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Der Islam in Europa - eine Ausnahme? | Dialog der Kulturen | bpb.de

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Der Islam in Europa - eine Ausnahme?

Olivier Roy

/ 16 Minuten zu lesen

Einleitung

Ersetzt man das viel beschworene Schlagwort vom "Zusammenprall" (clash) durch den "Dialog der Kulturen", bedeutet das im Wesentlichen ein Zugeständnis an die Verteidiger des clash of civilizations und deren Grundgedanken, die Welt sei in verschiedene "Kulturen" gespalten. Doch wie definiert man Kultur? Nach herkömmlichem Sprachgebrauch gründet sich Kultur auf Religion (christliche Kultur des Westens, islamische Kultur), ein geographisches Gebiet (Kulturräume wie der Nahe und Mittlere Osten oder "die islamische Welt") und, zumindest ursprünglich, eine Ethnie ("arabische" Kultur). Aufgrund von Bevölkerungsvermischungen und Migrationsbewegungen ist eine Kultur nicht mehr notwendigerweise einem bestimmten Gebiet oder einer ethnischen Gruppe zu Eigen, sondern heute wird als selbstverständlich angenommen, dass jede Kultur auf einer Religion begründet und jede Religion in eine Kultur eingebettet ist.


Dieser Gedanke liegt auch der Debatte über den Islam in Europa zugrunde. Der europäische Islam ist aus einer massiven Einwanderungswelle in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hervorgegangen. Der Umgang Europas mit diesem Thema lässt sich an zwei auf den ersten Blick widersprüchlichen Paradigmen erläutern: am Multikulturalismus in Nordeuropa und am Assimilationismus in Frankreich.

Beide Modelle sind aus ähnlichen Gründen gescheitert. Beide gehen davon aus, dass Religion und Kultur im Innersten verbunden sind, das heißt, dass man, wenn man seine Religion behält, auch an seiner Kultur festhält. Der Multikulturalismus nimmt an, dass Religion in ihrer Ursprungskultur, die weiter besteht, eingebettet bleibt; der Assimilationismus geht davon aus, dass Integration per definitionem die Säkularisierung des Glaubens und des Verhaltens mit sich bringt, da ja die Herkunftskulturen verschwinden. Das Problem liegt aber darin, dass sich heute die Rückkehr des Religiösen (sei es in fundamentalistischer oder in spiritualistischer Ausprägung) abgekoppelt von seinem kulturellen Bezug vollzieht. Die Religion erblüht auf der Dekulturation: Die französischen Muslime wollen als Franzosen und als Muslime anerkannt werden, und die jungen, "wiedergeborenen" (born again) Muslime aus den Niederlanden oder Großbritannien wollen nicht mit der Kultur ihrer Eltern identifiziert werden. Beide Modelle, Multikulturalismus und Assimiliationismus, haben es heute schwer, mit dieser neuen Ausdrucksform des "reinen" Religiösen umzugehen, das im Übrigen sehr unterschiedliche Formen annehmen kann, vom Bau von Moscheen über das Tragen des Schleiers bis zu politischem Radikalismus.

Die entscheidende Frage ist, ob das Phänomen der Dekulturation nur den Islam betrifft - handelt es sich doch um eine Folge der Veränderungen in der zweiten und dritten Einwanderergeneration in Europa sowie der fortschreitenden Verwestlichung der islamischen Gesellschaften - oder aber, ob es nicht vielleicht allen großen Religionen unserer Zeit gemein ist, beginnend mit dem Christentum. In diesem Fall, und das ist meine Analyse, wären die Manifestationen der Religiosität im Zusammenhang mit der islamischen Einwanderung in Europa nur eine Dimension des Phänomens der Neuordnung religiöser Identitäten im Rahmen der Globalisierung.

Globalisierter Islam

Das Phänomen der Dekulturation tritt im Islam sehr offen zutage. Es war noch verdeckt in der ersten Einwanderergeneration, für die ihre Religion noch eng mit der Ausgangskultur verbunden war. Die Dekulturation der nachfolgenden Generationen ist dagegen an einer Reihe von Merkmalen deutlich zu erkennen. Am augenfälligsten erscheint der Rückgang der Ursprungssprache zugunsten der jeweiligen Sprache der Aufnahmeländer: Dieses Phänomen ist am stärksten erkennbar in Frankreich und Großbritannien, schwächer in Italien und Spanien (da es sich dort um die erste Generation handelt) sowie in Deutschland (weil dort das Türkische aufgrund der Alphabetisierung der Türken in ihrer Herkunftssprache erhalten bleibt und weil die Türkei von den Türken als europäisches Land betrachtet wird).

Zweitens erleben wir einen Generationenkonflikt. Das traditionelle patriarchalische Familienmodell ist in der Krise. Die Zunahme von "Ehrenmorden" ist ein deutliches Indiz für die Emanzipation der Frau in der zweiten Einwanderergeneration (selbst Emel Abidin Algan, die Tochter des Gründers der islamischen Organisation Milli Görüs, hat im November 2005 den Schleier öffentlich abgelehnt). Bei den jungen Leuten zeugen Modestil, Musikvorlieben und Essgewohnheiten eher von westlicher "street culture" als von der Tradition ihrer Eltern. Jene Jugendlichen, die zum Islam zurückkehren, folgen nicht dem Islam ihrer Eltern, sondern konstruieren sich ihren eigenen. Sie erstreben eine "Glaubensgemeinschaft", die allein auf der Religion aufgebaut ist, während sich ihre Eltern (und ihre oft weniger religiösen Cousinen und Cousins) weiterhin vor allem der Ethnie, dem Clan und der Nation verpflichtet fühlen. Die jungen, "wiedergeborenen" Muslime suchen dagegen nach Formen sozialer Bande, die nicht mehr durch Traditionen festgeschrieben sind (etwa die Heirat mit einer Muslima, die den Schleier trägt, aber nicht unbedingt derselben ethnischen Gruppe angehört). Und so stehen sich Volkskultur und fundamentalistischer Islam feindlich gegenüber, anstatt sich gegenseitig zu stärken.

Die Spielart des Islam, zu der sich viele "Wiedergeborene" bekennen, der Salafismus, stellt sich ausdrücklich gegen alle nationalen Kulturen einschließlich der islamischen und fordert eine Religion, die von kulturellen Einflüssen und lokalen Partikularismen gereinigt ist. Das erklärt die Anziehungskraft, die der Salafismus auf kulturell entwurzelte junge Leute wie europäische Muslime der zweiten Generation ausübt. Der Salafismus stellt die kulturelle Entwurzelung nicht als Verlust, sondern im Gegenteil als Gelegenheit dar, einen reinen, universellen und wahrhaft internationalistischen Islam wiederzufinden. Im Unterschied dazu muss man feststellen, dass die türkische Bevölkerung in Europa, die sehr eng mit dem Herkunftsland verbunden geblieben ist (durch die Sprache, das Fernsehen und verschiedene Organisationen), praktisch nicht in den islamistischen Terrorismus verwickelt ist. Das zeigt, dass praktizierter Islam umso weniger radikal ist, je stärker die Bindung an das Herkunftsland ist.

Es ist vielmehr die "diasporische" Beziehung, die in der Krise steckt. Die islamischen Organisationen, die von der ersten Einwanderergeneration an als eine Art von Tochtergesellschaften der großen politischen und religiösen Bewegungen der Herkunftsländer geschaffen wurden (Milli Görüs für die Türken, die Muslimbruderschaft für die Araber), haben sich nach und nach von den Gründungsvätern gelöst, die selbst einer immer nationalistischeren Linie folgen. Der Bruch zwischen der Wohlfahrtspartei (RefahPartisi) und der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) in der Türkei hatte zur Folge, dass sich Milli Görüs in Europa verselbstständigt hat und wie die Union des Organisations Islamiques de France (UOIF), die ursprünglich aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen ist, zum Kämpfer für einen europäischen Islam geworden ist.

Ein weiterer Grund für diese Abkoppelung besteht darin, dass die Bedürfnisse von Muslimen in Europa immer stärker von denen in ihren Herkunftsländern abweichen. Was die Beziehungen zum Staat betrifft, zu den politischen Akteuren, dem laizistischen Umfeld oder zu anderen Religionen, streben die europäischen Muslime nach Anerkennung und Integration als die, die sie sind, nicht als "fünfte Kolonne" eines fremden Landes. Die für sie wichtigen Fragen betreffen halal (Dinge und Handlungen, die aus islamischer Sicht gestattet, zulässig und islamkonform sind, auch Lebensmittelvorschriften), Friedhofsordnungen, Kleidungsregeln (nicht nur den Schleier betreffend), die Moscheen und den rechtlichen Status. Aus diesem Grund haben die Muslimbrüder den Conseil Européen de la fatwa et la Recherche mit Sitz in Dublin gegründet, der vorschlägt, ein besonderes islamisches Recht (fiqh) für Muslime zu entwickeln, die als Minderheiten leben; dagegen wandten sich die Al-Azhar-Universität in Kairo ebenso wie die wahhabitischen Scheichs Saudi-Arabiens. Auch die UOIF hat sich von dem Vorschlag distanziert, wenn auch aus einem völlig anderen Grund: Sie hält den Conseil für zu "nahöstlich". In den Niederlanden hat Milli Görüs 1999 sogar eine gemeinsame Kommission mit Vertretern von Lesben- und Schwulenvereinigungen gebildet.

Die Krise der ursprünglichen Identität zieht nicht automatisch Assimilation nach sich, sondern die Neuformulierung eines Unterschiedes, der eher die "Rasse" (im Sinne von: Rassismus ausgesetzt zu sein), nicht so sehr die Volkszugehörigkeit oder die Religion betrifft: Man formuliert seine Religion neu, und zwar außerhalb einer Kultur, in der man sich nicht mehr wiedererkennt, sei es, um sie dem Westen anzupassen, sei es, um aus ihr von Neuem ein Anderes, Absolutes zu machen, jenseits aller kulturellen Identitäten einschließlich der europäischen. Das kann mit einem antikolonialistischen oder antiimperialistischen Aktivismus einhergehen, der den Diskurs vom Bruch mit der dominierenden Gesellschaftsschicht wieder aufnimmt, wie es die Ultra-Linke einst in den siebziger Jahren tat.

Es ist also das Konzept eines europäischen Islam in Begriffen der "Diaspora", welches Probleme verursacht. Die Gewalt entsteht in der gleichen Weise, durch den Bruch der Verbindung zu den Herkunftsländern. Radikalismus ist aus dieser Perspektive eine fehlgeleitete (und von einer Minderheit ausgeübte) Konsequenz der Verwestlichung, nicht etwa Ausdruck des Imports von Kulturen und Konflikten aus dem Nahen und Mittleren Osten. Daher können Lösungen für die Probleme, außer in Einzelfällen, nicht über einen Dialog mit den Behörden der Herkunftsländer der Immigration gefunden werden. Ebenso wenig wird der Begriff des "Dialogs der Kulturen" der Tatsache gerecht, dass man es nicht mit zwei verschiedenen Kulturen zu tun hat, sondern mit einer Krise der Zivilisation, einer Krise der Beziehung zur Kultur. Wenn eine Religion, welche auch immer, sich außerhalb der Kultur neu konstruiert, mündet sie notwendigerweise in Radikalismus.

Die zweite Folgerung aus unserer Analyse lautet, dass die entscheidende Frage nicht mehr jene der Einwanderung ist (die längst stattgefunden und zur endgültigen Anwesenheit einer islamischen Bevölkerung in Europa geführt hat), sondern jene des Wiederaufbaus des Islam (vielmehr: von "Islamen") im Kontext der Verwestlichung und Dekulturation.

Je tiefer die Kultur in der Krise steckt, desto stärker wird die Religion. Man muss sich von der Huntington'schen Vorstellung vom Zusammenprall der Kulturen lösen, weil diese von der Gleichsetzung von Religion und Kultur ausgeht, denn gerade diese Übereinstimmung funktioniert nicht mehr. Die Auflösung der Einheit des Kulturellen und des Religiösen muss vom Bemühen begleitet werden, die Entstehung eines europäischen Islam zu unterstützen. Doch hier gibt es ein großes Missverständnis: In den Augen der europäischen Öffentlichkeit ist ein europäischer Islam ein liberaler, feministischer und offener Islam. Selbstverständlich existiert ein solcher Islam bei reformistischen Denkern, aber er ist nicht derjenige, der sich unter "Wiedergeborenen" und Konvertiten ausbreitet. Der Islam in Europa folgt den gleichen Gesetzen wie einst das Christentum: Die Zeichen der Zeit weisen nicht auf ein liberales, theologisches Aggiornamento (als Inbegriff des Zweiten Vatikanischen Konzils), sondern auf den Rückzug auf die "Glaubensgemeinschaft" und die Neuformulierung der religiösen Vorschriften im Sinne konservativer Werte ("das Leben", die Familie, die Moral). Hier befinden sich Muslime in großer Nähe zur katholischen Kirche, die den Islam im Namen der christlichen Identität Europas zurückweist.

Man findet unter Muslimen alle möglichen Formen des Islam: liberal, konservativ, reformiert, aber die vorherrschende Tendenz ist die eines gemäßigten Konservatismus. Der Gedanke, dass ein europäischer Islam ein "liberaler" wäre, ist ebenso wenig sinnvoll wie zu behaupten, dass ein europäisches Christentum per definitionem liberal sei. Die Versteifung der katholischen Kirche auf Fragen des Dogmas und der moralischen Werte wie auch die sozial und politisch reaktionäre Dimension der charismatischen protestantischen Bewegungen zeigen deutlich, dass "Liberalismus" kein Markenzeichen der Europäisierung ist.

Dekulturation und Christentum

Das Phänomen, das wir im Zusammenhang mit dem Islam beschrieben haben, berührt auch das Christentum. Im Protestantismus ist es erkennbar im stetigen Auseinanderdriften von "nationalem" und traditionellem Protestantismus sowie in den vor allem amerikanisch beeinflussten evangelikalen Gemeinden. Die traditionellen protestantischen Kirchen, die liberalere Ansichten vertreten als die Evangelikalen (bezüglich Abtreibung, Homosexualität oder Ehescheidung), drohen allmählich ins Hintertreffen zu geraten.

Die paradoxeste Situation finden wir in Dänemark: Dort kennt man keine Trennung zwischen Kirche und Staat, der Lutheranismus ist Staatsreligion, und die Pastoren haben zivilen Status (es ist das einzige europäische Land, in dem es keine Trennung zwischen der Institution Kirche und dem Staat, also keinen weltlichen Bereich gibt). Katholiken, Juden und Muslime müssen Geburten und Hochzeiten beim Pastor registrieren lassen. Und trotzdem ist Dänemark das vielleicht am wenigsten christliche Land in Europa (das ist auch der Grund, warum diese fehlende Trennung zwischen Kirche und Staat nicht ähnliche Spannungen hervorruft wie in Griechenland oder sogar in Spanien). Die Rückkehr zum Religiösen findet bei den Protestanten nicht im Rahmen der traditionellen Kirchen statt. Die "Wiedergeborenen" und die Konvertiten gehen dort in die charismatische Richtung. Doch gerade diese bieten ein perfekt standardisiertes Produkt an: Sehen wir uns die religiösen Fernsehkanäle an - nur die Sprache macht den Unterschied, der Inhalt der Predigten, die Gestik und oft sogar der Hintergrund sind identisch. Einziger Bezugspunkt ist die Bibel, und diese wird wörtlich ausgelegt. Hier, in der großen Tradition der Pfingstbewegung, ist Sprache nicht Trägerin einer Kultur, sondern ein rein technisches Kommunikationsinstrument: Die Botschaft ist unabänderlich und soll weitergegeben werden, ungeachtet des kulturellen Kontexts, der eher ignoriert als bekämpft wird.

Die evangelikale Bewegung ist daher dort, wo sie auf kulturelle Entwurzelung trifft, besonders aktiv im Rekrutieren neuer Anhänger: unter Einwanderern (etwa unter den Latinos in den USA, aber auch in Spanien) sowie in sozialen oder gesellschaftlichen Krisen (im westlichen Afrika, Zentralasien oder Albanien). Sie hat in Frankreich beim "gens du voyages" (tziganes/Zigeuner) beachtlichen Erfolg gehabt. Paradoxerweise breitet sie sich nun, nachdem sie zuerst unter traditionellen Protestanten und später unter Katholiken - insbesondere den Christen des Orients - missioniert hat, auch unter Muslimen aus (in Zentralasien, auch im Maghreb und in Europa), ja sogar unter Juden (wie die Bewegung "Juden für Jesus", die Juden an ein judaisiertes Christentum heranzuführen versucht,wobei sie sich auf die Urchristen im Heiligen Land beruft). Es kommt häufig zu Spannungen mit den "nationalen" Kirchen, besonders den Orthodoxen, die Sekten und Protestanten verbieten lassen. Die christlich-orthodoxen Kirchen haben sich dagegen immer mehr mit den Nationalstaaten identifiziert (jedes unabhängige Land, sei es die Ukraine, sei es Mazedonien, will seinen eigenen Patriarchen) und berauben sich daher der Möglichkeit zur Konversion, mit Ausnahme der wenigen Kirchen, die sich außerhalb des nationalen Modells zu definieren suchen.

Auch die katholische Kirche hat große Schwierigkeiten, ihre Beziehung zur Kultur zu gestalten; sie steht im Spannungsfeld zwischen einer europäischen Identität auf der einen und der Entchristlichung Europas, dem vermehrten Auftreten von Priestern und Bewegungen aus der "Dritten Welt" und vor allem der Faszination für das Charismatische auf der anderen Seite. Einerseits versteht sie sich als Ausdruck einer Kultur oder sieht vielmehr keinen Widerspruch zwischen dem Glauben und der Kultur (so wie die Antinomie zwischen Glauben und Philosophie in der Lehre Thomas von Aquins eine - oder eher mehrere - Lösungen gefunden hat), andererseits tut sie alles, um die religiöse Botschaft von einem kulturellen Umfeld zu trennen, das als atheistisch und die religiöse Botschaft verneinend wahrgenommen wird, wie ihre Empörung über den Erfolg des Buches bzw. des Filmes "The Da Vinci Code" ("Sakrileg") zeigt.

Auch der folgende Vorfall belegt dies. Im April 2005 setzte die katholische Kirche Frankreichs bei der Cour d'Appel (Berufungsgericht) das Verboteiner Werbekampagne durch, die das "Abendmahl", ein Gemälde Leonardo Da Vincis, benutzte und die Apostel durch junge, spärlich bekleidete Frauen ersetzte (nach der Vorstellung des weiblichen Apostels, die man in "The Da Vinci Code" findet). Diese Forderung nach einem Verbot der Darstellung des Letzten Abendmahles in der Werbung wirft die Frage auf, wie die katholische Kirche die christlichen Symbole begreift: Sind sie universell und gehören sie zur abendländischen Kultur, oder sind sie Eigentum der Gemeinschaft der Gläubigen, in diesem Falle repräsentiert durch eine Institution, die katholische Kirche? Man kann nicht zugleich dafür kämpfen, dass das Christentum als kultureller Grundstein eines säkularisierten Europas angesehen wird, und dafür, dass eine Institution weiterhin das Monopol auf die Verwaltung religiöser Symbole hält.

Der Vatikan hatte sich dafür eingesetzt, dass in der Präambel des Entwurfs der Europäischen Verfassung ein Verweis auf die christlichen Wurzeln Europas aufgenommen wird. Als dies abgewiesen wurde, erklärte der Heilige Stuhl: "Es handelt sich um die Ablehnung einer historischen Tatsache und der christlichen Identität der europäischen Bevölkerungen." Doch Religion wird in Europa nur mehr von einer Minderheit praktiziert. Die christliche Identität, wie sie von der Kirche im Zusammenhang mit der Europäischen Verfassung erwähnt wurde, war nicht jene einer Gemeinschaft von Gläubigen, sondern jene einer kulturellen Gemeinschaft, in der Glaube kein zentrales Element ist. Die religiösen Symbole gehören Gläubigen ebenso wie Nichtgläubigen. Eine lebendige Kultur ist ständig mit neuen Wendungen, neuen Sichtweisen und neuen Interpretationen konfrontiert, selbst in ihren alltäglichsten Aspekten. Zu behaupten, es gebe ein gemeinsames Erbe, bedeutet auch, es dem Einzelnen zu erlauben, es sich anzueignen - auch im Sinne der Verspottung. Wenn sich die Werbung des Letzten Abendmahls bemächtigt hat, dann deshalb, weil das Abendmahl zu uns spricht. Diese neue Sichtweise ist nichts anderes als eine Hommage an vertraute religiöse Bilder (im Jemen etwa würde ein solcher Spot keinen Sinn ergeben).

Die ironische, ja blasphemische Verwendung eines religiösen Paradigmas zu untersagen, bedeutet nichts anderes, als es aus dem kulturellen Zusammenhang zu nehmen und ausschließlich in den Bereich des Sakralen zu stellen. So wird es zum alleinigen Gut der Gemeinschaft der Gläubigen, die als solche anerkannt werden will. Es ist nicht mehr die Kultur, die Identität begründet, sondern allein der Glaube. Die "reine" Religion ist jene, die von allen kulturellen Bezügen losgelöst ist. Indem sie sich die Kontrolle über die Verwaltung der religiösen Symbole sichert, bekräftigt die katholische Kirche das Gegenteil von dem, was sie sagen wollte, als sie auf dem Stellenwert der christlichen Kultur in Europa beharrte: Sie ist nicht mehr Verteidigerin einer Universalität, sondern einer geschlossenen Gemeinschaft, ja einer Minderheit, die vom Gesetz erwartet, die Gefühle ihrer Mitglieder zu schützen. Sie vertritt eine Gemeinschaftslogik, wie es auch beispielsweise die Verteidiger der Rechte von Homosexuellen oder die Gegner sexistischer Scherze tun.

In diesem Sinne unterscheidet sich ihr Handeln nicht von dem, was wir im religiösen Lager überhaupt und nicht zuletzt im Islam beobachten: Das Religiöse erlebt eine Renaissance, indem es Religion von Kultur abkoppelt, religiöse Anzeiger aus ihrem sozialen Kontext herauslöst und eine definitive Trennlinie zwischen Gläubigen auf der einen und Nichtgläubigen, vom Glauben Abgefallenen und Skeptikern auf der anderen Seite zieht. Diese Entwicklung stand hinter dem Ruf nach dem Verbot von Salman Rushdies Buch "Die Satanischen Verse". Sie ist verständlich in einem Umfeld von Entwurzelung und Kulturverlust, wie es Migration mit sich bringt. Wenn der Spiegel der Gesellschaft die Glaubensinhalte nicht mehr bestätigt, müssen explizite Normen bis hin zu Sanktionen eingeführt werden. Das hat der Fundamentalismus, sei er christlich-evangelikal oder islamisch-salafistisch, schon lange erkannt. Er rekrutiert auf dem Boden der kulturellen Entwurzelung neue Anhänger, denen als Alternative die reine und virtuelle Gemeinschaft der wahren Gläubigen angeboten wird. Die Reaktion der Kirchen zeigt, dass Dekulturation hier und jetzt im christlichen Abendland stattfindet. Indem sich die katholische Kirche auf dieses Spiel der Trennung des Religiösen vom Kulturellen einlässt, stellt sie sich als eine virtuelle Gemeinschaft unter anderen dar. Doch die mehr oder weniger christliche Kultur, auf die sich Europa zu Recht berufen kann, hat nicht mehr viel mit einem reinen, zerbrechlichen Glauben zu tun, der um den Schutz der Gerichte bitten muss. Die Religion hat sich von der Kultur verabschiedet, und die Kirche ist zum Akteur der Säkularisierung geworden.

Doch Dekulturation schwächt die Religionen, da alles auf der "Gemeinschaft der Gläubigen" und auf dem Glauben beruht. In der Folge mündet die gegenseitige Annäherung heutiger Formen von Religiosität in zwei widersprüchliche Entwicklungen: Konvergenz, was die Werte betrifft, eine deutliche, betonte Divergenz in Bezug auf das Dogma und die Abgrenzung der Gemeinschaft. So können wir beobachten, wie Evangelikale, konservative Katholiken und streng gläubige Muslime gegen Homosexuellenehe, Pornographie und Gotteslästerung in die Schlacht ziehen (auch der Vatikan hat die dänischen Mohammed-Karikaturen verurteilt, und viele islamische Institutionen haben ein Verbot des "Da Vinci Code" gefordert). Diese Übereinstimmung in Fragen der Werte geht Hand in Hand mit einer Krise der Ökumene und des interreligiösen Dialogs. Papst Benedikt XVI. hat die Assisi-Treffen nicht weitergeführt und betont (wie es auch Salafisten und Wahhabiten tun), dass es nur eine einzige Wahrheit gibt. Die Religionen ziehen ihre Grenzen neu, die Fronten verhärten sich: Themen wie Konversion und Apostasie rücken in den Mittelpunkt.

Das zeigt gleichzeitig, dass es eine Wechselwirkung zwischen den Gläubigen der verschiedenen Religionen gibt. Während die friedliche Koexistenz von Christen und Muslimen im Nahen und Mittleren Osten über Jahrtausende mit dem Fehlen jedes theologischen Dialogs und einer profunden Indifferenz gegenüber Andersgläubigen einherging, stehen die Gläubigen in der westlichen Welt heute zunehmend nicht als Gläubige mit denen anderer Religionen in Konfrontation, sondern mit der Säkularisierung. Das Eingeständnis, dass die "Glaubensgemeinschaft" in einem säkularen Umfeld zur Minderheit geworden ist, hat zur Folge, dass diese die Beschäftigung mit ihrem Glauben einer Reform der Gesellschaft vorzieht, auf die sie immer weniger Einfluss hat. Die Forderung nach Respekt und Anerkennung geht mit der Verinnerlichung des Minderheitenstatus einher. In diesem Sinne stellt der Islam in Europa eine Chance für Muslime weltweit dar, sich zu reformieren - nicht im Dogma, sondern in ihrer Beziehung zur Welt.

Basisentwicklungen unterstützen

Vom Dialog zwischen den großen religiösen oder staatlichen Institutionen haben wir nicht viel zu erwarten. Die Entwicklung des Islam in Europa vollzieht sich an der Basis, nicht in Büchern oder Resolutionen. Wir müssen die Autonomisierung der Religionen begleiten und nicht gegen sie kämpfen. Das heißt: Politische Kräfte dürfen sich nicht in Theologie einmischen (das wäre das Ende der Trennung zwischen Kirche und Staat), sondern sollen die religiöse Autonomie des europäischen Islam von den Kulturen der jeweiligen Herkunftsländer unterstützen.

Der Aufbau von Beziehungen mit den anderen in Europa vertretenen Religionen ist wünschenswert und wichtiger als jener mit den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Anstatt mit den ägyptischen oder pakistanischen Behörden über die Rolle der Islamschulen (madrassas) oder die Ausbildung der Imame zu verhandeln, sollte die Entstehung solcher Stätten in Europa gefördert werden. Das Bestreben, aus dem Islam eine europäische Religion zu machen, sollte sich nicht auf Dogmen konzentrieren, sondern auf die Autonomie und die Integration des Islam als "einfache" Religion (nicht als Kultur) in einem nicht "multikulturellen", sondern vielgestaltigen Europa.

Die Einwanderung hat Entwurzelte und Rebellen hervorgebracht, die sich "ihrer" Sache verschrieben haben. Sie hat aber auch eine Mittelklasse geschaffen, Intellektuelle und eine Bürgerschicht, die erwartet, als Muslime und als Europäer leben zu können: An sie müssen wir uns wenden, abseits von Sicherheitsdenken und strategischen Überlegungen, denn sie verkörpern die Zukunft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Übersetzung aus dem Französischen: Doris Tempfer-Naar, Mödling/Österreich.

  2. Vgl. dazu Olivier Roy, Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung, München 2006.

Ph.D., geb. 1949; Professor, Forschungsdirektor am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS); Dozent an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) und am Institut d'Etudes Politiques des Paris (IEP). EHESS, 54 bd Raspail, 75006 Paris/Frankreich
E-Mail: E-Mail Link: oroy@compuserve.com