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Politische Bildung | APuZ 51/1953 | bpb.de

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APuZ 51/1953 Grenzfragen des Religiösen und Politischen Politische Bildung

Politische Bildung

Walter Dirks

Ein Vortrag, gehalten auf den Diskussionsabenden der Wirtschaftspolitischen Gesellschaft am 2. November 1953 in Frankfurt a. M. und am 17. November 1953 in Bonn Ich möchte Sie, verehrte Damen und Herren, nicht lange mit einer Feststellung aufhalten, in der wir uns wahrscheinlich einig sind: der Feststellung, daß es um die politische Bildung schlecht bestellt ist. Ein Abiturient hat kürzlich auf die Frage, wo die Oder-Neiße-Linie liege, die Antwort gegeben, sie liege „irgendwo in Rußland“. Er sagte nicht: „irgendwie in Rußland“, was ja garnicht so dumm geantwortet wäre, sondern sehr massiv: „Irgendwo in Rußland“. Er wußte es aber nicht. Jeder von Ihnen wird ähnliche Beispiele nennen können — Zeugnisse eines beängstigend geringen Grades von politischer Information, und nicht nur bei Jugendlichen. Nun ist obendrein politische Information noch keineswegs gleichbedeutend mit politischer Bildung — trotz dem bestechenden Wortsinn „informatio“, was ja eigentlich nichts anderes bedeutet, als „in seine Form bringen", also eben „bilden“. Politische Bildung setzt Information voraus, ist aber selbst viel mehr als sie.

Auf einem der sogenannten „Europäischen Gespräche“ in Recklinghausen, die der deutsche Gewerkschaftsbund leider gerade in diesem Jahr hat ausfallen lassen, in dem sie zwar besonders heikel, aber auch besonders nützlich gewesen wären, hat Eugen Kogon einmal die typischen Merkmale der heutigen „Massengesellschaft“ aufgezählt, und unter ihnen ein gegensätzliches Paar, das zu unserem Thema gehört. Typisch sei für diese Massengesellschaft einerseits, daß die Menschen eine große Nähe zur Politik haben, an der Politik interessiert sind, auf politische Ereignisse viel unmittelbarer reagieren, als die Menschen anderer Gesellschaftsstrukturen, — andererseits aber, daß sie über Politik sehr schlecht unterrichtet sind. In diesem auf den ersten Blick sonderbar erscheinenden Gegensatz stecke eine der Ursachen zweier bedenklicher Eigenschaften der modernen Massen; daß sie sich von der Politik ablenken lassen und daß sie sich zu einer gefühlsbestimmten Politik verführen lassen. Unsere Klage über eine mangelhafte politische Information bezöge sich dann nicht auf einen isolierten Tatbestand, mit dem man bei einiger Energie mit besserem staatsbürgerlichen Unterricht, mit guter Presse-und Rundfunkarbeit und ähnlichen Mitteln doch irgendwie fertigwerden können müßte, sondern auf die Struktur unserer Gesellschaft selbst. Wenn es so ist — und ich zweifle nicht daran, daß es so ist — so leuchtet uns erst recht ein, daß dem Unheil nicht mit politischer Information allein beizukommen ist, sondern eben schon eher mit politischer Bildung, das heißt mit einer angeeigneten Information, einer Information, die in den eigentlichen Erfahrungsbereich des Menschen eingebaut ist, einer in das ganze Lebensgefüge des Menschen integrierten Information. Bildung ist ja einer der Wege und Mittel, wie aus dem leicht erregbaren Massenteilchen Mensch das werden kann, was die Philosophen eine Person nennen. Das heißt: einer, der das Subjekt seines eigenen Daseins zu sein vermag, nicht ohne weiteres in dem Sinne, daß er die Souveränität und die volle Freiheit für den äußeren Verlauf des Lebens erwürbe, wohl aber durch die geistige Bewältigung dessen, was er sowohl tun kann, als auch erleiden muß. Nun will ich keineswegs behaupten, daß es leicht sei, aus Massenteilchen Gebildete zu machen, und ich will auch die Möglichkeiten der Bildung selbst nicht überschätzen. Arbeit an der Bildung, der Bildung anderer und der eigenen Bildung, ist nur einer der Ansatzpunkte, wenn es gilt, die Massengesellschaft zu überwinden. Zu gleicher Zeit muß manches andere geschehen. Wir werden mit unseren Krisen und Aufgaben nicht fertigwerden, wenn sich nicht Eliten politischer Bildung bilden und zur Geltung bringen. Aber gerade wenn man das genauer bestimmen will, muß man von vornherein auch von einigen Grenzen der Bildung und besonders der politischen Bildung sprechen. Eine dieser Grenzen ist die Entscheidung, auch die politische Entscheidung, Bildung ist eine der Voraussetzungen richtiger Entscheidungen, —aber der Sprung selbst, die Tat, ist nicht mehr unmittelbar Sache der Bildung. Bildung ist sogar in gewisser Hinsicht eine Erschwerung des Handelns. Der Unbedenkliche, der sehr leicht handelt, fällt zu einem Teil mit dem Ungebildeten zusammen; der Gebildete wird eben vieles zu bedenken haben, bevor er zu handeln den Mut hat. Ich befürchte sehr, daß es nicht in erster Linie die Gebildeten gewesen sind, die am 17. Juni den Mut zu einer eindeutigen Demonstration für die Freiheit aufgebracht haben. Auch haben vor dem seelischen und materiellen Druck der Diktatur in Deutschland die meisten Gebildeten versagt, — und bei denen, die unverführbar blieben, war es oft nicht die Bildung, die sie fest machte, sondern ihr Glaube oder ihre politische Grundüberzeugung. Im idealen Sinne besteht hier gewiß kein Gegensatz; zur vollen und reifen Bildung gehört die Bereitschaft, das Notwendige zu tun, in der Not seinen Mann zu stehen, aber zwischen dieser Bereitschaft und der Tat selbst muß eine spontane Kraft wirksam werden, die nicht mehr ein Element der Bildung selbst ist. Bildung führt an das Tor heran, sie kann im besten Falle den Menschen reif zu einer wohlüberlegten Entscheidung machen: im Sprung selbst aber werden andere Schichten des Menschen tätig, vor allem seine Vitalität und sein Glaube. Natürlich tut oder unterläßt mancher manches ohne eigentliche Entscheidung, „nur so" aus Gewohnheit, Trieb oder eben auch aus Bildung. „Der gebildete Mensch tut so etwas nicht" ist ja eine gängige Redensart. Aber wo echte Entscheidungen gewagt werden, im privaten Leben etwa im Entschluß zur Ehe, aber auch in politischen Entschlüssen, die nicht berechenbar sind, sondern Risiken enthalten, geschehen sie außerhalb der Bildung, unterhalb oder oberhalb, wie Sie wollen. Das gilt unter anderem auch von jener Situation, die von uns die scheinbar passivste, in Wahrheit aber souveränste Entscheidung verlangt, von unserem eigenen Tod, und darum auch im Risiko des Sterbens. Und politische Entscheidungen können ja durchaus diesen Rang haben. Politische Bildung garantiert nicht ohne weiteres die Fähigkeit, wenn es ernst wird, politische Entscheidungen fällen zu können, und wir müssen uns angesichts des Ernstes der Politik vor einem Bildungsoptimismus hüten. Das Gesagte gilt auch für die Grundentscheidung des Menschen über sich selbst, über den Sinn seines Daseins, •-für den Glauben. Die tiefen Unterschiede, die sich hier zwischen den Christen, den Marxisten, den humanitären Liberalen, den Agnostikern auftun, lassen sich nicht von der Bildung her auflösen, — diese Entscheidungen, so sehr sie im einzelnen Menschen das Gepräge seines Bildungsstandes haben, fallen außerhalb der Sphäre der Bildung. Das gilt auch für die politischen Grundentscheidungen, die ja sehr eng mit jenen Grundentscheidungen über den Sinn des eigenen Daseins Zusammenhängen. Bildung wird die Auseinandersetzung zwischen den großen politischen Bewegungen und Entwürfen fruchtbarer, differenzierter und zweifellos auch angenehmer machen — man kann es im Bundestag zuweilen merken, Bildung wird manchen falschen oder schiefen Gegensatz im einzelnen auflösen können. Sie wird aber die Differenz der Grundmeinungen selbst nicht aufzulösen vermögen. Bildung kann also auch den Kampf dieser Grundmeinungen nicht beseitigen. Wäre es nicht so, so könnte man versucht sein, der Elite der politisch Gebildeten das Recht und die Macht der Staatsführung zu übergeben, so wie es in gewissen Zeiten im China der Mandarinen gewesen sein soll. Die Demokratie macht aber im Mehrheitsprinzip ernst mit dem Grundsatz, daß jeder Staatsbürger, ob politisch gebildet oder nicht, aus seinem vitalen Interesse am Staat zur Mitentscheidung befugt ist. Wenn es um Kopf und Kragen geht, kann man die Stimme des Gebildeten nicht höher bewerten als die des Ungebildeten und die Gebildeten sind nicht imstande, die Streitfrage der Geschichte aus der Bildung zu schlichten.

Da für den Christen die letzte, die eigentliche Grundentscheidung die Annahme der Offenbarung ist des Gottes, der gesprochen hat, so wird er erst recht daran festhalten, daß das Heil nicht als Bildung geschieht, sondern dem Gebildeten wie dem Einfältigen angeboten ist. Den alten Satz: Non in dialectica complacuit Deo salvare mundum — die Theologen mögen nachsichtig sein, wenn ich nicht wortgetreu zitiere — richtig sitzendes, aber ungenaues Zitieren ist das Privileg des Gebildeten — korrektes Zitieren ist die Pflicht des Fachmannes — diesen Satz darf man beinahe übersetzen: Nicht in der Bildung hat es Gott gefallen, den Menschen zu erlösen. Der Gebildete, so wird der Christ sagen, kann in der Bildung zum Heil gelangen, der Ungebildete in der Unbildung; Bildung und Unbildung können zwei Arten jener Armut im Geiste sein, der das Himmelreich verheißen ist. Verzeihen Sie diese Abschweifung ins Theologische, — aber für den Gläubigen gehört sie zum Thema, und es ist nicht einzusehen, weshalb ein Redner seinen Glauben oder auch seinen Unglauben ängstlich ausklammern soll, wenn eine Aussage zur Sache zu machen ist, die diesen Bereich berührt.

Zu solchen Grenzen der Bildung überhaupt wäre noch eine besondere Grenze der politischen Bildung zu nennen, keine echte Grenze freilich, aber eine praktische Begrenzung. Der politisch Gebildete kann nicht nur politisch gebildet sein, — er muß gebildet schlechthin sein. Es liegt im Wesen der Bildung, daß sie sich nicht auf irgendein Gebiet beschränken kann. Das begründet auch, weshalb man nicht isoliert von politischer Bildung sprechen kann, sondern zugleich über Bildung überhaupt sprechen muß. Die Ausbildung kann ziemlich beliebig spezialisiert werden, die Bildung nicht. Sie kann — verzeihen Sie das modische Wort — „Schwer-punkte“ haben, ausgearbeitete, ausgebreitete Zonen neben weniger ausgearbeiteten, aber in irgendeinem noch so elementaren Grad müssen die wesentlichen Erfahrungen, die ein Mensch machen kann, alle zu Elementen der Bildung geworden sein, Erfahrungen mit den Partnern und sich selbst, mit Liebe und Haß, mit Angst und Vertrauen, mit Geld und Macht, mit Gemeinde und Staat, mit Wissenschaft und Kunst. Bildung ist eine Integration. Der hochgezüchtete Spezialist, der nicht viel mehr ist, als eben dies, vertritt eine der modernsten Spielarten der Unbildung. Auch Universitätsprofessoren können in hohem Grade ungebildet sein, — zum Beispiel dadurch, daß sie auf politischem Gebiet ungebildet, uniformiert und uninteressiert oder gar primitiv oder banausisch sind. Aber diese Gefahr bedroht natürlich auch die politisch Interessierten. Weder der einseitig politisch Informierte kann als gebildet gelten, noch der einseitig politisch Handelnde, der Mann, der Politiker ist und sonst nichts, der homo politicus, auf den es ankommt, der politisch gebildete Mensch steht in scharfem Gegensatz zum politisierten Menschen, der eine Gefahr unseres Zeitalters ist. Ich will keineswegs einen Typus idealer Bildung vertreten, in dem alle Lebensgebiete gleichmäßig oder gar harmonisch ausgebildet sind, — im Gegenteil: die heutige Bildung kann garnicht anders als sehr verschiedenartig sein, mit sehr verschiedenen Akzenten, perspektivisch um verschiedene Mittelpunkte aufgebaut, und ich denke nicht im Traum daran, den Vollblut-Politiker schlecht zu machen; die Welt braucht den leidenschaftlichen Politiker, wie sie den leidenschaftlichen Denker, den leidenschaftlichen Künstler, den leidenschaftlichen Techniker braucht, — aber sie alle können nur als gebildet gelten, wenn die anderen Grunderfahrungen, die der Mensch machen kann, nicht verkümmert bleiben oder gar unterdrückt wurden, sondern an ihrem Platz leben und mitwachsen durften. Wir können von solchen Politikern wenig Förderliches erwarten, die weder einen philosophischen Gedanken zu denken oder nachzudenken noch ein Gedicht zu lesen noch ein nachbarliches Gespräch noch gar eine Ehe zu führen und Kinder aufzuziehen verstehen.

Vielleicht liegt hier ein Unterschied zwischen unserer sogenannten westlichen Auffassung von Politik und allen totalitären Äußerungen des Politischen. Wir müssen darauf bestehen, daß unsere politischen Taten aus politischer Bildung kommen und daß unsere politische Bildung ein Bestandteil menschlicher Bildung überhaupt ist. Es ist kein Zweifel, daß uns dieser Anspruch zunächst schwächer macht. Gebildete sind nicht so „einsatzfähig" wie die Menschen unius libri, einer Leitung, eines Willens. Es waren Gebildete, die 1938 in München jenen schmählichen Pakt mit den unbedenklichen Ungebildeten schließen mußten. Es hätte wenig Sinn, nur dadurch zu überleben, daß wir eben diesen Anspruch aufgäben, um unbedenklichere Täter zu werden. Umso wichtiger wird freilich, daß unsere Bildung wirklich politisch wird und nicht die unpolitische Bildung der großen Zeit der Bildung bleibt, der Zeit der Klassik und Romantik, und daß alle Stufen der Bildung in ihrer Art politisch werden, die der Bildungseliten ebenso wie die des sogenannten Volkes. Weimar und Potsdam müssen beide überwunden werden. Ich möchte sogar so weit gehen zu sagen, daß die Bildung der kommenden Zeit und Gesellschaft vor allem anderen politische Bildung sein muß: daß das Politische in das Zentrum der Bildung überhaupt treten muß, und daß sich unsere Bildung gerade darin von der literarisch-ästhetisch zentrierten Bildung alter Art unterscheidet.

Aber es wird notwendig sein, über die bisher gemachten Andeutungen hinaus etwas genauer zu sagen, was ich überhaupt unter Bildung verstehe. Das Wort war einmal das Kennwort einer großen Zeit zwischen — sagen wir: — Lessing und Stifter. Im Neunzehnten Jahrhundert ist diese Bildung freilich sowohl nach mehreren Richtungen hin verändert worden, als auch in mancherlei Krisen geraten. Was in diesem Jahrhundert geschah, in der Wirtschaft und im Staat, in der Gesellschaft und in ihrem Bewußtsein, hat den klassischen Bildungsbegriff unanwendbar gemacht. Wir müssen eine neue Vorstellung von Bildung gewinnen, von einer Bildung, die einer neuen Weise der Existenz, einer neuen Welt, einem neuen Bewußtsein entspricht, — aber wir stehen immerhin in geschichtlicher Kontinuität mit jenem ersten großen klassischen Zeitalter der Bildung, wir sind nur durch wenige geschichtliche Schritte von ihm entfernt, und es erscheint mir nicht angemessen, beim Nullpunkt neu anzufangen und voraussetzungslos festzusetzen, was von nun an Bildung sein soll, sondern wir sollten fragen, was jene Bildung war, was aus ihr geworden ist, und was heute an ihrer Stelle stehen sollte.

Bildung war damals in ihrer Hoch-Zeit — lassen Sie es mich in einem halben Dutzend Sätzen sagen — die Aneignung alles in verbindlicher allgemeiner Form Gewußten, der Wissenschaft also, und zwar nicht nur der Humanoria, wie man aus der Sicht des humanistischen Gymnasiums später zuweilen fälschlich gemeint hat, sondern auch der Realia, der Naturwissenschaften und der Technik, — die sich später so energisch selbständig machen — denken Sie an Saussure, an Humboldt, aber auch an Goethe. Bildung war also universal. Dem universalen Wissen entsprach ein Kosmos des Gewußten, eine Ordnung, der in der Vorstellung dieser Zeit der wirkliche Kosmos, die geordnete Welt entsprach. Bildung war ferner Anteilnahme an der Republik der Geister, ein Umgang mit den Gebildeten, war durchaus ein soziales, gesellschaftliches Phänomen. Unterhalb der geschlossenen Elite der Gebildeten, zu denen Adlige, Bürger und Akademiker gehören konnten, lebte das Volk in seiner Ordnung, die nicht durch Bildung, sondern durch Sitte und Brauch, Bibel, Kirchenzucht und Sprichwortweisheit, ständische Berufspflicht und stän-disches Berufsrecht geregelt war. Bildung war Umgang mit den großen Bildern und Gestalten der als kanonisch geltenden Zeiten, insbesondere der Antike und vor allem eines Griechentums, das man als die kanonische Form des Menschlichen überhaupt verstand. Bildung war zugleich ein Vorgang im Menschen, seine Entfaltung und Ausprägung zur schönen und edlen Gestalt, und dieser Vorgang geschah eben durch jene Anteilnahme am objektiven, allgemeinen Reich der Geister und durch jenen Umgang mit den vorbildlichen Bildern, welche Dichtung und Kunst der großen Zeiten hervorgebracht hatte.

Es ist leicht zu sehen, daß sich vieles von diesen Bildungsidealen heute nicht nachvollziehen läßt. So die Universalität: niemand kann heute hoffen, alles Wissenswerte zu wissen. So die ständische Geschlossenheit der Bildung. Gewiß hatte der Bildungsstand die Grenzen älterer Stände relativiert: in der Republik der Geister hatten Goethe, Karl August und der geringste Schulmeister, wenn er nur wahrhaft gebildet war, gleiches Recht, aber auch in dieser Gestalt kann uns der vom Volke getrennte Bildungsstand nicht genügen. Nicht umsonst hat Karl Marx von der proletarischen Existenz aus die Idee dieser Bildung sowohl gegen die Gebildeten als auch gegen die wirtschaftliche Wirklichkeit ausgespielt: er bestand auf der Verwirklichung jener hohen Gedanken vom Men-

schen, und auch wir können nicht anders, als — auf andere Weise freilich — darauf bestehen, daß unsere Grundvorstellung von Bildung in der ganzen Gesellschaft verwirklichbar sei. Die Elite der Hochgebildeten, von deren Dasein und geistiger Kraft das Schicksal unserer Kultur abhängt, kann also nur als eine offene Elite verstanden werden, die sich gegen keine produktive Schicht abschließt, sondern quer durch die Klassen. Schichten und Gruppen verläuft, als die Elite der Offenen, der „Realgesinnten“, um ein Wort Martin Bubers zu zitieren, der Wohlinformierten, der Klugen, der Verantwortungsvollen, der Führenden aller produktiven Klassen, Schichten und Gruppen. Nicht mehr vollziehbar ist ferner der Glaube an den kanonischen Charakter des griechischen Menschen, des wahren, guten und schönen, — nicht nur, weil wir inzwischen über den wahren Zustand dieses griechischen Menschen besser unterrichtet sind, sondern vor allem auch, weil wir inzwischen in schweren Katastrophen, Versuchungen und eindringlichen Erkenntnissen erfahren haben, daß der Mensch viel gefährdeter, widerspruchsvoller und ungesicherter ist, als es dem idealistischen Bewußtsein erschien. Schließlich und vor allem ist der Kosmos nicht mehr im Wissen erfahrbar, vor dem allein auch der Mensch eine fraglose heile Gestalt war: der Kosmos Gott -Mensch — Natur, erfaßt im Kosmos der Wissenschaften. (Nebenbei: ich bin mir bewußt, daß ich vereinfache. Kant hat den Gedanken des Radikal-Bösen denken können — man hat es ihm freilich in jener Zeit übel genug genommen —; neben einem Christentum, das als Teil in der Bildungswelt eingeordnet und entmächtigt wurde, gab es immer auch das eigentliche Christentum, in dem umgekehrt die Bildung am Maßstab Christi gemessen wurde, — ich nenne als typischen Fall Matthias Claudius; Goethe, der leuchtendste Gebildete jener wahrhaft großen Zeit, hat sie in manchen Ansätzen bereits überwunden, in anderen Figuren — ich nenne Kleist — wurde sie gleichsam gesprengt. So könnte man das Bild in Vielem differenzieren. Aber ich muß im Gesamtzusammenhang vereinfachen.) In ähnlicher Weise muß ich nun auch andeutend darstellen, was mir an jener Bildung und dem ihr zugeordneten Bildungsbegriff heute noch lebendig zu sein scheint, und gerade in einer politischen Bildung weiter lebendig sein darf. Ich versuche es kurz festzuhalten.

In der Rückwendung auf die großen Gestalten der Geschichte, insbesondere der Antike, steckt eine allgemeine Wahrheit: daß Bildung wesentlich Er—innerung ist, Vergegenwärtigung dessen, was wir sind, durch Vergegenwärtigung des Weges, den wir gegangen sind. Der naive Kult der Antike ist so sehr erledigt, wie der nachfolgende relativierende Historismus. Wahr bleibt, ja wahr und wichtig wird erst recht die Einsicht, daß Bildung wesentlich Aneignung der Überlieferung ist. Bildung ist ihrem Wesen nach zunächst konservativ, und europäische Bildung wird es in einem besonderen Grade sein. Freilich verlangt gerade diese Einsicht, daß wir uns vom Zufall und von der Konvention freimachen, die nur bestimmte Teile der Überlieferung für Überliefernswert, für bildungsnotwendig hielten. Die Lehrpläne der Höheren Schulen sind keineswegs Strukturpläne der wahren Überlieferung, und es war keine wahre Er—innerung, sondern eine Selbsttäuschung, wenn in den Schulen früher vornehmlich von den Kriegen die Rede war oder von den patriarchalischen politischen Ordnungen und viel weniger von den Werken des Friedens und von den andersartigen politischen Ordnungsformen, die in den genossenschaftlichen Ansätzen der abendländischen Geschichte erstrebt wurden. Heute heißt Bildung, die Überlieferung in viel größerer Breite und Tiefe öffnen, und freilich dann zugleich: in ihr zu scheiden, zu unterscheiden, ja geradezu über sie zu entscheiden; ich kann die Über-lieferung Katholizismus und die Überlieferung Protestantismus nicht anders vergegenwärtigen, als indem ich in schärfster Anspannung jener „Klugheit hinterher", die eine sehr menschliche Weise der Klugheit ist, das Reformationsgespräch neu aufnehme und mich in ihm neu entscheide, und so haben wir nicht nur das, was zum Ersten Weltkrieg führte, oder die großdeutsch-kleindeutsche Kontroverse, nicht nur Aufklärung, Reformation, Investiturstreit und Heiliges Reich, sondern selbst das alte große Schisma, dessen Folgen unter anderem im Bolschewismus auf uns zukommen, und vieles andere neu durchzufechten und vor allem durchzuklären. Ich bin der Meinung, daß die Menschheit dieses Jahrhunderts außerordentlich kühn und großzügig neue unerhörte Taten zu tun hat, wenn sie auf menschliche Weise existieren will, — aber ich kann mir diese Taten nur dann groß und richtig und menschlich entworfen und getan denken, wenn sie aus dem Grund einer Bildung entworfen werden, welche Erinnerung ist, tiefe Vergegenwärtigung dessen, was wir sind, indem wir es geworden sind. Aber auch Chinas Geschichte und Über-lieferung — ein Beispiel für vieles Ähnliche — ist heute nicht nur als ein interessantes exotisches Stück Wirklichkeit für unsere Bildung von einiger Bedeutung, sondern wir gewinnen ein Existenzinteresse an dieser Geschichte, so wie der Mann, der eine Frau zu lieben beginnt und zu heiraten gedenkt, dadurch ein Existenzinteresse an der Lebensgeschichte dieses Mädchens und ihrer Familie gewinnt: weil sie selbst ihn nun angeht und weil seine Kinder nun auch die Kinder dieser Frau sein werden. LInsere Urenkel in der einen Welt werden unter anderem auch die Erben chinesischer Überlieferung sein, — manche Missionare wissen es bereits.

Eine andere Vorstellung der hohen Zeit der Bildung, die wahr und unverbindlich bleibt, ist die Vorstellung, daß sich der einzelne Mensch zur Gestalt des gebildeten Menschen bilde, indem er an der Welt der Bildung, einem gemeinsamen Reich, teilnehme. Unsere Bildungsvorstellung hat in der Tat zwei Aspekte, die wir beide festhalten müssen. Da gibt es jene persönliche Bildung, die schon mit der Geburt ansetzt, ja mit der Zeugung begann: die Ausprägung des Menschenwesens zur wohl-gebildeten Gestalt, die Bildung seiner persönlichen Struktur. Bildner sind vor allem die Eltern, die Geschwister, die anderen Partner der kleinen Welt, und schon diese erste Grundbildung, Daseinsbildung des jungen Menschen geschieht in Partnerschaft und Gemeinschaft und auf Welt hin. Schon diese Grundbildung gipfelt im Gespräch, in der Kunst, menschlich miteinander zu sprechen, menschlich miteinander umzugehen, — ist also bereits politische Grundbildung. Aber es setzt doch dann etwas Neues ein, wenn dieses Wesen Anteil an der großen Welt, der geschichtlichen Welt, an der Gesellschaft zu nehmen gewinnt. Das zehnjährige Kind kann wohlgebildet sein, viel Entscheidendes für seine Bildung ist geschehen, aber einen gebildeten Menschen werden wir den jungen Menschen erst nennen, wenn er sich im Bereich des allgemeinen gesellschaftlichen Bewußtseins sicher bewegen kann. In einfachen Kulturen und Kulturinseln wächst der junge Mensch in eine festgeprägte Welt hinein, gewinnt durch Lehre und Übung seinen Platz in ihr ünd wird in sie eingeweiht, das ist jene Daseinsweise, welche die gebildeten Stände früher als „das Volk“ bezeichneten. In den Hochkulturen dagegen tritt der Mensch in die Gesellschaft und Geschichte ein durch Bildung. Diese Doppelstruktur von Bildung ist festzuhalten. Das Gerede von der „Herzensbildung", die allein vonnöten sei, verkennt sehr oft die Bedeutung jenes Wissens vom Allgemeinen, es entsteht sehr oft aus der Verlegenheit, jenes allgemeine Wissen nicht mehr aneignen zu können, keine Auswahlprinzipien mehr zu haben. Andererseits ist es mindestens ebenso wichtig festzuhalten, daß alles Wissen vom Allgemeinen nur dann zum Bildungswissen wird, wenn es in eine wahre eigene Struktur ausgenommen wird. Auch politische Bildung muß in diesem Sinne Herzensbildung sein. Von Bildung kann keine Rede sein, wenn einer in der Politik verrät und verachtet, was er in seiner Ehe verwirklicht und verehrt. Auch in der politischen Bildung sind wir unterwegs zu uns selbst, und umgekehrt partizipieren wir auch in der Selbstbildung am geschichtlichen Schicksal unserer Welt, beides ist untrennbar voneinander. Das zu versuchen, unterscheidet den politisch gebildeten Menschen unter anderem vom reinen politischen Funktionär aller Stufen, vom Wähler bis zum Staatsmann.

Vom universalen Anspruch jener alten Bildung ist eines festzuhalten:

der Versuch, das Ganze in der Bildung und als Bildung zu haben. Aber wir können dieses Ganze nicht mehr als das Universale haben, sondern nur noch auf andere Arten, von denen ich zwei nennen möchte: die perspektivische Art und die Vermittlung. Perspektivisch, — das bedeutet:

von dem Ort her, wo wir stehen, regional und der Funktion nach. Die Berufsausbildung schien lange in einem schiefen Gegensatz zu einer vom Leben abgewandten sogenannten humanistischen Bildung zu stehen: so sehr man die Bildung vor einer Verwechslung mit der Ausbildung bewahren muß, so sehr kann heute Bildung nur gewonnen werden durch das Medium der Ausbildung hindurch, und später sodann vor allem durch den Beruf selbst hindurch. Der Beruf ist ja der Ort, wo der Mensch gründliche Erfahrungen machen kann, der Bereich, in dem er zuhause ist, in dem er Bescheid weiß, in dem er Autorität gewinnt. Nur dieser Bezirk kann der Ausgangspunkt einer perspektivischen Bildung sein. Diese Bildung selbst wird dann freilich nur durch eine neue zusätzliche ständige Anstrengung gewonnen, durch Auseinandersetzung mit Nachbargebieten, durch Ausbildung gegensätzlicher, kompensierender Wissensbereiche, und im Ansteuern des Ganzen. Man unterscheidet heute den gebildeten Arzt, den gebildeten Bauern, den gebildeten Chemiker vom ungebildeten am einfachsten an der Frage, ob und wie weit er in Nachbargebieten zuhause ist. Eine andere Testfrage ist, ob einer das Grundphänomen seiner Lebensarbeit ergreift und sich dadurch in eine Beziehung zum Ganzen setzt. Ein Jurist z. B. kann nur als gebildet gelten, wenn er seine Jurisprudenz und seine Berufserfahrung als Dienst am Recht und an der Gerechtigkeit zu verstehen weiß und durch dieses Verständnis mit der Gesellschaft und der Geschichte verbunden ist. Für die politische Bildung sehr vieler Menschen ist freilich die andere Seite des Berufs mindestens ebenso wichtig: seine gesellschaftliche und politische Wertigkeit, das Maß von Recht und Macht und nicht zuletzt vom Anteil am Sozialprodukt, das ihm nach der Konvention oder dem Gesetz oder nach den Machtverhältnissen zusteht. Vor allem dort, wo dieses Maß als Unrecht empfunden wird, entsteht in der Bewegung zur Beseitigung dieses Unrechts und zur Erlangung des Rechts gleichsam ein zweiter Mittelpunkt politischer Bildung. Arbeiterbildung war in den Zeiten des historischen Befreiungskampfes der Arbeiterschaft wesentlich auch Bildung von hier her, Bildung für den Kampf. In der Formel „Wissen ist Macht" drückte sich das sehr schief und einseitig aus, aber eine Bildung, die Daseinserhellung sein will, begreift in der Tat den Willen zur Daseinsbewältigung ein. Auch das muß unsere Bildung von der ästhetischen unterscheiden. Das wirtschaftliche Interesse, das oft fälschlich als materialistisch schlecht gemacht wird, während doch ein legitimer Lebenswille und Aufstiegswille, viel Sorge für Weib und Kind, Geltung in der Gesellschaft und viele andere höchst respektable Dinge mit ihm verbunden sind, — dieses wirtschaftliche Interesse und der Wille zur sozialen Gerechtigkeit als der Ordnung der einander begrenzenden Interessen sind zwei elementare Impulse und Kräfte im politischen und geschichtlichen Prozeß. Eine personale politische Bildung muß unter anderem von dem Existenzinteresse in diesem doppelten Sinn ausgehen. Sie wird gesellschaftspolitische Bildung sein müssen, aus dem Ort entwickelt, an dem einer steht, und auf das Ganze der Gesellschaft hin entworfen. Solange legitimerweise Klassen einander gegenüberstehen, wird politische Bildung Züge einer Klassenbildung haben; wo Gruppen gegeneinander oder miteinander zu tun haben, wird Bildung Züge dieser Gruppenexistenz haben müssen. So ist es in der heutigen politischen Bildungsarbeit unvermeidlich, Arbeiterbildung, Bauernbildung, Unternehmerbildung und manches andere zu unterscheiden, — als Ausgangs-zonen einer politTschen Bildung, die je das Ganze zu verstehen sucht, als Ausgangszonen auch der Entstehung einer politischen Elite, die auf dem Wege zu einem gemeinsamen politischen Bewußtsein ist.

Regional läßt sich im Zeitalter der Einen Welt Vergleichbares sagen. Wie die Kommunalpolitik überhaupt unterschätzt wird, so erst recht der bildende Wert einer lebendigen Anteilnahme an der Kommunalpolitik. Hier läßt sich nicht nur im technischen Sinn das politische Geschäft leichter einüben, sondern hier findet auch die eigentliche politische Bildung als persönliche Integration ein gutes Feld: eine menschliche Haltung zum Freund, zum Feind und zum Partner, die Einordnung des Politischen in andere menschliche Bereiche, wie Nachbarschaft und Ver• der Kompromiß, der Plan, der Kampf, Sieg und Niederlage, vor allem das Gespräch als das politische Grundphänomen: hier könnten sich sehr viele Menschen solche Strukturen aneignen, die alles das in der hohen Politik nur durch allerlei Vermittlungen erfahren können. Hier lassen sich auch leichter als in der großen Politik neben den Parteien freie Zentren politischer Arbeit und Begegnung aufbauen, die für die politische Bildung meist wichtiger und ergiebiger sind als die Parteien. Doch darf auch die Parteiarbeit nicht unterschätzt werden: auch die Direktheit der Partei, ihre Disziplin, ihr Wille zur Leistung und zum Erfolg kann den Menschen politisch bilden, wenn dies alles nicht zu Zerrformen entartet ist. Jedenfalls geht der Weg zu einer im praktischen Sinn politischen Bildung von einem Bereich persönlicher politischer Erfahrung aus. Nur aus einer Basis von unzähligen Menschen, die so politisch in Beziehungen von Mensch zu Mensch gebildet sind, kann sich eine politische Elite entwickeln, die den geschichtlichen Aufgaben der Menschheit gewachsen ist.

Diese Elite kann nicht anders entstehen, als indem sie aus jener breiteren Schicht von politisch Gebildeten herauswächst, und sie muß sich ständig auf sie beziehen können, wenn sie nicht zu einer Kaste von Funktionären oder gar zu einer herrschenden Kaste versteinern soll.

Das zweite Mittel, durch das einer heute am Ganzen Anteil haben kann, ist die Vermittlung. Da ich von Elite sprach, habe ich schon eine Weise der Vermittlung erwähnt. Aber es gibt ihrer viele. Ich denke nicht so sehr an den Fachmann, der für uns weiß, was wir nicht wissen können. Gewiß gehört zur Bildung auch, daß ich weiß, wo ich nach-schlagen kann, aber jenes lebendige integrierte Wissen hat Lücken, die nicht der Experte schließen kann, sondern nur der Mann meines Vertrauens. Niemand kann heute auf eigene Faust gebildet sein, gebildet sein kann man nur mit seinen Freunden zusammen, deren jeder für seinen Erfahrungsbereich einsteht. Ein Philologe, der nicht einen Arzt und einen Juristen zum Freunde hat, mit dem zusammen er das Geschäft der Bildung angehen kann, hat geringe Aussichten ein gebildeter Philologe zu werden. Nur durch Vertrauen zu anderen kann ich auch politisch gebildet werden, denn zu den Elementen eines politischen Weltbildes gehören viele wesentliche Dinge, die nicht wissenschaftlich verifizierbar sind oder die nicht durch einfache Augenzeugeschaft zu klären sind. Der Sinn für Glaubwürdigkeit entscheidet mit über die Qualität unseres politischen Weltbildes. Und diese Glaubwürdigkeit ist nicht einfach durch objektive Kriterien zu bestmmen. Gewiß ist durch solche Kriterien ein Rattenfänger von einem anständigen Mann zu unterscheiden, aber außer dieser Art objektiver Glaubwürdigkeit steht noch infrage, ob der Mann vor dem verantworteten Ergebnis meiner Erfahrungen besteht: ob ich ihm glauben kann und darf und soll. Politische Bildung besteht unter anderem wesentlich in der Sicherheit dieses Vermögens, in der sicheren Wahl der Vertrauenspersonen für jede wesentliche Frage, die ich nicht kraft unmittelbarer eigener Einsicht verantwortlich klären kann. Dazu gehört ebenso sehr die Fähigkeit zum Vertrauen wie die Fähigkeit zur Kritik, ebenso sehr ein gutes Selbstbewußtsein wie eine klare Selbst-bescheidung. Ein Vater und eine Mutter, die ihre Kinder in den entscheidenden Jahren der Grundbildung so bilden, daß sie jene Fähigkeiten zum Vertrauen und zur Kritik, jenes Selbstbewußtsein und jene Selbst-bescheidung besitzen, haben mehr für die politische Bildung ihrer Kinder getan, als es die beste staatsbürgerliche Erziehung und die umfassendste politische Information tun können.

Wenn ich im letzten Teil einen Blick auf die Methoden politischer Bildung werfe, so haben sich aus alledem wohl schon einige Ansatzpunkte dafür ergeben, doch möchte ich an dieser Stelle den Vorbehalt wiederholen, den ich eingangs gemacht habe. Wenn man dreiviertel Stunden lang positiv von Bildung und politischer Bildung spricht, kann man wohl leicht in den Verdacht geraten, ein Bildungsoptimist zu sein. Ich habe zwei Vorbehalte zu wiederholen: Im Zeitalter der Einen Welt und der Massengesellschaft, der entfesselten technischen Kräfte und menschlichen Leidenschaften, der Klassen und der Imperien kann uns nicht die Bildung allein vor dem Chaos retten und zu jenen großen menschlichen Ordnungen gelangen lassen, die uns vor dem Chaos oder vor unmenschlichen Scheinordnungen bewahren werden. Dazu bedarf es des Glaubens, der Phantasie, der Solidarität, der Disziplin im Zusammenwirken von Millionen. Bildung, viel Bildung, reich gestufte vielerlei Bildung ist unter anderem dazu vonnöten, aber Bildung kann weder jene Phantasie erwecken und jene schöpferischen Kräfte erzeugen, noch die politische Sittlichkeit als Solidarität, Disziplin, Opfer und Tat, Man muß hoch von der Bildung denken, aber das Schicksal der Menschheit wird doch wohl aus Schichten in uns entschieden werden, die unterhalb und oberhalb jener mittleren Sphäre liegen, die wir Bildung nennen. Der andere Vorbehalt geht auf die Schwierigkeit der Bildungsaufgabe. Jeder, der redlich versucht, auf eine dem Ernst der geschichtlichen Stunde gemäßen Art heute selbst ein Gebildeter zu werden, weiß, wie schwierig diese Aufgabe ist. Was aber die Bildungs arbeit betrifft, die Aufgabe, andere zu bilden, das Volk der Bundesrepublik zu einem Volk von politisch Gebildeten zu machen, so hat man es damit dem Widerstand derer zu tun, die das anstrengende Geschäft der Selbstbildung nicht auf sich nehmen wollen, sondern es vorziehen, Interessenten, Träumer, Massenteilchen, Idealisten, Funktionäre, Geschäftsleute, Lohnempfänger, Rentenempfänger, Weisungsempfänger oder sonstwas zu bleiben, — am Ende auch eben „Gebildete“ zu bleiben, Stifter-Leser und Van-Gogh-Verehrer und nichts als das. Niemals werden alle gebildet sein. Auch verfängt man sich sehr bald in schrecklichen Zirkeln. Müßte nicht die politische Bildung mindestens in der Schule beginnen, wenn nicht schon im Elternhaus? Aber brauchte man dazu nicht politisch gebildete Lehrer und Studienräte, politische Bildner? Aber müßte man dann nicht zuerst die Lehrerbildungsanstalten reformieren? Aber bedürfte man dazu nicht mutiger Kultusministerien? Einsichtiger Parteivorstände, die sie bestellen, und also politisch gebildeter Wähler? Wie aber sollen sie anders entstehen, als wenn sie in der Jugend richtig gebildet werden, und so säßen wir denn wieder in der Volksschule. Ein anderer Zirkel steckt in der Erkentnis, daß nur ein politisch gebildetes Volk eine gute Politik macht und daß nur im Machen einer guten Politik ein Volk politisch sich bilden kann. Und es müssen nun einmal viele Völker in sehr verschiedenen Zuständen auf ihre Art gebildet werden, wenn das Werk der Einen Welt einigermaßen gelingen soll, von den Negern der Mau-Mau-

Gebiete bis zu den Bürgern dieser Stadt.

Ich sprach von Zirkeln des Unheils, aber zum Glück läßt sich aus dieser Zirkel-Struktur doch auch eine positive Lehre ableiten: Man kann an vielen Stellen anfangen, diesen Zirkel in der umgekehrten Richtung in Bewegung zu bringen, man braucht nicht an einer zentralistischen Riesenaufgabe zu verzweifeln, an einem Monstre-Bildungsplan. Wir können pluralistisch ansetzen, an vielen Stellen zugleich, — an die Stelle des Monstre-Plans tritt verständige Nachbarschaft und das Vertrauen in die geheime Verwandtschaft vieler guter Bemühungen. Nur der Kreml bildet sich ein, die totale Bildung der Menschheit total bestimmen zu können. Es gibt keinen realen Ort für das Insgesamt der politischen Bildungsaufgabe außer eben der Menschheit selbst. Wir dürfen die Bildung nicht überfordern. Wenn jener Vater und jene Mutter vor ihrer Bildungsaufgabe nicht versagen, haben sie einen großen Teil dessen getan, was sie auf dem Felde politischer Bildung für die Menschheit tun können.

Ich kann unmöglich die Fülle jener pluralistischen Bildungsarbeit auch nur andeuten. Jeder einzelne Mensch ist ein Ansatzpunkt, für sich selbst und für seine Partner. Eine Gesellschaft, wie die Wirtschaftspolitische Gesellschaft, der ich die Gelegenheit verdanke, heute abend zu Ihnen zu sprechen, ist ein hervorragendes Instrument politischer Bildung. Wenn freie Zusammenschlüsse dieser Art sich außerhalb sowohl der politischen Einrichtungen des Staates als auch der unmittelbaren gesell-

schaftspolitischen und politischen Zusammenschlüsse, der Interessenverbände und der Parteien etablieren, so tun sie das nicht nur, um zum weitsichtigen politischen Handeln zu führen, sondern auch, um politisch zu bilden, und am besten gelingt ihnen beides, wenn das eine in dem anderen geschieht: wenn sie die Menschen zu einem großzügigeren Konzept des Handelns bringen, als es ihnen von den unmittelbaren politischen Organen angeboten wird. Eine ähnliche Bedeutung kommt der freien Publizistik zu, der verantwortlich geführten unabhängigen Tageszeitung, dem unabhängigen Rundfunk, der Zeitschrift, nicht zuletzt dem politischen Buch, das eine ganz exceptionelle Bedeutung hat. Muß es doch uns isolierten und introvertierten Deutschen heute wirksam helfen, uns für das Mitwirken an der Einen Welt allmählich reif zu machen.

Da wo dieses Angebot an informativem und meinungsbildendem Material in der Volksbildungsarbeit an den Menschen vermittelt wird, in den viel zu schlecht dotierten öffentlichen Büchereien, in den Volkshochschulen, in der Bildungsarbeit der Gewerkschaften, aber auch schon in den Schulen ergeben sich heute schwierige Fragen aus der Differenz der Grundentscheidungen. Die großen Weltbilder und die politischen Grundentscheidungen wirken ja in alle Bildung hinein. Wir sprechen heute in Deutschland mindestens drei Sprachen, die liberale, die christliche und die marxistische, und in vielen Dialekten. Ganz gewiß ist dieses Bildungsproblem weder durch Sachlichkeit allein noch durch Neutralität zu lösen: die von jenen Grunddeutungen losgelöste reine Sachinformation kann manchen Zweifel klären und manchen Streit schlichten, aber nicht jeden, und von einem neutralen Bildner, der in der Bildungsarbeit von seinen eigenen Grundüberzeugungen abstrahiert, geht keine bildende Kraft aus. Wo man mit offenen Karten spielt, die eigene Überzeugung nicht verhehlt, aber zwischen ihr und der verifizierbaren Wahrheit zu unterscheiden weiß, die anderen Überzeugungen gelten läßt und aktiv in die Arbeit miteinbezieht, wo man mit dem Partner und sich selbst Geduld hat, ist man auf dem richtigen Weg.

Aber mir erscheint fast noch wichtiger, als diese ausdrückliche politische Bildungsarbeit, daß die Schulen ihre Aufgabe erkennen. Das bedeutet zum Teil, daß die Lehrer ihre verständliche Scheu vor dem politischen Engagement überwinden und an die neue Aufgabe ernstlich, ja leidenschaftlich herangehen. Die Staatsbürgerkunde, der Sozialunterricht oder wie immer man das der politischen Bildung dienende Fach nennt, genügt bei weitem nicht. Es ist klar, daß die Fächer Deutsch, Geschichte, Geographie, alte und moderne Sprachen und durchaus auch die Religionsstunde eine Fülle von Gelegenheiten bieten, die verpaßt oder wahrgenommen werden können. Auch die Bemühungen der Schule, den jungen Menschen in seine Umwelt methodisch einzuführen, gehören hierhin, bis zu den Schulausflügen zum Bundeshaus nach Bonn und zum Schüleraustausch mit dem Ausland.

Man darf freilich in alledem die Tatsache nicht vergessen, daß sich einige wesentlichen Seiten der Politik dem Jugendlichen nicht erschließen. Der volle Existenzernst, aus dem der Ernst der politischen Anstrengung und auch der oft tragische Ernst des politischen Kampfes kommt, ist erst dem Menschen zugänglich, der selbst Verantwortung trägt, im Durch-schnittsfall den Familien-Väter und -Müttern. Für den Sinn des Kompromisses hat umgekehrt der junge Mensch mit seiner Art von Ernst, mit dem idealistischen Ernst, kein Organ. Er steht dann oft vor der Wahl, ob er sich von der Kompromißlerei entrüstet abwenden oder zynisch daran Gefallen finden soll. Aus solchen Erkenntnissen ergibt sich daß sich die politische Jugendbildung bei aller informativen Nähe noch in einer gewissen Distanz vom politischen Kampf selbst vollziehen sollte. Wo ein Volk oder eine Klasse in äußerster Anspannung kämpft, wird diese Distanz nicht zu wahren sein: der junge Mensch wird hineingezogen, er will es so, und die Eltern müssen es auch wollen. Wo aber diese äußerste kämpferische Anspannung nicht vonnöten ist, sollte man den jugendlichen Menschen schonen, — um seiner Bildung willen. Ich würde es deshalb gerne hören, wenn selbst die Jugendarbeit der Parteien stärker an der Sach-Information als an dem an sich legitimen Kampf der Parteien ausgerichtet wäre. Natürlich erhält die politische Bildungsarbeit durch diese Distanz etwas Künstliches. Das eigentliche Geschehen selbst kann nicht eingeübt werden. Politische Jugendbildung kann nie so unmittelbar und so echt sein wie etwa musische und künstlerische Jugendbildung, in der ja das Eigentliche auf jugendliche Art selbst geschehen kann. Natürlich kann man Politik spielen. Man kann Parlament spielen, und einiges dabei lernen. Das Eigentliche aber natürlich eben nicht.

Viel mehr würde ich von einer anderen Art von Übung halten: von der Selbstverwaltung der Klassen und Schulen. Hier werden politische Kategorien auf echtere Weise eingeübt als beim Parlament-Spielen. In gewisser Hinsicht war die alte Schule ein Modell des alten patriarchalisch-autoritären Staates, und die neue könnte und sollte etwas mehr das Modell eines kooperativen, auf Solidarität, Vertrauen und Kritik gestellten Staates sein. Je mehr die Schule diese Struktur haben wird, umso besser werden die Kinder in ihr auf die politische Welt vorbereitet werden, die sie erwartet. Wichtiger noch als die formelle Selbstverwaltung ist da aber die gemeinsame Bewältigung von Situationen, von Zwischenfällen, von äußeren und inneren Störungen, von Aufgaben. Die soziale Grundstruktur der politischen Struktur läßt sich nirgends besser einüben als m Ernst der Ergebnisse selbst, die in der Schule geschehen, in der konkreten Geschichte einer Klasse, einer Schule, vom Klassenausflug bis zu der Art, wie eine Klasse mit einem Dieb fertig wird. Natürlich wäre es unpädagogisch, im Ernst dieser Ereignisse selbst sogleich didaktisch die politische Nutzanwendung zu ziehen. Aber wenn das hinterher eines Tages geschähe, wenn der Lehrer den jungen Menschen den sozialen und politischen Gehalt dessen auf-wiese, was sie erfahren, unterlassen und getan haben, der Lehren, die sie gezogen, der Ordnungsstrukturen, die sie dabei geschaffen oder doch anvisiert haben, — dann geschähe, meine ich, die beste Art von politischer Bildung, zu der die Schule fähig ist.

Lassen Sie mich zum Schluß, verehrte Damen und Herren, in wenigen Sätzen noch einmal begründen, warum politische Bildung in unserem Zeitalter ins Zentrum der Bildung überhaupt gehört.

Bildung ist nicht ein Reich hoher Gedanken und Gestaltungen. Bildung ist Daseinserhellung auf Daseinsbewältigung hin. Unser menschliches Dasein wird heute vor allem im Bereich der politischen Ordnung und Unordnung herausgefordert. Politische Ordnungen oder Unordnungen oder Scheinordnungen werden darüber entscheiden, ob wir und unsere Kinder und Enkel die Chance haben werden, ein wahrhaft menschliches Leben zu führen. Wenn das Dasein selbst in diesem Maße politisch geworden ist, wird Bildung als Daseinserhellung diese Wahrheit in ihrer Tiefe und Breite zu entdecken haben. Wenn Bildung uns dazu fähiger machen soll, unser Schicksal zu bestehen, dann muß sie uns heute fähiger machen, unser politisches Schicksal zu bestehen. Das gilt für die chinesische Bildung und die indische so gut wie für die abendländische, für die Bildungseliten so gut wie für jedermann.

Fussnoten

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