Medien. In einem ersten Schritt werden zentrale Begriffe diskutiert, die die Debatten dominieren und die, so meine These, unsere Möglichkeiten, eine gerechtere Bildung zu entwickeln, einschränken. Anschließend werden alternative Konzepte und Möglichkeiten identifiziert, Bildung und Schule mit digitalen Medien zu gestalten.

Diskurselemente und potenzielle Wirkkraft

Die Diskurse über digitale Medien in der schulischen Bildung werden vor allem durch mediale Berichterstattung und Beiträge in sozialen Netzwerken, durch Texte der Bildungsmedienindustrie sowie durch bildungspolitische Dokumente geprägt. Zentrale Elemente lassen sich dabei besonders gut anhand der Fragen herausarbeiten, was unter "Digitalisierung" verstanden wird, welche Kompetenzen fokussiert werden, und welcher Darstellungs- und Ausdrucksweisen man sich bedient.

Digitalisierung

"Digitalisierung" bedeutet im engeren Sinne, dass etwas, das analog vorliegt, in digitale Form gebracht wird. Gedruckte Bücher werden "digitalisiert", indem sie eingescannt und im digitalen Format zur Verfügung gestellt werden. Das bildungspolitische Begriffsverständnis geht über diese Ebene hinaus. So stellte die Kultusministerkonferenz (KMK) in ihrem Strategiepapier "Bildung in der digitalen Welt" im Dezember 2016 einleitend fest, dass die "zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche (…) zu einem stetigen Wandel des Alltags der Menschen" führe.

In Feuilletons werden regelmäßig Sinn und Unsinn der Digitalisierung der Schule diskutiert. Selbst wenn dabei hervorgehoben wird, dass es bei der Digitalisierung nicht nur um die Ablösung analoger Verfahren gehe, also nicht allein darum, dass "digitale Medien und digitale Werkzeuge (…) an die Stelle analoger Verfahren treten", sondern auch um die Erschließung neuer Perspektiven und die Entwicklung neuer Fragestellungen, wird durch das Suffix "-ung" die Digitalisierung als etwas versprachlicht, das nicht durch, sondern mit uns geschieht.

Die Kausalität scheint dabei klar: Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene müssen vorbereitet werden, "um künftigen Anforderungen der digitalen Welt zu genügen". Die Wortwahl stellt die Digitalisierung als einen externen Prozess dar, auf den wir Menschen wenig Einfluss haben; als etwas, das, ähnlich einem Tsunami, auf uns zurollt, Anforderungen stellt und dem begegnet werden muss. In einer solchen Lesart reagieren wir auf die Digitalisierung, statt zu agieren.

Vertreter der alternativen Position, nach der wir auf den digitalen Wandel nicht nur reagieren, sondern diesen auch gestalten können und sollen, finden sich unter anderem bei Verlagen, die den Blick "auf die Chancen und Möglichkeiten von digitalen Bildungsmedien" richten. Globale Technologiekonzerne bilden weltweit, auch in Deutschland, sogenannte Bildungspioniere aus – wahlweise als "Apple Distinguished Educators", "Microsoft Certified Educators" oder "Google Certified Educators" bezeichnet. Ziel ist dabei beispielsweise, "den Lehr- und Lernprozess mit Apple Technologien [zu] transformieren" und "die Welt [zu] verändern", beziehungsweise anderen Lehrkräften zu zeigen, was mit den jeweiligen Konzernprodukten im Bildungsbereich möglich sei.

In vielen Ländern sind kommerzielle Akteure im Bereich von Bildungsmedien zu wichtigen Beratern der Politik avanciert, auch weil sie scheinbar als einzige eine Gestaltungskompetenz im Bereich des digitalen Wandels besitzen. Dieser Anschein entsteht unter anderem durch einen Diskurs, der sich allein schon durch die Begriffssetzung zwischen den Polen bewegt, man könne auf eine "Digitalisierung" nur reagieren, einen "digitalen Wandel" dagegen gestalten. Steuerungs- und Entscheidungsprozesse, die einer öffentlichen und demokratischen Diskussion unterzogen sein sollten, werden so zunehmend von Akteuren aus der Privatwirtschaft getroffen, da diese "Gestaltung" versprechen.

Kompetenzen

Um den postulierten Anforderungen der digitalen Welt zu genügen, benötigen – so der bildungspolitische Konsens – Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Kompetenzen. Digitale Bildungsmedien sollen in der Schule eingesetzt werden, um individuelle "Kompetenzen für ein Leben in der digitalen Welt" zu fördern. Ministerien wie das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geben Studien in Auftrag, die "Kompetenzen für eine digitale Souveränität" herausarbeiten. In politischen Positionspapieren wird digitaler Kompetenzerwerb unmittelbar mit gesellschaftlicher Teilhabe verknüpft: So definierte beispielsweise 2018 die Bundestagsfraktion von CDU und CSU digitale Kenntnisse als unverzichtbare "Schlüsselkompetenz für die Teilhabe in allen Bereichen (…) im Sinne eines selbstständigen und mündigen Lebens in der digitalen Welt", und die SPD-Bundestagsfraktion machte 2014 den Grund für "eine digitale Spaltung" weniger im fehlenden Breitbandausbau aus, sondern vielmehr in Unterschieden bei der "Verteilung von Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien". Den Schwerpunkt auf Kompetenzen setzte 2016 auch die KMK und legte für diese in ihrer Strategie einen Rahmen fest, der derzeit in die Praxis übersetzt wird. Zwei Aspekte können daran kritisch betrachtet werden.

Die Strategie enthält insgesamt 61 einzelne Kompetenzen, eingeordnet in sechs teils zusammenhängende Bereiche. Obwohl in der Strategie ein "Primat des Pädagogischen" ausgerufen wird, lässt sich bei 41 dieser Kompetenzen ein Primat des Technischen feststellen, etwa in dem Anspruch, eine "Vielzahl von digitalen Werkzeugen [zu] kennen und kreativ anwenden" zu können. Digitale Technologien werden zu Werkzeugen reduziert und zum Selbstzweck eingesetzt: Sie sollen kreativ genutzt werden, um sie kreativ nutzen zu können. Nur 15 Kompetenzen heben umfassendere Ziele hervor, zum Beispiel, "als selbstbestimmter Bürger aktiv an der Gesellschaft" teilzuhaben. Aufschlussreich scheint hierbei die Entstehung des KMK-Kompetenzrahmens. Er wurde auf Basis unterschiedlicher Impulse entwickelt, vor allem auf Grundlage des Europäischen Referenzrahmens für digitale Kompetenzen. Dieser war seinerseits strukturell an einem standardisierten Kompetenzrahmen für den Arbeitsmarkt der Informations- und Kommunikationstechnologie angelehnt; bei seiner Weiterentwicklung wurde der Fokus zudem verstärkt auf Arbeitssuchende und politische Entscheidungsträger gelegt, die durch seine Anwendung "training opportunities" identifizieren beziehungsweise das "Human Capital" ihres Landes messen könnten.

Neben dem technologischen Fokus ist zu kritisieren, dass vor allem individuelle Kompetenzen als der Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe hervorgehoben werden. Dies vernachlässigt unsere Einbettung in soziale, ökonomische, politische und technische Strukturen beziehungsweise Infrastrukturen, die eine Teilhabe ermöglichen oder beschränken. Alternativbegriffe, die diese Verwobenheit hervorheben, sind beispielsweise radical digital citizenship, mit der gesamtgesellschaftliche Relationen zu Technologien sichtbar gemacht und emanzipatorische Praktiken für soziale Gerechtigkeit entwickelt werden können, oder critical digital literacies, die eine kritische Reflexion der ethischen, sozioökonomischen und politischen Aspekte der Technologienutzung umfassen – beispielsweise die gesellschaftlichen Implikationen aktueller Geschäftsmodelle, die persönliche Daten überwachen und monetarisieren.

Insgesamt wird mit einem Fokus auf Kompetenzen die Diskussion zum Einsatz digitaler Medien in der Schule auf das Individuum gelenkt. Die Verantwortung für eine gelingende Zukunft wird den einzelnen Schülerinnen und Schülern zugeschrieben, während die gesellschaftlichen Dimensionen des Kulturwandels in den Hintergrund rücken: neue Kommunikations- und soziale Interaktionsformen, Ausschlussmechanismen, Aufmerksamkeitsökonomien, Zeitvorstellungen, Prekarisierungen, auf Nutzerdaten basierende Geschäftsmodelle, das algorithmische Bias oder die Verschiebung gesellschaftlicher Machtstrukturen, indem Dateninfrastrukturen Entscheidungen präfigurieren und Gerechtigkeitsvorstellungen destabilisieren.

Metaphorik

"Holland macht uns vor, wie digitales Lernen geht." Unter anderem mit diesen Worten wurden 2015 die in den Niederlanden entstandenen, nach dem ehemaligen Apple-Chef benannten "Steve Jobs Schulen" hochgepriesen. Gelobt wurden das selbstbestimmte Lernen, die hohe Motivation, der Spaß am Lernen, die Projektarbeit und die positive Atmosphäre. Neben iPads wurden in den Schulen Elemente der Robotik, der Künstlichen Intelligenz (KI) sowie der Augmented (AR) und Virtual Reality (VR) eingesetzt. Die Bildung in Deutschland dagegen, so die damalige Schlussfolgerung, "hinkt der Entwicklung noch meilenweit hinterher". Sowohl in der Schlussfolgerung als auch in der metaphorischen Ausdrucksweise lassen sich bis heute exemplarisch ähnliche Diskurselemente herausarbeiten. So wurde etwa in einem Artikel der Wochenzeitung "Die Zeit" 2018 davor gewarnt, dass die deutsche Bildungspolitik die digitale Zukunft verpasse und dass jemand, der "die vergangenen Jahrzehnte im Tiefschlaf verbracht" hätte und in einem deutschen Klassenzimmer wieder aufwachen würde, den Eindruck bekäme, "die Welt sei fast wie früher". Im ZDF wurde 2019 ein vergleichbares Bild gezeichnet: "Während um den Digitalpakt für Schulen gestritten wird, sind Lernsysteme mit Künstlicher Intelligenz längst einsatzbereit. Doch die Bildungspolitik verschläft die Entwicklung."

Metaphern wie "verschlafen", "meilenweit hinterherhinken" oder "verpassen" bilden einen kompetitiven Rahmen, der Druck auf Bildungspolitik und -praxis ausübt. Diese müssten sofort handeln, um "aufzuwecken", "aufzuholen" und nichts zu "verpassen". Es geht weniger darum, wie die Bildungspolitik und -praxis handelt, sondern dass sie handelt; weniger darum, wie digitale Bildungsmedien eingesetzt werden, sondern dass sie eingesetzt werden. Die langfristigen Folgen der Einführung früherer "neuer" Bildungsmedien spielen kaum eine Rolle im Diskurs.

Dabei lohnt sich genau an dieser Stelle ein genauerer Blick. Denn speziell historische und ethnografische Studien zur Einführung von sogenannten neuen Bildungsmedien zeigen ein Scheitern an hohen Erwartungen als wiederkehrendes Muster weltweit. Es trat nicht nur beim Lehrfilm der 1920er Jahre, bei den teaching machines der 1960er Jahre oder aktuell bei der Einführung von beispielsweise Robotik, KI oder Tablets auf, sondern ebenso bei den "Steve Jobs Schulen", die 2018 in Medienberichten kaum mehr positiv beurteilt wurden: "Heute sind kaum mehr iPad-Schulen übrig, den Namen ‚Steve Jobs‘ tragen sie längst nicht mehr (…) Basiswissen und -fähigkeiten wurden vernachlässigt. Kinder, die an andere Schulen wechselten, waren ihrer Gruppe weit hinterher." Die Gründe dafür liegen, so die soziologischen Analysen, außerhalb der Technik: Das Leistungsprinzip und die strukturelle Funktion von Schule als Reproduktionsmechanismus für sozioökonomische Ungleichheit verunmöglichen die Erfüllung des Versprechens, dass neue Technologien zu radikalen Transformationen führen können.

Zwischenfazit

Mit dem Begriff der "Digitalisierung", mit dem Fokus auf Kompetenzen im Umgang mit digitalen Technologien und mit Metaphern wie "hinterherhinken" oder "verschlafen", wird jeweils eine Welt produziert, in der "wir" (hier, heute, in Deutschland) auf ein schon vorhandenes Phänomen reagieren müssen. Priorisiert werden Handlungen, die "uns" (Gesellschaft, Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Bildungspolitik, Bevölkerung) ermöglichen, durch den Erwerb von und den Umgang mit Infrastruktur-, Hardware- und Softwareangeboten den Anforderungen ebendieser Infrastruktur, Hardware und Software zu genügen sowie gegenüber anderen Ländern aufzuholen. Wir werden in dieser Weltsicht nicht als Akteure imaginiert, die selbst Prozesse gestalten und steuern. Wenn wir annehmen, dass Wörter den Umriss dessen definieren, was wir tun können, so könnten diese Wörter eine lähmende Wirkkraft entfalten.

Alternative Konzepte

An den Rändern der gesellschaftlichen Diskurse zu Digitalität und Bildung spielen sich dynamische Debatten zu neuen Bildungszielen und alternativen Gestaltungsmöglichkeiten für digitale Bildungsmedien ab. Anhand von konvivialer Technik, dekolonialen Bildungsmedien und postdigitalen pädagogischen Ansätzen wird hier ein exemplarischer Einblick in alternative Konzepte gegeben.

Konviviale Technik

Konvivialität hebt das Ziel hervor, eine lebensfreundliche Gesellschaft zu gestalten. Sie wird im Kontext von Postwachstum (degrowth) und sozioökologischen Auswirkungen des Klimawandels diskutiert und taucht im Bildungsbereich vor allem in der politischen Bildung als Konzept auf. Konviviale Techniken sind "Verfahrensweisen, die nicht mehr Ressourcen benötigen, als nachwachsen, und die möglichst frei allen Menschen zu Verfügung stehen und effektiv das Leben erleichtern, anstatt es komplizierter zu machen".

Dieser Ansatz geht davon aus, dass Menschen in machtverwobenen, soziotechnischen Netzwerken eingebettet sind, und dass Technik stets auch Kulturtechnik ist. Ein Fokus liegt auf gemeinschaftlichen Entwicklungen (peer production) und somit auf freien Bildungsmaterialien. Neben wissenschaftlichen Publikationen und Streitschriften führen Arbeitsmaterialien Lernende in das Konzept ein, etwa mit einer Anleitung für die Analyse der Konvivialität ausgewählter Geräte. Analysiert werden die ökologischen, aber auch sozialen, politischen und kulturellen Auswirkungen der technischen Geräte, beispielsweise im Hinblick auf Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und zwischenmenschliche Beziehungen. Ziel ist es, zu überlegen, wie Technik nachhaltig, außerhalb des kommerziellen Wachstums und orientiert an einem globalgerechten Gemeinschaftsleben entwickelt werden kann. Mit dieser Ausrichtung kann die Kompetenz "Umweltauswirkungen digitaler Technologien berücksichtigen" der KMK-Strategie besonders ernst genommen werden.

Bildungsmedien dekolonisieren

Mit digitalen Technologien entstehen neue Parallelen zum Kolonialismus: Ähnlich wie globale Ressourcen wie Land und Mineralien von europäischen Ländern extrahiert worden sind, werden die wichtigsten gegenwärtigen Ressourcen, wie etwa persönliche Daten, von Technologie-Giganten wie Google (Alphabet), Apple, Facebook, Amazon und Microsoft extrahiert und monetarisiert. Es werden weiße, westliche, europäische Subjekte in der Entwicklung von Technologien zentriert und kolonisierte Menschen ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund entsteht eine Gegenbewegung mit dem Bestreben, Bildungsmedien zu dekolonisieren. Ziele sind unter anderem, indigene Perspektiven in den Vordergrund zu rücken, digitale Archive zu dekolonisieren und kommerzielle Technologien für Gemeinschaftsprojekte umzufunktionieren.

Ein Beispiel dafür ist das Bildungsspiel "When Rivers were Trails", das in den USA von der Spieledesignerin Elizabeth LaPensée lehrplankonform entwickelt wurde. Spielerinnen und Spieler begleiten eine indigene Anishinaabeg in den 1890er Jahren, die im Zuge von Gesetzesänderungen ihre Heimat verlassen muss und nach Kalifornien reist. In Deutschland bietet das E-Learning-Tool "Connecting the Dots" ein Alternativarchiv und gibt Stimmen, die aus Geschichtsschulbüchern ausgeschlossen sind, den Raum, die Geschichte von kolonialer Unterdrückung und dekolonialem Widerstand zu erzählen. Mit der App "Lessons in Herstory" richten Leserinnen und Leser ihr Smartphone auf Bilder von Männern in Geschichtsschulbüchern und erhalten dann die Geschichte von Frauen, die zur selben Zeit bedeutsam waren. Als Infrastruktur bietet Freedombox die Open-Source-Variante, den eigenen Server zu installieren, um kommerzielle Kommunikationsdienste zu umgehen, die persönliche Daten sammeln und auswerten. Stattdessen können Chat, Filesharing und weitere Software zu Hause gehostet werden. Privatsphäre und Datenbesitz sind die zentralen Entwicklungsprinzipien von Freedombox, so wie sie es für jede Schulcloud sein sollten. Lernen Schülerinnen und Schüler den Umgang mit Technologien wie Freedombox, lernen sie zugleich dekoloniale Strategien für ihre eigenen digitalen Datenspuren.

Diese Projekte setzen dekoloniale Prioritäten um – ob in den Inhalten digitaler Bildungsmedien oder im praktischen Umgang mit Dateninfrastrukturen. Sie priorisieren "respektvolles Design" und dezentrieren das Individuum, um seine konstitutive Einbettung in sozioökologische Netzwerke und Communities hervorzuheben. Sie fordern alle heraus, die für die Entwicklung und den Einsatz von Technologien für Schulen verantwortlich sind, ihre Rolle machtkritischer zu reflektieren und neue, dekoloniale, relationale, communitybasierte Gestaltungsmöglichkeiten aufzugreifen.

Postdigitale Pädagogik

Mit "postdigital" bezeichne ich solche pädagogischen Ansätze, in denen es primär um neue Lehr- und Lernpraktiken, Bildungsziele und Vorstellungen von "guter Schule" in einer digital vernetzten Welt geht. Digitale Technologien sind für diese Praktiken und Ziele notwendig, aber sie sind den pädagogischen Überlegungen untergeordnet. Digitalität wird zum Hintergrund des Alltags. Sie muss nicht mehr explizit als "Digitalisierung" thematisiert werden, sondern ist lediglich ein Aspekt eines umfassenden Transformations- oder Schulentwicklungsprozesses. Exemplarisch verdeutlichen lässt sich dies am Schulalltag einer Gemeinschaftsschule aus Wutöschingen, den zwei Schülerinnen als "anders als bei anderen Schulen" beschreiben, da es "keine Lehrer", sondern "Lernbegleiter", "keine Deutsch- und Mathebücher" und "ganz andere Klassenzimmer" gebe. Das Lernen könne man sich so vorstellen, dass die Schülerinnen und Schüler zuerst einen "Input, in dem alle wichtigen Themen" eines Themenbereichs besprochen und erklärt werden, besuchen, und sich, nachdem sie alles verstanden haben, eine Stempelkarte holen, "auf der (…) alle Arbeitsblätter, Folien, Bücher, Infos, Material, Scancodes für Apps und Links für Lernvideos" sowie Lernziele aufgelistet sind, die sie für den Gelingensnachweis brauchen.

Apps und Online-Lernvideos werden mitten in einer Liste von digitalen und nicht-digitalen Materialien erwähnt. Postdigitale Ansätze befinden sich also jenseits von Technoskeptizismus, aber auch jenseits von Technikeuphorie. Priorisiert werden die Ziele statt der Technik. Dieses Beispiel umfasst individualisiertes Lernen und gemeinsames Lernen, eine gelingende Kommunikation zwischen Eltern und Schule, Materialienaustausch unter Lehrkräften und Schülerinnen und Schüler, die sich über Schule und Lernen freuen. In anderen Beispielen könnten die Ziele eine Reflexion über die Kultur der Digitalität, eine Analyse der Konvivialität der eingesetzten Bildungsmedien oder die gemeinschaftliche Entwicklung von Konzepten für eine gerechtere Schule oder Gesellschaft betreffen. Diese Ziele sind nicht alle neu, aber die Art und Weise, wie sie erreicht werden sollen, ist es. Sie umfasst sowohl architektonische als auch soziale und technologische Änderungen. "Innovation" wird hier nicht als die Einführung von Tablets, VR, AR oder KI verstanden, sondern als die subtile Transformation der schulischen Alltagspraktiken. Diese Ansätze werden bisher vor allem in Schulen, Hochschulen und Stadtteilen entwickelt und umgesetzt, die als benachteiligt gelten. Gerade deswegen nehmen sie sich die Freiheit, bekannte Grenzen und Strukturen neu zu gestalten – und gerade deswegen bekommen sie manchmal die zusätzliche Förderung, die ein solches Experimentieren ermöglicht.

Fazit

In dem Beitrag habe ich den dominanten Diskurs rund um Bildung und Digitalität in Politik, Nachrichten und Bildungsmedienindustrie skizziert sowie Diskussionslinien aufgezeigt, die aus Bildungspraxis und Bildungsaktivismus entstehen. Eine wichtige Unterscheidung zwischen ihnen ist der Grad an Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten, die sie Akteuren in dem Feld zuschreiben. Ich habe vor allem Diskurse aufgegriffen, die Digitalität nicht ablehnen, sondern unterschiedliche Wertesysteme in die Bildungsinstitution Schule hineinschreiben. Aus der jeweiligen Wortwahl entstehen Ziele, konkrete Praktiken und eine Verteilung von Ressourcen: Entweder können wir auf die Digitalisierung, einen Kompetenzbedarf und einen digitalen Rückstand reagieren, oder aber mit konvivialer Technik, dekolonialem Design und postdigitalen Praktiken Schule (neu)gestalten. Wer reagiert, hat eingeschränkte Möglichkeiten und kann nicht viel mehr tun, als didaktische Konzepte zu finden, mit denen man besser unterrichten beziehungsweise mit denen man Kompetenzen für den Umgang mit digitalen Medien besser fördern kann. Dies birgt allerdings die Gefahr, eine instrumentelle Nutzung digitaler Bildungsmedien zu bevorzugen und den Blick auf die potenziell gesamtgesellschaftlichen Transformationen zu versperren. Wer neugestaltet, denkt die Rolle von Schule anders und sieht sich selbst als Teil eines soziotechnischen und -ökologischen Netzwerks, das Entscheidungen über Daten, Umwelt, zwischenmenschliche Beziehungen, Gerechtigkeit, Dekolonisierung, Design, Respekt, Lernaktivitäten, Kommunikation, Architektur, Relationalität und Teilhabe fällt. Diese zwei Wertesysteme ringen derzeit um die Möglichkeit, die Zukunft der Schule zu prägen.

ist Professorin an der Georg-August-Universität Göttingen und Leiterin der Abteilung "Mediale Transformationen" am Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung. Sie forscht und publiziert schwerpunktmäßig zu Medialität und schulischer Bildung. E-Mail Link: macgilchrist@leibniz-gei.de