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Der 30. Juni 1934 | APuZ 25/1954 | bpb.de

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APuZ 25/1954 Der 30. Juni 1934 Charakter und Demokratie

Der 30. Juni 1934

Helmut Krausnick

Bedeutung -Hintergründe -Verlauf

Abbildung 1

Über die geschichtliche Bedeutung des 30. Juni 1934, der sich in diesen Tagen zum zwanzigsten Male jährt, kann für den Rückschauenden eine Unklarheit nicht mehr bestehen. Wohl waren entscheidende Akte der Grundlegung des totalen Staates in Deutschland vorausgegangen. Am 30. Juni 1934 jedoch hat sich das nationalsozialistische Regime in seiner Auffassung von Recht, Gesetz und Menschenwert durch die absolute Schrankenlosigkeit planmäßiger Gewaltanwendung endgültig dokumentiert und ausgeprägt. Wenn die deutschen Zeitgenossen sich dennoch in ihrer Mehrheit hierüber hinwegtäuschen ließen, so wird man dies der Verschleierungstaktik der damaligen Staatsführung nur in begrenztem Maße zuschreiben dürfen. Schon daß Hitler in seinem „Rechenschaftsbericht" vor dem Reichstag am 13. Juli offen erklärte: wenn drei Hoch-verräter in Deutschland mit einem ausländischen Staatsmann eine Zusammenkunft durchführten, dann lasse e r „solche Männer totschießen“, — daß er theatralisch ausrief: „In dieser Stunde war ich verantwortlich für das Schicksal der deutschen Nation und damit des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr!“, ließ für die künftige Rechts-und Staatsentwicklung das Schlimmste erwarten. Aber noch weit deutlicher, weil grundsätzlich und im peinlichsten Sinne des beliebten Zeit-Wortes „richtunggebend“, hat sich bereits am 12. Juli der zweite Hauptakteur des Blutbades, Göring, in einer Rede vor den Generalstaatsanwälten und Oberstaatsanwälten geäußert. Es erscheint wie ein Sinnbild für alles Kommende, wenn er dabei in Begleitung Himmlers, Heydrichs und Roland Freislers auftrat.

Was vom 30. Juni bis zum 2. Juli vor sich ging, so erklärte er, sei die Befreiung des deutschen Volkes von einem ungeheueren Alpdruck gewesen. Die Unsicherheit, die bis zu dem tatkräftigen Eingreifen des Führers zeitweise bestanden habe, sei jetzt behoben. Wie Hohn wirkt, zumal aus der Rückschau, diese euphemistische Version. Mit einer für die damalige Phase erstaunlichen Offenheit hingegen bemerkte Göring: „Wir kennen nicht den übertriebenen Satz, daß alles zusammenbrechen könne, wenn nur das Recht bleibt. Wir sehen das Recht nicht als etwas Primäres an, sondern das Primäre ist und bleibt das Volk . . . Dieses Recht ... ist ja von uns geschaffen und dort, wo wir es vorfanden, es unserer Weltanschauung aber nicht entspricht, wird es umgeändert. Das Recht und der Wille des Führers sind eins“. Und alsbald folgte die Nutzanwendung dieser zweckvollen Theoretik auf die unmittelbare Vergangenheit mit letzter Deutlichkeit: „Das Handeln der Staatsführung in diesen Tagen war die höchste Verwirklichung des Rechtsbewußtseins des Volkes. Nachdem nun dieses Handeln, das an sich schon rechtens war, auch seine gesetzliche Normierung gefunden hat, kann keine Stelle mehr das Recht zu irgendeiner Nachprüfung dieser Aktion für sich in Anspruch nehmen". Nach einer so unmißverständlichen Warnung der versammelten „Hüter des Rechts“, wie Göring sich wirklich ausdrückte, mochte er eine Konzession an ihr Gewissen doch für angebracht halten. Soweit Ausschreitungen vorgekommen sein sollten, bemerkte er nämlich, seien sie als Verbrechen ohne Ansehen der Person zu ahnden. Doch ebenso brutal wie naiv zog er das Fazit seiner Ausführungen mit den für normale sittliche Kategorien schlechterdings unvereinbaren Sätzen: „Ich habe Ihnen klar zum Ausdruck gebracht, daß die Herrschaft des Rechts unmißverständlich zu sichern ist. Es kann nur eine Rechtsauffassung gelten und zwar die, die der Führer selbst festgelegt hat“. Und auch das Schlußwort des anwesenden Reichsjustizministers Gürtner, das der „Völkische Beobachter“ eines Abdrucks nicht mehr für wert erachtete, sei der Vergessenheit entrissen: Denn wirklich sprach dieser „seinen besonderen Dank aus für die ernsten und überaus eindrucksvollen Aueführungen", in denen der Redner „alles behandelt habe, was den Anwesenden auf dem Herzen brenne“. Gürtner „gab der Überzeugung Ausdrude, daß die Vertreter der Staatsanwaltschaft diese Besprechung mit einem Gefühl der inneren Sicherheit verlassen könnten, wie es von jedem verlangt werde".

Die gesetzliche Normierung, von der Göring gesprochen hatte, war bekanntlich am 3. Juli mit jenem Gesetz der Reichsregierung erfolgt, welches besagte: „Die zur Niederschlagung hoch-und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni am 1. und 2. Juli vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens". Man hat die Beteiligung eines Reichs-justizministers an diesem Akt mit seiner Erwägung verteidigt: andernfalls „wäre die Bahn freigemacht worden für alle Verbrecher, die sich auf die Staatsraison berufen hätten!" Es habe festgelegt werden müssen, daß ein Verbrechen immer ein Verbrechen bleibe, sofern es nicht durch Gesetz als ein Akt der Staatsnotwehr „legalisiert" werde, „der politisch gerechtfertigt war und nur wegen seiner Form einer den Formfehler (!) heilenden Billigung bedurfte“. Diese Verteidigung erfordert kaum einen sachlichen Kommentar. Sie ist bestenfalls bezeichnend für die Bereitwilligkeit, mit der noch immer bürgerliche Minister gegen vage Versprechungen Hitlers reelle Mitverantwortung auf sich nahmen. Denn ihre „Voraussetzung", daß wenigstens die willkürlichen Gewaltakte untergeordneter Organe strafrechtlich geahndet werden würden, war ernstlich kaum gegeben und hat sich praktisch mindestens in keinem irgendwie wesentlichen Ausmaß erfüllt. Nachkriegsprozesse haben vielmehr ans Licht gebracht, daß beispielsweise in Schlesien auch diejenigen Strafverfahren, die Staatsanwälte in Fällen einer nicht von oberster Stelle angeordneten Erschießung eingeleitet hatten, durch Hitler niedergeschlagen worden sind. Selbst diese erneuten Rechtsbrüche hat nach glaubwürdigem Zeugnis der Reichsjustizminister durch die Hitler abgerungene „förmliche" Niederschlagung „heilen" helfen. Für die Gesamtbeurteilung aber ist namentlich eines festzuhalten: Nicht sowohl die angeordnete Erschießung der SA-Führer oder jene „wilden“ Gewaltakte, als vielmehr die planmäßige „Miterledigung" bloßer politischer Gegner unter Benutzung der „einmaligen“ Gelegenheit gibt dem 30. Juni rechtlich gesehen seine eigentliche Signatur. Es war nicht anders: Die Staatsführung hatte gemordet, und der Mörder selbst erklärte seinen Mord nachträglich für rechtens.

Dieser rechtsvernichtende Charakter des 30. Juni steht für die heutige Betrachtung notwendig in erster Linie. Die spezifisch politischen Folgen des Ereignisses sind indessen kaum weniger groß und sind heute nicht minder deutlich. Sie liegen einmal in der weitgehenden Stabilisierung der Macht und Autorität Hitlers selbst. Sie liegen ferner in der endgültigen politischen Ausschaltung der bürgerlichen Welt, von der ein Teil Hitler zur Macht verhelfen hatte. Der Schlag gegen die „Reaktion“ gab dem Vorgang nicht nur die im nationalsozialistischen Sinne dringend erwünschte „Ausgeglichenheit"; er beschränkte zugleich die einstigen bürgerlichen Akteure fortan auf die Rolle entweder für sich allein ohn-mächtiger Verschwörer oder ausgenutzter Handlanger des Regimes. Noch größere Erfolge für Hitler aber bedeuteten die „Verpflichtung" der Reichswehr durch die Entmachtung der SA und die gelungene moralische Bindung ihrer höchsten Führer durch deren wenigstens mittelbare Beteiligung an seinem Vorgehen. Sie kam in der Deckung zum Ausdrude, die Blomberg und Reichenau den beispiellosen Methoden, selbst gegen zwei der Ihrigen, vor dem Offizierskorps, ja durch Interviews mit ausländischen Pressevertretern auch vor der Öffentlichkeit gewährten. Überdies: Im gleichen Augenblick, in dem die Reichswehr die Konkurrenz der SA verlor, versprach Hitler der SS die Aufstellung eines selbständigen, modern bewaffneten Verbandes in Divisionsstärke neben dem angeblich „einzigen Waffenträger“ Reichswehr! Dazu kam die Emanzipation der SS von der SA und ihre Erhöhung zu der „mächtigen Organisation, die dem weiteren Verlauf der Geschichte des nationalsozialistischen Regimes sein charakteristisches Gesicht gegeben hat“ (Hermann Mau).

So klar mithin die Folgen des 30. Juni heute erkennbar sind, so viele Schwierigkeiten bereitet es noch immer, die Zusammenhänge und Hintergründe des Ereignisses selbst in dem erforderlichen Maße aufzuhellen. Man braucht nur einmal die mühevollen Deutungen zu studieren, die zwei so hervorragende ausländische Darsteller wie Alan Bullock und J. W. Wheeler Bennett, zum Teil freilich auf Grund apokrypher Literatur, neuerdings unternommen haben, um zu erkennen, wie tief das Dunkel ist, das die nationalsozialistische Staatsführung aus guten Gründen über den Vorgang gebreitet hat. Es sei versucht, mit Hilfe wesentlich nachträglicher Zeugnisse die hauptsächlichen Indizien zum Bilde zu fügen. „Der graue Fels muß in der braunen Flut untergehen“

Die SA war von der innerpolitischen Entwicklung seit der zweiten Hälfte des Jahres 1933 unbefriedigt. Hitler hatte sie den Garanten für den siegreichen Vollzug der nationalsozialistischen Revolution genannt. Doch diese Revolution schien ins Stocken geraten. Nach dem Sieg der Bewegung, den die SA als ihren Sieg ansah, war sie der Motor der „Gleichschaltung" geworden. Hitler hatte sie zeitweilig zur Hilfspolizei gemacht. Mit und ohne diese fragwürdige Legitimation tobte sie sich an den einstigen Gegnern aus und an denen, die sie solchen gleichachtete — bis sie Hitlers Kreise empfindlich zu stören begann. Der anarchische Terror der SA konnte auf die Dauer die Festigung seines Regimes nur in Frage stellen. Wiederholt hatte Hitler denn auch die Revolution für beendet erklärt: „Die Ideen unseres Programms verpflichten uns nicht, wie Narren zu handeln und alles umzustürzen, sondern klug und vorsichtig unsere Gedankengänge zu verwirklichen". Es war nicht nach dem Sinn der SA, wenn die Taktik über die Dynamik triumphierte.

Den Reichsstatthaltern und den Gauleitern hatte Hitler das Ende der Revolution angesagt und damit die Führer der „Politischen Organisation“ der Partei zu Garanten des „evolutionären" Weges gemacht. Schon die Kampfzeit hatte einen Dualismus zwischen SA und PO gekannt, den Eroberern der Straße und den geschäftigen, „taktisch“ orientierten Amtswaltern, von jenen nicht selten „Angstwalter" tituliert. Jetzt sprach man in der SA mehr und mehr von „Bonzen". Lind unbestreitbar hatten überwiegend die Führer der PO die freigemachten Staats-und Kommunalstellen besetzt, Ortsgruppenleiter waren Bürgermeister, Kreisleiter, Oberbürgermeister oder Regierungspräsidenten geworden u. s. f. Die SA, die ihre Haut zu Markte getragen hatte, wie es hieß, sah sich im Verhältnis dazu fast leer ausgegangen. Was sollte aus ihr werden? Ihre Führer und Unterführer zogen sich auf ihren Kreis zurück, klammerten sich an ihre Organisation und bauten sie, vor allem der Stabschef Röhm, unter Schaffung großer zusammenfassender Gliederungen (Inspektionen), mächtig aus. Als bestellte „Sonderkommissare" beeinträchtigten sie zunehmend die Kompetenzen der Politischen Leiter in der Verwaltung. Die SA schien Selbstzweck geworden. Wollte sie Politik auf eigene Faust treiben? Wie die Partei, wie Hitler darüber dachte, wird augenfällig, wenn Heß — schon am 22. Januar 1934 — im „Völkischen Beobachter" schreiben konnte: „Für die SA oder sonstige Teilorganisationen besteht heute und für künftige Zeiten nicht die geringste Notwendigkeit, ein Eigendasein zu führen . .. Mehr noch, es wäre ein Schaden für die Gesamtheit, wenn sie ihren Eigennutz vor den Gemeinnutz der Partei stellten. Und die Billigung des Führers fänden sie niemals". Eine gefährliche Entfremdung zwischen SA und Partei machte sich geltend, die Hitler später Röhm allein zur Last gelegt hat. Sie ging der Zuspitzung des Verhältnisses von SA und Reichswehr zum „Röhm-Konflikt“ voraus.

In der Masse der SA lebte eine unklare antikapitalistische Stimmung. Sie hatte das soziale Programm der Partei ernst genommen, die SA gleichsam als Vorform der erhofften sozialen Volksgemeinschaft empfunden. Ihr Stabschef Ernst Röhm machte sich zum Interpreten solchen Empfindens. In einer Rede vor dem diplomatischen Korps am 18. April 1934 nannte er die SA „die Fleischwerdung des Nationalsozialismus“. „Wir haben", rief er aus, „keine nationale, sondern eine nationalsozialistische Revolution gemacht, wobei wir besonderes Gewicht auf das Wort „sozialistisch“ legen“. Seine Unterführer, wenn auch keineswegs alle mehr Vorbilder antikapitalistischer Haltung, konnten und wollten sich den Stimmungen ihrer Gefolgschaft nicht entziehen. Teils ihrer Natur nach unruhige Landsknechte, teils verabschiedete Offiziere, nicht ohne Ressentiment gegen erfolgreichere Kameraden von einst, fühlten sie sich überdies selbst von Hause aus zurückgesetzt oder doch unbefriedigt. Beschäftigung, Unterbringung, Eingliederung der SA in den neuen Staat in öffentlich-rechtlicher Funktion wurde somit das Problem, für ihre Führer ein steter Antrieb, für ihre Gegner ein zunehmender Alpdruck. Es lag in der Natur der Dinge, daß sich die Blicke der SA-Führer auf die Reichswehr und ihren künftigen Ausbau richteten. Nach Röhms Vorstellungen sollte die SA, dem Beispiel anderer Revolutionen entspre-chend, das Volksheer der nationalsozialistischen Revolution werden. Dann war „die revolutionäre Linie im Geiste der zurückliegenden Zeit" gesichert und eine sinnvolle Entwicklung der SA gewährleistet. Vor der Öffentlichkeit hielt sich Röhm zwar mit geringen Abwandlungen loyal an Hitlers Formel, die Reichswehr sei der Waffenträger der Nation, die SA der politische Erzieher des Volkes. Doch mußte sein Zusatz: „So war auch das Reichsheer bei der nationalsozialistischen Revolution gänzlich unbeteiligt — ein Vorgang, der in der Geschichte der Revolutionen wohl einzig dasteht" aufhorchen lassen. Infolge der „Überheblichkeit" der mittleren SA-Führung, so hören wir von Seiten des Heeres, war denn auch schon Anfang 1934 das Verhältnis Reichswehr — SA „mehr oder weniger stark getrübt“. Sachlich beschuldigte man die SA der Einmischung in die Heereskompetenzen in den Angelegenheiten des Grenzschutzes und der Mobilmachungsvorbereitung. Ende Januar spitzten sich die Dinge auf die Hauptfrage zu. Leider besitzen wir über Röhms Pläne aus seinem eigenen Kreise nur spärliche Zeugnisse. Nach der Darstellung Blombergs aber reklamierte Röhm praktisch das Gesamtgebiet der Landesverteidigung und ihre Leitung für die SA. Die Einheiten der Reichswehr sollten Mannschaften und Führer ausbilden und sie dann der zur Volksmiliz geformten SA überweisen, die Befehlshaber der Reichswehr den SA-Füh-rern hinfort als „Berater“ zur Seite treten. Röhm sah sich selbst, dies bezeugt auch sein Chefadjutant Bergmann, offenbar als den künftigen Reichsverteidigungsminister, als Chef der vergrößerten Wehrmacht, in der die Kaderarmee der Reichswehr von dem Massenheer der SA umrahmt und aufgesogen wurde. „Der graue Fels muß in der braunen Flut untergehen“, lautete seine angebliche Parole, die jedenfalls in der Armee als solche umging.

Da eine Denkschrift Blombergs und eine Gegendenkschrift einander unvereinbar gegenüberstanden, lag die Entscheidung bei Hitler. Und es war für ihn keine Frage, wie er entscheiden mußte. Auf lange Sicht konnte er mit dem Grundgedanken Röhms sympathisieren. Jetzt aber brauchte er zum Aufbau des Heeres den unersetzbaren Sachverstand der aktiven Reichswehroffiziere. Audi politisch durfte er sich mit dem Heer nicht entzweien. Mit Glück und Geschick hatte er die große Gefahr umschifft, daß unter der Kanzlerschaft Schleichers die Armee selbst sein Gegner wurde. Er durfte jetzt das Vertrauen Hindenburgs nicht durch eine Art Gleichschaltung der Reichswehr enttäuschen, seine Zusage, daß sie der einzige Waffenträger bleiben solle, noch keineswegs brechen. Zwar waren Hindenburgs Tage gezählt. Doch für den Fall seines Todes mußte sich Hitler erst recht den guten Willen der Reichswehr erhalten. Überdies hatte er in Blomberg und Reichenau (dem Chef des Ministeramts) denkbar geneigte Helfer gefunden. Eine Begünstigung der Ansprüche Röhms mußte jene in der Armee unmöglich machen. Der Zusammenhang der Dinge ist gewiß nicht so simpel, daß im April auf der gemeinsamen Nordseefahrt Hitlers mit den Spitzen der Reichswehr auf dem Panzer-schiff „Deutschland“ ein „Pakt“ geschlossen worden wäre, wonach die Reichswehr Hitler für die Ausschaltung Röhms die Nachfolge Hindenburgs zugesichert hätte. Für Blomberg Reichenau es dürfte ohnehin und keine Frage gewesen sein, daß das Problem dieser Nachfolge im Einklang mit Hitlers Wünschen gelöst werden müsse. Wohl aber konnte eine Förderung der Aspirationen Röhms die günstige Einstellung der Reichs-wehr sie dann mit den „reaktionären“ Kräften, die in gefährden und der ersten Hälfte des Jahres 1934 noch nicht alle Chancen verloren hatten, ernstlich zusammenführen. Schließlich dürfte der Gedanke an eine bewaffnete Staatsmacht unter Röhm, für den „der Primat des Soldaten vor dem Politiker“ galt, sowie unter den Getreuen des Stabschefs, Hitler gewiß nicht sympathisch gewesen sein. Er hatte mit SA-Führern schon einige Erfahrungen gemacht. Ja, es liegt ein Zeugnis vor, daß Hitler bei den Heeresskimeisterschaften im Januar im Berchtesgadener Land seinerseits gegen die Forderungen der SA Blomberg den Rücken gesteift habe, der zunächst unter dem Einfluß Reichenaus zu Konzessionen bereit gewesen sei. Es bedurfte also schwerlich eines Drucks von Seiten der Reichswehr, um Hitlers Entscheidung zu ihren Gunsten herbeizuführen. Immerhin konnte ihm eine offene Stellungnahme gegen die SA nicht leicht fallen. Vor allem mußte er Bedenken tragen, sich die SA in ihrer Gesamtheit zum Feinde zu machen.

Das Abkommen vom 28. Februar 1934

Der 28. Februar 1934 — wichtiges Datum der Vorgeschichte des 30. Juni — sah die Befehlshaber der Reichswehr und die höheren SA-Führer in der Bendlerstraße versammelt. Göring erschien dabei erstmals in der Uniform eines Generals der Infanterie. In einer langen, nach Blombergs späteren Schilderung „packenden und erschütternden“ Rede beschwor Hitler die SA-Führer, ihm in so kritischer Zeit keine Schwierigkeiten zu machen. Mit eingehender Begründung erklärte er sodann eine Miliz zur Erfüllung der einer deutschen Wehrmacht gestellten Aufgaben als ungeeignet. Er sei daher entschlossen, ein Volksheer, aufgebaut auf der Reichswehr, gründlich ausgebildet und mit den modernsten Waffen ausgestattet, aufzustellen. Hitler bestätigte darauf die Reichswehr als den einzigen Waffenträger der Nation und kommentierte das von ihr und der SA-Führung entworfene Abkommen, das von Blomberg und Röhm unterzeichnet wurde. Er wies der SA neben ihrer politischen Erziehungsaufgabe die vormilitärische Ausbildung, die Pflege der Wehr-fähigkeit der Gedienten und Ungedienten zu und sah ihre Unterstützung der Grenzschutzmaßnahmen im Osten vor, alles aber unter Aufsicht der Reichswehr, die für die eigentlichen militärischen Aufgaben allein zuständig blieb. — Bei dem gemeinsamen Frühstück der SA-und Reichswehrführer, das anschließend in seinem Berliner „Hauptquartier“ in „frostiger Stimmung“ stattfand, reichte Röhm über den Tisch hinweg Blomberg die Hand. Röhm hatte sich, wie es scheinen konnte, gefügt. Nach der Verabschiedung der Offiziere soll er sich jedoch in vorgeschrittener Stimmung zu seinen Getreuen höchst abfällig über Hitler geäußert haben. Blombergs Mitteilungen vom 5. Juli 1934 zufolge hätte Röhm von dem in militärischen Dingen „ignoranten Gefreiten des Weltkrieges“ gesprochen. Rundstedt berichtete in Nürnberg Röhms Worte in der Version: „Was der idiotische Gefreite gesagt hat, geht uns nichts an; es bleibt alles beim alten“. Reichenau, von SA-Führern informiert, die Röhms Pläne mißbilligten, gab die Äußerung ihres Stabschefs sogar in der Fassung wieder: „Er denke nicht daran, das Abkommen einzuhalten, Hitler sei treulos und müsse mindestens... auf Urlaub“. Röhms Nachfolger Lutze endlich erzählte im Sommer 1934 einem späteren Feldmarschall des zweiten Weltkrieges den fraglichen Ausspruch in der Form: „Was der lächerliche Gefreite erklärte, gilt nicht für uns. Wenn nicht mit, so werden wir die Sache ohne Hitler machen“. Lutze fügte hinzu: da Heß, den er ins Vertrauen gezogen hatte, jede Einmischung in die Angelegenheit ablehnte, habe er Hitler auf dem Obersalzberg den ganzen Sachverhalt vorgetragen. Nach einer langen Unterredung unter vier Augen hätte Hitler entschieden: „Wir müssen die Sache ausreifen lassen“.

Diese Äußerung Hitlers ist für seine Erwägungen aufschlußreich. Kenner seines Wesens haben zur Erklärung seines Handelns im Falle Röhm von seiner „Neigung“ gesprochen, die Dinge bis zu einem Stadium der Überreife treiben zu lassen und erst dann mit jäher Plötzlichkeit zu einer alle bestürzenden Tat zu schreiten. Doch dieser Neigung entsprach die gewiß höchst persönliche Taktik, die ihm gerade im vorliegenden Falle den personellen und sachlichen Gegebenheiten angemessen schien. Offenbar sah Hitler eine Auseinandersetzung mit der SA Röhms und seit seiner Getreuen einiger Zeit kommen. Die SA entwickelte sich je länger je mehr zu einem Störungsfaktor, der unter einer nicht völlig linientreuen Führung seiner einstweilen innen-und außenpolitisch zu vorsichtigem Lavieren gezwungenen Politik gefährlich wurde. Die Äußerungen Röhms nach dem 28. Februar, die seine Person und seine Autorität anfochten, aber mußte Hitler als Sturmzeichen deuten. War eine Auseinandersetzung mit diesem Element der Unbotmäßigkeit im Hinblick auf die Vollendung seiner Diktatur noch zu vermeiden? Sicherlich hat Hitler lange Zeit und mitunter wohl noch in den nächsten Monaten die Hoffnung gehegt, die SA-Führung werde sich seiner politischen Linie anpassen und ihm jene Auseinandersetzung „ersparen". Ob dies möglich war, mußte die nächste Zukunft lehren, auf jeden Fall mußte man die Tendenzen der SA-Führung sich klarer abzeichnen lassen. Ihr in diesem Stadium der Dinge offen entgegenzutreten, trug Hitler anscheinend Bedenken. Er wollte nicht vor seiner Bewegung als Feind des von der SA repräsentierten sozialen Wollens, des „reinen Nationalsozialismus“, wie er am 13. Juli sagte, abgestempelt werden und dadurch womöglich in wirkliche Abhängigkeit von der „Reaktion" geraten. Soviel aber dürfte für ihn nach dem 28. Februar sicher gewesen sein, daß jene Auseinandersetzung, wenn sie einmal „notwendig“ wurde, nur einen radikalen Abschluß finden konnte. Wer „für“ Hitler Irrtümer oder Übergriffe beging, konnte auf Deckung durch ihn rechnen. Wer aber seiner politischen Strategie stetig und in einer Weise widerstrebte, die seinem Unfehlbarkeitsanspruch zu nahe trat, war als Verräter gekennzeichnet. Röhm, geschweige denn die ungezügelten Naturen einiger seiner SA-Führer, auf normale Art ihres Postens zu entheben, Verfahren gegen sie einzuleiten oder sie in die Emigration zu schicken, mochte ihm undenkbar erscheinen. Es hätte die Gefahr, die ihn belastete, in seinen Augen nicht beseitigt, sondern verschlimmert. Wie man Verstöße gegen die „Generallinie“ ahndet ist überdies tief im Wesen totalitärer Regime begründet. Es fügt sich in das Gesamtbild, wenn der damalige Gestapochef Diels schon im Januar Hitler die „Kamarilla um Röhm“ verurteilen hörte, wenn er nachträglich den Eindruck gewann, daß sein „Material“ gegen die SA jetzt „unter dem Gesichtspunkt ihrer totalen Ausschaltung“ Interesse fand und daß Hitler bereits eine Aktion ins Auge faßte. Zunehmende Spannung zwischen SA und Reichswehr Wie sich die Dinge nun im März, April und Mai entwickelten, ist teilweise schwer erkennbar. Jedenfalls nahm die Spannung zwischen SA und Reichswehr ständig zu. Die Heeresleitung sammelte Material über etwaige Verstöße ihres Partners gegen das Abkommen vom 28. Februar. Schon am 2. März führte Blomberg Hitler „nochmals" die Bedeutung der mit schweren Maschinengewehren bewaffneten Stabswachen bei Gruppen und Obergruppen der SA vor Augen. Jetzt sollten sie auf Röhms Befehl auch noch bei den Brigaden gebildet werden und öffentlich auftreten, und das alles selbst in der entmilitarisierten Zone! Röhm erwiderte auffallend kurz, daß die Frage der Stabswachen weder bei seiner Unterredung mit dem französischen Botschafter in Berlin (!) noch mit dem deutschen Botschafter in Paris berührt worden sei. Im übrigen habe er das bewaffnete Auftreten von Stabswachen in der Öffentlichkeit untersagt. Ihre Bildung bei weiteren Untergliederungen der SA stritt er also nicht ab. Hitlers Reaktion gegenüber Röhm ist unbekannt. Zwar soll er dem Stabschef in der Reichskanzlei einmal mit großer Lautstärke zugerufen haben: Nein, nein, ich kann das nicht, Du verlangst zuviel!". Graf Schwerin-Krosigk hingegen bezeugt, daß Hitler sich z. B.den weitgehenden Wünschen Röhms nach Vermehrung der SA in der Regel zunächst geneigt zeigte. Er verwies ihn dann für die Finanzierung an den zuständigen Minister, dessen Widerstand er voraussetzen durfte und gelegentlich selbst ermutigte — um erst in einer weiteren gemeinsamen Besprechung Röhms Forderung „mit Bedauern“ zusammenzustreichen. Allem Anschein nach scheute er den offenen Bruch. Zeugen weisen auf Hitlers Abneigung hin, tiefgreifende Differenzen mit einem Gegenpart Auge in Auge zu erörtern. Sie meinen, ein rechtzeitiges unzweideutiges Wort Hitlers selbst hätte den Stabschef einlenken lassen. Dringende Warnungen Himmlers dagegen sollen nichts gefruchtet haben.

Schwerlich hatte denn auch Röhm auf seine Pläne verzichtet. Im April und Mai unternahm er Besichtigungsreisen zu seinen Gruppen. Wahrscheinlich ging er zunächst darauf aus, mit dem Schwergewicht einer ihm noch fester verbundenen SA seinen Forderungen Nachdrude zu verleihen und den zögernden Hitler von den „reaktionären" Einflüssen zu befreien. Erfüllte sich diese Rechnung nicht, so mochte ihm eine revolutionäre Entwicklung kaum vermeidbar erscheinen, die dann womöglich über Hitler hinwegging. Denn das Problem der SA erforderte für ihn eine konstruktive Lösung. Offenbar gab Röhm seinem Unmut unverhohlen Ausdruck. Ein ausländischer Militärattache hörte in dieser Zeit von seiner angeblicher Äußerung über Hitler: „Wenn wir diesen Schwächling nur erst los wären!“ Doch solche Stimmungszeichen wechseln bei ihm mit ganz anderen ab, die nicht gerade für konsequent verfolgte Aktionspläne sprechen. So war ihm, nach einer Äußerung zu seinem Chefadjutanten, im Mai bewußt, daß es „Kräfte" gab, die an seinem Sturz arbeiteten. Man wolle ihn „anscheinend nicht mehr haben", erklärte er. Doch statt einer energischen Reaktion fügte der damals bereits erkrankte Röhm hinzu: „Bewahrheite sich das, so werde er nicht auf seine Verabschiedung warten, sondern nach Bolivien zurückgehen“. Über die Stellung Hitlers selbst zu ihm war er sich also mindestens noch nicht völlig klar. Andererseits hielt ihn wohl schon die offene Frage der Zukunft seiner SA im Amte. In der Isolierung, in die er geraten war, hatte sich offenbar sein Blick für die Schäden der politischen Entwicklung geschärft. Neben dem Wehrmachtsproblem soll er sich zur Außenpolitik, zur Juden-und Kirchenfragen und zur Behandlung der Gewerkschaften, ja sogar über den „Polizeistaat“ und die Unterdrückung der freien Meinung kritisch geäußert haben. Die Grundstimmung für das alles dürfte eine wachsende Animositä. t gegen die „Politischen Leiter“ gewesen sein, die bei Röhm nicht neu war. Einen Familienangehörigen, der ihm von der bedenklichen inneren Entwicklung sprach, beruhigte er sogar damit, er werde demnächst Ordnung schaffen. „Entweder glückt mein Vorhaben, um die drohende Gefahr zu beseitigen, oder Deutschland stürzt ins Unglück“. Sicherlich spielte Röhm also gelegentlich mit dem Gedanken einer Aktion, doch faßte er sie sicher noch nicht für die nächste Zukunft ins Auge. Am 7. Juni begab er sich zur Kur nach Wiessee. Tags darauf wurde die SA für den Monat Juli beurlaubt. In seinem Aufruf dazu, in dem mit keinem Wort von Hitler die Rede war, warnte er „die Feinde der SA“ — womit er gewiß nicht die Marxisten meinte — vor der Illusion, die SA werde aus ihrem Urlaub nicht oder nur zum Teil wieder einrücken. Jene Feinde würden zu gegebener Zeit und in der Form, in der es notwendig erscheine, darauf die gebührende Antwort erhalten. Der letzte Satz enthielt eine verhüllte Drohung, jedoch wohl mehr aus einem Gefühl der Defensive heraus, in die er und die SA-Führung geraten waren.

Die Vorbereitungen der Gegenseite Gemessen an den vielleicht durch die Sache bedingten Unklarheiten über die letzten Absichten Röhms bietet die Gegenseite ein wesentlich deutlicheres Bild. Es gehört bereits zur Vorbereitung der späteren Aktion, wenn im April der doch noch zu stark in den Kategorien des Rechtsstaates denkende Gestapochef Diels durch den Reichsführer SS Himmler mit Heydrich, dem Chef des SD (Sicherheitsdienst der Partei), als Gehilfen ersetzt wurde. Sie schufen den zuverlässigen „Apparat", der eines Tages für die Aktion benötigt wurde. Sowohl die nunmehr sämtlich Himmler unterstehenden politischen Polizeien der Länder, als auch die Organe des SD beobachten in der Folge Röhm und seine SA. Ihre Ermittlungsberichte gelangten an Hitler, dem gleichzeitig die Reichswehr vortrug. Sie deuteten die Besichtigungsreisen Röhms als Vorbereitung zum Aufmarsch. Himmler unternahm darauf seinerseits Besichtigungsreisen zu den Gliederungen der SS, um für das Kommende ihren Gehorsam zu festigen. Alte unterdrückte Abneigungen der „Partei" und ihrer Häupter gegen die SA und zumal gegen Röhm lebten jetzt auf. Seine längst bekannte Homosexualität, der Lebensstil der SA-Führer, ihre Terrorakte, alles erhielt auf dem veränderten politischen Hintergrund ein neues Gesicht. Hitlers Rechtfertigungsrede vom 13. Juli ist deutliches Zeugnis dafür. Röhms offene Sprache wird ihm, wie schon früher, auch jetzt geschadet haben. Seine alten Beziehungen zu Strasser, die er Zeugen zufolge gelegentlich fortführte, sein dienstlicher oder gesellschaftlicher Verkehr mit ausländischen Diplomaten — Verdachtsmomente boten sich genug. Nachdem Hitler einmal von Mißtrauen erfaßt war, Himmler und zumal Heydrich seine Tendenz zu einer radikalen Lösung erkannt hatten, ergab sich für sie eine Zuspitzung des Gegensatzes durch eine entsprechende Berichterstattung von selbst. Hitler glaubte ihr, weil er ihr zu glauben geneigt war. Die SA ihrerseits begann sich bedroht zu fühlen. Im Mai hat Röhm anscheinend befohlen, die versteckten Angriffe gegen die SA aktenmäßig festzuhalten. Die Unzufriedenheit der höheren und mittleren SA-Führung über das ungelöste Problem ihrer staatspolitischen Funktion stieg. Ihre fortschreitende Bewaffnung, der Hitler offenbar niemals Einhalt gebot oder zu gebieten wagte, sollte der SA stärkere Berücksichtigung verschaffen. Das Wort von der „zweiten Revolution“ kam auf, die, um Hitler erneut anzuführen, „die Elemente der Reaktion einerseits und der Parteiwiderstände (!) andererseits beseitigen“ sollte. Tatsächlich gab es SA-Führer, die in öffentlicher Rede erklärten, die Revolution werde erst dann ihren Abschluß finden, wenn „der SA-Staat" gebildet sei.

Von Papens Marburger Rede Man kann sich heute nur schwer ein Bild davon machen, welche Spannung im Mai und Juni 1934 Deutschland erfüllte. Noch hatte das Regime außenpolitische Erfolge nicht zu verzeichnen; noch war die Arbeitslosigkeit keineswegs beseitigt. Der Rausch „der nationalen Erhebung" war verflogen; der Kirchenkampf hatte die Illusionen zahlloser Gutwilliger zerstört. Eine tiefgehende Unzufriedenheit mit dem Einparteisystem, seiner stereotypen Propaganda, seiner Knebelung der freien Meinung, seinem Terror und seiner Korruption machte sich geltend. Zur Abhilfe hatte die Staatsführung eine Versammlungsaktion gegen „Miesmacher und Kritikaster“ in Szene gesetzt, die wohl zugleich von ihren Planungen gegen Röhm ablenken sollte. In dieser Situation hielt Papen am 17. Juni in Marburg seine bekannte, von Edgar Jung verfaßte Rede, die die Schä-den der inneren Entwicklung bloßlegte. Im Sinne seiner Hintermänner sollte sie sich zweifellos nicht in einem „Appell an Hitlers Gewissen“ erschöpfen, sondern mit einer Aktion verknüpfen, die auf die Mitwirkung von Reichswehrkreisen rechnete. Die Vizekanzlei war ein Zentrum des „Widerstandes" geworden, der Oberregierungsrat von Bose offenbar die Seele des geplanten Unternehmens, über das noch viele Zeugnisse fehlen. Der geeignete Zeitpunkt wurde jedoch verpaßt, und Hitler kam mit seinem Schlag zuvor. Doch wenn in der damaligen Situation ein Ereignis Hitler alarmieren mußte, so war es Papens Marburger Rede. Sein kombinierender Geist konnte die Möglichkeit nicht verkennen, daß sich die noch keineswegs einflußlosen bürgerlich-monarchistischen Kreise gegen das von ihm selbst nicht ohne Absicht bisher geduldete Gespenst der „zweiten Revolution“ ihrerseits mit der Reichswehr zusammenfanden und seine eigene Position erschütterten, wenn er jetzt noch passiv blieb (was Papen ihm bereits zum Vorwurf machte). Durch seine „Passivität" hatte Hitler „die Sache ausreifen lassen“ und der Bildung zweier einander feindlicher „Fronten", der Reichswehr und der SA, geflissentlich Vorschub geleistet. Es war ihm gelungen, die Reichswehrführung fest von der akuten Gefährlichkeit der SA und damit von der Notwendigkeit eines vernichtenden Präventivschlages zu überzeugen. Sie stand unter Blomberg und Reichenau sicher auf seiner Seite und würde ihn notfalls decken. Es war eine Sache letzter Regie, ihr auch die Methoden und Formen verständlich zu machen, unter denen er diesen Schlag führen zu müssen glaubte. Mit der Radikalkur an dem unbotmäßigen Element der SA, die Hitler als „Retter der Reichswehr“ vollzog, aber sollte sich ein Schlag gegen die „Reaktion" verbinden, die offenbar als tertius gaudens aus dem Parteikonflikt Nutzen zu ziehen hoffte. Mindestens mußte man ihre führenden Köpfe während der kritischen Tage handlungsunfähig machen. Dann mußte das Endergebnis eine allseitige Stabilisierung der Autorität Hitlers noch vor dem Tode Hindenburgs sein. Hitlers Aktion vom 30. Juni war nicht die Auswirkung plötzlich auftauchender akuter Gefahren oder einer überwiegend von interessierter Seite planmäßig herbeigeführten Panik. „Der Führer“, erklärte Blomberg vielmehr am 5. Juli vor den Befehlshabern der Reichswehr zutreffend, „war seit Wochen entschlossen zu handeln. Nur der Zeitpunkt war offen und hing von außenpolitischen Dingen und Rücksichten auf Parteibelange ab“. Während Hitlers „Paladine“ nach dem Marburger Ereignis nun endlich dem Gerede von der „zweiten Revolution“ entgegentraten, um in der Partei für alle Fälle die Scheidung der Geister zu Ungunsten Röhms zu fördern und das später nötige „Verständnis“ für den großen Schlag zu schaffen, wurden die letzten Vorbereitungen getroffen. Inzwischen hatte Heydrich, teilweise anscheinend mit Hilfe örtlicher Organe des SD, Namenlisten derjenigen zusammengestellt, die erschossen oder verhaftet werden sollten, Listen, die zwischen ihm, Himmler und Hitler, wohl auch Göring zirkulierten. Offenbar in der Überzeugung, daß eine solche Gelegenheit nicht so bald wiederkehre, suchte Heydrich den Kreis der Opfer nach Möglichkeit zu erweitern. Zweifellos war das Wochenende des 30. Juni der von Hitler ausersehene Termin. Man hat mit Recht darauf hingewiesen, daß er einen späteren Zeitpunkt zum Handeln als den letzten Tag vor Beginn des Urlaubs der SA kaum wählen konnte.

Alarmnachrichten In München scheinen die ersten Schritte zur Aktion bereits Anfang Juni mit der Alarmierung der SD-Stellen erfolgt zu sein. Am 23. Juni erhielt der Leiter der Politischen Polizei in Breslau den Auftrag, die Personalien von etwa 15 Männern zu melden, unter denen sich auch der schlesische SA-Führer Heines befand. Ungefähr gleichzeitig, „etwa acht Tage“ vor dem 30. Juni, eröffnete Himmler dem nach Berlin befohlenen SS-Oberabschnittsführer in Dresden, daß Röhm einen Staatsstreich plane. Der Oberabschnittsführer sollte die SS in Alarmzustand versetzen und mit dem zuständigen Wehrkreisbefehlshaber Verbindung aufnehmen. Als der erwähnte Heines in Breslau etwa am 23. Juni hörte, daß bei der Reichswehr spanische Reiter eingetr affen seien, und Göring gegenüber fernmündlich den Verdacht eines Putsches der Reichswehr unter dem Chef der Heeresleitung, Generaloberst v. Fritsch, aussprach, erwiderte ihm jener beruhigend, es sei lächerlich und nur eine Übung. Heines schickte denn auch die Hälfte seiner Stabswache und des SA-Hilfswerk-lagers ab 29. Juni auf Urlaub! Etwa am 24. Juni warnte Generaloberst v. Fritsch den Wehrkreiskommandeur in Breslau, General v. Kleist, vor einem drohenden Angriff der SA auf die Reichswehr und ordnete unauffällige Bereitschaft an. Am 26. oder 27. Juni wurden die meisten der SS-und SD-Oberabschnittsführer nach Berlin befohlen und von Himmler bzw. Heydrich über die „bevorstehende Revolte der SA unter Röhm“ aufgeklärt, an der sich weitere staatsfeindliche Kreise beteiligen würden(!). Ein Termin ist offenbar nicht genannt worden, denn Heydrich bemerkte, der „Führer“ werde die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr des Umsturzes befehlen. Der SD-Oberabschnittsführer in München sollte die Bewegungen der dortigen SA-Führer beobachten und ihren Aufenthaltsort kontrollieren. Es konnte zunächst nichts weiter festgestellt werden, als daß sie sich in ihren Wohnungen aufhielten.

In den gleichen Tagen besprach Reichenau mit Himmler in dessen Dienstzimmer wiederholt technische Einzelheiten eines Zusammenwirkens von Reichswehr und SS gegen Röhm. Dazu gehörte vor allem der Transport einer Kompanie der nachmaligen „Leibstandarte Adolf Hitler“ unter Sepp Dietrich von einem kleinen Bahnhof bei Landsberg nach Wiessee mit Hilfe einer Fahrzeugabteilung der Reichswehr aus Ludwigs-burg (Württemberg) zur Deckung des Handstreichs auf Röhms Quartier. Wie aus verschiedenen Zeugnissen hervorgeht, hat die Reichswehr der SS für die Gesamtaktion nicht nur ihre Kasernen, sondern auch Waffen zur Verfügung gestellt. Obwohl Hitler daran liegen mußte, seine Auseinandersetzung mit der SA als eine interne Angelegenheit der Partei erscheinen zu lassen, die er ohne Mitwirkung der Reichswehr regelte, war ihm ihre Hilfestellung sowohl praktisch wie politisch und moralisch erwünscht. Inzwischen war, sicherlich auf Veranlassung der Staatsführung, im ganzen Reiche für das Heer höchste Alarmstufe angeordnet worden. Kein Zweifel, die Reichswehr fühlte sich ernstlich bedroht. Die fortschreitende Bewaffnung der SA (aus Grenzschutzlagern und sogar aus dem Ausland), die Röhm ganz offen betrieb, weil Hitler sie ja nicht hinderte, erfüllte sie seit langem mit Sorge. Blomberg behauptete am 5. Juli, „das Letzte" sei ein Befehl Röhms vom 23. Mai gewesen, der allgemeine Waffenbeschaffung für die SA angeordnet habe, um der Wehrmacht gegenüber ihre Belange erfolgreich vertreten und den Eintritt geschlossener Verbände der SA in das Heer durchsetzen zu können. Man muß sich nur wundem, daß Hitler, wenn es sich so verhielt, nicht sofort gegen Röhm eingeschritten ist. Sollte ihm dies wirklich schon nicht mehr möglich erschienen sein? Vorstellungen, die der Chef der Abwehrabteilung wegen der „illegalen“ Waffenbeschaffung der SA beim Reichs-innenminister Frick erhoben hatte, waren erfolglos geblieben, und zwar offensichtlich dank der undurchsichtigen Passivität Hitlers selbst. Schließlich schritt das Wehrkreiskommando VII zur Beschlagnahme solcher Waffentransporte auf dem Güterbahnhof in München!

Immer dringender wurde daher der Wunsch der Reichswehr nach Entwaffnung der SA. Lind Hitler war jetzt bereit, ihr diesen Wunsch zu erfüllen, da ihre Führung nunmehr wohl „einsehen“ mußte, daß es dazu einer „Aktion der Reinigung“ wie er am 13. Juli sich ausdrückte, von weitem Umfang bedurfte. Merkwürdige Alarmnachrichten fanden in der letzten Juniwoche den Weg zur Bendlerstraße. So berichtete der Ministerialdirektor für Polizeifragen im Reichsinnenministerium „etwa am 25. Juni“ dem stellvertretenden Chef der Abwehrabteilung von einer Besprechung höherer SA-Führer in Berlin über einen Putschplan gegen die Reichswehr — und zwar berichtete er dies dem genannten Offizier, weil er angeblich zu Frick und Hitler nicht durchdringen konnte. Am 26. Juni fand der Chef der Abwehrabteilung selbst auf seinem Schreibtisch einen hektographierten Befehl Röhms zur möglichst schnellen Bewaffnung seiner Gruppen (in dessen Verteilerkreis jedoch bezeichnenderweise Himmler und Heß ganz ruhig mit einbezogen waren!). Reichenau seinerseits machte, als ihm der Chef der Abwehr diesen Befehl Röhms zuleitete, die Bemerkung: „Nun wird es aber höchste Zeit!" und begab sich damit zu Blomberg. Tatsächlich war die Aktion in diesem Augenblick jedoch längst beschlossen und angebahnt. Man gewinnt den Eindruck, daß es in diesen letzten Tagen der nationalsozialistischen Staats-führung darauf ankam, bei der Reichswehr nicht nur für die Aktion selbst, sondern auch für die Art ihrer Durchführung und ihr Ausmaß das nötige Verständnis zu erzeugen. Hitler selbst eröffnete nach Blombergs Angabe dem Minister Mitte der Woche, er wolle die gesamten SA-Führer nach Wiessee rufen, dort persönlich die Verhaftung der Schuldigen vornehmen und abrechnen. Blomberg äußerte darauf starke Befürchtungen, der Führer könne dabei selbst zu Schaden kommen. Eine solche Reaktion Blombergs lag nicht fern, war aber höchstwahrscheinlich von Hitler im Hinblick auf das von ihm beabsichtigte Blutbad vorausgesehen und provoziert. Als am 27. oder 28. Juni der Führer der nachmaligen „Leibstandarte“, Sepp Dietrich, den Chef der Organisationsabteilung (sic) des Heeres dringend um zusätzliche Waffen zur Durchführung eines „geheimen und sehr wichtigen Auftrages des Führers" bat (Wiessee!), legte er ihm zur Unterstützung seines Wunsches eine angeblich von der SA aufgestellte „Abschußliste" vor, die an erster und zweiter Stelle die Namen Fritsch und Beck, und an siebenter Stelle den Namen des Chefs der Organisationsabteilung selbst enthielt. Auch Blomberg sprach am 5. Juli vor den Befehlshabern der Reichswehr von einer „recht umfangreichen Abschußliste“ der SA. Wer im Gegensatz dazu zweifellos „Abschußlisten“ aufgestellt hat, ist die Röhm feindliche Seite gewesen. Kurz, es ist gelungen, die Reichswehr von einer ihr drohenden akuten Gefahr fast ausnahmslos fest zu überzeugen. Am 29. Juni sandte der spätere Generalstabschef Beck seine Sekretärin durch die Abteilungen des Wehr-ministeriums mit der Weisung: „Die Pistole ist griffbereit in der Schublade zu halten!“

Ein bezeichnendes Zwischenspiel Kurz zuvor hatte sich ein höchst bezeichnendes Zwischenspiel ereignet. Am 28. Juni warf der Kommandant von Schweidnitz zwei schlesischen SA-Führern die Putschpläne ihrer Organisation vor. Diese berichteten dem völlig überraschten Heines davon, der zunächst meinte, es sei ein alter Putschistentrick, wenn man selber putschen wolle, dies dem anderen in die Schuhe zu schieben! Es kam in unmittelbarem Anschluß hieran zu einer offenen Aussprache zwischen Heines und dem Wehrkreisbefehlshaber v. Kleist, bei der Heines ehrenwörtlich versicherte, daß er einen Überfall auf die Truppe weder vorbereitet noch geplant habe. Nach der Darstellung des Generals vor dem Nürnberger Gericht, die die Unterredung seiner eigenen Initiative zuschreibt, teilte ihm Heines in der Nacht zum 29. Juni telefonisch mit, er habe soeben erfahren, daß die Reichswehr nicht nur in Schlesien, sondern im ganzen Reiche gegen einen SA-Putsch abwehrbereit sei. Er, Heines, werde daraufhin (?) am 29. morgens zu Röhm fliegen. Kleist entschloß sich nun seinerseits, am gleichen Tage nach Berlin zu fliegen, und berichtete dort Fritsch in Gegenwart von Beck über seine Unterredung mit Heines. Er bemerkte schließlich, er habe den Eindruck, daß Reichswehr und SA von dritter Seite — Kleist will dabei an Himmler gedacht haben — gegeneinander gehetzt würden. Fritsch zitierte daraufhin Reichenau und ließ Kleist seinen Bericht wiederholen. Hierauf habe Reichenau bemerkt: „Das mag stimmen. Jetzt aber ist es zu spät!“ Kein Zweifel, die Aktion sollte unter allen Umständen stattfinden, um die gefährliche SA als solche auszuschalten.

SA-Führerbesprechung in Wiessee Unterdessen war anscheinend ziemlich kurzfristig, auf Veranlassung Hitlers oder doch im Einvernehmen zwischen ihm und Röhm, eine SA-Führerbesprechung in Wiessee angesetzt worden. Ein von Röhm geplanter Putsch hätte die Verteilung seiner Unterführer auf die Hauptstädte bei gleichzeitigem Losschlagen erfordert; ihre Zusammenziehung an einem abgelegenen Kurort unter Trennung von ihren Formationen konnte nur dem Interesse des Gegners dienen. Die Tagung in Wiessee, so versicherte Zeugenaussagen zufolge Hitler dem Stellvertreter Röhms, Obergruppen-führer Kraußer, einige Tage zuvor in Berlin, wolle er benutzen, um sich mit Röhm und den SA-Führern gründlich auszusprechen und alle Differenzen und Mißverständnisse zu beseitigen. Er sehe ein, daß er sich um die alten SA-Männer zu wenig gekümmter habe, und werde dafür sorgen, daß diese endlich wieder in den Arbeitsprozeß eingeliedert würden. Hitler, heißt es sogar, sei auch sehr versöhnlich gestimmt gewesen gegen seinen alten Mitkämpfer Ernst Röhm, der auch auf seinem Posten bleiben werde. AIs Hitler sich am 28. Juni abends telefonisch bei Röhm endgültig anmeldete, kehrte der Stabschef „sehr zufriedengestellt" in den Kreis seiner Gäste zurück, teilte ihnen Hitlers Kommen mit, und fügte hinzu, er wolle dann Goebbels die Maske von Gesicht reißen, in dem er anscheinend — vielleicht mit Recht — einen seiner Hauptfeinde in der Partei erblickte. Nach einem anderen Zeugnis soll Röhm erklärt haben, er wolle „mit Hitler Fraktur reden"; so gehe es nicht weiter. Doch trotz der öffentlichen Warnungen vor der „zweiten Revolution" und obwohl Zeugen zufolge bereits ein Gerücht von der Absetzung Röhms und der Ernennung Lutzes zu seinem Nachfolger nach Wiessee gelangt war, traf der angeblich putschbereite Röhm keine erhöhten Sicherheitsvorkehrungen. Kenner der Vorgänge vertreten mit Recht die Meinung, daß im Falle effektiver Putschabsichten der SA, der von Hitler eingesetzte Apparat zur Niederschlagung keinesfalls ausgereicht haben würde. So, wie die Dinge lagen, aber war der Handstreich auf Wiessee bei aller Verwegenheit der schnellste, sicherste und im ganzen gefahrloseste Weg zum Ziel.

Aus dem frühzeitigen Beginn der Vorbereitungen zur Aktion und aus der Art und Weise dieser Vorbereitungen selbst ergibt sich klar genug, daß es sich um eine rein präventive, besser noch: agressive Aktion Hitlers gegen die SA handelte. „Vor Tagen", so erklärte Göring am 30. Juni in Berlin in seiner „Sonderkonferenz für die inländische Presse“ recht offenherzig, „hat er (Hitler) mir den Befehl gegeben, auf Stichwort hier zuzuschlagen". In der sofort von der Nationalsozialistischen Korrespondenz (NSK) veröffentlichten „Schilderung eines Augenzeugen“ wurde überdies wenig geschickt herausgestellt, daß Hitler unmittelbar vor dem 30. Juni in Essen (Hochzeit des Gauleiters Terboven!) geweilt und dann die Arbeitsdienstlager im Westen besichtigt habe, — „um nach außen den Eindruck absoluter Ruhe zu erwecken und die Verschwörer nicht zu warnen“, ja, daß unterdessen sein Plan „in allen Einzelheiten festgelegt“ wurde. Daraus geht hervor, daß auch ohne die letzten „bedrohlichen Nachrichten“, die in der offiziellen Darstellung später eine so große Rolle spielten, die Niederschlagung der SA beschlossene Sache war. Lind doch: es f e h 11 e noch ein letztes, das Vorgehen „auslösendes" und die meisterhaft erzeugte Panik auf den Höhepunkt steigerndes Moment, das die blutige Durchführung der Aktion durch Hitler der Partei, dem Volk und nicht zuletzt der Reichswehr plausibel machen konnte. Es sollte sich in dem erwünschten Zeitpunkt einstellen, nämlich in Gestalt der vielberufenen „Meuterei“ der SA! Die am 29. Juni örtlich, besonders in München, gegebenen Alarme der SA waren höchstwahrscheinlich die unausbleibliche (und vielleicht erstrebte) Folge der vorausgehenden Alarmierung der Reichswehr, die nicht unbekannt blieb. Es gibt jedoch auch ein ernstzunehmendes Zeugnis, daß in München mit gefälschten Befehlen gearbeitet worden ist. Nach anderen Aussagen haben untergeordnete SA-Führer im Laufe des 29. Juni gerüchtweise gehört, daß die SA-Leibstandarte einen Propagandamarsch beabsichtige und daß in anderen Gauen ebenfalls marschiert werde. Niemand wußte in der Spannung dieser Stunden so recht, was eigentlich vorging; doch scheint sich die Vermutung durchgesetzt zu haben, „daß die Reichswehr wieder einmal etwas vorhabe". Es kam aus eigener Initiative verschiedener SA-Führer zu Propagandamärschen, die in einem Falle mit einer Ansprache des betreffenden Sturmbannführers auf dem Königsplatz endeten, in der es u. a. hieß: Wenn die Reichswehr beabsichtige, einen 9. November (1923) zu inszenieren, so habe sie sich verrechnet. Der Appell schloß mit einem „Sieg Heil“ auf Hitler und auf Röhm. Ein ehemaliger Offizier des Wehrkreiskommandos VII hörte nach Mitternacht auf dem Königsplatz einen SA-Führer etwa die Worte sprechen: „Geht jetzt ruhig nach Hause und wartet auf die Entscheidung Eueres Führers. Was auch kommen mag, ob Adolf Hitler Euch beurlaubt, ob er das Tragen der Uniform verbietet oder nicht, wir stehen rückhaltlos hinter ihm". Das klingt nicht nach Meuterei. Die erwähnten Vorfälle führten jedoch bereits einige Stunden vor dem Eintreffen Hitlers in München zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen dem bayerischen Innenminister Wagner und den SA-Gruppen-führern Schmid und Schneidhuber, die nach übereinstimmenden Zeugnissen die Nacht zu Hause verbracht hatten und dem Minister ehren-wörtlich ihre Loyalität versichert haben sollen. Da ein Teil der alarmierten SA nicht sogleich den Heimweg antrat, bemerkte Hitler bei seiner Fahrt durch die Stadt noch hier und da SA-Männer einzeln oder in Trupps auf den Straßen. Sorgfältig wurde dieses hochwichtige „Indiz“ für den „geplanten Putsch" in dem Augenzeugenbericht der NSK hervorgehoben. Von mehreren Seiten sind Hitler am 29. und in der Nacht zum 30. Juni die Abwehrhandlungen der aufgeschreckten SA nach Godesberg gemeldet worden. Damit lag nunmehr ein „Faktum vor, das bei ihm die nötigen psychologischen Voraussetzungen für das von vornherein beabsichtigte radikale Vorgehen schuf und die Auslösung der Aktion „rechtfertigte“. Zweifellos sind ihm in diesen letzten Stunden höchster Spannung zahlreiche bedrohliche Nachrichten, vielleicht auch über Pläne der „Reaktion“ in Berlin, zugegangen. Man muß wohl auch für den Nervenzustand der Gegner Röhms gewisse Bedenken in Rechnung stellen, der bedrohte Stabschef könne die eingeleiteten Maßnahmen durchschauen und dann wirklich gefährlich werden. Selbst Wahnvorstellungen mögen bei Hitler jetzt, wie gelegentlich auch in den Vorstadien der „Röhm-Affäre“, mitgespielt haben. Doch wäre es unvorsichtig, ihnen einen erheblichen Anteil an seiner Mordaktion zuzuschreiben. Allzu deutlich blickt seine planvolle Absicht bei der Aufeinanderfolge der Handlungen und Ereignisse durch, nicht zuletzt in jenem Satz seiner Reichtstagsrede, der das Fazit aus den gemeldeten Alarmen zieht: „Nur ein rücksichtsloses und blutiges Zugreifen war vielleicht noch in der Lage, die Ausbreitung der Revolte zu verhindern.“ Er übersah bei dieser Darstellung, daß nach dem Bericht des berühmten „Augenzeugen" der Gauleiter Wagner die „schmählich getäuschten SA-Formationen“ ohne weiteres hatte „nach Hause schicken“ können. Blomberg aber, der mindestens jetzt die Zusammenhänge übersehen mußte, machte sich der Reichs-wehr gegenüber die Lesart seines „Führers" auch darin zu eigen, daß — nachdem die SA die ihr drohende Gefahr erkannt und „verfrüht“ losgeschlagen habe — das ursprünglich von Hitler „beabsichtigte" maßvolle Vorgehen nicht mehr möglich gewesen sei!

Die Aktion beginnt Als Hitler gegen 4. 30 Uhr mit dem Flugzeug von Godesberg kommend in München eintraf, ging er ohne Gruß an den erschienenen SA-Führern vorbei und erklärte zwei ihn erwartenden Offizieren, dies sei der schwärzeste Tag seines Lebens. Der einzige Trost für ihn sei, daß er in dem General v. Blomberg einen edlen und ritterlichen Menschen gefunden habe, der ihm zur Seite stehe und dem er voll und ganz vertrauen könne. Er werde sofort nach Wiessee fahren, und die Offiziere könnten ihrem Wehrkreiskommandeur melden, daß er dort über die Verschwörer blutiges Gericht halten werde. Die Aktion lief nunmehr planmäßig ab. Im bayerischen Innenministerium verhaftete und degradierte Hitler persönlich die „wortbrüchigen“ SA-Führer Schmid und Schneidhuber. Inzwischen war eine Kompanie der „Leibstandarte unter einer Reichswehr-Fahrtnummer im Tempo eines FD-Zuges von Berlin in die Nähe von Landsberg am Lech befördert worden. Die näheren Umstände dieses Militärtransports waren bis zum späten Nachmittag derart geheimgehalten worden, daß der zuständige Offizier des Wehrkreises VII schließlich sogar bei der — Obersten SA-Führung angefragt hatte, um was es sich handeln könne! Gegen 6 Uhr lüftete auch Reichenau das Geheimnis. Unterdessen war Sepp Dietrich durch einen vom Reichswehrministerium übermittelten Funkspruch Hitlers nach Godesberg befohlen — wo er bemerkenswerterweise keinerlei Aufregung feststellte — und sodann nach München geschickt worden. Während die Leibstandarte nun unter dem von Hitler telefonisch zu ihr beorderten Sepp Dietrich mit Hilfe von Fahrzeugen der Reichswehr in Richtung Wiessee befördert wurde und sich mit Teilen der Wachmannschaft des Konzentrationslagers Dachau vereinigte, gelang Hitlers Handstreich auf Röhms Quartier bereits in vollem Umfang. Die Verhafteten wurden in das Gefängnis München-Stadelheim eingeliefert, eine Reihe anreisender SA-Führer auf dem Münchener Hauptbahnhof aus den Zügen heraus in Haft genommen. Gegen 10 Uhr, so ist bezeugt, gab Goebbels Göring das Stichwort zum Handeln in Berlin. Papen wurde durch Hausarrest aktionsunfähig gemacht, seine Mitarbeiter verhaftet, Oberregierungsrat v. Bose und der schon vorher festgenommene Edgar Jung erschossen. Die Verhaftungen erstreckten sich übrigens bis in die Umgebung des Kronprinzen Wilhelm. Gegen 12. 30 Uhr mittags wurde Schleicher von SS-Leuten in Zivil in seiner Wohnung kaltblütig ermordert. Für seine Verbindung mit Röhm ist kein Beweis erbracht worden. Vielmehr liegt ein Zeugnis vor, wonach Röhm im Frühjahr „staatsfeindliche" Äußerungen Schleichers an die Reichswehr weitergegeben hat. Ein Duzfreund Röhms, der aktive Hauptmann und SA-Führer Höfle, machte den Stabschef noch am 12. Juni darauf aufmerksam, daß Schleicher sich in Privatgesellschften seinen früheren Kameraden gegenüber „in ablehnendster Form gegen den Nationalsozialismus“ äußere. Er wollte damit sogar die Stellungnahme maßgebender Kreise der Reichswehr gegen die SA und Röhm selbst erklären. Bei der Nachmittags-Konferenz der ausländischen Presse erwiderte der zuständige Referent des Propagandaministeriums die Frage eines Journalisten, ob zwischen der Aktion Schleichers und derjenigen Röhms ein innerer Zusammenhang bestanden habe, peinlicherweise mit den Worten: „Das ist nicht der Fäll." Bald darauf wurde eine von Reichenau entworfene gegenteilige Version, die außerdem Schleichers Erschießung infolge Widerstandes behauptete, an die Presse gegeben.

Inzwischen hatte Hitler nach 11 Uhr im Braunen Haws vor den nach München bestellten Parteiführern in höchster Erregung eine längere Rede gehalten, in der er sein Vorgehen mit den schlimmsten politischen und moralischen Verfehlungen Röhms und seiner Getreuen rechtfertigte. Nach anscheinend heftigen Auseinandersetzungen mit dem Reichsstatthalter v. Epp, dessen einstiger Generalstabsoffizier Röhm war, flog Hitler nach Berlin zurück. Am Abend wurden die ersten sechs SA-Führer im Hof des Gefängnisses Stadelheim erschossen. Der damalige bayerische Justizminister Frank suchte sich vergeblich ins Mittel zu legen, erhielt jedoch wegen dieser Verzögerung einen scharfen Verweis von Hess. Sein Versuch, durch eine Art Verhör die Form zu wahren, scheiterte an den Unschuldsbeteuerungen der Opfer. Die weitere Aktion wurde in München und an anderen Orten vom Berliner Geheimen Staatspolizeiamt (Heydrich) zentral mittels zahlreicher Fernschreiben über die örtlichen SD-Stellen geleitet, die lediglich ausführende Organe waren. Auch Namenslisten, mit Kreuzen versehen, wurden durchgegeben. Die Ermordungen in und um München wurden teilweise von einer Art „Einsatzgruppe“ besorgt, die aus einem SD-Mann und einigen Angehörigen der „Österreichischen Legion" bestand. Abgesehen von den ersten sechs SA-Führern erfolgten die Erschießungen anfangs in den Wohnungen der Bezeichneten, in der Folge auf dem Wege zum Konzentrationslager Dachau oder dortselbst durch die SS-Wachmannschaft. In Dachau wurde auch der ehemalige bayerische Generalstaatskommissar v. Kahr, Hitlers Gegner vom 9. November 1923, ermordet. Ein Teil der in Stadelheim Eingelieferten wurde ebenfalls zur Erschießung nach Dachau, ein anderer nach Berlin überführt, wo zahlreiche Erschießungen bekanntlich in der früheren Kadettenanstalt Lichterfelde stattfanden. Den Leiter der Katholischen Aktion, Ministerialdirektor Klausener, ermordete man auf seinem Büro im Reichsverkehrsministerium, den abtrünnigen Gregor Strasser im Geheimen Staatspolizei-Amt. Am 1. Juli gegen 6 Uhr nachmittags wurde Röhm selbst in seiner Zelle in München-Stadelheim von dem Kommandanten des Konzentrationslagers Dachau und späterem Chef sämtlicher Konzentrationslager, Eicke, und dem Befehlshaber der Dachauer Wachmannschaft, Lippert, erschossen, nachdem er sich geweigert hatte Selbstmord zu begehen. In den ersten Morgenstunden des 2. Juli befahl Hitler die Einstellung der Aktion, die unübersehbar geworden war und besonders in Schlesien zu willkürlichen Ermordungen von Seiten untergeordneter Organe geführt hatte. Die Zahl der Opfer ist bis heute nicht sicher festgestellt. Am 3. Juli wurden sämtliche Exekutionskommandos nach Berlin zum Reichsführer SS befohlen. Dieser dankte ihnen für die geleisteten Dienste und verlieh den etwa 150— 250 Erschienenen einen Ehrendolch, auf dem der Namenszug Heinrich Himmler und das Datum „ 30. 6. 34“ eingraviert waren. Ungefähr gleichzeitig wurde der gesamte SD um einen Dienstgrad befördert. Alle Beteiligten sind bei Androhung der Todesstrafe zu strengstem Stillschweigen, auch untereinander, verpflichtet worden.

Statt Röhmscher Revolutionäre der Himmlersche Apparat „Ich brauche keine Bartholomäusnacht", hatte Hitler am 3. März 1933 einem britischen Journalisten erklärt. Jetzt hatte er seine Versicherung Lügen gestraft und doch den stärksten Machtfaktor im Staate, die Reichs-wehr, sich dadurch verpflichtet. Diese vermeinte, einen Sieg errungen zu haben. In Wahrheit hatte sie, zumal mit der Hinnahme des Mordes an

Fussnoten

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