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Einwanderung: das Ende der Politik der Chancengleichheit | Frankreich | bpb.de

Frankreich Editorial Die französischen Wahlen vom Frühjahr 2007 Frankreich: zurück in Europa, aber mit welchem Kurs? Französische Außenpolitik unter Nicolas Sarkozy Perspektiven der "neuen" deutsch-französischen Beziehungen Frankreichs Schwierigkeiten mit den Banlieue Einwanderung: das Ende der Politik der Chancengleichheit

Einwanderung: das Ende der Politik der Chancengleichheit

Sabine Riedel

/ 17 Minuten zu lesen

Nikolas Sarkozy hat einen "Bruch" mit den republikanischen Traditionen Frankreichs geforderte. Der vorliegende Beitrag möchte dieser zentralen These nachgehen und dabei prüfen, welches Konzept Sarkozy seit seiner Wahl der Politik der Chancengleichheit entgegenzusetzen hat.

Einleitung

Seit den Unruhen in den französischen Vorstädten im November 2005 geriet das republikanische Nationsmodell immer stärker in die Kritik. Es beruht auf dem Prinzip der rechtlichen Gleichstellung aller Franzosen, unabhängig von ihrer ethnischen, religiösen oder weltanschaulichen Zugehörigkeit. Es sei zu einer "abstrakten Gleichheit" ("égalité virtuelle") erstarrt und bedürfe daher einer grundlegenden Reform. Aus diesem Grund unterstützte André Glucksmann im Präsidentschaftswahlkampf 2007 Nicolas Sarkozy, der als Kandidat und Vorsitzender der konservativen Volksbewegungsunion (Union pour un mouvement populaire - UMP) einen "Bruch" mit den republikanischen Traditionen forderte.




Der vorliegende Beitrag möchte dieser zentralen These nachgehen und dabei prüfen, welches Konzept Nicolas Sarkozy seit seiner Wahl zum Staatspräsident am 6. Mai 2007 der Politik der Chancengleichheit entgegenzusetzen hat und was ihn daran hinderte, sein Programm bereits als Innenminister auf den Weg zu bringen.

Ein Paradigmenwechsel

Der Paradigmenwechsel der französischen Einwanderungs- und Integrationspolitik kündigte sich bereits Mitte März 2007 an, als Nicolas Sarkozy kurz nach Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes bekanntgab, er wolle als Staatspräsident ein neues "Ministerium für Immigration und nationale Identität" einrichten. Damit skizzierte er erstmals die Richtung, in die sein angekündigter "Bruch" ("rupture") mit der französischen Tradition gehen sollte. Doch riskierte er zunächst nicht, das republikanische Modell offen in Frage zu stellen. Er musste sich noch deutlich erkennbar von seinem stärksten Konkurrenten im konservativen Lager, Jean-Marie Le Pen, abgrenzen: Der Vorsitzende des Front National hatte im Jahre 2002 mit seinem ausländerfeindlichen Kulturalismus die Stichwahl der Präsidentschaftswahlen erreicht und sogar den Kandidaten der Sozialisten geschlagen. Deshalb wollte Nicolas Sarkozy mit der angekündigten institutionellen Reform signalisieren, dass den Immigranten nach wie vor der Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft offen stehe.

Frankreichs neue "nationale Identität"

Was im Deutschen mit dem Wort "Staatsbürgerschaft" umschrieben wird, hat im Französischen zwei Entsprechungen: Während "nationalité" den Besitz der staatsbürgerlichen Rechte, d.h. die Nationszugehörigkeit oder Nationalität bedeutet, umschreibt " citoyenneté" eher die "Staatsbürgerschaft" im Sinne eines Identitätsbewusstseins, das den einzelnen Bürger zur freiwilligen und aktiven Teilnahme am politischen Leben anhält. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Sarkozys Vorschlag, eine "französische Identität" mit Hilfe eines neuen Ministeriums zu schaffen, auf heftigen Widerstand stieß. Der UMP-Kandidat hatte es jedoch verstanden, diese Kritik einer "kleinen Schicht Intellektueller" zuzuschreiben, die nicht über die nationale Identität reden wolle. Damit hatte er die Verteidiger individueller Freiheiten in die Ecke eines staatlichen Interventionismus gestellt und politisch isoliert. Selbst die sozialistische Präsidentschaftskandidatin, Ségolène Royal, ließ seither auf Wahlveranstaltungen ihrer Partei die Nationalhymne singen, statt sich mit den Vorschlägen ihres Konkurrenten inhaltlich auseinanderzusetzen.

Bereits zwei Wochen nach seinem Wahlsieg ernannte Nicolas Sarkozy eine neue Regierung. Dabei erhielt Brice Hortefeux, ein enger Vertrauter des neuen Staatspräsidenten, die Leitung des angekündigten Ministeriums für Einwanderung, Integration, nationale Identität und Zusammenarbeit in Entwicklungsfragen. In einer ersten Stellungnahme erklärte Hortefeux, dass die Förderung der nationalen Identität Frankreichs im Dienste einer politischen Regulierung von Einwanderung und Integration stehe. Indem er sich auf den Artikel 1 der Verfassung beruft, der Frankreich als eine "unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik definiert, bekennt er sich zum Prinzip der "Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Herkunft, Rasse oder der Religion". Mit dieser Anspielung auf das republikanische Nationsmodell sollte der neue Minister ganz offensichtlich für die bevorstehenden Parlamentswahlen am 10. und 17. Juni 2007 jene Schichten zurückgewinnen, die Sarkozy mit seinem angekündigten "Bruch" zuvor verschreckt hatte.

Nachdem die UMP mit 323 von 577 Sitzen die absolute Mehrheit in der Französischen Nationalversammlung erreichen konnte, setzte Nicolas Sarkozy seinen angekündigten Kurswechsel in der Einwanderungs- und Integrationspolitik fort. Anhand von zwei konkreten Indikatoren lässt sich beobachten, dass damit eine politische Ära zu Ende geht, die sich dem Prinzip der Chancengleichheit verpflichtet fühlte: Dies ist zum einen seine Politik der "ausgesuchten Einwanderung" ("l'immigration choisie") und zum anderen sein Multikulturalismus-Konzept, das auf eine politische Partizipation ethnischer Minderheiten gerichtet ist.

Das Konzept der ausgesuchten Einwanderung

Der erste Indikator spiegelt sich in dem Versuch der Regierung wider, die Einwanderung zukünftig so zu steuern, dass den wirtschaftlichen Interessen Frankreichs gegenüber den sozialen Problemen der Immigranten Priorität eingeräumt wird: In einem Schreiben vom 9. Juli 2007 wurde Minister Brice Hortefeux vom Staatspräsidenten Sarkozy und seinem Premierminister François Fillon offiziell angewiesen, die Zusammensetzung der jährlichen Immigration entsprechend der Einwanderungsmotive grundlegend zu verändern. Zukünftig sollten die Hälfte aller Immigranten qualifizierte Facharbeiter sein.

Wie das französische Amt für Statistik MIAT bekannt gab, sind von den 186 918 offiziell registrierten Immigranten des Jahres 2005 insgesamt 49,4 Prozent aus familiären Gründen nach Frankreich gekommen, während nur knapp sieben Prozent in Folge des Arbeitskräftemangels als Facharbeiter angeworben wurden. Der Anteil ausländischer Studenten liegt bei etwa 20 Prozent, der Anteil an Asylsuchenden bei ca. 10 Prozent. Da der Anteil der Einwanderer aus wirtschaftlichen Motiven von 7 auf 50 Prozent steigen, während die nominelle Zahl der jährlichen Einwanderung stabil bleiben soll, müssen verschärfte Gesetze die Familienzusammenführung reduzieren. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass von ca. 4,9 Millionen Einwanderern (Stand 2004) als Folge der Integrationspolitik bis zu 40 Prozent bereits französische Staatsbürger geworden sind. Die neue Einwanderungspolitik wird also in absehbarer Zeit eine rechtliche Ungleichbehandlung der Franzosen in Abhängigkeit ihrer Herkunft in Kauf nehmen müssen.

Frankreichs Variante des Multikulturalismus

Der neue Staatspräsident Sarkozy hat schon seit dem Jahre 2002 als Innenminister seine Präferenz für das Modell des Multikulturalismus zum Ausdruck gebracht. Darunter versteht er allerdings nicht eine Öffnung des bestehenden politischen Systems gegenüber Einwanderern im Sinne eines kulturellen Pluralismus. Vielmehr hat er ein Elitenkonzept vor Augen, das exponierte Vertreter verschiedener Gemeinschaften von Einwanderern in eine politische Verantwortung einbindet. Einen ersten Schritt in diese Richtung hat er bereits mit der Gründung des Muslimrats im Jahre 2003 unternommen. Da dessen Vertreter auf regionaler wie auf zentralstaatlicher Ebene durch Wahlen legitimiert sind, kann er heute für sich in Anspruch nehmen, einen Großteil der Einwanderer insbesondere aus Nordafrika zu repräsentieren.

Die Zusammensetzung der neuen Regierung unter Premierminister Fillon macht deutlich, wie Sarkozy dieses Konzept des Multikulturalismus nun weiter verfolgt. In den jüngsten Parlamentswahlen schaffte es kaum mehr als ein Dutzend Vertreter der so genannten sichtbaren Immigration, d.h. der Einwanderer nichteuropäischer Herkunft, in die neue Nationalversammlung. Davon kommen die meisten aus den französischen Überseegebieten. So bleibt die aus Guadeloupe stammende George Pau-Langevin, sozialistische Abgeordnete des 20. Arrondissement von Paris, immer noch eine Ausnahme.

Ganz offensichtlich hatte es auch die Partei des Staatspräsidenten UMP versäumt, Mitglieder aus Einwandererfamilien in ihre Reihen aufzunehmen und in ihren Kandidatenlisten zu berücksichtigen. Stattdessen ernannte Sarkozy überraschend drei Frauen nichteuropäischer Herkunft zu Mitgliedern seiner Regierung: Rachida Dati wurde Justizministerin, Rama Yade Staatssekretärin für Menschenrechte im Außenministerium und Fadela Amara Staatssekretärin für Stadtentwicklung. Die französischen Tageszeitungen Le Monde und Le Figaro werteten diese Personalpolitik als eine Maßnahme der "positiven Diskriminierung" ("discrimination positive") zugunsten der "sichtbaren Minderheiten" ("minorités visibles"). Die bisherige Politik der Chancengleichheit soll allmählich durch eine Politik der "kulturellen Diversität" ersetzt werden.

Probleme der sozialen Integration von Einwanderern

Einige Verbände von Einwanderern haben diese "Öffnung in Richtung Diversität" ("l'ouverture à la diversité") und damit den anvisierten Pfadwechsel der Integrationspolitik in ersten Stellungnahmen sehr positiv bewertet. Nach Ansicht von Dominique Sopo, des Präsidenten des Vereins SOS-Racisme, gäbe es mit dieser Regierung erstmals in Frankreich die Chance, dass die kulturelle Diversität öffentlich repräsentiert werde. Kritik gab es weniger an dem Konzept selbst als vielmehr an der Person Fadela Amara. Die neue Staatssekretärin für Stadtentwicklung hätte ein zu negatives Bild der Jugendlichen aus den französischen Vorstädten, den Banlieue, sagte die Präsidentin des Vereins Respect 93, Sonia Imloul. Dagegen gab Dominique Sopo zu bedenken, dass sich mit Personalentscheidungen allein die sozialen Probleme der Einwanderer kaum ändern würden.

Ein kurzer Blick in die französische Stadtpolitik der letzten beiden Jahrzehnte zeigt allerdings, dass nicht nur die Personalpolitik ein Problem bleibt. Auch die Reichweite des neuen Konzepts der kulturellen Diversität wird sich als äußerst begrenzt erweisen, sollte sie als Alternative zum multidimensionalen Ansatz in der Stadtpolitik gesehen werden. Dazu erschien es notwendig, von Wohnungsnot und sozialen Krisen gekennzeichnete Quartiere als so genannte städtische Problemviertel (ZUS - Zones Urbaines Sensibles) zu kennzeichnen, um sie durch verschiedene staatliche Maßnahmen zu fördern. Eine Trendwende dieser Segregation ist derzeit nicht erkennbar. Stattdessen wird in neueren Publikationen trotz eines wachsenden Angebots an Neubauten von einer allgemeinen Wohnungskrise in Frankreich gesprochen. Da die Mieten landesweit seit Ende der 1990er Jahre wesentlich schneller gestiegen sind als Löhne und Gehälter, hat sich die Wohnungsnot besonders für die einkommensschwachen Schichten weiter verschärft.

Exklusion von Bildung und Arbeit

Die regelmäßigen Berichte über die Politik der Stadtentwicklung sind eine wichtige Quelle für Sozialstatistiken, die Rückschlüsse auf die Situation der Einwanderer erlauben. Denn gemäß dem bisher geltenden Grundsatz der Gleichstellung werden in Frankreich keine Daten über die "rassische", ethnische oder religiöse Zugehörigkeit der Bürger französischer Nationalität gesammelt. Deshalb können exakte Angaben über den Bildungsstand und die Beschäftigungsquote nur für bestimmte Siedlungsräume erhoben werden. Sie lassen sich nicht einzelnen ethnischen Gruppen zuordnen, sondern nur nach Nationsangehörigkeit aufgliedern. Deshalb ist selbst bei wissenschaftlichen Publikationen Vorsicht geboten, wenn exakte Angaben über die soziale Lage der Einwanderer präsentiert werden. Meist wurden sie aus den genannten Statistiken zur Stadtpolitik abgeleitet, da die Immigranten überwiegend in den sensiblen Stadtvierteln (ZUS) leben.

Die Tatsache, dass etwa die Hälfte der jungen Erwachsenen in den ZUS bis zum Alter von 34 Jahren noch keine eigene Wohnung hat, ist ein deutliches Zeichen für eine weit verbreitete ökonomische Unselbstständigkeit und Chancenlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt. So ist die Arbeitslosenrate in den Banlieue und damit auch unter den Immigranten mit ca. 22 Prozent (2005) mehr als doppelt so hoch wie der Landesdurchschnitt. Besonders problematisch ist die Lage der 15- bis 24-Jährigen, die zu 42 Prozent keine Arbeit gefunden haben. Entsprechend niedrig fällt das verfügbare Haushaltseinkommen aus, das in den ZUS nur 61 Prozent des nationalen Durchschnitts beträgt. Weitere statistische Zahlen lassen erkennen, wie die schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt mit dem verhältnismäßig niedrigen Bildungsstand unter den Einwanderern in Bezug auf bestandene Diplomprüfungen zusammenhängen: Unter den Jugendlichen, die außerhalb der städtischen Problemviertel aufwachsen, fallen etwa 20 Prozent durch, während Heranwachsende aus den ZUS zu 32 Prozent die Prüfungen nicht bestehen. Noch deutlicher zeigt sich der soziale Unterschied bei den Diplomabschlüssen: Ohne Abschlüsse blieben im Jahre 2005 landesweit 25 Prozent der Jugendlichen, unter den Einwanderern beträgt diese Anteil rund 48 Prozent. Dabei beginnt die soziale Segregation schon in der Schule von Trabantensiedlungen, wo eine schwächere Infrastruktur der Bildungseinrichtungen dazu beiträgt, dass die Kinder dort schlechtere Startbedingungen haben: Große Klassenstärken, häufig wechselndes Lehrpersonal und eine schlechtere materielle Ausstattung prägen bis heute ihren schulischen Alltag.

Anstieg von Gewalt und Fremdenfeindlichkeit

Es liegt auf der Hand, dass die schlechteren Bildungschancen und die drohende Arbeitslosigkeit die Abwanderung von aufsteigenden Schichten aus den Banlieue begünstigen. Zurück bleiben immer häufiger diejenigen, die es trotz staatlicher Hilfsangebote nicht schaffen, diesen Teufelskreis der Chancenlosigkeit zu durchbrechen. Dies erklärt den Anstieg von Kriminalität und Gewaltbereitschaft unter den Jugendlichen schon lange vor den landesweiten Ausschreitungen vom November 2005. Im Pariser Departement Seine-Saint-Denis, dem Ausgangspunkt der letzten Unruhen, werden jede Nacht Dutzende Autos in Brand gesteckt. Neue französische Publikationen zu diesem Thema weisen allerdings darauf hin, dass diese Gewaltakte nur von wenigen Jugendlichen inszeniert werden, während der Großteil der Einwohner diesem Treiben resignativ gegenübersteht.

Dennoch haben diese Ereignisse unter den Franzosen Verständnis für eine Politik der harten Hand geweckt und Nicolas Sarkozy als Innenminister ermutigt, für einige Wochen den Ausnahmezustand zu verhängen. Trotz der berechtigten Kritik an den verübten Gewalttaten muss allerdings eine derart drastische Maßnahme mit Skepsis betrachtet werden, zumal der damalige Sozialminister Jean-Luis Borloo Alternativen aufzeigte und den Dialog mit den Jugendlichen suchte. Die Verantwortung der Regierung für eine Konfliktlösung war und bleibt bis heute so wichtig, weil sie das Bild der Öffentlichkeit über die Einwanderer entscheidend prägt. Eine undifferenzierte Analyse, die nicht mehr zwischen den eigentlichen Drahtziehern der Ausschreitungen und der schweigenden Mehrheit der Einwanderer in den Banlieue unterscheidet, wird eher Öl ins Feuer einer wachsenden Fremdenfeindlichkeit gießen.

So stellte der Kommissar des Europarats für Menschenrechte, Alvaro Gil-Robles, in seinem Bericht vom Februar 2006 fest, dass seit 2000 in Frankreich ein drastischer Anstieg von Diskriminierungen aus rassistischen Motiven zu beobachten ist. Allein zwischen 2003 und 2004 hätten sich die Vorfälle von 833 auf 1 565 nahezu verdoppelt. Um diese Entwicklung zu stoppen, unterstützte Frankreich die Antidiskriminierungspolitik der Europäischen Union. So hat die 2005 neu eingerichtete Gleichbehandlungsstelle HALDE (Haute Autorité de Lutte contre les Discriminations et pour l'Égalité) bereits umfangreiche Dokumentationen veröffentlicht. Darin ist ebenso von einem drastischen Anstieg der Beschwerden von 1 410 im Jahr 2005 auf 4 058 im Folgejahr die Rede.

Allerdings sprechen diese Zahlen auch dafür, dass sich Betroffene durch die neue Antidiskriminierungspolitik zunehmend ermutigt fühlen, ihre Benachteiligungen öffentlich zu machen. Ersten Erhebungen zufolge sind allein 35,04 Prozent aller gemeldeten Fälle rassistisch oder ethnisch motiviert, dagegen geschehen nur 1,33 Prozent aus religiösen Gründen.

Widersprüche in der neuen Integrationspolitik

Die Antidiskriminierungspolitik der letzen Jahre geht allerdings weniger auf den damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy als vielmehr auf Azouz Begag zurück, der Mitte 2005 von Jacques Chirac zum beigeordneten Minister zur Förderung der Chancengleichheit berufen worden war (Ministre délégué à la promotion de l'égalité des chances). Unter seiner Initiative hat auch die deutsch-französische Zusammenarbeit das Thema Chancengleichheit von Immigranten aufgegriffen und in zahlreichen Veranstaltungen bearbeitet.

Das Ende der Politik der Chancengleichheit

Nur wenige Wochen nach Sarkozys Ankündigung, als Staatspräsident ein Ministerium für Immigration und nationale Identität einrichten zu wollen, ist Azouz Begag vorzeitig von seinem Amt zurückgetreten, wohl wissend, dass seine Politik der Chancengleichheit unter den neuen politischen Rahmenbedingungen keine Zukunft haben würde. Selbst als Kind von algerischen Einwanderern in den Banlieue von Lyon aufgewachsen, vertrat und verteidigte er aus eigener Überzeugung das republikanische Staatsmodell und verglich es mit einem offenen Himmel. Dies ist eine metaphorische Abwandlung des Bilds vom "sozialen Fahrstuhl" ("ascenseur social"), der die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Aufstiegs in der Frankreich symbolisiert, sofern man als Einwanderer die Werte der französischen Verfassung und des politischen Nationsmodells akzeptiert hat.

Diese Möglichkeit wird sich mit Sarkozys angekündigter Öffnung in Richtung kultureller Diversität entscheidend verringern. In seinem Konzept steht nicht mehr die Chancengleichheit des einzelnen Einwanderers im Mittelpunkt. Vielmehr wird es darum gehen, die verschiedenen Einwandererverbände als Vertreter von Interessensgruppen an der Ausgestaltung der Politik zu beteiligen. Über die Zuordnung zu einer bestimmten kollektiven Identität wird dann dem einzelnen Immigranten eine gesellschaftliche Partizipation ermöglicht. Mögen die einzelnen Verbände und Organisationen gute Arbeit leisten und die sozialen Belange oder politischen Interessen ihrer jeweiligen Gruppen nach bestem Gewissen vertreten. Es ergeben sich aus diesem Konzept jedoch eine ganze Reihe neuer Schwierigkeiten und Widersprüche.

Ein grundsätzliches Problem zeigt sich darin, dass ein solches multikulturalistisches Konzept nur funktionieren kann, wenn das traditionelle Identitätsbewusstsein der Einwanderer entlang ihrer nationalen, ethnischen oder religiösen Zuordnung noch intakt ist oder sogar weiter gestärkt wird. Dies ist z.B. das erklärte Ziel der einzelnen Verbände desvon Sarkozy geschaffenen Muslimrats CFCM. Diese unterscheiden sich nicht etwa in ihrer religiösen Lehre, sondern durch die nationale Herkunft ihrer Mitglieder und deren Verhältnis zum politischen System ihrer Herkunftsländer. Sie haben ein unmittelbares Interesse daran, dass die algerische, marokkanische oder türkische Identität unter den Muslimen nicht verloren geht. Dies widerspricht allerdings den erklärten Absichten des neu geschaffenen Ministeriums, das den Einwanderern in Zukunft "die nationale Identität Frankreichs" vermitteln möchte.

Es bieten sich verschiedene Erklärungen an, warum das neue Ministerium für Einwanderung, Integration, nationale Identität in einem Atemzug einander derart widersprechende Konzepte präsentiert hat. Es mag vielleicht auf einen Mangel an Fachkompetenz zurückgehen. So wächst derzeit die inhaltliche Kritik unter französischen Wissenschaftlern an der Einrichtung eines solchen Ministeriums. Denkbar ist aber auch, dass es dem Staatspräsidenten weniger um eine kohärente Einwanderungs- und Integrationspolitik geht als vielmehr um einen populistischen Kurs, der ihm den Weg zu weiteren Wahlsiegen ebnet.

Dabei gewinnt das Thema der Religionen und der Stellung der Kirchen vor allem für konservative Wählerschichten zunehmend an Bedeutung. So hatte Nicolas Sarkozy schon 2004 in seinem Buch "Die Republik, die Religionen, die Hoffnung" eine Revision des Trennungsgesetzes von 1905 und eine staatliche Finanzierung der "großen Kirchen" gefordert. Viele Kardinäle in Frankreich haben diese Idee mit Skepsis zur Kenntnis genommen, denn sie wissen aus der französischen Geschichte, dass eine Finanzierung der katholischen Kirche immer mit einer direkten politischen Einflussnahme verbunden war. Nicht zuletzt kritisierte jüngst der Präsident der protestantischen Föderation, Pastor Jean-Arnold de Clermont, Sarkozys Finanzierungsprojekt. Die Protestanten befürchten, sie könnten gegenüber den Muslimen als zweitgrößte Religionsgemeinschaft entscheidend benachteiligt werden.

Widersprüchliche Konzepte in der Sozialpolitik

So wäre es durchaus denkbar, dass Staatspräsident Sarkozy mit seiner Politik der kulturellen Diversität nicht ein multikulturalistisches, sondern längerfristig sogar ein kulturalistisches Konzept verfolgt. Danach gäbe es eine vom Staat offiziell anerkannte kulturelle Identität, etwa das Bekenntnis zur katholischen Kirche, von der sich die Nationszugehörigkeit ableiten ließe. Andere kulturelle Zugehörigkeiten kämen auf diesem Wege in die Rolle einer Minderheit oder könnten in eine gesellschaftliche Randposition abgeschoben werden. Der Schritt zu einer nationalistischen Ideologie wäre dann nicht mehr weit, und wenn die als fremd empfundenen kulturellen Identitäten als minderwertig betrachtet und von der gesellschaftlichen Partizipation tendenziell ausgeschlossen werden, wäre er bereits getan.

Weniger spekulativ lässt sich dagegen analysieren, wie das Thema der sozialen Reintegration arbeitsloser Immigranten im März vergangenen Jahres von der Regierung in Dienst genommen wurde, um den Kündigungsschutz zu lockern. Sie hatte nämlich ein bereits angenommenes Gesetz für Chancengleichheit ohne Zustimmung der Nationalversammlung erweitert, um befristete Verträge für Berufseinsteiger zu ermöglichen (CPE). Sie begründete ihr Projekt mit der Schaffung von mehr Arbeitsplätzen insbesondere für Jugendliche aus den benachteiligten Banlieue. Wochenlange Protestaktionen an den Hochschulen des Landes zwangen die Regierung schließlich zur Rücknahme des Gesetzes.

Abgesehen von der kontrovers diskutierten Frage, ob befristete Arbeitsverträge tatsächlich neue Arbeitsplätze schaffen, bleibt auch umstritten, ob und mit welcher zeitlichen Wirkung ein solches Gesetz dazu beitragen kann, die Arbeitslosenrate von 42 Prozent unter den Jugendlichen der Banlieue zu senken. Aktuell bleibt dieses Thema nicht zuletzt deshalb, weil die neue Regierung unter einem hohen Reformdruck steht, um das in den Wahlen versprochene Wirtschaftswachstum auch tatsächlich zu erreichen. Dabei drängen u.a. Experten der OECD Frankreich zu tief greifenden strukturellen Veränderungen und erwarten "einen Abbau der Staatsausgaben, eine höhere Arbeitsmarktflexibilität, die Eliminierung von Wettbewerbsbehinderungen und eine Intensivierung der Privatisierungen". Dieses pauschale Reformpaket ignoriert nicht nur die Probleme der sozialen Reintegration arbeitsloser Einwanderer in den Arbeitsmarkt. Es entbehrt auch jeglicher Voraussicht auf die sozialen Folgen, die solche wirtschaftspolitischen Maßnahmen für die sozialen Brennpunkte mit sich bringen.

Widersprüche in der Einwanderungspolitik

Doch gibt es auch die Stimmen derer unter den OECD-Experten, die durchaus einen direkten Zusammenhang zwischen Einwanderungs-, Integrations- und Sozialpolitik sehen. So kritisierte Jean-Pierre Garson, ein Spezialist für Migrationsfragen, den neuen Kurs einer "ausgesuchten Einwanderung". Ihn beschäftigen weniger die Folgen einer restriktiven Politik der Familienzusammenführung. Vielmehr sieht er in der jüngsten Entscheidung der Regierung, den Anteil qualifizierter Facharbeiter aus dem Ausland von derzeit sieben auf 50 Prozent aufzustocken, ein hohes Risiko. Seiner Einschätzung nach wird sie vor allem jene Einwanderer enttäuschen, die trotz ihrer fachlichen Qualifikation arbeitslos geblieben sind.

Schließlich zeigt sich noch eine weitere konzeptionelle Schwachstelle. Im vergangenen Jahr hat Nicolas Sarkozy zusammen mit dem deutschen Innenminister Wolfgang Schäuble eine gemeinsame Initiative für eine europäische Einwanderungspolitik gestartet. Dabei griffen sie das Konzept der zirkulären Migration auf: Über eine befristete Arbeitserlaubnis für die Zeitspanne von drei bis fünf Jahren möchten sie den Arbeitsmarkt für ausländische Arbeitnehmer öffnen und gleichzeitig durch Abkommen mit den Herkunftsländern deren Rückkehr in ihre Heimat sicherstellen. Zwar fügt sich der Kurs der "ausgesuchten Einwanderung" nahtlos in das Konzept der zirkulären Migration ein. Doch stellt sich die Frage, welche Aufgabe in diesem Zusammenhang dem neuen Ministerium von Brice Hortefeux zugedacht wird.

Statt mit dem neuen Ministerium Einwanderung und Integration konzeptionell stärker miteinander zu verbinden, werden beide Politikbereiche zukünftig stärker voneinander getrennt. Unter Einwanderung soll offenbar ein zeitlich begrenzter Aufenthalt verstanden werden, der aber kein Bleiberecht nach sich zieht. Dies scheint aus Sicht der neuen Regierung ein einfacher Weg zu sein, neue Integrationsprobleme zu vermeiden. Dennoch wird man nicht umhin können, sich neben den aktuellen Integrationsproblemen auch mit den vielschichtigen Ursachen von Migration auseinanderzusetzen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. André Glucksmann, Pourquoi je choisis Nicolas Sarkozy. La gauche est repliée sur l'Hexagone. Lassé, le philosophe décide de soutenir le candidat de l'UMP, in: Le Monde vom 30. 1. 2007, S. 21.

  2. Vgl. Charles Jaigu, Sarkozy veut défendre «l'identité de la France», in: Le Figaro vom 15. 3. 2007, S. 6.

  3. Nous sommes le seul pays où une petite intelligentsia considère qu'on n'a pas le droit de parler d'identité nationale, in : Charles Jaigu, Identité nationale: Sarkozy persiste et signe, in: Le Figaro vom 14. 3. 2007.

  4. Vgl. Ministère de l'immigration, de l'intégration, de l'identité nationale et du codéveloppement:
    http:// brice.hortefeux.free.fr/
    Ministere/bh-Ministere.htm.

  5. Vgl. Immigration: Brice Hortefeux s'explique, in: Le Figaro vom 1. 6. 2007.

  6. Vgl. Laetitia Van Eeckhout, Le chef de l'Etat donne un objectif de 50 % d'immigration économique à M.Hortefeux, in: Le Monde vom 11. 7. 2007, S. 9.

  7. Vgl. Le gouvernement veut réduire l'immigration familiale, in: Le Monde vom 11. 7. 2007, S. 1.

  8. Vgl. "Graues" französisches Parlament. 59 Prozent der Abgeordneten älter als 55 - Accoyer neuer Präsident, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 27. 6. 2007, S. 1.

  9. Vgl. Le gouvernement Filllon 2, in: Le Monde vom 21. 6. 2007, S. 10.

  10. Vgl. Philippe Ridet, Fillon 2, une équipe "griffée" Sarkozy, in: Le Monde vom 21. 6. 2007, S. 2; Sarkozy poursuit l'ouverture, fait une place aux "minorités visibles" et récompense ses fidèles, in: Le Figaro vom 20. 6. 2007, S. 6f.

  11. Vgl. Luc Bronner, En banlieue, les associations saluent "l'ouverture à la diversité", in: Le Monde vom 21. 6. 2007, S. 11.

  12. Vgl. Wolfgang Neumann, Gesellschaftliche Integration gescheitert? Stadtpolitik in Frankreich vor Herausforderungen in einer neuen Dimension, Aktuelle Frankreich-Analysen, Deutsch-Französisches Institut, Nr. 21 (2006) 1, S. 7; www.dfi.de.

  13. Vgl. Vincent Renard, Wohnungskrise und politische Perspektiven. Die Wohnsituation in Frankreich im Jahre 2007, in: Frankreich-Analysen der Friedrich-Ebert-Stiftung, Paris, März 2007, S. 1.

  14. Vgl. Définir une politique d'immigration juste, in: Le Monde Economie vom 9. 5. 2007, S. 7.

  15. Vgl. Les émeutiers: entre violence et résignation. Témoignage de Yazid Kherfi, recueilli par Véronique Le Goaziou, in: Laurent Mucchielli/Véronique Le Goaziou (Hrsg.), Quand les banlieues brûlent... Retour sur les émeutes de novembre 2005, Paris 2006, S. 87 - 97.

  16. Vgl. Gewalteskalation in der Banlieue von Paris. Schüsse auf Polizisten und Feuerwehrleute, in: NZZ vom 4. 11. 2005, S. 1.

  17. Vgl. Report by Mr Alvaro Gil-Robles, Commissioner for Human Rights, on the effective respect for human rights in France following his visit from 5 to 21 September 2005, VIII. The problems of racism, anti-Semitism, 1. Main trends, xenophobia and the fight against discrimination, a. The increase in racism, Strasbourg, 15 February 2006.

  18. Vgl. Haute Autorité de Lutte contre les Discriminations et pour l'Egalité (HALDE), Rapport annuel 2006, S. 10; www.halde.fr.

  19. Vgl. Integration und Chancengleichheit. Eine deutsch-französische Initiative, Deutsch-Französisches Institut Ludwigsburg/Paris/Auswärtiges Amt (Hrsg.), Berlin 2007; www.dfi.de/de/pdf/integration/
    broschuere_integration.pdf.

  20. Vgl. Azouz Begag, La République a ciel ouvert. Rapport pour Monsieur le ministre de l'Intérieur, de la sécurité et des libertés locales, Novembre 2004, S. 7.

  21. Vgl. Immigration. La contestation des chercheurs contre le ministère s'amplifie, in: Le Monde vom 29. 6. 2007, S. 11.

  22. Nicolas Sarkozy, La République, les religions, l'esperance, Paris 2004, S. 148.

  23. Vgl. Difficultés de construction des mosquées: le pasteur de Clermont évoque "une discrimination", in: Le Monde vom 29. 6. 2007, S. 11.

  24. CPE = Contrat première emauche; vgl. Assemblée national, Projet de loi pour l'égalité des chances, 10 février 2006; Französische Botschaft (Hrsg.), Frankreich-Info: Der Einstellungsvertrag (CPE) und das Gesetz zur Chancengleichheit, Berlin, 23. 3. 2006; www.botschaft-frankreich.de/
    IMG/egalite_chance. pdf.

  25. Diffuses Unwohlsein in Frankreich. Die OECD ortet Strukturschwächen und rät zu Reformen, in: NZZ vom 28. 6. 2007, S. 10.

  26. Vgl. Jean-Pierre Garson, La France risque de décourager les migrants qualifiés, in: Le Monde vom 11. 7. 2007, S. 9.

Dr. habil., geb. 1956; wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Berlin und Privatdozentin für Politikwissenschaft an der Universität Magdeburg. SWP, Ludwigkirchplatz 3 - 4, 10719 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: sabine.riedel@swp-berlin.org