Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Erkenne Dich selbst: Frauen - Mütter - Emanzipation - Essay | Frauen in Europa | bpb.de

Frauen in Europa Editorial Geschlecht als wichtige Kategorie der Sozialstrukturanalyse - Essay Gleichstellung in Deutschland im europäischen Vergleich Unter den Rockschößen der Europäischen Kommission Neue Wege für Musliminnen in Europa Geschlechterbeziehungen im (Post-)Sozialismus Erkenne Dich selbst: Frauen - Mütter - Emanzipation - Essay Care, Migration und Geschlechtergerechtigkeit Anerkennung und Respekt - Geschlechterpolitik jenseits des Gender Trouble - Essay

Erkenne Dich selbst: Frauen - Mütter - Emanzipation - Essay

Barbara Vinken

/ 14 Minuten zu lesen

Der spezifisch (west-)deutsche Glaube, Kinder gediehen einzig und allein unter der Vollzeitfürsorge einer liebenden Mutter, und das daran gekoppelte Diktum der Unvereinbarkeit von Kind und Karriere sind Irrtümer, die einen hohen Preis fordern.

Einleitung

Erkenne Dich selbst - das, so meinte schon der alte Sokrates - sei das höchste Ziel aller intellektuellen Bestrebungen. Schon daran sieht man, dass das mit der Selbsterkenntnis nicht so leicht ist. Selbsterkenntnis ist aber die Bedingung der Möglichkeit für Veränderung. Wir verkennen uns etwa selbst - und zwar gründlich - wenn wir unsere kulturellen Prägungen für natürlich halten; ein Irrtum, der im Moment in der Luft liegt. Besonders gern halten wir kulturelle Prägungen für in der Natur der Sache liegend, wenn es um das scheinbar Natürlichste der Welt, nämlich um Kinderkriegen und Kindererziehung geht. Hier scheint Mutter Natur höchst persönlich zu dekretieren, was für unsere Kinder gut und was für sie schlecht ist. Sich ihren Anordnungen zu widersetzen, würde auf Kosten unserer Kinder gehen.

Alle Umfragen belegen es in nun fast schon ermüdender Regelmäßigkeit immer wieder neu, dass wir in Deutschland - und besonders in Westdeutschland - ein Wissen haben, das dem Rest der Welt verborgen geblieben ist. Ich zitiere aus der lakonischen Zusammenfassung der letzten Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zum leidigen Dauerbrenner Vereinbarkeit von Familie und Beruf: "Die westdeutsche Bevölkerung hat eine völlig andere Einstellung zur Fremdbetreuung von Kindern als die ostdeutsche oder die französische Bevölkerung. Den Zeitpunkt, von dem an Kinder unbesorgt in eine Betreuungseinrichtung gegeben werden können, setzt die westdeutsche Bevölkerung bei knapp drei Jahren an, die ostdeutsche bei anderthalb Jahren, die französische Bevölkerung vor der Vollendung des ersten Lebensjahrs. In Ostdeutschland wird die ganztägige Betreuung von Kindern im Hort oder in der Schule von 60 Prozent der Eltern positiv gesehen, in Westdeutschland nur von 24 Prozent."

Nichts scheint uns, die Westdeutschen, in der Überzeugung, dass es Kleinkindern schadet, wenn die Mutter sich nicht höchstpersönlich 24 Stunden lang um sie kümmert, erschüttern zu können. Alle Umfragen kommen hier einmütig zum selben Ergebnis. Der Gender-Datenreport des Familienministeriums Ende 2005 wartete mit folgenden Daten auf: 70 Prozent der westdeutschen Männer und 56 Prozent der westdeutschen Frauen im Alter zwischen 16 und 29 Jahren stimmen der Aussage zu: "Ein Kleinkind wird sicherlich darunter leiden, wenn die Mutter berufstätig ist."

Da aber nicht davon auszugehen ist, dass die deutsche Natur von der dänischen oder der französischen grundsätzlich verschieden ist und andere unumstößliche Wahrheiten verkündet, sollten wir diese Fiktion von der Stimme der Natur vielleicht aufgeben. Denn in Dänemark oder Frankreich werden die Kleinkinder in der allergrößten Mehrheit "fremdbetreut" - und kein Mensch glaubt, dass sie darunter leiden. Im Gegenteil. Man hält das für förderlich. In Dänemark werden 78 Prozent der ein- bis zweijährigen Kleinkinder ganztägig in Krippen betreut, in Frankreich sind es 30 Prozent (das liegt am hohen Prozentsatz der assistance maternelle, der Tagesmütter und der Au-pair-Mädchen, die oft die Kinder bis zum dritten Lebensjahr betreuen) - und in Westdeutschland 2,5 Prozent. Sie, diese Kinder, weisen nicht die Symptome auf, die einem hierzulande mit drohend besorgter Stimme angekündigt werden, sollte man sich für die frühe "Fremdbetreuung" und sogar ganztägige Betreuung entscheiden. Die Dänen oder Franzosen, die jetzt um die 30, 40 Jahre alt und bereits zu großen Prozentsätzen "fremdbetreut" worden sind, sind nicht neurotischer als die Deutschen gleichen Alters; sie sind nicht flächendeckend beziehungsgestört und haben nicht mehr Schlafstörungen oder Aufmerksamkeitsdefizite als auch sonst üblich. Also sollten wir unsere tiefsten Überzeugungen, die wir für schlechthin natürlich halten, überprüfen.

"Fremdbetreuung" und Vollzeitmütter

Der Überzeugung der Eltern in Frankreich oder Dänemark entspricht eine gesellschaftliche Praxis: Kinder kommen in Frankreich und Dänemark nun mittlerweile seit gut 30 Jahren tatsächlich zu großen Teilen zwischen drei Monaten und einem Jahr in eine Ganztagskrippe, danach in einen Ganztagskindergarten und in eine Ganztagsschule. Dasselbe gilt für Kinder in Skandinavien. Die Krippen werden in diesen Ländern in erster Linie nicht von den Eltern in Anspruch genommen, die beide arbeiten müssen, wie es in Deutschland so schön heißt: von den Müttern, die es sich schlicht nicht leisten können, da zu bleiben, wo sie vielleicht nach ihrer eigenen Meinung, sicher aber nach der der Gesellschaft hingehören, nämlich zu ihrem Kind nach Hause. Nein, im Pariser Großraum sind es die gut ausgebildeten Schichten, die der Krippe nicht nur vorbehaltlos gegenüberstehen, sondern sie für ihre Kinder sogar ausgesprochen förderlich finden.

Nun gibt es zwischen deutschen, französischen, dänischen und schwedischen Kindern unbestritten bedeutende Unterschiede. Auch die sind nicht natürlich. Französische Kinder etwa gelten den einen besser erzogen als deutsche Kinder, und den anderen - eben je nach Perspektive - als autoritär gedrillt. Und die Auffassung davon, was ein Kind ist, könnte in Deutschland und Frankreich nicht gegensätzlicher sein. In Frankreich gelten Kinder als kleine Wilde - oder wie die Mütter am Swimmingpool so nett sagen: "Les petits monstres vont revenir." Sich völlig empathiefrei um sich selbst drehend, müssen sie mühsam an den Genuss der Zivilisation und das vollgültige Menschsein herangeführt werden. In Deutschland gelten Kinder dagegen als unverdorbene Menschen im Naturzustand und die Kindheit als eine Art Paradies; die gefallene Welt gilt es möglichst lange von kindlicher Unverdorbenheit fernzuhalten. Auch das sind lange, kulturelle Prägungen.

Dass aber die schwedischen, dänischen oder französischen Erwachsenen, die "fremdbetreut" wurden, zu einem signifikant höheren Prozentsatz als die deutschen Erwachsenen, die zu großen Prozentsätzen in der Familie erzogen worden sind, an den oben genannten Symptomen - Schlafstörungen, Beziehungsunfähigkeit, Aufmerksamkeitsdefiziten - leiden, das hat bei all dem, was wissenschaftliche Studien so zutage fördern, noch nie eine Studie belegt.

Es scheint also - geht man nach Faktenlage, was durchaus von Vorteil ist - egal zu sein, ob die Kinder in der Familie, sprich von der Mutter, oder in einer Kinderkrippe erzogen werden. Sie scheinen so oder so zu blühen und zu gedeihen. Obwohl man sich schon ein bisschen Sorgen macht, ob sie sich, mit Mama allein, meistens als Einzelkinder, nicht arg langweilen. Und es in der Schule natürlich auch flotter ginge, wenn sie schon mal an Gruppen gewöhnt wären. Und die Kinder von Menschen, die in der Familie nicht deutsch sprechen, Deutsch nach Krippe und Kindergarten zweifelsfrei fließend beherrschen würden. So fest wir also zu wissen glauben, dass es das Beste für die Kinder ist, wenn die Mütter mindestens die ersten drei Jahre ganz und später halbtags zu Hause bleiben, und so entschieden dies immer wieder von einer Fraktion von Psychologen, Kinderärzten und Familiennetzwerken verkündet wird, so müssten uns die Fakten eines Besseren belehren. Kinder werden auch gro, gesund und glücklich - und manchmal eben auch nicht - ganz unabhängig davon, ob die Mütter Vollzeit, Teilzeit oder gar nicht berufstätig sind.

Besonders pikant ist zudem, dass sich die Arbeitszeit der Mütter auf die Zeit, die sie tatsächlich mit ihren Kindern verbringen, nicht auswirkt. Europaweit verbringen Mütter unabhängig von ihrer Arbeitszeit ungefähr die gleiche Zeit mit ihren Kindern: deutsche Mütter also nicht mehr als ihre finnischen, dänischen oder französischen Nachbarinnen, die wesentlich mehr Zeit für ihren Beruf verwenden.

Es ist also schlichte Verkennung, wenn wir glauben, mit unserer Ideologie der Vollzeitmutter der Stimme der Natur zu folgen. Wir folgen einer sich im Moment in jeder Hinsicht besonders unglücklich auswirkenden, sehr spezifischen, historisch zu erklärenden kulturellen Prägung. Statt an Ideologie zu hängen, sollte man der Empirie eine Chance geben. Statt die Prägungen für naturgegeben zu halten, sollten wir uns bemühen, sie zu analysieren und zu verstehen.

Fehlende Gleichheit der Geschlechter

Wir verkennen uns selbst und die Sachlage genauso gründlich, wenn wir annehmen, dass die Geschlechterverhältnisse in Deutschland emanzipiert wären - was die meisten so selbstverständlich wie irrtümlich tun. Das können wir jedenfalls nur dann annehmen, wenn wir einen grundsätzlich anderen Begriff von Emanzipation haben, als den, der im Rest der Welt üblich ist. Grob gilt international, dass ein geschlechtsunabhängiger Zugang zu Macht, Geld und Autorität emanzipierte Zustände charakterisiert. Und dass sich das in den Löhnen, in den Karrieren, in den sozialen Sicherungssystemen, kurz: in einer finanziellen Angleichung zwischen Männer- und Frauenlöhnen niederschlägt.

Nun haben die Frauen in Deutschland die Männer bei den Bildungsabschlüssen zwar mittlerweile eingeholt oder sie sogar überholt. Das hat sich aber in ihren Karrieren nicht signifikant niedergeschlagen. Denn zwar arbeiten deutlich mehr Frauen als vor 30 Jahren, die Erwerbsquote ist stark gestiegen, das weibliche Arbeitsvolumen hat aber kaum zugenommen und somit ist auch keine signifikante Verbesserung der weiblichen Karrieren zu verzeichnen. So liegt man in Deutschland, was den Verdienstunterschied zwischen Frauen und Männern angeht, deutlich über dem europäischen Durchschnitt; der Prozentsatz weiblicher Mitglieder in Aufsichtsräten sieht nicht besser aus. Unter den 49 durch den European Research Council (ERC) geförderten Spitzenforschern in Deutschland befand sich 2010 eine Frau - unsere europäischen Nachbarn haben da ganz andere Zahlen. Diese Beispiele sind willkürlich herausgegriffen und die Liste ließe sich beliebig verlängern.

Beides - fehlende Gleichheit der Geschlechter und die Vorstellung davon, wie die Kinder erzogen werden sollen - hängen zusammen. Im Fachjargon heißt das, dass der deutsche Arbeitsmarkt sich durch extreme Geschlechtersegregation von den europäischen Arbeitsmärkten unterscheidet. Sprich: Frauen und Männer haben hierzulande zum einen ganz unterschiedliche Karrierewege und sie wählen zum anderen "typisch weibliche" und "typisch männliche" Berufe.

Der den Arbeitsmarkt in Deutschland im Gegensatz zu allen europäischen Ländern am stärksten segregierende Faktor ist die lange Babypause und die darauf folgende Teilzeit, in der so gut wie ausschließlich Frauen arbeiten: "Ein 'typisch weiblicher' Berufsweg ist meist von mehrjährigen Unterbrechungen geprägt, nach denen viele Frauen nicht mehr in eine Vollzeiterwerbstätigkeit zurückkehren. 84 Prozent der Mütter unter 45 Jahren haben ihre Berufstätigkeit einmal oder wiederholt unterbrochen, um ihre Kinder zu betreuen, von den Vätern unter 45 Jahren hingegen nur knapp 10 Prozent." Der Prozentsatz von Frauen, die zwischen dem 25. und dem 45. Lebensjahr, der entscheidenden Phase im Berufsleben, in Teilzeit arbeiten, ist mehr als dreimal so hoch wie der von Männern der gleichen Altersgruppe. In Teilzeit macht man keine Karriere, und in typisch weiblichen Berufen verdient man schlecht.

Dennoch strebt die Mehrheit der Frauen sehenden Auges weiterhin eine Teilzeitstelle an: "Trotz der gestiegenen Erwerbsquote und Berufsorientierung von Frauen ist die Vollzeitberufstätigkeit in Deutschland auch heute lediglich das Ideal einer Minderheit." Knapp 60 Prozent der Frauen bis zu 45 Jahren hält die Verbindung von Mutterrolle und Teilzeitbeschäftigung für ideal. Also keine Karriere zu machen, auf einen Mann als Hauptverdiener angewiesen zu sein, in dessen finanzielle Abhängigkeit man sich begibt und sich bei einer Scheidung - in Westdeutschland ein Risiko von über 40 Prozent - oft in einer finanziell prekären Situation wiederzufinden.

Und warum? Weiblicher Masochismus? Angst vor der sogenannten Doppelbelastung? Schlichte Feigheit, Kneifen vor der Bewährung im Beruf, Faulheit? Frau hat ja im Studium bewiesen, dass sie sowieso klüger als die Jungs ist, warum sich jetzt noch ein Bein ausreißen? Lust daran, sich von einem Mann ausgehalten zu wissen? Die Allensbach-Umfrage weiß es besser: "Diese Präferenzen gründen nicht nur in der Sorge, sich selbst zwischen einer Vollzeitstelle und der Mutterrolle zu überfordern, sondern auch in der weitverbreiteten Überzeugung, dass eine stärkere Berufsorientierung von Frauen zu Lasten der Kinder geht." All das also eines Irrglaubens wegen.

Deutsche Mütter unter Perfektionsdruck

"Was soll's?", könnte man nun sagen. Diesen Irrglauben können wir uns leisten - und wir leisten ihn uns, überzeugt davon, dass wir Recht haben. Er ist vermutlich der vom Staat durch das Ehegattensplitting am Besten geförderte Irrtum, den es je in der Geschichte gab. Warum sollen sich die Frauen von der Wirtschaft auf den Arbeitsmarkt drängen lassen? Warum sollen sie nicht zu Hause bleiben? Warum soll man emanzipiert sein müssen? Gut, es gibt ein paar Kollateralschäden: die alleinerziehenden Mütter, die Kinder von nicht deutschsprachigen Eltern, die Kinder, deren Mütter arbeiten müssen und die deshalb die Defizite der Schule nicht im Heimunterricht ausgleichen können, die nach der neuen Unterhaltsregelung geschiedenen Mütter mit zwei Kindern, die irgendwann Ende 30, wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind, anfangen, halbtags zu arbeiten und denen dann mit Anfang 40 die Scheidung ins Haus steht. Aber im Großen und Ganzen ...

Leider sieht es auch im Großen und Ganzen nicht gut aus. Das hört sich in der von einer Babynahrungsfirma in Auftrag gegebenen Studie des Instituts Rheingold von 2010 so an: "Der schöne Schein trügt. Viele deutsche Mütter sind verunsichert, fühlen sich oft genug überfordert und sehen sich einem permanenten Perfektionsdruck ausgesetzt. Zwar tragen 78 Prozent der befragten Frauen Gelassenheit als große Vision beim Thema Kinderkriegen und Kinderhaben vor sich her, doch nur 44 Prozent fühlen sich beim Thema Kinder wirklich entspannt. Tief in ihnen brodeln elementare Verlustängste und eine tiefe Unzufriedenheit. Sie sehen sich dem Druck ausgesetzt, als Mutter stets 'funktionieren' zu müssen und sich von ihrer inneren Zerrissenheit zwischen liebender Mutter und attraktiver bzw. erfolgreicher Frau nichts anmerken lassen zu dürfen. Kinderkriegen ist in Deutschland keine Selbstverständlichkeit mehr." Es mag sein, dass wir den Irrglauben zu unser aller Glück aufgeben, von deutschen Sonderpfaden ablassen und uns auf europäische Straßen begeben müssen.

Deutschland zeichnet sich nicht nur durch ein im weltweiten Vergleich befremdliches Fehlen von weiblichen Karrieren und durch einen im europäischen Maßstab großen Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen, sondern auch durch eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt aus. Unsere französischen oder finnischen Nachbarinnen verdienen nämlich nicht nur deutlich mehr und haben nicht nur deutlich bessere Karrieren; sie haben auch deutlich mehr Kinder. Und das ganz entspannt. In Frankreich ist es normal, Frau zu bleiben, Ärztin zu sein und zwei oder drei Kinder zu haben. Niemand glaubt, dass man eine schlechte Mutter ist, weil man ganztags und engagiert arbeitet; und niemand glaubt, dass man eine unfähige Ärztin ist, die statt schlecht und recht ihrem Beruf lieber ihrer Berufung zur Mutter nachkommen würde. Es ist nämlich normal - heißt: gesellschaftliches Leitbild - Kinder und Berufsarbeit zu vereinbaren. Dasselbe gilt für die skandinavischen Länder. Diese Frauen müssen gar nichts beweisen, sondern leben normal als Mutter und Anwältin, Lehrerin, Unternehmensberaterin oder Laborleiterin. Wie alle andern auch. Sie müssen sich nicht zwischen vollwertigem Beruf und Kindern entscheiden. Sie können einfach beides. Weil sie nichts beweisen und ihr Lebensmodell nicht dauernd rechtfertigen müssen, hat das mit Druck zur Perfektion - Supermami, Superkarrierefrau, Vorzeigegeliebte - gar nichts zu tun.

Ganz anders in Deutschland. Hierzulande haben wir keine Norm, sondern einen Normenkonflikt. Konfliktfrei und mit gutem Gewissen ist beides, Kinder und Karriere, in Deutschland nicht zu haben. Der Normenkonflikt liegt darin, dass man sich auf der einen Seite einig ist, dass Erfolg im Berufsleben auch für Frauen zu einem erfüllten Leben gehört. Wir sehen uns als gleichberechtigte Gesellschaft, die beiden Geschlechtern die gleichen Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt eingeräumt wissen will. Zu unserem Bild eines gelungenen Lebens auch für Frauen gehört finanzielle Autonomie, intellektuelle Stimulanz und das damit einhergehende Selbstwertgefühl. Selten sind die Eltern, die heute noch ihre Töchter darauf trimmen, eine gute Partie zu machen und auf dem Heiratsmarkt erfolgreich zu sein. Alle Umfragen unter jungen Frauen zeigen, dass sie selbstverständlich im Beruf vorwärts kommen wollen. Es genügt, jede beliebige Frauenzeitschrift aufzuschlagen, um zu erkennen, dass eben dies ein erfolgreiches Berufsleben - heiß begehrt ist. Nur schließt das im deutschen Verständnis das Muttersein aus.

Berufstätigkeit und Kinder werden in Deutschland im Gegensatz zum sonstigen Europa nicht als vereinbar, sondern als alternativ aufgefasst: entweder Anwältin oder Mutter. Und das ist keine faktische, sondern eine normative Aussage: Beides geht nicht, ist schlicht unmöglich. Eine Mutter kann morgens in einer Galerie arbeiten oder ein paar Stunden in der Volkshochschule unterrichten, halbtags irgendetwas Interessantes machen, damit sie unter Leute kommt. Alles andere bringt sie in den Geruch, ihre Kinder zu vernachlässigen. Unser deutscher Irrglaube, nur Kinder von nicht voll berufstätigen Müttern würden sich zu normalen, glücklichen Menschen entwickeln, nötigt uns zur Entscheidung zwischen Karriere und Kind - und damit zum Verzicht entweder auf die Kinder oder auf den erfüllenden Beruf.

Kinderkriegen bedeutet in Deutschland, dass Frauen als Mütter mit ihrem Ausscheiden aus dem Beruf oder in Teilzeitarbeit ihre finanzielle Selbstständigkeit aufgeben. Damit wird die Ehe als "Versorgungsanstalt" unumgehbar. "Nirgendwo in Europa wird noch heute das Modell 'allein verdienender Familienvater und nicht erwerbstätige Ehefrau' so stark steuerlich begünstigt wie in Deutschland", so das Berliner Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Deswegen sind die weniger gut verdienenden Familien an der Erhöhung des Kindergeldes und die besser verdienenden Familien am Ehegattensplitting vitaler interessiert als an Ganztagskrippen, -kindergärten und -schulen. Die für das Wohlergehen des Kindes in Kauf zu nehmende Abhängigkeit vom Ehemann führt zum unerbittlichen Einrasten der traditionellen Geschlechterklischees, die man für von gestern hielt: Der Ehemann verdient, die Ehefrau ein bisschen dazu und sorgt sonst unentgeltlich liebend für die Familie. Mit diesem steuerlich subventionierten Geschlechtermodell fällt Deutschland weit hinter seine europäischen Nachbarn zurück, die wesentlich emanzipiertere und erotisch interessantere Modelle entwickelt haben.

Frauen, die sich für Kinder entscheiden, nehmen den Verlust von sozialen Kontakten, von beruflichen Chancen und einschneidende finanzielle Nachteile hin. Vor allem aber büßen sie nach eigenen Aussagen gesellschaftliches Prestige ein. Frauen und Männer, die sich gegen Kinder entscheiden, entscheiden sich damit vor allem gegen die Regression in eine solche Paarstruktur.

Die Leute mit wie die Leute ohne Kinder vereint bei entgegengesetzter Entscheidung eine in Europa einmalige ideologische Verhärtung. Unsere keiner empirischen Prüfung standhaltende "Mutterideologie" erklärt das, was überall um uns herum passiert, zum Tabu: die jenseits der Grenzen und manchmal sogar nebenan in alltäglicher Selbstverständlichkeit vorgelebte Vereinbarkeit von Kindern und Berufsleben. Ob man den Frauen hierzulande nicht gönnt, alles zu haben? Ob wir es uns selber nicht gönnen und immer von doppelter Belastung statt von doppelter Lust reden?

Es ist auch rätselhaft, dass wir es wie ein Fatum hinnehmen, dass wir - aber eben nur wir in Westdeutschland - nicht ganz Frau (ohne Kind) oder nur Frau (ohne Beruf) sein können. Jedenfalls bezahlen wir für die selten ausgesprochene, aber umso wirksamere Ideologie der Vollzeitmutter gesellschaftlich, vor allen Dingen aber in unserem Privatleben einen viel zu hohen, - und das ist die eigentliche Tragik - völlig überflüssigen Preis: überflüssiger Verzicht auf ein erfülltes Berufsleben und alles, was daran hängt, auf der einen Seite; überflüssiger Verzicht auf Kinder auf der anderen Seite, den die meisten Frauen schweren Herzens auf sich nehmen. Höchste Zeit für ein bisschen mehr Selbsterkenntnis.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Renate Köcher, Allensbach-Analyse. Junge Frauen - Wirklichkeit und symbolische Politik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.2.2011, online: www.faz.net/artikel/C30923/allensbach-analyse-junge-frauen-wirklichkeit-und-symbolische-politik-30328540.html (24.7.2011).

  2. Vgl. Waltraud Cornelißen/Christian Dressel/Karin Wolf, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, in: Waltraud Cornelißen (Hrsg.), Gender-Datenreport. 1. Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, München 2005, S. 278-356, hier: S. 307.

  3. Vgl. Barbara Vinken, Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos, erweiterte und aktualisierte Ausgabe, Frankfurt/M. 2007, S. 14.

  4. Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.), Siebter Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit - Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, Mai 2006, S. 30-32, online: www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/
    Abteilung2/Pdf-Anlagen/siebter-familienbericht,
    property=pdf,bereich=,rwb=true.pdf (24.7.2011).

  5. Vgl. R. Köcher (Anm. 1).

  6. Vgl. ERC Advanced Grant 2010. Outcome: Indicative statistics, online: http://erc.europa.en/pdf/Statistcs_AdG2010.pdf (24.8.2011).

  7. R. Köcher (Anm. 1).

  8. Vgl. ebd.

  9. Ebd.

  10. Vgl. ebd.

  11. Vgl. BMFSFJ (Anm. 4), S. 116.

  12. R. Köcher (Anm. 1).

  13. Rheingold Institut für qualitative Markt- und Medienanalysen (Hrsg.), Die deutsche Angst vorm Kinderkriegen, Pressemitteilung vom 24.11.2010, S. 2, online: www.rheingold-online.de/grafik/veroeffentlichungen/PM_
    Studie_Muetter_in_Angst.pdf (24.7. 2011).

  14. Zit. nach: Julia Bonstein/Alexander Jung/Merlind Theile, Generation Kinderlos, in: Der Spiegel, Nr. 37 vom 12.9.2005, S. 62-72, hier: S. 71, online: www.spiegel.de/spiegel/print/d-4768190.htm (25.7. 2011).

  15. Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach, Einflußfaktoren auf die Geburtenrate. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung der 18- bis 44-jährigen Bevölkerung, Allensbach 2004, S. 59.

Dr. phil., Ph.D.; Lehrstuhl für Allgemeine und Französische Literaturwissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität München, Ludwigstraße 25, 80539 München. E-Mail Link: barbara.vinken@lmu.de