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Verliert die Islamische Republik die Jugend?

Renate Kreile

/ 15 Minuten zu lesen

Angesichts sozialer Restriktionen und politischer Repression verabschieden sich in Iran zahlreiche junge Menschen in die innere oder äußere Emigration oder rebellieren durch nonkonformes Alltagsverhalten. Gleichwohl vermag das Regime viele von ihnen ideologisch und materiell an sich zu binden.

Einleitung

In Firdausis berühmtem Epos "Buch der Könige" aus dem 11. Jahrhundert tötet der Held Rostam in einer Schlacht den jungen Sohrab, ohne zu erkennen, dass dieser sein eigener Sohn ist. An diese Erzählung, die immer wieder auch als politische Metapher gelesen wird, knüpft ein Lied mit dem Titel "Neda und Sohrab" an, das nach der brutalen Niederschlagung der jüngsten Protestbewegung im Sommer 2009 entstanden ist. Die getötete Demonstrantin Neda wird mit dem ins Herz getroffenen Sohrab gleichgesetzt und betrauert. Nicht zuletzt die jüngsten Ereignisse in Iran, die eine tiefgreifende Legitimationskrise des Regimes markieren, werfen die Frage auf, ob die Väter der Islamischen Republik drei Jahrzehnte nach der Revolution dabei sind, ihre Töchter und Söhne zu verlieren.



Iran hat heute eine der jüngsten Bevölkerungen weltweit. 35 Prozent sind junge Menschen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren. Sie stellen etwa 40 Prozent der Stimmberechtigten bei Wahlen und sind die am besten ausgebildete Generation in der Geschichte des Landes. Gleichzeitig unterscheiden sich die Lebenswirklichkeiten der jungen Menschen enorm. Neben der fortdauernden Kluft zwischen den Geschlechtern im Hinblick auf rechtliche Gleichstellung sowie den Zugang zu Ressourcen und Entfaltungsmöglichkeiten sind sie abhängig von sozialer Schichtzugehörigkeit, Bildungsniveau und urbanem oder ländlichem Umfeld. Damit verwoben sind heterogene Familienstrukturen, Lebensstile und kulturelle Normen und Wertvorstellungen, die nicht zuletzt das Geschlechter- und Generationenverhältnis in den Familien prägen. Sie sind mit vereinfachenden binären Kategorisierungen und Zuschreibungen wie traditionell/religiös/ungebildet versus modern/säkular/gebildet nicht angemessen zu erfassen.

Zahlreiche in den vergangenen Jahren erschienene journalistische und wissenschaftliche Texte thematisieren bittere soziale Frustrationen junger Menschen im Iran und porträtieren dessen junge Generation zugleich als Avantgarde und Agentin eines ersehnten gesellschaftlichen und politischen Wandels. Die großenteils kulturanthropologisch ausgerichteten Studien präsentieren dabei ein faszinierendes ethnographisches Material, das Einblicke in vielfältige subkulturelle Lebenswelten von jungen Frauen und Männern bietet: die geschilderten Aktivitäten reichen von freizügigen Techno-Parties über konspirative Lektüreseminare bis zu Ashura-Feiern, bei denen die traditionellen Trauer-Rituale zu Parties mit Festival-Atmosphäre umfunktioniert werden. Im Fokus der Untersuchungen stehen großenteils Jugendliche aus den wohlhabenderen Segmenten der modernen städtischen Mittel- bis Oberschichten insbesondere Teherans.

Unklar oder umstritten bleibt zum einen die Frage, ob sich die in den angeführten Studien repräsentierten Einstellungen und Verhaltensmuster auf eine materiell privilegierte und global vernetzte Minderheit beschränken oder inwieweit sie auch Jugendliche aus den ärmeren Schichten und ländlichen Regionen erfasst haben. Kontrovers beurteilt wird zudem die Frage, wie weit Verhaltensweisen, die sich an den Werten und Attributen globaler Konsumkultur orientieren, als widerständig und emanzipatorisch gefeiert werden können.

Im Folgenden werden verschiedene Facetten der sozialen und politischen Situation junger Menschen in Iran in ihren unterschiedlichen sozialen Kontexten skizziert und Potenziale für Unzufriedenheit und Protest benannt. Des Weiteren werden komplexe und widersprüchliche Strategien beleuchtet, mit denen die Kinder der Islamischen Republik versuchen, unter schwierigen und repressiven Bedingungen privat und öffentlich Freiräume zu erkämpfen und soziale und politische Handlungsspielräume auszuweiten. Theoretisch orientieren sich die vorgestellten Überlegungen am Konzept der "Sozialen Exklusion". Darunter wird ein multidimensionaler, kontextspezifischer Prozess verstanden, der Individuen und Gruppen von den sozialen Beziehungen der Gesellschaft, in der sie leben, ausschließt und sie daran hindert, voll an den gesellschaftlichen Aktivitäten zu partizipieren, die in der jeweiligen Gesellschaft normativ verpflichtend sind. Sozial ausgeschlossene Individuen und Gruppen können ihre gesellschaftlich möglichen Verwirklichungschancen nicht wahrnehmen. Soziale Exklusion in größerem Umfang schwächt den Zusammenhalt der Gesellschaft als ganzer. Unter den Bedingungen der Globalisierung stellen die einzelnen nationalen Gesellschaften allerdings weniger denn je "abschließbare Container-Einheiten" dar. In einem vernetzten und verlinkten Wahrnehmungsraum wird soziale Exklusion von einer jungen gebildeten "Generation Global" zunehmend in einem weltgesellschaftlichen Bezugsrahmen erfahren: so mögen etwa die wahrgenommenen Ungleichheiten in Lebenschancen und Verwirklichungsmöglichkeiten zwischen Teheran und Tehrangeles eine besondere Brisanz erzeugen, die den Blick auf die eigene Gesellschaft nicht unberührt lässt.

Soziale Exklusion und enttäuschte Erwartungen

Die iranische Gesellschaft erlebte in den Jahrzehnten nach der Islamischen Revolution von 1979 rasante Transformations- und Modernisierungsprozesse. Die damit verbundene Urbanisierungsdynamik und eine enorme Ausweitung der modernen städtischen Mittelschichten schufen beachtliche Individualisierungspotentiale. Nicht zuletzt die Übergänge von der Jugendphase zum Erwachsenenalter wurden dramatisch umgestaltet. Bedeutsam in diesem Zusammenhang sind insbesondere die Bereiche Bildung, Beschäftigung und Familiengründung. Innerhalb von drei Jahrzehnten Islamischer Republik wurde im Zuge einer expansiven Bildungspolitik die Zahl der Schüler in Sekundarschulen von 2,1 Millionen auf über 7,6 Millionen erhöht; selbst im ländlichen Bereich haben heute etwa 50 Prozent der Jungen und 45 Prozent der Mädchen einen Sekundarschul-Abschluss. Die Zahl der Studierenden an Universitäten stieg von 154 000 auf 1,5 Millionen. Der Prozentsatz von jungen Frauen an Universitäten steigerte sich von 30 auf 62 Prozent.

Im iranischen Bildungssystem spielt der Concours, die hoch kompetitive Aufnahmeprüfung für die Universitäten, eine zentrale Rolle. Von den 1,5 Millionen Jugendlichen, die jährlich an dieser Universitätseingangsprüfung teilnehmen, erreichen nur etwa 15 Prozent die erforderlichen Ergebnisse, um eine öffentliche oder private Universität zu besuchen. D.h. wenige gewinnen, die meisten verlieren. Im Rahmen eines ideologisch ausgestalteten Quotensystems werden zudem junge Leute bevorzugt, die dem Regime nahe stehen und beispielsweise "revolutionären Organisationen" angehören. Da ein Universitätsabschluss ein Minimalerfordernis für eine Stelle im öffentlichen Sektor und damit für einen sicheren und lukrativen Arbeitsplatz darstellt, ist der Erfolgsdruck enorm. Wer nicht besteht, sieht sich sozial stigmatisiert und die eigenen Chancen auf dem Arbeits- und Heiratsmarkt deutlich verringert. Landesweit ist fast ein Viertel der jungen Leute zwischen 20 und 30 Jahren arbeitslos. 70 Prozent der Arbeitslosen insgesamt gehören zu dieser Altersgruppe. Damit ist auch im regionalen Vergleich die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen besonders hoch. Besonders betroffen sind junge Frauen, die doppelt so oft keine Arbeit finden wie ihre männlichen Altersgenossen.

Während in der islamischen Welt Status und Identität von Erwachsenen seit jeher mit früher und genereller Eheschließung verknüpft sind, sehen sich gegenwärtig in Iran wie im gesamten Orient zunehmend mehr junge Menschen gezwungen, die Heirat als Tor zu Unabhängigkeit und sozialem Respekt aufzuschieben. Die Hälfte von ihnen lebt bei den Eltern. Der Prozentsatz von unverheirateten jungen Männern und Frauen im Alter zwischen 25 und 29 Jahren hat sich drastisch erhöht, nämlich von acht auf über 25 Prozent bei jungen Frauen und von 20 auf fast 40 Prozent bei jungen Männern. Neben kulturell und religiös legitimierten Verboten intimer Beziehungen außerhalb der Institution Ehe verstärkt die moralpolitisch verordnete Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum die Gefühle von Frustration und Exklusion. Zahllose junge Menschen sehen sich zu einem "Doppelleben" gezwungen, welches das offiziell verpönte Verhalten privat umso ostentativer zur Geltung bringt.

Wo die Ambitionen auf gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung blockiert sind und viele der jungen gut ausgebildeten Männer und Frauen nicht heiraten können, da sie über keine feste Anstellung verfügen, sind Enttäuschung und Unzufriedenheit, die sich nicht zuletzt gegen die Regierung richten, weithin die Folge. Kritik an Korruption, Nepotismus und mangelnder Verteilungsgerechtigkeit ist weit verbreitet. So meinen die meisten Iraner, dass das Regime wesentlich die Abkömmlinge der Geistlichkeit privilegiere. Ein 25-jähriger Universitätsabsolvent, der an einem Stand Obst verkauft, formuliert bitter: "Ich habe nicht 17 Jahre lang gelernt, um dies hier zu machen. Mit diesem Einkommen kann ich nicht heiraten. Die Regierung kann alle unsere Probleme lösen, wenn sie sich darum kümmert. Alles, was sie tun müssen, ist uns Anleihen zu geben für eine Heirat und um ein Haus zu kaufen."

Der schwelenden sozioökonomischen Legitimationskrise sucht die Regierung durch propagandistisch augenfällige wohlfahrtspolitische Maßnahmen zu begegnen. Im Zuge seines Wahlversprechens "den Leuten die Erdöleinnahmen auf den Tisch zu bringen", ließ Präsident Mahmoud Ahmadinedschad beispielsweise gleich zu Beginn seiner ersten Amtszeit den "Imam Reza Wohltätigkeitsfonds" einrichten. Damit sollte jungen Leuten geholfen werden, eine Arbeit zu finden und sich eine Hochzeit und ein Haus leisten zu können. Diese populistische Allokationspolitik zeigte nur bedingt die beabsichtigte Wirkung. Zwar konnte sich Ahmadinedschad in den unterprivilegierten sozialen Schichten weithin erfolgreich als Vertreter der Armen profilieren; gleichzeitig wurde jedoch die zweistellige Inflationsrate weiter angeheizt. Auch der Unmut in den gebildeten modernen Mittelschichten über die Marginalisierung der intellektuellen Elite, die neuerliche Verschärfung sozialer Restriktionen und den reformpolitischen Rückwärtsgang ließ sich damit nicht beschwichtigen.

Das Private ist politisch

Seit ihren Anfängen ist eine strikte Reglementierung des Alltagslebens und der Geschlechterbeziehungen konstitutiv für das religiös-politische Selbstverständnis der Islamischen Republik, die eine "makellose Gesellschaft" schaffen wollte. Eine speziell eingerichtete Moralpolizei erzwang mit dem Auftrag, "das Gute durchzusetzen und das Schlechte zu verbieten" islamische' Verhaltensweisen am Arbeitsplatz, auf den Straßen und in den Parks der Städte. Zentral in diesem Zusammenhang wurden die für Frauen vorgeschriebene "islamische Bedeckung" (hedschab) und die Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum. Seit Ende der 1990er Jahre ließen sich zunehmend weniger Menschen durch die Moralpolizei einschüchtern. Viele Frauen und Männer lehnten die staatliche Reglementierung ihres Alltagslebens unter dem Vorzeichen des Islam ab und favorisierten eine Individualisierung und Privatisierung der Religionsausübung. Insbesondere in den großen Städten überschritten die jungen und gebildeten Angehörigen der modernen Mittelschichten in ihrem Alltagsverhalten unübersehbar die Tugend-Regeln der "Republik der Frömmigkeit". Verkleinerte und farbenfrohe Kopftücher, Lippenstift, figurbetonte Mäntel, Wochenendpartys im Freundeskreis oder Satellitenschüsseln, die zuvor die Tugendbrigaden alarmiert hatten, wurden zu Selbstverständlichkeiten.

Während in der Reform-Ära unter Präsident Mohammed Chatami (1997 bis 2005) die sozialen Restriktionen in Alltagsleben, Freizeitverhalten und den sozialen Beziehungen der Geschlechter gelockert worden waren, setzte mit der neokonservativen Machtverschiebung seit 2005 ein moralpolitischer Backlash ein. Im Einklang mit den konservativen kulturellen Vorstellungen ihrer Machtbasis unter den städtischen und ländlichen Armen, den Revolutionsgarden und Basidsch-Verbänden und unterstützt von Teilen der traditionsverhafteten Geistlichkeit, leitete die Regierung unter Präsident Ahmadinedschad energische Schritte ein, die kulturelle Liberalisierung der Reformära rückgängig zu machen und die vermeintlich authentischen islamischen Werte der Revolution wieder durchzusetzen. Die neuerlichen staatlichen Bemühungen, Alltagsverhalten und Privatleben der Bevölkerung islamistisch zu gängeln, verschärften die Frustrationen zahlloser junger Frauen und Männer, die sich beruflich und privat um ihre Lebenschancen wie um ihre kleinen Freiheiten betrogen sahen. Im Frühling 2006 war die Moralpolizei wieder allgegenwärtig, verhaftete oder maßregelte Passanten wegen ihrer Kleidung oder ihres Verhaltens, konfiszierte Satellitenschüsseln und bestrafte Händler, die "unangemessene" Bekleidungsartikel verkauften. Beliebte Restaurants, Café-Treffpunkte junger Leute, Schönheitssalons, Sportstudios und Privathäuser wurden zur Zielscheibe der Tugend-Wächter.

Auch der Erfahrungsraum der jungen Generation im Iran ist heute von globalen Dynamiken bestimmt. Hunderttausende haben Kontakte zur iranischen Diaspora. Zahllose Jugendliche, die medial zwischen Teheran und Tehrangeles vernetzt sind, vergleichen die Verheißungen der globalen Konsumgesellschaft und die Bilder jugendlicher Lebenswelten anderswo nicht nur mit den restriktiven Möglichkeiten, die ihre eigene Gesellschaft ihnen bietet, sondern sie leiten aus den wahrgenommenen Ungleichheiten den Impuls ab, gegen ihre Einschränkungen zu rebellieren. Dabei setzen sie nicht zuletzt diejenigen Mittel ein, durch die sie sich subjektiv als Teil des globalen Bezugsrahmens erleben können. Nicht untypisch für viele Jugendliche aus den materiell privilegierteren Schichten Teherans mag folgende Äußerung der jungen Anahita sein: "Oh, es ist die meiste Zeit so langweilig. Wir sehen im Satelliten-Fernsehen, wie frei und glücklich die Jugend in anderen Ländern ist. Aber schauen Sie uns an: wir können uns nicht kleiden, wie wir wollen, können nicht die Musik hören, die uns gefällt, wir können nicht mit einem Jungen sprechen ohne Angst schikaniert oder verhaftet zu werden. Uns wird die ganze Zeit vorgehalten, was gut und was schlecht ist. Und wir machen das Gegenteil!"

Wo Alltagsleben und Freizeitverhalten so weitgehend politisiert sind wie im Iran, nehmen "spielerische Rebellionen" im Hinblick auf Kleidung, Frisur oder bevorzugte Musik, mit denen Jugendliche anderswo sich einfach nur von der Elterngeneration abgrenzen mögen, rasch die Funktion widerständiger kommunikativer Statements gegenüber dem Regime an, auch wenn sie gleichzeitig Elemente einer globalisierten kapitalistischen Konsumkultur sein und nur wenig nachhaltiges emanzipatorisches Potential bergen mögen. Im Hinblick auf den ambivalenten Charakter der von ihren Interviewpartnerinnen zur Schau getragenen Verhaltensweisen bemerkt Pardis Mahdavi kritisch: "Ich fragte mich, ob es um Opposition gegen die Islamische Republik ging, wenn sie ein Gucci-Kopftuch trugen, einen Martini tranken oder zahlreiche Boyfriends hatten oder ob sie einfach wie die Frauen in "Sex and the City" sein wollten ... und weil sie sich als Teil einer wohlhabenden und eleganten Elite sahen." Im Hinblick auf das freiere Sexualverhalten unter Jugendlichen machen Norma Claire Moruzzi und Fatemeh Sadeghi kritisch auf die fort dauernde asymmetrische Machtverteilung zwischen Jungen und Mädchen in der Privatsphäre und eine ungebrochene sexuelle Doppelmoral aufmerksam.

Zahllose Jugendliche quer durch alle Schichten ersehnen nicht unbedingt einen Regimewechsel, aber ein Leben mit mehr Freiheiten, ohne die rigiden sozialen Restriktionen des Alltagsverhaltens und ohne staatliche Sittenwächter. "Ich will mit meiner Freundin Hand in Hand durch die Straßen laufen dürfen", erklärte ein junger Mann während der Demonstrationen im Juni 2009.

Die Basidsch-Jugend

Wie andere Allokationsstaaten verfügt das iranische Regime über enorme Kapazitäten, durch eine politisch motivierte, an Legitimation und Machterhalt orientierte Verteilung der Öl-Einkünfte eine soziale Basis zu schaffen oder zu erhalten. Umfangreiche wohlfahrtspolitische Maßnahmen in den Jahrzehnten nach der Revolution beseitigten die schlimmste Armut und knüpften für die städtischen und ländlichen Unterschichten ein substanzielles soziales Netz. Heute verfügen beispielsweise 80 Prozent der ländlichen Haushalte über eigene Kühlschränke, 77 Prozent über Fernsehgeräte und 76 Prozent über Gas-Öfen. Hunderttausende Familien erhielten Arbeitsplätze und Unterstützungsleistungen von Seiten der Bonyads, der ökonomisch und politisch machtvollen religiösen Stiftungen. Seit Ende der 1990er Jahre kam es zu einer deutlichen Ausdifferenzierung kultureller Einstellungen, die weithin entlang sozialer Spaltungslinien verliefen. Während in den modernen städtischen Mittelschichten Wünsche nach einer freieren Gestaltung des Alltags- und Privatlebens immer lauter wurden, fühlten sich zahlreiche Familien, die zu den Klienten des Regimes zählten, wie beispielsweise Familien von Kriegsgefallenen und -veteranen, die zumeist aus einfacheren Verhältnissen stammten, verpflichtet, die moralischen Werte der Revolution wie die ihnen staatlich gewährten Privilegien zu bewahren und zu verteidigen.

An vorderster Front gegen die angeblichen Bedrohungen der nationalen Sicherheit durch "Feministinnen, Derwische, Teufelsanbeter, Journalisten, Blogger, säkular orientierte Studenten und Intellektuelle und Reformisten" werden heute die Basidsch-Verbände mobilisiert. Die Basidsch-Milizen sind Freiwilligenverbände von jungen Männern und Frauen, die ursprünglich zur Verteidigung der Revolution nach innen und außen gebildet worden waren. Die Mitglieder stammen zumeist aus ärmeren sozialen Schichten, mehr als ein Drittel sind Frauen, die "Basidsch-Schwestern". Ein Basidsch verkörpert gleichsam das offizielle Jugendideal der Islamischen Republik: Er bzw. sie kämpft für die islamischen Werte und gegen Ungerechtigkeit, ist demütig vor Gott, rechtschaffen und rein und hält sich von moralischen Übeln fern.

Während nach Schätzungen der International Crisis Group drei bis sechs Millionen Menschen auf der Lohnliste der Organisation stehen, sind mindestens 200 000 von ihnen aktive Mitglieder, und etwa eine Million könnten in einer Krisensituation mobilisiert werden. Insbesondere in Kleinstädten und in der Provinz bilden die Basidsch mehr eine soziale Gruppierung als eine Miliz. Ein 24-jähriges Mitglied erzählt: "Der einzige Grund, weshalb ich bei den Basidsch bleibe, ist das Geld (95 000 Toman im Monat, entspricht 107 US-Dollar). Viele meiner Freunde bei den Basidsch sind unglücklich mit der Regierung." Seit dem Amtsantritt Ahmadinedschads 2005 wurde das Budget der Organisation, die formell den Revolutionsgarden unterstellt ist, drastisch erhöht. Basidsch erhalten zahlreiche Vergünstigungen wie bevorzugten Zugang zu Universitäten, Jobs und Wohnraum sowie Mobiltelefone und Kredite, Basidsch-Studenten oftmals staatliche Stipendien. Für zahlreiche junge Frauen und Männer bietet die Organisation somit eine verlockende Perspektive für den ersehnten sozialen Aufstieg.

Mit ihrer privilegierten Position dehnen sich die Basidsch heute in verschiedene Sphären der Zivilgesellschaft aus, um soziale Unruhen zu unterbinden. Die Aktivistinnen der Basidsch-Schwestern engagieren sich vorrangig für die Wiederherstellung der "moralischen Ordnung" im öffentlichen Raum, gegen "unzureichende Bedeckung" ("bad hedschab") und für ein traditionelles weibliches Rollenverständnis. Zahlreiche Basidsch beurteilen den Lebensstil ihrer jungen Altersgenossen aus den privilegierteren sozialen Schichten gemäß der Propaganda der Hardliner: "Sie sind Opfer der kulturellen Invasion, die der Imperialismus gegen uns und andere Muslime organisiert (...) mit Satelliten-TV-Kanälen, Irangelesi Musik und sexy (pornographischen) Filmen. (...) All dies soll unsere revolutionären Werte zerstören."

Viele Jugendliche aus den wohlhabenden Vierteln Nord-Teherans begegnen ihren Altersgenossen aus dem armen Süden der Hauptstadt mit Herablassung und Verachtung. Umgekehrt genießen Jugendliche aus der Arbeiterschicht, die sich den Basidsch-Milizen angeschlossen haben, ihre Machtbefugnisse in den "alltäglichen Klassenkonflikten" auf der Straße: "Es hat einfach Spaß gemacht, die reichen (...) Kids aus Nord-Teheran zu ärgern. (...) Wir stellten ein Stop - Check Point Zeichen auf und ärgerten reiche Kids in ihren ausländischen Autos. Wenn einer ein schönes Mädchen in seinem Auto hatte, ärgerten wir ihn noch mehr. Manchmal, wenn wir einen nicht mochten, schnitten wir ihm die Haare, um ihn vor den Mädchen herabzusetzen."

Perspektiven

Zweifellos prägen die unterschiedlichen sozialen Zugehörigkeiten der jungen Frauen und Männer ihre jeweiligen politischen Präferenzen und soziokulturellen Orientierungen. Unter den Jugendlichen aus dem ländlichen Raum und den städtischen Armenvierteln finden sich sicherlich mehr Anhänger des Regimes als unter Studierenden aus den modernen Mittelschichten Teherans. Gleichzeitig entziehen sich zahlreiche junge Menschen gängigen und vereinfachenden Zuordnungen. So begegnet Khosravi beispielsweise einem jungem Basidsch, der aus einer wohlhabenden Teheraner Arztfamilie stammt oder einem jungen Dorfschullehrer, der über Habermas diskutieren möchte. Nicht wenige säkular orientierte Jugendliche wenden sich der Religion in einer modernisierten Form von Sufi-Mystik ("Sufi-Cool") zu und veranschaulichen dergestalt die Vereinbarkeit von Religiosität und Lebensfreude.

Die Beispiele verweisen auf eine komplexe und dynamische soziale Realität, in der Jugendliche sich in Iran bewegen und handeln. Angesichts weitreichender sozialer Restriktionen und politischer Repression verabschieden sich viele junge Menschen in die innere oder äußere Emigration. Hunderttausende haben sich der Protestbewegung angeschlossen und versuchen mit demokratischen Mitteln eine freiere Gesellschaft zu erringen. Die Hoffnung, dass die Sehnsucht nach Freiheit sich nicht dauerhaft unterdrücken lässt, beschwört der eingangs erwähnte Song junger Teheraner Demonstranten: "Himmel, lass es regnen auf diese dunkle Nacht/in der sie das Feuer auf Liebende eröffnen/sie antworten uns mit Blei und Kugeln/Aber, Mann mit der Axt: Der Wald stirbt nicht." Realistisch betrachtet mag die Zukunft der Reformbewegung nicht zuletzt auch davon abhängen, wie weit sie überzeugende Antworten auf die sozialen Nöte der jungen und alten Menschen aus den ärmeren Schichten der Bevölkerung findet.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Sharam Khosravi, Young and Defiant in Tehran, Philadelphia 2008, S. 133.

  2. Vgl. Naj, Neda ye Sohrab vom 29.7.2009, in: http://iranfacts.blogspot.com (12.11.2009).

  3. Vgl. Djavad Salehi-Isfahani/Daniel Egel, Youth Exclusion in Iran, Middle East Youth Initiative Working Paper (2007) 3, S. 6ff.

  4. Vgl. Norma Claire Moruzzi, Paradise Lost, Gone Shopping, in: Middle East Report, (2007) 245, S. 42.

  5. Vgl. Navid Kermani, Die Revolution der Kinder, München 2001; Kaveh Basmenji, Tehran Blues. Youth Culture in Iran, London 2005; Azar Nafisi, Lolita lesen in Teheran, München 2005; Azadeh Moaveni, Lipstick Jihad, New York 2005; Roxanne Varzi, Warring Souls. Youth, Media, and Martyrdom in Post-Revolutionary Iran, Durham-London 2006; S. Khosravi (Anm. 1); Pardis Mahdavi, Passionate Uprisings. Iran's Sexual Revolution, Stanford 2009.

  6. Vgl. N. Moruzzi (Anm. 4), S. 42f.; P. Mahdavi (Anm. 5), S. 7ff.

  7. Vgl. Amartya Sen, Social Exclusion: Concept, Application, and Scrutiny, Manila 2000; Hilary Silver, Social Exclusion: Comparative Analysis of European and Middle Eastern Youth, Middle East Youth Initiative Working Paper, (2007) 1.

  8. Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim, Generation global und die Falle des methodologischen Nationalismus. Für eine kosmopolitische Wende in der Jugend- und Generationssoziologie, in: Dirk Villány/Matthias D. Witte/Uwe Sander (Hrsg.), Globale Jugend und Jugendkulturen, Weinheim-München 2007, S. 71.

  9. Gemeint ist die große iranische Exil-Community in Los Angeles.

  10. Vgl. U. Beck/E. Beck-Gernsheim (Anm. 8), S. 56f.

  11. Vgl. Ervand Abrahamian, Why the Islamic Republic Has Survived, in: Middle East Report, (2009) 250; Eric Hooglund, Thirty Years of Islamic Revolution in Rural Iran, in: ebd.

  12. Vgl. E. Hooglund (Anm. 11), S. 37.

  13. Vgl. E. Abrahamian (Anm. 11), S. 13.

  14. Vgl. Janet Afshar, Sexual Politics in Modern Iran, Cambridge 2009, S. 305.

  15. Vgl. D. Saleh-Isfahani/D. Egel (Anm. 3), S. 6 und S. 22.

  16. Vgl. N. Kermani (Anm. 5), S. 99.

  17. Vgl. International Crisis Group, Iran: What Does Ahmadi-Nejad's Victory Mean?, Middle East Briefing No. 18, Tehran-Brussels 2005, S. 7, Anm. 51.

  18. Vgl. D. Saleh-Isfahani/D. Egel (Anm. 3), S. 5.

  19. Vgl. Anoush Ehteshami/Mahjoob Zweiri, Iran and the Rise of Its Neoconservatives, London-New York 2007, S. 62ff.

  20. Azam Khatam, The Islamic Republic's Failed Quest for the Spotless City, in: Middle East Report, (2009) 250, S. 46.

  21. Vgl. A. Ehteshami/M. Zweiri (Anm. 19), S. 91f.

  22. Vgl. A. Khatam (Anm. 20), S. 44ff.

  23. Vgl. P. Mahdavi (Anm. 5), S. 22.

  24. Zit. nach K. Basmenji (Anm. 5), S. 25.

  25. Vgl. P. Mahdavi (Anm. 5), S. 8f.

  26. Vgl. Norma Claire Moruzzi/Fatemeh Sadeghi, Out of the Frying Pan, Into the Fire. Young Iranian Women Today, in: Middle East Report, (2006) 241, S. 22ff.

  27. P. Mahdavi (Anm. 5), S. 37.

  28. Vgl. N. Moruzzi/F. Sadeghi (Anm. 26), S. 26f.

  29. Spiegel Online vom 6.6. 2009, siehe: www. spiegel.de/politik/ausland/
    0,1518,628932,00.html (3.11. 2009).

  30. Vgl. Giacomo Luciani, Allocation vs. Production States. A Theoretical Framework, in: Hazem Beblawi/Giacomo Luciani (eds.), The Rentier State, London-New York-Sydney 1987, S. 63ff.

  31. Vgl. E. Abrahamian (Anm. 11), S. 13ff.; Wilfried Buchta, Who Rules Iran, Washington D.C. 2000, S. 73ff.

  32. Vgl. A. Khatam (Anm. 20), S. 46.

  33. Zit. nach Fatemeh Sadeghi, Foot Soldiers of the Islamic Republic's "Culture of Modesty", in: Middle East Report, (2009) 250, S. 51.

  34. Ebd., S.50ff.

  35. Vgl. S. Khosravi (Anm. 1), S. 29.

  36. Zit. nach International Crisis Group (Anm. 17), S. 6, Anm. 38.

  37. Vgl. F. Sadeghi (Anm. 33), S. 51ff.

  38. Zit. nach S. Khosravi (Anm. 1), S. 77f.

  39. Ebd., S. 70ff.

  40. Zit. nach ebd., S. 39.

  41. Vgl. ebd., S. 38f.

  42. Ebd., S. 172.

  43. Vgl. R. Varzi (Anm. 5), S. 21.

Dr. rer. soc. habil.; Professorin für Politikwissenschaft und ihre Didaktik am Institut für Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.
E-Mail: E-Mail Link: kreile@ph-ludwigsburg.de