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Stalinismus und Erinnerungskultur | Nach dem Ende der Sowjetunion | bpb.de

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Stalinismus und Erinnerungskultur

Stefan Creuzberger

/ 15 Minuten zu lesen

20 Jahre nach dem Ende der UdSSR genießt Stalin bei großen Teilen der postsowjetischen Elite und in breiten Bevölkerungskreisen immer noch einen respektablen Ruf.

Einleitung

Stalin soll heilig werden", titelte die "Süddeutsche Zeitung" im Juli 2008. Sie berief sich auf Vorgänge innerhalb Russlands, die bei Lesern mit einer annähernden Vorstellungskraft vom Ausmaß des stalinistischen Terror- und Gewaltregimes nur verständnisloses Kopfschütteln auslösen mochten. Was war geschehen? In St. Petersburg hatten die dortigen Kommunisten eine Initiative ergriffen und von der Russisch-Orthodoxen Kirche die Kanonisierung des früheren sowjetischen Diktators gefordert. Im Moskauer Patriarchat löste dieser ungeheuerliche Vorstoß eine eindeutige Reaktion aus - er wurde kurzerhand abgelehnt.

Man mag diese für ein Kuriositätenkabinett geeignete Begebenheit im ersten Moment als eine Entgleisung jener Ewiggestrigen abtun, die nach wie vor nicht damit zurechtkommen, dass die Sowjetunion und der Stalinismus ein längst vergangenes Kapitel der russischen Zeitgeschichte darstellen. Doch wie ist in diesem Zusammenhang die Tatsache zu beurteilen, die im Herbst 2008 eine Online-Umfrage des russischen Fernsehkanals "Rossija" ergeben hat? Aufgefordert, sich an der Wahl von Russlands wichtigsten historischen Persönlichkeiten zu beteiligen, votierten über zehn Prozent der rund 4,5 Millionen Befragten für Josef Stalin. Sie kürten ihn zur drittpopulärsten Figur der russischen Geschichte. Stalin lieferte sich in der Gunst der befragten Russen nicht nur ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem zarischen Reformer Pjotr A. Stolypin (Platz 2) und dem mittelalterlichen Nationalheiligen, Fürst Alexander Newski (Platz 1); der sowjetische Despot rangierte sogar vor Russlands Nationaldichter Alexander Puschkin, der erst an vierter Stelle genannt wurde, gefolgt von Zar Peter dem Großen und Wladimir Iljitsch Lenin, dem bolschewistischen Berufsrevolutionär und Begründer der Sowjetunion.

20 Jahre nach dem Ende der UdSSR besitzt Stalin nicht nur bei erheblichen Teilen der postsowjetischen Elite, sondern auch in breiten Bevölkerungskreisen immer noch den Ruf einer starken, respektablen Führerpersönlichkeit. Angesichts solcher Befunde liegt es nahe, auf die Leistungen der jüngsten russischen Geschichts- und Erinnerungskultur zurückzublicken. Wie steht es in Russlands Staat und Gesellschaft um die historische Aufarbeitung des Stalinismus? Wie haben sich die dortigen postkommunistischen Präsidenten - von Boris Jelzin über Wladimir Putin bis hin zu Dmitri Medwedew - gegenüber jener totalitären Diktatur positioniert, die zusammen mit dem Nationalsozialismus am nachhaltigsten die Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt hat? Vor diesem Hintergrund wird die offizielle staatliche Geschichtspolitik für die vergangenen zwei Jahrzehnte analysiert und der geschichtspolitischen Arbeit von russischen Nichtregierungsorganisationen gegenübergestellt.

Tabu

Es gibt kaum eine Familie im heutigen Russland, die nicht in irgendeiner Weise zwischen den späten 1920er und frühen 1950er Jahren von der stalinistischen Gewaltherrschaft persönlich betroffen gewesen ist. Stalin und der Stalinismus haben tiefe Spuren in der jüngsten sowjetischen Geschichte hinterlassen. Doch dieser Umstand änderte wenig daran, dass es in den Jahrzehnten nach seinem Tod nicht möglich war, sich innerhalb der UdSSR damit offen und kritisch auseinanderzusetzen. Eine der wenigen Ausnahmen stellte hier lediglich die kurze Entstalinisierungsphase in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre dar. In dieser Zeit ließ Nikita Chruschtschow, der damalige KPdSU-Parteichef und sowjetische Ministerpräsident, im Rahmen klarer geschichtspolitischer Vorgaben eine begrenzte Auseinandersetzung mit Stalins Herrschaft zu. Man reduzierte dabei jene düstere Periode der sowjetischen Geschichte sowie die Frage nach der politischen Verantwortung allein auf die Person des Diktators. Dies währte indes nicht allzu lange. Bereits in Chruschtschows letzten Regierungsjahren, spätestens jedoch mit seinem Sturz im Oktober 1964, gehörte der Stalinismus zu den großen geschichtswissenschaftlichen Tabuthemen der sowjetischen Vergangenheit.

Erst in den letzten Jahren der staatlichen Existenz der UdSSR setzte hier ein allmählicher Wandel ein. Die Voraussetzungen dafür schuf ab 1985 der neue Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow. Der mit seiner Person verknüpfte innersowjetische Reformprozess der Perestroika sah im Rahmen der sogenannten Glasnost mehr Transparenz und Offenheit im innergesellschaftlichen Diskurs vor. Die sowjetischen Staatsbürger sollten für den dringend erforderlichen Umbau der krisengeschüttelten, vom Niedergang gezeichneten UdSSR mobilisiert und in ihn einbezogen werden. Das geschichtspolitische Kalkül der Reformer zielte darauf ab, sich von weniger ruhmreichen historischen Epochen abzugrenzen und zugleich positive, identitätsstiftende historische Vorbilder aus der jüngsten sowjetischen Vergangenheit aufzuzeigen. Unter dem Schlagwort "zurück zu Lenin" und den hoffnungsvollen Anfängen der Sowjetmacht in den frühen 1920er Jahren rückten damit erstmals die mit dem Makel der Stagnation in Verbindung gebrachten Breschnew-Zeit der 1970er und frühen 1980er Jahre, vor allem aber die Jahrzehnte des Stalinismus in den Blickpunkt der merklich freieren, doch nach wie vor vom Einparteienstaat gelenkten öffentlichen Geschichtsdebatte. Durch solche Maßnahmen erhoffte man sich insbesondere, der Perestroika die erforderliche historische Legitimität zu verschaffen.

Der 70. Jahrestag der Oktoberrevolution bot dafür einen willkommenen Anlass. So nutzte Gorbatschow im November 1987 die Gelegenheit, um in seiner Festrede von "weißen Flecken" in der sowjetischen Geschichte zu sprechen, die er dringend beseitigt sehen wollte. Zeitungen und Wochenblätter, die den neuen politischen Reformkurs in der UdSSR begrüßten, griffen diese Anregung dankbar auf. In diesem Zusammenhang taten sich besonders "Moskowskie Nowosti" und die auf ein Massenpublikum gerichtete Illustrierte "Ogonjok" hervor. Sie warteten regelmäßig mit sensationellen Meldungen und Reportagen auf, in denen sie in einem für damalige Sowjetbürger unvorstellbaren Ausmaß den Terror und die Repressionen der Stalin-Zeit enthüllten. Neben Publizisten und Journalisten waren es darüber hinaus Vertreter aus der Kunst- und Kulturszene, die sich an diesem mitunter hoch emotional geführten öffentlichen Geschichtsdiskurs beteiligten. Zu den zentralen Begrifflichkeiten dieser Auseinandersetzungen gehörten das "Erinnern an die Opfer", das "Suchen nach Wahrheit" und das "Wiederherstellen historischer Gerechtigkeit".

Ins Zentrum der Debatte rückte dabei stets Stalin, der zumeist allein als Urheber jener Verbrechen galt. All dies schlug sich nicht nur in der damaligen Publizistik, sondern ebenso in Filmproduktionen, in der Literatur und Belletristik nieder. Zu nennen sind die Filme "Pokajanie" (Die Reue) und "Prozess" (Der Prozess), mit denen die Regisseure Tengis Abuladse und Igor Beljaew sich erstmals 1987/88 mit offener Kritik am Stalinismus an ein sowjetisches Massenpublikum wandten. Der geschichtspolitische Wandel, der sich allmählich in den späten Jahren der Perestroika vollzog, manifestierte sich aber auch auf einem anderen Feld: So ließen 1989 die Zensurbehörden den bis dahin verbotenen Roman "Der Archipel Gulag" passieren und damit erstmals offiziell in der UdSSR erscheinen. Darin setzte sich der inzwischen in den USA lebende russische Exil-Schriftsteller Alexander Solschenizyn schonungslos mit dem stalinistischen Lager- und Repressionssystem auseinander.

Auf Dauer machte eine solche gesellschaftspolitische Entwicklung auch vor der sowjetischen Geschichtswissenschaft nicht Halt. Es ist jedoch bemerkenswert, dass die Forderung, die eigene Vergangenheit realistischer zu betrachten und gegebenenfalls bestehende Geschichtsbilder zu korrigieren, nicht unbedingt von den dortigen Fachhistorikern aufgestellt wurde. Diese mussten sich mehrheitlich zunächst aus der Erstarrung befreien, in die sie durch jahrzehntelange staatliche Bevormundung, Restriktionen und Selbstzensur versetzt worden waren. Es überrascht deshalb nicht, dass die einschlägigen historischen Fachzeitschriften anfänglich nicht zu den Austragungsorten für unbequeme Fragen und die kritische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus gehörten.

Die im Zuge von Glasnost ausgelöste innersowjetische Geschichtsdebatte über die Stalin-Ära, die bei der Suche nach den Ursachen und historischen Wurzeln des Stalinismus nahezu täglich neue Enthüllungen zutage förderte, nahm eine kaum mehr steuerbare Eigendynamik an. Entgegen den ursprünglichen Absichten Gorbatschows trug sie daher nicht zur Stabilisierung des Reformprozesses bei, sondern begünstigte unaufhaltsam die vollständige politisch-ideologischen Delegitimierung der KPdSU und des Sowjetsystems.

Geschichtsdiskurs "von unten"

An dieser Entwicklung hatte nicht zuletzt eine Nichtregierungsorganisation einen gewichtigen Anteil: die Gesellschaft Memorial. Sie gab wesentliche Impulse für einen abseits der staatlich reglementierten Auseinandersetzung mit dem Stalinismus geführten Geschichtsdiskurs "von unten". Vor diesem Hintergrund besaß die 1987 in Moskau gegründete Organisation eine wichtige zivilgesellschaftliche Funktion. Bis ihr jedoch im Oktober 1990 die offizielle Registrierung zuerkannt wurde und sie damit landesweit legal agieren durfte, war Memorial lediglich eine staatlich geduldete Einrichtung. Die sowjetischen Machtorgane konnten daher jederzeit gegen sie vorgehen und im Extremfall sogar zerschlagen.

In Memorial organisierten sich noch zu Sowjetzeiten Vertreter aus kritischen Intelligenzija- und ehemaligen Dissidenten-Zirkeln, die sich selbst als Demokraten verstanden. Zu ihnen zählten prominente Persönlichkeiten wie der Bürgerrechtler und Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow, der Moskauer Historiker Wiktor Afanasew oder Russlands erster Präsident Boris Jelzin, der während der Perestroika auf Konfrontationskurs zur KPdSU gegangen war. Von Anfang an avancierte die Gesellschaft zum Interessenanwalt der Opfer stalinistischer Repression und Verfolgung. Memorial verstand sich dabei als politische Bürgerrechtsbewegung, welche die längst überfällige Demokratisierung der Gesellschaft entschieden vorantreiben wollte. Die in diesem Kontext formulierten Ziele während der Gründungsphase der Gesellschaft sahen es deshalb für dringend geboten, die Opfer des Stalinismus zu rehabilitieren und zu entschädigen. Überdies suchte man anfänglich darauf hinzuwirken, die staatlichen Terror- und Gewaltexzesse während Stalins Herrschaft als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen, um darüber eine Grundlage für die juristische Aufarbeitung des Stalinismus zu erlangen. Gleichwohl setzte hier schnell Ernüchterung ein. Bei dem Bemühen um historische Gerechtigkeit verzichtete Memorial schließlich um des innergesellschaftlichen Friedens willen darauf, die verantwortlichen Täter des stalinistischen Regimes strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Stattdessen verlegte sich die Organisation auf andere Formen der Geschichtsaufarbeitung. Sie folgte dabei einem schlüssigen Gesamtkonzept. Dieses umfasst bis heute nicht nur einschlägige Forschungsinitiativen zu Themen der stalinistischen Gewaltkultur, sondern auch ein ausgesprochen bildungs- und erinnerungsgeschichtliches Engagement. Zu den herausragenden Aktivitäten zählt in dieser Hinsicht, dass es Memorial noch zu Sowjetzeiten gelungen ist, im Jahre 1990 auf dem Moskauer Lubjanka-Platz gegenüber der berüchtigten KGB-Zentrale einen Gedenkstein für die "Opfer des totalitären Regimes" zu errichten. Aber auch der Umstand, dass der Oberste Sowjet der Russländischen Föderation 1991 den 30. Oktober offiziell zum "Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repression" erhob, war im Wesentlichen das Verdienst von Memorial.

Die größten Freiräume für das geschichts- und erinnerungspolitische Wirken der nunmehr im ganzen Land aufkommenden Aktivistengruppen ergaben sich im postsowjetischen Russland der Ära Jelzin. Begünstigt wurde dies hauptsächlich durch den auf politische Herrschaftskonsolidierung bedachten Präsidenten. So waren er und seine politische Führungsmannschaft zumindest in den ersten Jahren nach Auflösung der UdSSR um Demokratisierung und gesellschaftliche wie ökonomische Transformation bemüht. Um den politischen Veränderungen im Lande die erforderliche Legitimation zu verschaffen, musste aus ihrer Sicht der konsequente Bruch mit dem historischen Erbe der Sowjetunion und ihrer damaligen Kommunistischen Partei vollzogen werden. Zumindest in dieser Zeit gelang es Memorial, den Opfern der stalinistischen Gewaltherrschaft im öffentlichen Raum die erwünschte Aufmerksamkeit zu verschaffen: Rund zwei Millionen Repressierte wurden rehabilitiert, doch fielen die staatlichen Entschdigung zumeist ungenügend aus.

Aufarbeiten und Erinnern unter Putin und Medwedew

Für die Aufarbeitung von Russlands stalinistischer Vergangenheit lieferten die Jelzin-Jahre zweifellos die besten Rahmenbedingungen. Das galt sowohl für die Geschichts- und Erinnerungspolitik "von unten" - repräsentiert durch Memorial oder den öffentlich Diskurs in den russischen Medien - als auch für die postsowjetische Geschichtswissenschaft. Meinungsvielfalt bestimmte zunehmend die Diskussionen russischer Historiker. Das traf vor allem auf Vertreter der jüngeren Generation zu und wurde nicht zuletzt durch einen - im Unterschied zur Sowjetepoche - restriktionsfreieren Zugang zu Russlands staatlichen Archiven begünstigt. Gleichwohl änderte dies wenig an dem Umstand, den der Moskauer Historiker und Vorsitzende von Memorial, Arseni Roginski, noch im Jahre 2009 als "fragmentierte Erinnerung" charakterisierte. Roginski spielte auf die in Russland weit verbreitete Haltung an, zumeist die Opfer des Stalinismus in den Vordergrund zu stellen, darüber jedoch die Frage nach den Tätern und deren Verbrechen zu marginalisieren. Diese Tendenzen haben sich seit der Präsidentschaft Wladimir Putins zwischen 2000 und 2008, aber auch unter dessen Nachfolger Dmitri Medwedew konsequent fortgesetzt. Mehr noch: Sie haben sich verstärkt und sind fester Bestandteil der offiziellen staatlichen Geschichtspolitik geworden, die den Terror des Stalinismus systematisch herunterspielt und mitunter sogar verharmlost.

Es überrascht daher nicht, dass gegenwärtig unter den Bedingungen eines unübersehbar autoritär regierten Russlands die Stalinismusforschung wie auch die öffentlichkeitswirksame Aufklärung über Stalins Herrschaft in Mitleidenschaft gezogen werden. Immer häufiger mischen sich offizielle Regierungsorgane in den öffentlichen Geschichtsdiskurs ein und bedrängen diesen überaus erfolgreich. Ausschlaggebend dafür ist die inzwischen zur Staatsräson gewordene Auffassung Putins und Medwedews, wonach das von den Wirren und Krisen der späten Jelzin-Jahre erschütterte Russland wieder zu einem "großen Staat" gemacht werden soll. Um diesen Anspruch ideologisch zu untermauern und damit zugleich Putins autoritären Herrschaftsstil zu legitimieren, greifen die Machthaber im Kreml symbolisch auf die Historie zurück. "Patriotismus, unsere Geschichte und Religion", so Putin noch als Ministerpräsident im Jahre 1999, sollten die "grundlegenden Werte der Gesellschaft bilden". Da überdies der Zusammenbruch der Sowjetunion und der damit einhergehende Verlust der Supermacht-Funktion tiefe Blessuren im nationalen Selbstbewusstsein vieler Russen hinterlassen haben, wollen Putin und Medwedew der russischen Bevölkerung die abhanden gekommene nationale Identität zurückgeben. Für sie wird Geschichte damit zur Gegenwartspolitik. Dies wiederum ist in einer "systematischen staatlichen Geschichtspolitik" zum Ausdruck gebracht worden, die seit dem Jahr 2000 immer deutlichere Konturen erlangt hat.

Bei der Suche nach positiv besetzten und den patriotischen Gemeinsinn fördernden Geschichtsbildern bedient sich die russische Staatsmacht ausgewählter Episoden aus der Geschichte des Stalinismus. Niedergeschlagen hat sich dies in einer Reihe geschichtspädagogischer Lehrbücher und lexikalischer Nachschlagewerke, denen eine Einschätzung der Regierung zugrunde lag, wonach es ohnehin zu viele Geschichtsbücher gebe. Folglich sei ein Geschichtswerk zu erstellen, das "die patriotische Erziehung und den historischen Optimismus" fördere. In diesem Zusammenhang ist ein 2007 veröffentlichtes Handbuch für Lehrer zu nennen. Die unter dem Titel "Eine moderne Geschichte Russlands: 1945-2006" erschienenen Publikation, die der scheidende Präsident Putin den russischen Pädagogen nachdrücklich empfohlen hat, liefert staatlich gewünschte Interpretationen, die mit Blick auf die historische Figur Stalins und den Stalinismus eine bedenkliche Geschichtsklitterung betreiben.

All diesen auf die bildungspolitische Geschichtsvermittlung zielenden Werken ist eines gemein: Sie verharmlosen die historische Bedeutung Stalins in unverantwortlicher Weise. Der Despot aus Georgien erscheint hier als großrussischer Patriot und bedeutender Modernisierer, der fast schon in einem Atemzug mit Peter dem Großen genannt wird. Er steht stellvertretend für eine positive Entwicklung in der sowjetischen Geschichte, welche die Überwindung der über Jahrhunderte währenden russischen Rückständigkeit zum Ergebnis hatte. Den Preis, den die Völker der damaligen UdSSR zu bezahlen hatten, die Brutalität und die immensen Opferzahlen, die Stalins Kollektivierung der Landwirtschaft, seine rücksichtslose Industrialisierung und nicht zuletzt der von ihm verantwortete Massenterror der 1930er Jahre mit sich brachten, wird dabei heruntergespielt. Mehr noch: Stalins Aufstieg zur Macht, sein Krieg gegen das eigene Volk und die von ihm errichtete Diktatur werden durch die Behauptung legitimiert, dass sie unter den Bedingungen der damaligen Verhältnisse erforderlich gewesen seien. Der Kalte Krieg etwa, den in dieser Lesart selbstverständlich die Amerikaner zu verantworten hatten, gewährten dem Diktator angeblich keinerlei Optionen für wie auch immer geartete Erleichterungen und Liberalisierungsversuche.

Stalin symbolisiert den Aufstieg der UdSSR zur Welt- und Supermacht - ein Status, den, wie bereits angedeutet, die gegenwärtige politische Führung in Moskau wieder zurückerlangen möchte. Und auch dieser Umstand erfährt heutzutage in der offiziellen Geschäftspolitik eine bedenkliche Rechtfertigung. Nichts anderes ist es nämlich, wenn etwa der russische Sicherheitsdienst FSB denjenigen einheimischen Historikern eine harte rhetorische Abfuhr erteilt, die den Hitler-Stalin-Pakt mit seinem geheimen Zusatzprotokoll und die stalinistischen Deportationen der Kaukasusvölker während des Zweiten Weltkrieges verurteilen. Sie werden durch die Geheimdienstler kurzerhand als "Geschichtsfälscher" diffamiert. Geradezu beispielhaft demonstrierte dies der für Öffentlichkeitsarbeit zuständige FSB-Sprecher Sergei Ignatenko, als er im Mai 2008 unumwunden erklärte: "Den Pakt als auch die Deportationen abzuurteilen, kommt den Interessen der westlichen Geschichtspropaganda entgegen, in die Russlands Feinde viel Geld investieren."

In diesem Kontext überrascht es wenig, wenn die gegenwärtigen Machthaber in Moskau ihre geschichtspolitische Arbeit durch Stiftungen und Internetportale flankieren, die vom Kreml ins Leben gerufen worden sind und dauerhaft finanziert werden. Mehr noch: Im Mai 2009 wurde beim Präsidenten der Russischen Föderation eine Kommission installiert, die sich mehrheitlich aus Vertretern der Geheimdienste und der Armee zusammensetzt. Ihr obliegt die verantwortungsvolle Aufgabe, gegen die "Falsifizierung der Geschichte zum Nachteil der Interessen Russlands" vorzugehen. Zu diesem Zweck soll sie einschlägige Ermittlungen durchführen und wirksame Abwehrstrategien entwickeln. Für russische Historiker, die sich vor diesem Hintergrund mit sensiblen Fragen der stalinistischen Geschichte befassen wollen, verheißen solche Tendenzen nichts Gutes, unterstehen sie damit doch im Grunde wieder einer staatlichen Bevormundung und Kontrolle.

Unter den erwähnten kremlnahen Stiftungen ragen besonders die 2004 gegründete Einrichtung "Istoritscheskie Perspektiwy" (Historische Perspektiven) und die 2008 errichtete Institution "Istoritscheskaja Pamjat" (Historische Erinnerung) hervor. Ihnen obliegt die Bekämpfung nicht regierungskonformer zeithistorischer Geschichtsdiskurse. Themen wie der Hitler-Stalin-Pakt, die katastrophale Hungerskatastrophe, die in den frühen 1930er Jahren das Ergebnis der stalinistischen Agrarpolitik waren, die Opferzahlen des Großen Terrors, nicht zuletzt die Rolle der Roten Armee und der UdSSR im Zusammenhang mit der Sowjetisierung Osteuropas nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges werden hier gemäß der staatlich gewünschten Geschichtsinterpretation und Erinnerungskultur propagiert und öffentlichkeitswirksam verbreitet. Es ist daher nur konsequent, dass auch das Publikationsorgan der von Putins Regierungspartei majorisierten Staatsduma, die "Parlamentskaja Gaseta", sich nachhaltig für die Arbeit der Geschichtsstiftungen engagiert und ihnen ein mediales Forum bietet.

Trübe zivilgesellschaftliche Aussichten

Unter solchen Umständen ist zu verstehen, dass die geschichtspolitische und zivilgesellschaftliche Arbeit von Nichtregierungsorganisationen wie Memorial sich im heutigen Russland nur schwer aufrechterhalten lässt. Das gilt umso mehr, als sie sich dabei kaum mehr auf staatlich unabhängige Medien stützen können. So bleibt ihnen zumeist nur das Internet, um in Zeiten zunehmender Behördengängelung eine geschichtspolitische Perspektive "von unten" zu vermitteln. Und so verwundert es keinesfalls, weshalb gerade das bis dahin wichtige erinnerungspolitische Wirken von Memorial in Russland kaum mehr öffentlich wahrgenommen wird und daher kaum mehr ein alternatives geschichtspolitisches Korrektiv zur staatlichen Geschichtsvermittlung darstellen kann.

Das von Putin etablierte und von Medwedew fortgesetzte vergangenheits- und geschichtspolitische Projekt, das allein der nationalen Identitätsbildung dient, hat sich insgesamt zur Zufriedenheit der Moskauer Machtelite entwickelt. Dank der massiven Propaganda im Staatsfernsehen und der allgegenwärtigen neuen Geschichtsrhetorik ist es gelungen, in Russlands kollektivem Gedächtnis Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verknüpfen. In diesem Zusammenhang lebt Nationalstolz auf, der sich zumeist mit alten sowjetischen Stereotypen verbindet - so etwa "die Vorstellung vom Westen als - heute wie früher - Feind und Quelle allen Unglücks für Russland".

Selbst wenn die gegenwärtige Kreml-Führung Stalins Herrschaft geschichtspolitisch in vielerlei Hinsicht als historische Notwendigkeit zu verteidigen sucht, kann sie dennoch nicht als stalinistisch bezeichnet werden. Davon legen sowohl Putin als auch Medwedew immer wieder in der Öffentlichkeit beredt Zeugnis ab, wenn Sie bei dieser Gelegenheit Stalin als Verbrecher bezeichnen. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die geschichtspolitische Instrumentalisierung des stalinistischen Erbes schließlich einem wichtigen politischen Ziel dient: dem reibungslose Funktionieren von Russlands autoritärem Regime.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Stalin soll heilig werden, in: Süddeutsche Zeitung vom 22.7.2008.

  2. Vgl. Imja Rossija. Istorieskij vybor 2008, online: www.nameofrussia.ru (31.10.2011).

  3. Ein kurzer Überblick bei: Stefan Plaggenborg (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 5: 1945-1991. Vom Ende des Zweitens Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, 1. Halbbd., Stuttgart 2002, S. 191-199; zur persönlichen Perspektive eines sowjetischen Historikers siehe: Alexander M. Nekrich, Entsage der Angst. Erinnerungen eines Historikers, Frankfurt/M. 1983.

  4. Zum Umgang mit der Vergangenheit und der Geschichtspolitik in den Jahren der Perestojka siehe: Robert Davies, Perestroika und Geschichte. Die Wende in der sowjetischen Historiographie, München 1991; Dietrich Geyer (Hrsg.), Die Umwertung der sowjetischen Geschichte, Göttingen 1991.

  5. Vgl. Isabelle de Keghel, Strategien des Umgangs mit den stalinistischen Repressionen in Russland seit der Perestrojka: Geschichtspolitik "von unten", in: Jahrbuch für Politik und Geschichte, 1 (2010), S. 66, S. 68ff.

  6. Vgl. Stefan Creuzberger, "Ich war in einem völlig anderen Krieg ..." Die sowjetische und russische Historiographie über den "Großen Vaterländischen Krieg", in: Osteuropa, 48 (1998) 5, S. 508.

  7. Vgl. I. de Keghel (Anm. 5), S. 70.

  8. Zur Geschichte und dem Wirken der Gesellschaft Memorial siehe ausführlich: Elke Fein, Geschichtspolitik in Russland. Chancen und Schwierigkeiten einer demokratisierenden Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit am Beispiel der Tätigkeit der Gesellschaft Memorial, Hamburg 2000; dies., Die Gesellschaft "Memorial" und die postsowjetische Erinnerungskultur in Russland, in: Lars Karl/Igor J. Poljanski (Hrsg.), Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland, Göttingen 2009, S. 165-186; vgl. im Folgenden auch: I. de Keghel (Anm. 5), S. 72-83.

  9. Zu den weiteren auf Russland konzentrierten Aktivtäten der Nichtregierungsorganisation Memorial, die seit 1992 in eine internationale Gesellschaft umgewandelt worden ist, siehe www.memo.ru (6.11.2011).

  10. Vgl. dazu ausführlich Stefan Creuzberger/Rainer Lindner (Hrsg.), Russische Archive und Geschichtswissenschaft, Frankfurt/M. 2003.

  11. Arsenij Roginskij, Fragmentierte Erinnerung. Stalin und der Stalinismus im heutigen Russland, in: Osteuropa, 59 (2009) 1, S. 37-44.

  12. Vgl. Zaur Gasimov, Russlands staatlicher Umgang mit der Stalinismus-Zeit, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte, 1 (2010), S. 96.

  13. Vgl. Rainer Lindner, Putins Geschichtspolitik. Die Inszenierung der Vergangenheit in Russland, in: Internationale Politik, (2006) 8, S. 112.

  14. Richard Sawka. Putin. Russia's Choice. London 2004, S. 163.

  15. Arsenij Roginskij, Erinnerung und Freiheit. Die Stalinismus-Diskussion in der UdSSR und Russland, in: Osteuropa, 61 (2011) 4, S. 62.

  16. Ebd.

  17. Vgl. Stefan Creuzberger, Stalin. Machtpolitiker und Ideologe, Stuttgart 2009, S. 11f.; zur Problematik der neueren russischen Geschichtslehrbücher siehe den Themenschwerpunkt in der Zeitschrift Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History, 10 (2009) 4, S. 825-868, ebenso Jan Foitzik, Russische Geschichtslehrbücher für die 11. Klasse der allgemeinbildenden Schulen. Eine Sammelbesprechung, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 59 (2011) 3, S. 399-411.

  18. S. Creuzberger (Anm. 17), S. 12.

  19. Vgl. Z. Gasimov (Anm. 12), S. 93, S. 99ff.

  20. Vgl. I. de Keghel (Anm. 5), S. 83.

  21. Vgl. A. Roginskij (Anm. 15), S. 63f., S. 67.

Dr. phil., geb. 1961; Privatdozent für Neuere Geschichte und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität Potsdam, Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam. E-Mail Link: creuzber@uni-potsdam.de