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Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt. II. Systematischer Teil | APuZ 13/1955 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 13/1955 Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt. II. Systematischer Teil

Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt. II. Systematischer Teil

Theodor Litt

Die Veröffentlichungen in der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte" stellen keine Meinungsäußerung der herausgebenden Stelle dar. Sie dienen lediglich der Unterrichtung und Urteilsbildung.

(Fortsetzung)

Vorbemerkung Jeder Bildungslehre liegt, bewußt oder unbewußt, ausgesprochen oder anausgesprochen, eine bestimmte Auffassung vom Wesen des Menschen zu Grunde. In begrifflicher Form entwickelt heißt sie: philosophische Anthropologie. Die Anthropologie, die die Grundlage des im folgenden Vorzutragenden bildet, ist von mir in folgenden Büchern dargelegt worden: Einleitung in die Philosophie 2, Stuttgart 1949; Die Selbsterkenntnis des Menschen 2, Hamburg 1949; Mensch und Welt, München 1948; Denken und Sein, Stuttgart 1948.

1. Das technische Handeln im Zusammenhang des Lebens

Abbildung 1

Der Konflikt Ein halbes Jahrhundert ist dahingegangen, seitdem Kerschensteiner der pädagogischen Welt einen neuen Impuls zu geben versuchte. Er hat der Trias Naturwissenschaft -Technik -Produktion eine Entwicklung beschert, wie sie selbst die kühnste Phantasie nicht zu erträumen gewagt hätte, und jeder Tag läßt uns von neuem verspüren, mit welchem Ungestüm uns der „Fortschritt“ auf der ihm vorgeschriebenen Bahn vorwärtsreißt. Die Empfindungen, mit denen wir diesen Vorgang begleiten, sind von höchst zwiespältiger Art. Auf der einen Seite wissen wir, daß unser eigenes Forschen, Erdenken, Planen, Handeln es ist, durch welches er Realität gewinnt. Er würde unfehlbar aussetzen, wenn wir ihn vorwärtszutreiben aufhörten. Aber auf der anderen Seite können wir uns des Gefühls nicht erwehren, als ob wir in unserer Bewußtseinshaltung, mit unserem deutenden Verstehen, immer hilfloser hinter dem durch uns selbst entfesselten Geschehen zurückblieben. Die Dinge, die wir selbst hervorbringen, entgleiten uns und entwickeln ein Eigenleben, an das wir mit unseren Erklärungen, Auslegungen, Mutmaßungen nicht heranreichen. Dieses Mißverhältnis macht sich auch in den Bemühungen geltend, die darauf gerichtet sind, der uns beanspruchenden gesellschaftlichen Wirklichkeit durch eine Erziehung bzw. Erziehungstheorie gerecht zu werden, die ihr zukommen läßt, was ihr gebührt, dabei aber den Menschen davor bewahrt, durch sie verschlungen zu werden. Diese Bemühungen können nicht anders als erfolglos bleiben, so lange sie an einer Idee der Menschen-bildung festhalten, die in polemischer Abwehr der genannten Wirklichkeit konzipiert ist. Sachliches Tun und persönliches Sein Allein, haben wir eigentlich Grund, diese an sich unleugbare Diskrepanz sonderlich zu beklagen? Blicken wir zurück auf die Entwicklung, die Deutschlands gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben im Zeitraum eines Jahrhunderts hinter sich gebracht hat, so haben wir das Bild eines Aufstiegs vor Augen, der es zweifellos macht, daß Naturwissenschaft, Technik und industrielle Produktion durch die nachgewiesene Unstimmigkeit nicht gehindert worden sind, Höchstleistungen von bewundernswürdiger Art aus sich hervorzuholen. Offenbar hat es für diejenigen, die an diesem Aufstieg tätig beteiligt waren, nichts ausgemacht, daß sie im Zeichen eines Bildungsideals erzogen worden waren, das für den Inhalt ihrer Lebensarbeit keinen Platz hatte. Wir dürften uns bei diesem Trostspruch beruhigen, wenn in den Erfolgen, die innerhalb der genannten Arbeitsgebiete einzuheimsen einem Volke vergönnt ist, sich dasjenige erschöpfte, was es sich selbst abzuverlangen hat — wobei es zunächst dahingestellt bleiben mag, ob dies zu Verlangende mehr in der Befriedigung des Glücksbegehrens oder mehr in der Erfüllung sittlicher Forderungen zu suchen ist. Nun hat es in der Tat nie an Enthusiasten des „Fortschritts“ gefehlt, die dafür hielten, daß sich an der Skala der im technisch-ökonomischen Prozeß erzielten Arbeitserträge sei es der Glücksanteil sei es der sittliche Rang der zu beurteilenden Gemeinschaft ablesen lasse. Indes, daß die darin liegende Vereinfachung unstatthaft ist, lehrt eine schlichte Überlegung. Wo immer es eine Arbeit zu vollbringen gilt, über deren Anlage und Durchführung die „Sache“ entscheidet, da hat der arbeitende Mensch sich einem Gebot unterstellt, vor dem alles das zu verstummen hat, was in ihm selbst an Bedürfnissen, Begehrungen, Sehnsüchten, Forderungen lebt. Es könnte nicht mitreden, ohne daß die Reinheit der Sache getrübt würde. Der Mensch hat sich für die Dauer des Arbeitsvorgangs gleichsam neutralisiert, zum Vollstreckungsorgan der Sache entselbstet. Aber das, was so auf Zeit zum Schweigen verurteilt wird, ist darum nicht aus der Welt. Einerseits mußte es zuvor schon da sein, damit überhaupt der Dienst an der Sache ausgenommen wurde. Denn ohne ein Motiv, das zur Fügung in den Sachdienst drängte, würde die Person niemals die besagte Entselbstung über sich verhängt haben. Andererseits meldet es sich unüberhörbar zum Worte, sobald die Diktatur der Sache aussetzt. Denn über Wert und Erfolg der Sachdienstbarkeit zu urteilen wird der sie übende Mensch sich aus dem einfachen Grunde nicht nehmen lassen, weil sie ihm die befristete Unterdrückung seines Selbst zugemutet hat. In der einen wie in der anderen Hinsicht ist eine große Mannigfaltigkeit von Stellungnahmen möglich. Sie können sich von dem Pol engherziger Selbstsucht bis zu dem Gegenpol selbstvergessenen Wahrheitsstrebens und entsagender Menschenliebe erstrecken. In jedem Falle aber ist es der konkrete Mensch, der, aus der Zucht der Sache entlassen, sein Ja oder sein Nein zu dem zu Tuenden bzw. Getanen spricht und so die der Sache gewidmete Lebensstrecke dem Ganzen eines nichts weniger als sachbestimmten Lebens einfügt.

Aus diesem Verhältnis von sachgebundener Dienstbarkeit und sachüberlegener Selbstbestimmung geht hervor, daß durch die Qualität der Arbeit und die Höhe des Arbeitertrages über den sie ausübenden Menschen, sein Wesen, seinen Wert, seine Seelenverfassung, nicht das mindeste ausgemacht ist. Denn alles dies kann ja erst zum Vorschein kommen, wenn er aus der Disziplin der Sache herausgetreten und sich selbst zurückgegeben ist. Und so kann es auch so sein, daß zwischen der Sach-gebundenheit des Menschen und seinem Streben nach Selbstvollendung ein empfindlicher Widerspruch besteht, ohne daß von ihm an dem Arbeitseffekt die leiseste Spur bemerkbar würde. Denn daß die Arbeit „sachgemäß“ verrichtet wurde, ist ja nur ein anderer Ausdruck dafür, daß aus ihrer Ausführung wie alles Menschlich-Persönliche überhaupt so auch ein etwaiger durch sie verschuldeter Konflikt herausgehalten und in den Bereich des auf Zeit suspendierten Personalen abgeschoben wurde. Daß die Sache so ganz und gar in sich abgeschlossen und gegen das personale Sein abgedichtet ist, darin ist die Möglichkeit begründet, daß das an die Sache sich bindende Tun von allen Schwankungen des persönlichen Lebens unberührt bleibt — aber dadurch ist auch die Möglichkeit ausgeschlossen, daß aus dem Ergebnis des an die Sache sich bindenden Tuns auf Wesen und Wert des ihr sich widmenden Menschentums geschlossen wird.

Aus diesem Grunde wäre es auch sehr voreilig, wollte man durch den unanzweifelbaren Erfolg von Deutschlands technisch-ökonomischer Kräfteanspannung sich über den Konflikt beruhigen lassen, den wir zwischen der deutschen Arbeitswelt und dem deutschen Bildungsideal aufklaffen sahen. Es wäre durchaus denkbar, daß er zwar im Bezirk einer Arbeit, in deren Wesen es liegt, daß sie alles spezifische Menschliche und so auch alle etwaigen menschlichen Konflikte aus ihrem Sachgefüge heraushält, nirgend sichtbar würde und doch außerhalb und jenseits dieses Bezirks, also da, wo zusammen mit dem Menschlichen überhaupt auch jeder ihm innewohnende Konflikt zu Worte kommen müßte, die Seelen verwirrte und den Lauf der Dinge mißleitete.

„Mittel“ und „Zweck"

In der Unterscheidung von sachgebundenem Tun und sachüberlegenem Selbstsein haben wir nur einen neuen Aspekt jenes Dualismus vor uns, durch den das menschliche Leben aufgespalten wurde, als aus dem Grunde abstandsloser Weltumfangenheit sich das Gegenüber von „Subjekt“ und „Objekt“ herausdifferenzierte. Mit dem Vorgang dieser Differenzierung treten, wie wir wissen, Theorie und Praxis auseinander. Nun, die eben behandelte UInterscheidung ist nichts anderes als der Dualismus dieser beiden Funktionen, betrachtet in der Gestalt, die er annimmt, wenn die selbständig gewordene Theorie sich in den Dienst der selbständig gewordenen Praxis stellt. Es ist, mit einem Worte, das „technische“ Verhältnis zwischen Mensch und Welt, in dem die erörterte Unterscheidung zu ihrer Vollendung durchdringt.

Wo dieses Verhältnis sich rein ausgebildet hat, da wird aus der Absonderung des Menschlichen vom Sachlichen die Absonderung der „Zweck e“ von den „M i 11 e 1 n". Die „Zwecke“ zu bestimmen, d. h.

sich für oder wider die jeweils in Betracht zu ziehenden Zwecke zu entscheiden, kommt jenem Selbstsein zu, das, wenn die „Mittel“ ausfindig gemacht werden sollen, sich jeglichen Hineinredens zu enthalten hat.

Denn die „Mittel“ sind ja nichts anderes als die „Sache“, betrachtet unter dem Gesichtspunkt, ob und wie sie der Verwirklichung als möglich angenommener Zweck dienstbar gemacht werden könne. Die Forderung, daß, wenn es die Sache zu bestimmen gilt, der Mensch als Person zu verstummen habe, nimmt hier also die Fassung an, daß, wenn die „Mittel“

ausfindig gemacht werden sollen, der die „Zwecke“ setzende Wille — natürlich nur für die Dauer dieser Nachforschung — sich Schweigen aufzuerlegen habe.

Mit dieser Wendung ist ein Begriffspaar in unseren Gesichtskreis eingetreten, das es nötig hat, aus mancherlei mißbräuchlicher Verwendung zu seiner reinen Bedeutung zurückgeführt zu werden. Ein Zeitalter, dem die technische Form des Denkens und Handelns so in Fleisch und Blut übergegangen ist wie dem unsrigen, unterliegt nur zu leicht der Versuchung, die im technischen Bereich sich rein herausgestaltende Relation »Mittel-Zweck" als ein Schema des Denkens und Handelns anzusehen, dem alles, was der Mensch nur immer sich vornehmen und angreifen mag, zu unterstellen sei.

Bestünde diese Angleichung zu Recht, so dürfte z. B.der Mensch ebensogut nach den „Mitteln“ fragen, die geeignet wären, den „Zweck“

der moralischen Rettung eines untergehenden Menschen zu realisieren, wie er nach den Mitteln fragt, die geeignet sind, den Zweck der Hebung eines untergegangenen Schiffs zu realisieren. Allein diese Übereinstimmung in der Ausdrucksweise bringt zum Verschwinden, daß nur in dem zweitgenannten Falle die Möglichkeit, vielmehr die Notwendigkeit besteht, die in den Dienst des Vorhabens zu stellende „Sache“, und das heißt: das der Zweckverwirklichung dienende „Mittel“ so reinlich von dem durch ihren Einsatz zu realisierenden Zweck abzusondern, wie das auf Grund der simplen Tatsache möglich ist, daß das einzusetzende Mittel der „Außenwelt“ angehört, hingegen der zu realisierende Zweck zwar auch ein Außenweltvorgang ist, aber doch erst dadurch zum „Zweck“

wird, daß er von dem durchaus nicht der Außenwelt angehörigen Selbst durch sein „Fiat!“ adoptiert wird. Wohingegen im erstgenannten Falle ein Handeln stattfindet, das durchaus nicht darauf ausgeht, einen dem Subjekt des Handelns am Herzen liegenden „Zweck“ durch Einsatz einer außerhalb seiner liegenden „Sache“ zur Verwirklichung zu bringen, vielmehr der zu verwirklichende angebliche „Zweck“ und das zu seiner Verwirklichung einzusetzende angebliche „Mittel“ innerhalb einer und derselben Dimension, nämlich in der Seele des zu rettenden Menschen, ihren Ort haben. Hier kann auch nicht das bescheidenste „Mittel“ zum Einsatz gelangen, ohne daß in und mit seiner Heranziehung auch schon der „Zweck", nämlich die seelische Umformung des gefährdeten Menschen, in Gang gebracht wäre. Und während im ersten Falle das „Mittel" als gleichgültiges Material oder Vehikel hinter dem erreichten Zweck verschwindet — so sehr verschwindet, daß es unter Umständen zu seinen Gunsten verbraucht wird — hat es sich im zweiten Falle so in das den „Zweck“ beherbergende Sein hineingebildet, daß es einen nicht mehr auszutilgenden Zug an seiner nunmehrigen Gesamtverfassung ausmacht.

Vielleicht wird diese begriffliche Unterscheidung manchen haarspaltelisch und deshalb überflüssig anmuten. In Wahrheit ist sie keineswegs bloß im Interesse der gedanklichen Sauberkeit geboten. Sie tut deshalb not, weil dem Menschen zusammen mit ihr auch das Vermögen abhanden kommt, zu unterscheiden zwischen denjenigen Sphären des Planens und Operierens, denen das technische Schema gemäß ist, und denjenigen Daseinsbereichen, die in Unordnung gebracht, ja um ihren eigentlichen Sinn betrogen werden müssen, wenn ihnen das gleiche Schema appliziert wird. Alle die Übergriffe, die man heute unter dem Namen „Technokratie“ zusammenfaßt, sind nichts anderes als Äußerungen jener Des-organisation des menschlichen Daseins, die nicht ausbleiben kann, wenn das technische Denken über die Schranken des ihm zugewiesenen Bereichs hinauswuchert. Der Satz, daß „der Zweck die Mittel heilige“, konnte nur deshalb so heftige Kontroversen hervorrufen, weil in seine Auslegung die unzulässige Erweiterung der „Mittel -Zweck“ -Kategorie hineinspielte.

Schließen wir das technologische Denken in die Grenzen ein, innerhalb deren es einzig am Platze ist, so tritt folgender Sachverhalt als der für sein Wesen bestimmende hervor. So streng und so allgegenwärtig die Herrschaft der „Sache“ in diesem Bereich sein mag: diese „Sachlichkeit“

fallt notwendig zusammen mit einer Neutralität, die sich jedes Pro und Contra verbietet, die schlechterdings alle Entscheidungen über zu Tuendes und zu Lassendes offen läßt. Das will besagen: wer mit der „Sache“

theoretisch und praktisch vertraut ist, der weiß genau, w i e er zu verfahren hat, wenn er eine auf den Beistand dieser Sache angewiesene Absicht ausführen will. O b er sich aber diese Absicht vorsetzen soll, um sei es seinem Glücksverlangen Befriedigung zu verschaffen, sei es seinem sittlichen Gewissen Genüge zu tun, darüber wird er im Bereich der Sache vergeblich Rat und Aufschluß suchen. Das sachgebundene Denken weiß von keinem Ja und keinem Nein. Es könnte nicht dem Ansinnen, ein solches auszusprechen, auch nur einen Fußbreit nachgeben, ohne daß es aufhörte, ein „sachliches“ Denken zu sein. Dasselbe in der Sprache unseres Begriffspaars ausgedrückt: es würde zwar nicht ein Denken über „Mittel“ sein, wenn es nicht auf mögliche Zwecke hinblickte; aber es würde ebensowenig ein Denken über „Mittel“ sein, wenn es seine Unparteilichkeit aufgeben, d. h. f ü r diese und gegen jene unter den möglichen Zwecken optieren wollte. Mittel sind als solche immer Mittel „für“ etwas. Dieses Wofür als möglich, als realisierbar in Sicht zu bringen und gleichzeitig jeden Hinweis auf seine Bejahungs-oder Verneinungswürdigkeit auszuschließen: dies eben ist es, was das „technische Denken zu dem macht, als was es mit diesem Namen bezeichnet wird. Mit einer nicht zu erweichenden Unerbittlichkeit schiebt dies Denken die Entscheidung darüber, was zu tun und was zu lassen ist, auf eben den Menschen ab, der, indem und solange er sich zu seinem Organ machte, zu seinen Gunsten sein Menschsein gleichsam suspendiert hatte. Das ist jene kalte Indifferenz, durch welche die Technik unserer Tage, ihre ungeheuerlichen Kraftwirkungen jedwedem Vorhaben zu leihen erbötig, uns frösteln macht. Aber vergessen wir nicht: nur durch diese kompromißlose Abscheidung alles Menschlichen wird es möglich, daß der durch die Sache vorgezeichnete Fortschritt durch alle Schwankungen und Ausschläge der geschichtlichen Gesamtbewegung so ganz und gar nicht alteriert wird!

2. Die Versachlichung der Welt

„Äußeres“ und „Inneres“

Allein wenn wir uns davon überzeugen, mit welcher Strenge die für die Sadie reservierte Sphäre des entscheidungslosen Fortschrittes und die dem Menschen überlassene Sphäre der sachüberlegenen Entscheidung sich voneinander sondern, dann sieht es doch fast so aus, als ob in abgewandelter Gestalt jene Scheidung wieder auflebte, die uns bei Humboldt als Gegenüberstellung vom „Inneren“ und Äußeren“ begegnete. Ja, nicht nur die Scheidung des Einen vom Anderen, sondern auch die Erhöhung des Einen über das Andere scheint mit veränderter Begründung wieder-zukehren. Tun wir denn nicht recht daran, den in Gestalt der Sadie sich anbietenden Vorrat an „Mitteln“ dem „Äußeren“, den unter den möglichen „Zwecken“ wählenden und damit über die Mittelverwendung entscheidenden Willen dem „Inneren“ gleichzusetzen? Und ist nicht in der Tat das so verstandene „Innere“ dem so verstandenen „Äußeren“ wenigstens insofern übergeordnet, als zwar der zwecksetzende Wille über die Mittel, nicht aber das mittelbestimmende Denken über den Zweck verfügt? Gewiß ist zuzugeben, daß innerhalb der möglichen Zwecke alle denkbaren Schattierungen von Wert und Unwert vertreten sind und daß insofern mit der Verordnung des zwecksetzenden „Inneren“ über die Ranghöhe der im Einzelfall maßgebenden Zwecke nicht das mindeste ausgemacht ist. Aber daß sich die Frage nach Wert und Unwert ausschließlich in der Region der „Zwecke“ und ganz und gar nicht in der Region der „Mittel“ entscheidet — das läßt dann doch hinwiederum die Überlegenheit des „Inneren“ über das „Äußere“ von einer neuen Seite her sichtbar werden. Das Prädikat der „Äußerlichkeit" ist doch wohl nicht ungeeignet, die Indifferenz zu bezeichnen, in der die Mittel als solche verharren.

Nun steht es uns natürlich frei, das Verhältnis der beiden hier unterschiedenen Bereiche mit dem von W. v. Humboldt — und nicht nur von ihm — so sehr geschätzten Gleichnis zu bezeichnen. Die Frage ist nur, ob nicht das Festhalten an diesem Gleichnis das Aufkommen von Vorstellungen begünstigt, die unvermerkt doch wieder den Sachverhalt, den zu erhellen das Gleichnis eingeführt wurde, verdunkeln. Es ist zu zeigen, daß dies in der Tat der Fall ist.

Gegebenes und Gestaltung Alle Gedankengänge, die sich an das Bild „Inneres -Äußeres“ halten, sehen den Menschen als ein zwischen zwei „Räumen“ sich hin-und herbewegendes Wesen. Er verweilt bald „draußen“, im Umkreis der die Mittel darbietenden Sache, bald „drinnen“, im Zentrum des die Zwecke auswählenden Selbst.

Indes diese Vorstellung, die sich mit dem in Rede stehenden Gleichnis unfehlbar einstellt, muß unweigerlich einen für unser Problem fundamentalen Sachverhalt zum Verschwinden bringen. Räume, die man wechselweise aufsucht, sind im Verhältnis zu dem zwischen ihnen wechselnden Wesen ein Vorhandenes, Vorgegebenes, sie bilden das Medium, das man als Rahmen und Voraussetzung des eigenen Verhaltens hinnimmt und nach dessen Ordnung man sich in seinem Benehmen richtet. Kann, darf diese Vorstellung festgehalten werden, wenn es gilt, Unterschied und Verhältnis des bei der Sache verweilenden und des in sich selbst zurückgehenden Menschen zu bestimmen? Sie dürfte es in dem Falle, wenn das als das „Äußere“ Bezeichnete, wenn die Welt der „Sachen“ als das schon vorhanden wäre und vorgefunden würde, als was sie sich in der Perspektive des forschenden Geistes darstellt, wenn also der Mensch, um ihrer kundig und mächtig zu werden, nichts weiter zu tun hätte, als das, was da ist, so, wie es da ist, betrachtend zur Kenntnis zu nehmen und handelnd zum Einsatz zu bringen. Sie dürfte es in dem Falle, wenn das als das „Innere“ Bezeichnete, wenn die Sphäre des „Selbst“ als das schon vorhanden wäre und vorgefunden würde, als was sie der bei sich einkehrende Geist erfährt, wenn also der Mensch, ihrer kundig und mächtig zu werden, nichts weiter zu tun hätte, als das, was da ist, so, wie es da ist, betrachtend zur Kenntnis zu nehmen und handelnd in Tätigkeit zu versetzen.

Aber — so wird man erwidern — die hier wiedergegebene Vorstellung trifft doch den Nagel auf den Kopf! Es ist doch wirklich so, daß ich „draußen“ eine Welt vorfinde, die fertig dasteht, von deren Vorhandensein und Beschaffenheit ich lediglich Kenntnis zu nehmen habe und die ich nur so, wie sie ist, in den Dienst meiner Zwecke stellen kann. Es ist doch wirklich so, daß ich „in mir“ ein Selbst vorfinde, besser: daß ich mich als ein Selbst vorfinde, das ich in seiner gegebenen Beschaffenheit hinzunehmen habe und das ich nur so, wie es ist, in Akten der Zweck-setzung und Zweckverwirklichung betätigen kann. Nichts anderes als dies doppelte Gegebene ist es, was mit den Ausdrücken „Äußeres“ und „Inneres“ bezeichnet werden soll.

Allein in dieser Gegenrede ist gerade das Entscheidende verfehlt. Was ich „draußen“ als gegeben vorfinde, das ist nicht die Welt in derjenigen Gestalt, in der sie sich mir darstellen muß, damit ich sie als Inventar von Mitteln in den Dienst meiner Zwecke stellen könne. Was mir als Welt gegeben ist, das tritt mir in der ganzen Fülle der sinnlichen Anschauung und nicht als das abstrakte Gefüge quantitativer Relationen entgegen, als welches sie in der Perspektive von Naturwissenschaft und Technik figuriert. Umgekehrt ist jene „Natur“, die die Naturwissenschaft vor uns hinstellt und die Technik für uns bereitstellt, nicht ein Vorgefundenes, das so, wie es ist, hinzunehmen und einzusetzen wäre, sondern das Resultat der methodischen Be-und Verarbeitung, die die besagte Wissenschaft dem in sinnlicher Anschaulichkeit sich Darbietenden hat widerfahren lassen. In Kürze: das Gegebene ist nicht die Sache, und die Sache ist nicht das Gegebene.

Und was andererseits mein Selbst angeht, so ist zwar einzuräumen, daß nicht ich selbst mich zu dem gemacht habe, der ich bin, und daß ich insofern wirklich mir selbst „gegeben“ bin. Aber wenn das als Außenwelt Gegebene nicht ein Letztes ist, bei dem ich als bei einem nicht Abzuwandelnden stehen zu bleiben hätte — warum soll das mir in Gestalt meiner selbst Gegebene die Möglichkeit der Um-und Fortbildung auschließen?

Ist es nicht umgekehrt ein naheliegender Gedanke, daß, wenn es mir vergönnt ist, das mir als Außenwelt Gegebene durch eigene Geistestat in eine neue Gestalt überzuführen, ich nicht das mir in meinem Selbst Gegebene als unwiderruflich Verhängtes hinzunehmen verurteilt bin? Ja, die Vermutung drängt sich auf, daß unter den seelischen Vorgängen, in denen die als möglich, ja als wahrscheinlich anzunehmende Gestaltung des Selbst sich vollzieht, die auf die Versachlichung der Welt hinzielenden Akte eine wahrlich nicht untergeordnete Stellung einnehmen. Das Selbst wandelt seine eigene Gestalt, indem es die Gestalt der Welt abwandelt!

Es wird im Vollbringen dieser Geistestat ein anderes, als es vor dem Eintritt in diese Auseinandersetzung war und als es bei ihrem Unterbleiben sein würde. Was zunächst nur als Veränderung des Welt-aspekts unsere Aufmerksamkeit auf sich zog, das wäre alsdann nur die eine Seite eines Gesamtvorganges, der als korrelativ hinzugehörige Gegenseite die am Selbst geschehende Veränderung umspannte.

Veräußerlichung und Verinnerlichung Daß das Selbst, indem es die Welt zur „Sadie“ umdenkt, zugleich in sich ein anderes werde — diese Annahme gewinnt den Charakter unumstößlicher Gewißheit, wenn wir uns daran erinnern, welches die Lage ist, aus deren Schoß sich dieses Verhältnis von Mensch und Welt entbindet.

Um die Welt zur Sache reduzieren zu können, muß der Mensch mit ihr zuvor durch jenes Lebensverhältnis geeint gewesen sein, welches sich im „Umgang“ realisiert. Wie ist die Struktur des Vorganges zu denken, der stattfinden muß, damit aus dem ungeteilten Grunde dieses Lebensverhältnisses das Gegenüber jener zwei Parteien hervortrete, die »wir als „Subjekt“ und „Objekt“ bezeichnen? 1) Da es nicht angeht, einen von außen her kommenden Eingriff — etwa den Gewaltakt eines dem „Leben“ feindlichen „Geistes“ -für diese Aufspaltung verantwortlich zu machen, so kann es nicht anders sein, als daß jene Parteien in wechselseitiger Profilierung, d. h. indem die eine sich von der anderen abgrenzt (und vice versa), ihre Eigenständigkeit gewinnen. Als Prozeß der wechselseitigen Abhebung aber kann dies Geschehen nur dann gelten, wenn es auf beiden Seiten eine Neues ans Licht treten läßt, mithin auf der Seite des „Subjektes“ nicht weniger ein Vorgang der Verwandlung ist als auf der Seite des „Objekts“. So enthüllt sich die Korrelation, die die Umbildung des Weltaspekts an die Umbildung des Selbst bindet, als durch die Genesis des neuen Weltverhältnisses gefordert und gesichert. Was ist in diesen Überlegungen aus dem Gleichnis „Äußeres -Inneres" geworden? Wie sich gezeigt hat, ist das „Äußere" so wenig wie das „Innere“ ein vorgegebenes, vorgefundenes Medium, das der Mensch so, wie es ist, hinzunehmen und in dem er sich gehorsam einzurichten hätte; vielmehr ist die Scheidung des Einen von dem Anderen, das Auseinander-treten des der „Welt“ Zuzurechnenden und des dem „Selbst“ Angehöri-gen, seineigenesWerk, vollbracht durch Kündigung des Bundes, der bis dahin jede Aufteilung ausgeschlossen hatte. Das „Äußere" ist das Resultat des „veräußerlichenden", des die Sache vom Selbst abdrängenden Tuns — das „Innere“ ist die Frucht des „verinnerlichenden", des das Selbst von der Sache distanzierenden Tuns.

3. Die Unangreifbarkeit von mathematischer Naturwissenschaft und Technik

Ein Sündenfall?

Wir haben mit der Kritik der Vorstellungen, die sich im Gefolge des Gleichnisses „Äußeres -Inneres“ notwendig einstellen, mehr gewonen als den Ausschluß verbreiteter Vorurteile, die das von uns zu behandelnde Problem verdunkeln. Wir haben durch Abwehr des Irrtümlichen einen wesentlich tieferen Einblick getan in die Struktur der Beziehung, die der Mensch zwischen sich und der Welt herstellt, indem er sie zur „Sache" reduziert. Lind was uns damit zuteil geworden ist, das ist hinwiederum mehr als ein Zuwachs an theoretischer Klarheit. Der ganze Komplex von Fragen, die sich erheben, wenn das Verhältnis der „Bildung“ zu diesem Kreis von menschlichen Leistungen in Frage steht, kann nicht angemessen behandelt werden, solange nicht über die fragliche Korrelation vollkommene Klarheit besteht.

Das Erste und Grundsätzliche, das erst auf dem Wege der von uns gesuchten Klärung entschieden werden kann, ist eine Frage, von deren Beantwortung es abhängt, ob die im Zeichen von Naturwissenschaft und Technik einhergehenden Bestrebungen es überhaupt verdienen, mit dem Problem der Menschenbildung in Verbindung gebracht zu werden, oder ob sie nicht durch ihren ureigensten Charakter jede unter diesem Gesichtspunkt erfolgende Prüfung sinnlos machen. Dieser Frage ist deshalb nicht auszuweichen, weil über die genannten Bestrebungen in der Tat ein Urteil ergangen ist, das der Verneinung ihrer pädagogischen Wertigkeit gleichkommt.

Denn ohne Zweifel heißt es, diese verneinen, wenn man die Behauptung aufstellt, der Mensch habe, indem er von sich als „Subjekt“ die Welt als „Objekt“ schied und dieses Objekt in mathematische Relationen auflöste, der „Natur“ zuwider gehandelt, also einen Fehltritt begangen.

Man kann, man darf nicht den Folgen eines Fehltritts die pädagogische Weihe geben. Kein Geringerer als Goethe ist es gewesen, der mit seinem Feldzug gegen die rechnende Naturwissenschaft als erster diese Losung ausgegeben hat und der auch in seinen eigenen pädagogischen Entwürfen nach Maßgabe dieser Losung verfahren ist. An Gesinnungsgenossen hat es ihm in der Folgezeit nicht gefehlt. Und gerade wir Heutige haben allen Grund, seine Polemik ernst zu nehmen. Denn gerade in unseren Tagen haben die Stimmungen und Meinungen, die seinem Verdikt Recht geben, an Verbreitung und Stärke beträchtlich zugenommen — und zwar keineswegs bloß auf Grund der schmerzhaften Erfahrung, welche Wunden die mit der Naturwissenschaft verbündete Technik dem für ihre Ausbildung verantwortlichen Geschlechte schlagen kann.

Wenn dem Menschen daraus ein Vorwurf gemacht wird, daß er dazu übergegangen sei, die Natur mathematisch zu berechnen und technisch zu verwenden, so liegt darin eine gewichtige Voraussetzung enthalten: die Voraussetzung, daß, so wahr er diesen Schritt nicht hätte tun sollen, er ihn eben so gut hätte unterlassen können, wie er ihn tatsächlich getan hat. Er habe, so meint man, die Wahl zwischen dem Einen und dem Anderen gehabt. Träfe diese Voraussetzung zu, so läge dem besagten Übergange eine Entscheidung des Menschen zu Grunde. Nun haben wir in der Sphäre der „Zwecke“ bereits die Sphäre kennen gelernt, in der die wählenden Entscheidungen zu Hause sind. Aber unmöglich kann die Entscheidung, auf die wir hier gestoßen sind, in dieser Sphäre ihren Ort haben. Denn diese Sphäre gibt es ja nur auf Grund der Tatsache, daß sich die Sphäre der Zwecke von der Sphäre der Mittel abgesondert hat, daß also die Entscheidung bereits zu Gunsten des beanstandeten Verfahrens gefallen ist.

Die Entscheidung, die hier zum Vorschein kommt, schafft überhaupt erst die Möglichkeit aller der einzelnen Entscheidungen, die in der Sphäre der verselbständigten Zwecke gefällt werden. Sie ist im Verhältnis zu ihnen eine Entscheidung, die gleichsam eine Stufe tiefer, näher an den LIrsprung heran, gelegen ist. Sie ist die LIr-Entscheidung, die alle jene besonderen Entscheidungen aus ihrem Schoße entläßt. Lind diese Urentscheidung ist es, auf welche die oben wiedergegebene Anklage zielt. Sie wird im Lichte dieser Anklage zu dem originären Sündenfall, durch den der Mensch sein Dasein aus der Richte gebracht und ihm das Heer der im einzelnen zu beklagenden Heimsuchungen auf den Hals gezogen habe.

Mathematik und Natur Goethe hat das, wodurch die mathematische Naturwissenschaft seinen Widerspruch herausfordert, in einer „Maxime“ niedergelegt, in der wir alles, was seitdem wider sie ins Feld geführt worden ist, wie in der Nuß zusammengefaßt finden. Sie lautet: „Als getrennt muß sich darstellen: Physik von Mathematik. Jene muß in einer entschiedenen Unabhängigkeit bestehen und mit allen liebenden, verehrenden, frommen Kräften in das heilige Leben derselben einzudringen suchen, ganz unbekümmert, was die Mathematik von ihrer Seite leistet und tut. Diese muß sich dagegen unabhängig von allem Äußeren erklären, ihren eigenen großen Geistesgang gehen und sich selber reiner ausbilden, als es geschehen kann, wenn sie wie bisher sich mit dem Vorhandensein abgibt und diesem etwas abzugewinnen oder anzupassen trachtet“.

Was in dieser Auslassung zur Charakteristik der mathematischen Naturwissenschaft ausgesagt ist, das läßt sich ungesucht in zwei Gedanken zerlegen, die gesondert erwogen sein wollen.

Erstens: was uns in der mathematischen Naturwissenschaft unter dem Namen „Natur“ entgegentritt, das ist nicht dasselbe wie die Natur, die sich uns schenkt, wenn wir uns ihr „mit allen liebenden, verehrenden, frommen Kräften“ zuwenden, um mit ihrem „heiligen Leben“ eins zu werden. Jene „Natur“ ist das Resultat einer gedanklichen Be-und Verarbeitung, die diese ursprüngliche, diese mit uns einige Natur über sich ergehen lassen mußte.

Zweitens: diese Bearbeitung ist schon aus dem Grunde zu verneinen, weil sie die Mathematik in die Natur hineinträgt. Das ist eine unzulässige Vermischung von denkerischen Funktionen, die nur in strenger Sonderung das Ihre verrichten können. Die mit Physik infizierte Mathematik büßt ihre ideale Reinheit ein, die durch Mathematik deformierte Physik setzt eine methodische Fiktion an die Stelle des gesuchten Gegenstandes.

Was Goethe in dem ersten Gedanken ausführt, das ist eine Wahrheit, die immer wieder ausgesprochen und beherzigt sein will, weil diejenigen nicht aussterben, die sich einbilden, die „Natur" der mathematischen Naturwissenschaft sei einfach die gedankliche Wiedergabe dessen, was der Mensch, der aufmerksamen Blickes in die Wirklichkeit hineinschaue, als Natur vorfinde — sie komme dadurch zu Stande, daß er sie so, wie sie da ist, abschreibe. Es tut wahrlich auch heute noch not, den Unterschied und Abstand einzuschärfen, durch welche die mathematisch durchkonstruierte „Natur“ sich von der uns unmittelbar begegnenden Natur absetzt.

Indes die Zustimmung zu dem ersten Gedankengang zieht keineswegs mit Notwendigkeit die Bejahung des zweiten nach sich. Auch wenn es feststeht, daß die Mathematik als solche eine Wissenschaft von „idealen Gegenständen“, also eine ohne Anleihen bei der Erfahrung auskommende Disziplin ist, ist damit noch nicht ausgemacht, daß in der nur der Erfahrung sich erschließenden Wirklichkeit keine die mathematische Fassung ermöglichenden oder fordernden Relationen sich müßten auffinden lassen. Ob die Natur eine von der Mathematik geleitete Verarbeitung zuläßt oder nicht: das ist eine Frage, die nicht durch eine negative Vorentscheidung abgeschnitten werden darf, sondern ihrerseits nur durch eine Anfrage bei der Erfahrung entschieden werden kann. Es ließe sich vorstellen, daß die Natur auf diese Anfrage in der Weise eine verneinende Antwort erteilte, daß sie durch die Regellosigkeit ihrer Erscheinungen jedes Versuches spottete, sie in Gesetze oder gar mathematisch präzisierte Gesetze zu fassen. Tatsächlich tut sie das bekanntlich nicht. Aber freilich; ob sie eine bejahende Antwort vernehmen läßt, das hängt davon ab, daß nicht nur überhaupt gefragt wird, sondern daß in der rechten Weise gefragt wird. Das würde z. B. dann nicht der Fall sein, wenn der Mensch sich damit begnügen wollte, auf die ihm begegnende Natur hinzuschauen, ob sich in ihr an irgendeiner Stelle mathematisch formulierbare Relationen auffinden ließen. Das wäre ein Verfahren, durch welches die Grenze des dem Umgang eigentümlichen „Probierens“ grundsätzlich nicht überschritten würde. Das wahrhaft Ingeniöse der Frageweise, durch die als Antwort das Ja der befragten Natur hervorgelockt wird, liegt darin, daß das sie übende Subjekt die vermutete mathematische Beziehung in vorwegnehmender Konstruktion als „Hypothese“ formuliert und sich durch das „Experiment“ lediglich bestätigen („verifizieren“) läßt. Ist aber dieser Befragung der Natur wieder und wieder eine bejahende Antwort zuteil geworden — und die Geschichte der mathematischen Naturwissenschaft ist eine nicht abreißende Folge von solchen Bejahungen — wie dürfte dann der Wissenschaft, die sich so millionenfach bestätigt findet, eine Vergewaltigung oder Verunstaltung der Natur schuld gegeben werden! Insofern ist die Geschichte der neuzeitlichen Naturwissenschaft eine einzige große Widerlegung des zweiten Gedankens, den wir aus der angeführten Maxime herausgelöst haben.

Daß Goethe und mit ihm so mancher Verkleinerer der rechnenden Naturwissenschaft vor den nicht wegzuleugnenden Tatsachen der Wissenschaftsgeschichte seine Augen verschließt, das wird einigermaßen verständlich, wenn man in seiner Ablehnung die Reaktion erkennt, durch die eine nicht weniger hartnäckige Voreingenommenheit der Gegenseite beantwortet wird. Die verwissenschaftliche, die fromm verehrende Begegnung mit der Natur wider jedes Hineinreden rechnender Naturbearbeitung in Schutz zu nehmen wird sich immer dann als unumgänglich erweisen, wenn Recht und Wert dieser ursprünglichen Naturhingabe im Namen der genannten Wissenschaft ausdrücklich in Abrede gestellt werden. Und das geschah mit Notwendigkeit in dem Augenblick, in dem die Wortführer dieser Wissenschaft sich der oben kritisierten Vorstellung hingaben, in den Ergebnissen ihrer Forschung nur die „wirkliche“, d. h. die in eben dieser Gestalt vorhandene und vorgefundene Natur abgeschrieben, nicht sie in ein methodisch gebautes Relationsgefüge umgeschrieben zu haben. Denn diese „realistische" Auslegung des durch die eigene Forschung Erkundeten zog ja notwendig die Folgerung nach sich, daß jede Ansicht der Natur, die von der mathematisch strukturierten abweiche, eben dadurch sich als nicht real, also als trügerisch und der Verabschiedung würdig erweise. Von den Wortführern der mathematischen Naturwissenschaft dergestalt in dem, was ihm das Heiligste war, angegriffen und Lügen gestraft, konnte ein Geist nach Art des goetheschen nur mit einer ebenso radikalen Verneinung dessen antworten, wodurch der Angreifer die fromm verehrte Allmutter verdrängen wollte.

So kam es, daß beide Parteien sich auf die Verleugnung dessen versteiften, was die Gegenseite vergötterte.

Subjekt-Objekt-Differenzierung Indem wir das Korrespondenzverhältnis aufklärten, das zwischen dem die Natur befragenden menschlichen Geist und der seine Frage beantwortenden Natur obwaltet, haben wir eine oben in allgemeiner Form ausgestellte These durch Einzelausführung präzisiert.

Wir legten dar, daß das Gegenüber von Subjekt und Objekt sich nicht anders aus dem Grunde der ursprünglichen Lebenseinheit habe hervor-arbeiten können als durch einen Vorgang wechselseitiger Abhebung, der Glied und Gegenglied in immer schärferen Umrissen hervortreten ließ.

Es ist also durchaus nicht so, daß die eine Seite des Verhältnisses der anderen eine aus eigener Vollmacht dekretierte Form aufpreßte, es ist durchaus nicht so, daß das Subjekt — denn nur dieses könnte als Träger solcher Vollmacht fungieren — das Objekt aus einer widerstandslos duldenden Materie hervorbildete. Vielmehr ist jeder Schritt, den das Selbst auf dem Wege der fortschreitenden Versachlichung tut, nicht weniger legitimiert durch die von der Gegenseite her ergehende Aufforderung und Bestätigung als durch die auf der eigenen Seite treibende Energie des methodischen Denkens. Nur kraft dieser Entsprechung kann es geschehen, daß das Selbst, indem und dadurch daß es das Gegenüber zum Objekt des Denkens profiliert, zugleich sich selbst zum Subjekt des Denkens diszipliniert 3).

An der Einsicht in dies Wechselverhältnis aber begrenzt sich nun auch das Recht der Vorstellung, als habe es beim Menschen einer Art von „Urentscheidung" bedurft, auf daß der Weg der Versachlichung der Natur betreten werde. Lassen wir uns den Begriff der „Entscheidung“ durch die Willensentschlüsse verdeutlichen, die der die Zwecke setzende Mensch im Angesicht der Welt der Mittel fort und fort zu fassen nicht umhin kann, dann leuchtet es ein, daß der von hier aus gewonnene Begriff der „Entscheidung“ unter keinen LImständen zur Klärung des Prozesses herangezogen werden darf, in dem der Mensch erst zum zwecksetzenden Wesen heranreift. Dieser Prozeß muß schon zu einem gewissen Abschluß gediehen sein, wenn Entscheidungen der genannten Art überhaupt möglich sein sollen. Sind doch diese Zweckentscheidungen durch eine Einseitigkeit des Verfügens gekennzeichnet, die das ganze Gegenteil ist der Wech selseitigkeit, die in dem auf sie hinführenden Werdegang obwaltet. Wer einen Vorrat von bereitliegende Mitteln im Hinblick auf mögliche Verwendung mustert, der würde, aus zur Genüge erörterten Gründen, seine eigene Situation gröblich mißverstehen, wollte er von seinem Gegenüber ein Ja erwarten, das seiner eigenen Entscheidung Recht gäbe. Er ist ganz auf sich selbst gestellt. Der Entwicklungsgang aber, durch den er zur Höhe dieser Entscheidungsvollmacht emporgeführt worden ist — er konnte nur durch ein Selbst vollzogen werden, das von Station zu Station durch sein Gegenüber der Richtigkeit seines Vorgehens versichert wurde.

Hatten wir also schon deshalb Grund, den Vorwurf eines „Sündenfalls“ zurückzuweisen, weil die seiner schuldig gesprochene Wissenschaft nur ein im Verhältnis von Mensch und Welt uranfänglich Angelegtes aktualisiert, so wird dieser Vorwurf erst recht an der Feststellung zunichte, daß der die besagte Wissenschaft hervorbringende Mensch in den auf ihre Vollendung zielenden Akten gar nicht in dem Besitz der „Entscheidungs“ -Freiheit ist, die ihm zu eigen sein müßte, damit diese Akte als sündig gebrandmarkt werden dürften. Was nicht weniger durch das dem Selbst gesellte Gegenüber als durch die dem Selbst einwohnende Denkenergie gefordert ist, das kann nicht einseitig dem Konto des Selbst als Schuldposten zugeschoben werden.

Technik und Produktion In dem Gedankengang, in dem die mathematische Naturwissenschaft von dem Vorwurf der Naturvergewaltigung entlastet wurde, ist mehr enthalten als die Rehabilitierung einer zu LInrecht in Anklagezustand versetzten Wissenschaft. Wie wir uns erinnern, sind Naturwissenschaft, Technik und technisch organisierte Produktion durch eine unlösbare Solidarität verknüpft. Auch Technik und Produktionsordnung sind, weil auf jenem Verhältnis von Mensch und Natur basierend, dessen Unsträflichkeit sich herausgestellt hat, grundsätzlich über jede Anfechtung erhaben. Allerdings ist hinzuzufügen: sie sind es nur so lange, wie die durch sie entwickelten Formen des Denkens und Handelns sich innerhalb der Grenzen der Sachwelt halten, an der sie sich herangebildet haben. Erliegen sie der Versuchung, diese Grenzen zu überschreiten, so lebt die Anklage mit abgewandelter Begründung wieder auf.

4. Saebbeherrschung -Menschenbildung

Ausschaltung des Menschen?

Indem wir den auf Herausarbeitung der Sachwelt zielenden theoretischen und praktischen Funktionen den Vorwurf der Naturwidrigkeit abnahmen, haben wir den prinzipiellsten unter den Einwänden entkräftet, durch die der „Bildungs" -Wert dieser Funktionen in Frage gestellt werden sollte. Wir haben eine Behauptung widerlegt, durch deren Bejahung jeder Gedanke an einen möglichen Bildungsertrag von vornherein ausgeschlossen wäre. Allein ist mit dieser Abwehr auch schon der Ausschlag zu Gunsten des fraglichen Bildungswerts gegeben? Ist eine Tätigkeit schon dadurch ihres „bildenden“ Charakters versichert, daß sie sich als in dem ursprünglichen Verhältnis von Mensch und Welt angelegt und vorgesehen auszuweisen vermag? Es möchte doch sein, daß diese Tätigkeit, obwohl aus sachlichen Gründen notwendig und gefordert, gleichwohl einer Rückwirkung auf das sie ausübende Selbst ermangelte, die durch das Prädikat „bildend“ ausgezeichnet zu werden verdiente. Warum sollte es nicht Betätigungsformen geben, die notwendig, unverwerflich und gleichwohl nicht „bildend“ wären?

In der Tat meint man an der in Rede stehenden Tätigkeit Wesenszüge zu entdecken, die geeignet sind, dem Zweifel an ihrer „bildenden Wertigkeit Nahrung zu geben. Je mehr sich die auf Herausarbeitung der Sache ausgehende Bemühung ihrem Ziele nähert, je schärfer sich die Konturen der Sache aus den Gesichten der im Umgang begegnenden Natur herausheben, um so mehr sehen wir aus dem Bilde des dem Menschen gesellten Gegenüber jede Spiegelung dessen, was ihm als dieser bestimmten Person eigentümlich ist, verschwinden. Die im Umgang ihm begegnende Natur war „seine" Natur, d. h. die Natur, wie sie sich gerade und nur ihm, dem so und nicht anders gearteten Individuum, zu eigen geben konnte. Durch sie konnte er sich als dieser Eine und Einzige angesprochen fühlen; in ihr konnte er sich als diesen Einen und Einzigen bestätigt finden. Die zur Sache gewordene Natur ist „die“ Natur, d. i. die Natur, wie sie sich jedem ihr zugekehrten denkenden Subjekt ohne Unterschied präsentiert. Sie kennt keine Rücksicht auf das persönliche Sein; in ihr ist jede den konkreten Menschen einbeziehende Bindung ausgelöscht. Dasselbe vom Standpunkt des Menschen aus gesehen; der Mensch zieht sich aus der Natur zurück; er läßt in ihrem Bilde alles das sich verflüchtigen, was von seinem Einverständnis mit ihr Zeugnis ablegt. Jede Spur dieses Einverständnisses, die zurückbliebe, würde ja einem Abbruch an der Reinheit der Sache gleichkommen. In diesem Sinne darf der Prozeß der „Versachlichung“ ein solcher der „Entmenschlichung" heißen.

Wenn aber der konkrete Mensch in der Ausübung der in Rede stehenden Tätigkeit sich um so gründlicher verleugnet, je weiter er in ihrem Vollzüge vorwärts kommt, wenn er im Fortschreiten seiner Bemühung gleichsam der Sache immer mehr das Feld räumt, dann muß doch wohl, so denkt man, auch seine „Bildung“, die doch nur als Verfassung des ganzen, des konkreten Menschen verstanden werden kann, bei dieser Weise menschlicher Betätigung leer ausgehen. Ihre Ausübung scheint einer befristeten Suspension des Bildungsprozesses gleichzukommen. Der Mensch wäre demnach am Abschluß dieser Exkursion in ein völlig neutral-unpersönliches Land zuletzt derselbe, der er bei ihrem Antritt war — um ein indifferentes Sachwissen bereichert, aber als Person sich gleich geblieben. Man kann dieser Überlegung nicht nachgehen, ohne die humboldtische Statuierung eines „Äußeren“, an das der Mensch sich nicht hingeben könne, ohne daß sein „Inneres" darben müßte, in veränderter Form wieder aufleben zu sehen

Der Wille zur Sache Indes die wiedergegebene Vorstellung krankt an demselben Übel wie die durch das Gleichnis „Äußeres-Inneres" eingegebene: sie bleibt an räumlichen Anschauungshilfen hängen, die gerade überwunden werden müssen, wenn der Sachverhalt, um den es geht, unentstellt herauskommen soll. Ist man des Glaubens, daß der Mensch um so mehr zurückweichen müsse, je mehr die Sache hervortritt, so stellt man sich Mensch und Sache als Konkurrenten vor, die sich in ein begrenztes Gelände zu teilen haben. Natürlich kann alsdann der eine nur so viel gewinnen, wie der andere aufgibt. Aber die Tätigkeit, deren es bedarf, damit die Sache zum Vorschein komme — von wem wird sie denn ausgeübt, wenn nicht von dem konkreten Selbst, das aus ihrem Ergebnis nicht sowohl ausgeschaltet wird als vielmehr sich selbst ausschaltet!

Es ist die im konkreten Selbst und nur in ihm wurzelnde Motivation, durch die der Wille zu dieser Selbstausschaltung nicht nur wachgerufen, sondern auch für die Dauer der Sachbearbeitung rege erhalten wird. Es ist dieser Wille, durch den im Selbst alles das niedergehalten wird was dem Vordringen zur Sache hinderlich sein könnte: alle die Regungen der Schwäche, der Unlust, der Verstimmung, der Begehrlichkeit, denen das Selbst nicht nachgeben könnte, ohne die Fühlung mit der Sache zu verlieren. Nicht weil das konkrete Selbst zurücktritt, sondern weil und so lange es mit unnachsichtiger Strenge diese Zensur an den Wallungen seines Innenlebens ausübt, kann die strenge Lineatur der Sache sich mit ständig zunehmender Schärfe von dem Auf und Nieder der seelischen Bewegung ablösen. Daß das konkrete Selbst es ist, welches nicht durch vorübergehende Stillegung, sondern durch stetige Anspannung seiner Energien den Aufgang der Sache bewirkt, das zeigt sich daran, daß das nämliche Selbst nicht daran denkt, den Ertrag des Bemühens der Sache gutzuschreiben — als hätte sie sich ohne sein Zutun zur Kenntnis gebracht — vielmehr als sein ureigenstes Verdienst zu buchen keinen Anstand nimmt. Mit gutem Grunde! Hat es doch den Sieg errungen über den Widerstand der Triebe, Hänge, Leidenschaften, die den Menschen an sich selbst fesseln, auf sich selbst beschränken, in sich selbst einschließen möchten, und sich so zum Organ des reinen, des allgemeinen Denkens emporgeläutert! Ist es doch mit diesem Aufstieg der Wahrheit ansichtig geworden, die nicht ihm als diesem Einzelnen, sondern dem Denken überhaupt und schlechthin zugehört!

Was die hierzu erforderliche Anspannung der Kräfte im Selbst hervorbringt, das ist der „Wille zur Sache“, d. h.der Wille, die Sache in ihrer Reinheit zum Reden zu bringen. Wenn wir hervorhoben, daß der Fortgang der Sacherschließung, obwohl einem den Menschen mit sich fortreißenden Verhängnis gleichend, doch in seiner ganzen Erstreckung reine Geistestat sei, so lernen wir in diesem Willen die Macht kennen, als welche diese Freiheit sich realisiert. Der Mensch ist frei, weil nicht die Sache es ist, die ihn an sich bindet, sondern sein Wille es ist, der sich an die Sache bindet. Von dieser Freiheit gilt das Gleiche wie von der Subjekt-Objekt-Relation, in deren Ausbau sie sich betätigt: sie ist nicht fertig „da" wie eine Kraft, die man so, wie sie ist, bloß einzusetzen brauchte, sondern bildet sich aus dem als „Umgang" erfahrenem Lebensverhältnis in eben dem Maße hervor, wie die wechselseitige Abhebung von Subjekt und Objekt fortschreitet. Besser gesagt: es ist ein und derselbe Aufstieg, der als Werden der Subjekt-Objekt-Differenzierung und als Werden der Freiheit gesehen werden kann.

Wesen und Tragweite dieser Freiheit zu erhellen ist nichts so geeignet wie der Vergleich der Lebenssituation der Menschen mit derjenigen der ihm am nächsten stehenden Tiere. Die Grenze dessen, was man mit einem sehr anfechtbaren Ausdruck als „tierische Intelligenz“ bezeichnet, ist haargenau markiert durch die Feststellung, daß auch das am höchsten organisierte Tier es nicht fertig bringt, seine Triebverhaftung auch nur für die kürzeste Zeitspanne so zu suspendieren, daß es die Sache in ihrer Reinheit zu Gesicht bekommen könnte. Es bleibt im Bann des „Umgangs" befangen — aber eines Umgangs, der sich von dem dem Menschen vergönnten dadurch unterscheidet, daß er den Übergang zur Subjekt-Objekt-Spaltung nicht offen läßt, geschweige denn begünstigt, sondern ausschließt. Die Ergebnisse der „Umwelt" -Forschung lassen über die Undurchbrechbarkeit der Bindung, die das Tier an „seine" Welt fesselt, keinen Zweifel

Die „bildende“ Rückwirkung Daß das Hervortreten der Sachwelt nicht ein Zurückweichen, sondern eine äußerste Kräfteanspannung des Selbst zur Voraussetzung hat, das bestätigt sich in schlagender Weise, wenn wir unseren Blick auf den Gesamtprozeß richten, in dem die Sachwelt zu jener vollkommenen Ausgestaltung durchgedrungen ist, die sie in der mathematischen Naturwissenschaft gefunden hat. Er zeigt uns, daß Theorie und Praxis der „Veräußerlichung“ es erst in einer späten Stunde der Menschheitsgeschichte zu dieser methodischen Vollendung gebracht haben. Das wäre doch unbegreiflich, wenn die Natur sich dem sie umwerbenden Geist ohne sonderliche Widerstände ergäbe. Die Geschichte der einschlägigen Geistesmühen ist die Geschichte eines unsäglich anstrengenden und langwierigen Ringens um die immer von neuem dem Blick entschwindende, dem Griff entgleitende Natur — ist die Geschichte so gut der Fehlschläge und Enttäuschungen wie der Erfüllungen und Triumphe. Undenkbar, daß dieser dornige Weg durch die Jahrtausende hindurch so unermüdlich und erfolgreich verfolgt worden wäre, wenn es zuträfe, daß, je reiner in diesem Streben die Sache hervortritt, um so mehr der Mensch aus dem Vorgang der Sachgewinnung ausscheide. Denn dann müßten wir annehmen, daß er, was die Bemühung um die Sache angeht, sich seit dem siebzehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung immer gründlicher zur Ruhe gesetzt habe. In Wirklichkeit verhält es sich genau umgekehrt: Art und Maß seiner geistigen Anspannung kommen um so unübersehbarer zur Geltung, je besser es ihm gelingt, aus dem Ergebnis seines Denkens das eigene Selbst verschwinden zu machen. So läßt uns die Weltgeschichte des Geistes im Freskostil dasjenige erkennen, was schon die Analyse der im Einzelmenschen geschehenden Wandlung lehrte-daß die Sache immer vollständiger, immer schärfer umrissen in den Horizont des Menschen einrückt, das ist nicht ein Zeugnis der Abdankung, sondern des intensiven Einsatzes seiner selbst.

Wie widersinnig ist es also, aus dem Umstande, daß die Früchte dieses geistigen Eroberungszuges nichts von dem verraten, der ihn vollführt, den Schluß ziehen zu wollen, daß er für ihn als Person ohne Belang sei und daher zu seiner „Bildung“ nichts beitrage! Weit gefehlt! Je weniger das Selbst im sachlichen Ergebnis von sich zu entdecken vermag um so fester darf es vertrauen, im Mühen um dies Ergebnis auch sich selbst vorwärtsgebracht, ja recht eigentlich „gebildet“ zu haben. Der „Veräußerlichung“, die sich im Ergreifen der Sache vollendet, gebührt ein Ehrenplatz im Kreise der Betätigungen, die in der „Bildung“ der als Ganzes gesehenen Menschheit zusammenwirken. Lind wenn man sich von dem Daß und dem Wie dieser Bildung des „Inneren“ am „Äußeren“ und durch das „Äußere“ überzeugt hat, dann fühlt man sich versucht, in dem Tun des so sich Bildenden eine Äußerung jenes „lebhaften Triebes“ zu finden, dem Goethes ungeteilter Beifall gilt: des Triebes, „mit der Welt verbunden ein Ganzes zu bilden“. So enthüllt sich die theoretisch-praktische Einstellung, mit der sich Goethe so gar nicht befreunden kann, als Erfüllung einer von ihm selbst erhobenen Grundforderung.

5. Mittel -Zweck -Korrelation und Menschenbildung

Gleichgültigkeit der Mittel?

Selbst wenn man sich dazu versteht, den Vorgängen, in denen die theoretische und praktische Herrschaft über die „Sache“ errungen wird, eine „bildende“ Wirkung zuzuerkennen, sind die Bedenken, die im Namen der Pädagogik wider diesen ganzen Bereich erhoben werden, noch nicht ausgeräumt. Sie nehmen, aus der bisher gehaltenen Position vertrieben, folgende Gestalt an.

Durch die Tatsache, daß der Mensch im Ringen um die Sache zugleich an sich selbst „bildet“, wird nichts daran geändert, daß er, mit diesem Ringen ans Ziel gelangt, lediglich die Verfügungsgewalt über einen Vorrat an Mitteln erworben hat, dagegen hinsichtlich der Zwecke, für die diese Mittel einzusetzen wären, vollkommen unerleuchtet und daher entgegengesetzten Möglichkeiten ausgeliefert ist Ob er die errungene Macht den gediegensten oder den windigsten Projekten, den edelsten oder den verruchtesten Vorhaben dienstbar macht, das hängt einzig und allein von seiner persönlichen Entscheidung ab. Dabei ist zu beachten, daß ein jedes Vorhaben des Menschen durch Bereitstellung der ihm dienstbaren Mittel nicht bloß die äußere Möglichkeit der Durchführung gewinnt, sondern auch in seiner seelischen Durchschlagskraft erheblich gesteigert wird. Weiß ich. daß es in meiner Macht steht, ein mir am Herzen liegendes Unternehmen durchzuführen, so muß und wird der Gedanke an dies Unternehmen in meinem Gemüt ganz anders die Ober-hand gewinnen, als es dann der Fall sein würde, wenn seine Ausführbarkeit mir zweifelhaft oder gar seine Unausführbarkeit mir zweifellos wäre. Die Verfügung über die Mittel, die einen Zweck ausführbar machen, erhöht den Hitzegrad der Leidenschaft, die dieser Zweck in mir entzündet. Lind auch von dieser Steigerung gilt es, daß sie allen denkbaren Zwecken, den verwerflichsten so gut wie den löblichsten, gleichmäßig zustatten kommt. Es kann sein, daß sie den Menschen in solchen Entwicklungstendenzen bestärkt und fördert, in deren Verfolgung sein Menschentum zur Wohlgestalt heranreift. Es kann aber ebensogut sein, daß sie sein Trachten auf Abwege verleitet, durch deren Verfolgung sein Menschentum sich zu greulicher Mißgestalt verzerrt. Wie wäre es angängig, ein in sich so richtungsloses Vermögen den an der Menschenseele „bildenden“ Mächten zuzurechnen! Könnte es doch im Hinblick auf seine negativen Möglichkeiten mit gleichem Recht ein „ver-bildendes"

heißen. Nicht darauf kommt es an, welche Mittel der Mensch beherrscht, sondern welche Zwecke er sich setzt. Ist es mit seiner Zwecksetzung in Ordnung, so braucht man sich um Art und Maß seiner Mittelbeherrschung keine Gedanken zu machen. Hat er es umgekehrt in der Mittel-beherrschung erstaunlich weit gebracht, so ist über seine Zwecksetzungen und damit über sein Menschentum noch nicht das Mindeste ausgemacht.

In den hier wiedergegebenen Liberlegungen erlebt die Theorie, die von dem „Innern“ des Menschen ein im Verhältnis zu ihm indifferentes „Äußeres“ abspaltet, in veränderter Form ihre Auferstehung. Die Stelle des „Äußeren“ nimmt jetzt das Insgesamt der Mittel ein, über deren Verwendung im „Inneren“ des zwecksetzenden Menschen die Entscheidung fällt. Für die „Bildung“ ist entscheidend, was im Inneren geschieht, nicht was mit dem Äußeren angefangen wird.

Die Mittel-Zweck-Korrelation Aber wer nur die Zwecke in das Reich der Bildung aufnimmt, hingegen die Mittel aus ihm ausschließt, der reißt Zusammengehöriges in eben jener mechanischen Weise auseinander, für die das Haften an räumlichen Vorstellungen so charakteristisch ist.

Jene seelischen Inhalte, denen wir den Namen „Zweck“ beilegen, sind nur dann dasjenige, als was sie mit diesem Wort bezeichnet werden, wenn sie dem sie in sich hegenden Menschen nicht lediglich als lockende Wunschbilder vorschweben, an denen sich das Gemüt erwärmt, sondern seinen Willen auf sich verpflichten. „Zweck“ zu heißen verdient nur ein mit vollem Ernst ergriffenes und mit aller Zähigkeit verfolgtes Willensziel. An diesem Ernst würde aber ein Wesentliches fehlen, wollte der diesem Zweck zugeschworene Mensch nicht alles tun, um der die Zweckrealisierung ermöglichenden Mittel kundig und mächtig zu werden. Gleichgültigkeit gegen die Mittel käme der Untreue gegen den Zweck gleich. Natürlich hat von der Nachhaltigkeit der Bemühung um die Mittel auch der verwerfliche Zweck den Vorteil. Aber o h n e sie würde auch der bejahungswürdigste Zweck aufhören, echter Zweck zu sein; er würde sich in die Unverbindlichkeit müßiger Wunschphantasien auflösen. So enthüllt sich die redliche Sorge um die Mittel als conditeo sine qua non auch derjenigen Zwecke, die um ihrer positiven Wertigkeit willen in das Reich der Bildung ausgenommen werden sollen.

In der Unzulässigkeit der hier bekämpften Abtrennung zeigt es sich abermals, wie unstatthaft es ist, in dieser Problemdimension Scheidungen von der Art als ursprünglich gegeben vorauszusetzen, wie sie für den Aufbau der Raumwelt (die ihre Teilräume streng auseinander hält) konstitutiv sind. Es ist sinnlos, von „Zwecken“ zu reden, als ob sie auch ohne Beziehung auf mögliche „Mittel“ das sein würden, als was sie mit diesem Wort bezeichnet werden; es ist sinnlos, von „Mitteln" zu reden, als ob sie auch ohne Beziehung auf mögliche „Zwecke“ das sein würden, als was sie mit diesem Wort bezeichnet werden. Das ist mehr als eine Explikation von Wortbedeutungen; es ist Ausweis eines realen Sachverhalts. Nicht so verhält es sich, daß der Mensch zunächst in seinem „Inneren", ohne Rücksicht auf mögliche Realisierung, Zwecke setzt und dann erst sich im „Äußeren“ umschaut, ob sich wohl Mittel zu ihrer Realisierung ausfindig machen ließen. Sondern zum „Zweck“ verdichtet sich das ihm zunächst in schwankenden Umrissen Vorschwebende erst dadurch, daß es mit den in der Außenwelt sich anbietenden Möglichkeiten in eins gedacht und im Hinblick auf sie präzis umrandet wird. Lind nicht so verhält es sich, daß der Mensch zunächst im „Äußeren“, ohne Rücksicht auf mögliche Verwendung, Mittel aufhäuft und dann erst in seinem „Inneren“ die Frage aufwirft, welche Zwecke sich mit ihrer Hilfe realisieren ließen. Sondern zum „Mittel“ verfestigt sich das ihm zunächst in fließender Unbestimmtheit Begegnende erst dadurch, daß es mit dem in der Seelenwelt sich regenden Begehrungen in eins gedacht und im Hinblick auf sie präzis umrandet wird. Die Sonderung von Mittel und Zweck ist also nicht schon mit der Ausgangslage gegeben, in der der Mensch, wenn er die Augen aufschlägt, sich vorfindet, sondern das Endergebnis einer Entwicklung, die er selbst von der der Differenzierung voraufliegenden Ausgangslage her in Gang bringt und zu diesem Ziele vorwärts treibt. Die Korrelation des scharf umrissenen Zwecks und des scharf umrissenen Mittels ist der Abschluß einer Bewegung, in deren Verlauf sich Glied und Gegenglied mit stetig zunehmender Bestimmtheit voneinander absetzen.

Damit erkennen wir, daß die Mittel-Zweck-Korrelation nichts weiter ist als ein neuer Aspekt jenes Systems von Beziehungen, dessen Bau uns zuerst in dem Gegenüber von Subjekt und Objekt vor Augen trat. In eben dem Maße, in dem das Subjekt das Objekt von sich abrückt, trennt sich der in und mit der Objektwelt präsente Vorrat der Mittel von dem im Subjekt sich ausformenden Kosmos der Zwecke. Wiederum dient es der Verdeutlichung dieses reichgegliederten Gefüges, wenn wir uns vergegenwärtigen, mit welcher Strenge selbst das höchstorganisierte Tier für die Dauer seines Lebens in eine Situation gebannt ist, die die entsprechende Differenzierung bedingungslos ausschließt. Zweideutigkeit und Entscheidung Mit der Einsicht in den Bau dieses Gefüges erhellt die Abwegigkeit einer Auffassung, die dem Reich der „Bildung“ nur die Zwecke zuweisen, dagegen die Mittel fernhalten möchte. Der Begriff eines Zweckes, der losgelöst vom Mittel in sich seinen Bestand hätte und daher unter Zurücklassung des letzteren in das Reich der Bildung einziehen könnte, ist ein Unbegriff. Um bejahenswerte und deshalb als „bildend“ anzuerkennende Zwecke setzen und verfolgen zu können, muß der Mensch ein Wesen sein, das überhaupt und im allgemeinen Zwecke zu setzen imstande ist. Der Begriff des Zwecke setzenden Wesens aber fällt mit dem des Mittel bestimmenden Wesens zusammen. Die „Bildung“ des Menschen setzt also nicht erst dann ein, wenn er aus der Vielzahl der ihm als möglich vorschwebenden Zwecke durch wählende Entscheidung die bejahenswerten adoptiert und die verneinenswerten ausscheidet. Sie hebt schon dann an, wenn er durch die Differenzierung von Mitteln und Zwecken die Voraussetzung schafft, von der die Möglichkeit jener Wahl-entscheidung abhängt. Wieder ist es jene angebliche „Ur-Entscheidung“, bis zu der mit der Betrachtung zurückgegangen werden muß, wenn das „bildende“ Geschehen unverkürzt zum Vorschein kommen soll.

Wenn aber durch diese „Ur-Entscheidung“ dem Menschen nicht weniger die Möglichkeit zu solchen Zwecksetzungen, durch die er sich selbst verunstaltet, als die Möglichkeit zu solchen Zwecksetzungen, durch die er sich selbst vollendet, erschlossen wird, so hüte man sich, diese Zweideutigkeit als dem Interesse der „Bildung“ zuwiderlaufend zu beklagen! Denn angenommen, daß die erste, die negative Möglichkeit entfiele, angenommen also, daß jene „Ur-Entscheidung“ nur zu den bejahenswerten Zwecksetzungen den Zugang eröffnete, dann würde der Mensch im Akt der Zwecksetzung dasjenige entbehren, was vom Begriff der Bildung nicht abzutrennen ist: die Freiheit! Er könnte gar nicht anders als nur das seinem Menschentum Zuträgliche anstrebten, nur das seine Bildung Fördernde aufsuchen. Seiner Entscheidung wäre gerade dasjenige genommen, was ihr das Gewicht und die Spannung des Schicksal-und Wesenbestimmenden verleiht. Wäre sie doch alsdann nicht Entscheidung zwischen zu Bejahendem und zu Verneinendem, Aufbauendem und Zerstörendem, sondern nur Entscheidung zwischen Spielarten des der Bejahung und Förderung Würdigen. Deshalb gehört wie die Welt der Mittel überhaupt so auch die dieser Welt eigentümliche Zweideutigkeit mit in den recht verstandenen Begriff der „Bildung“

hinein.

Ja, einen Schritt weitergehend dürfen wir behaupten: erst dann gewinnt die der Entscheidung obliegende Wahl zwischen „Gut“ und „Böse“, diese auch sub specie des Bildungsgedankens zentrale Begebenheit, ihre letzte Schärfe, erst dann tritt an ihr der Ernst des Ausschlaggebenden und Schicksalstiftenden unübersehbar hervor, wenn die Differenzierung von Mitteln und Zwecken zur Vollendung gediehen ist. Denn gerade dann und nur dann setzt sich das, was Sache des Menschen und nur des Menschen ist, mit unüberbietbarer Klarheit von dem ab, was auf der Seite der Welt zu Hause ist. Je vollkommener sich die sachgewordene Welt zu der das Mittel als solches kennzeichnenden Unparteilichkeit neutralisiert, um so weniger kann sich der Mensch über Tragweite und Verantwortung der ihm auferlegten Entscheidung täuschen. Durch die stumme Fühllosigkeit, mit der die Welt der Mittel ihm entgegenstarrt, wird er recht eigentlich auf sich selbst zurückgeworfen. Vollmacht und Würde, Gewissensnot und Verzweiflung des zur Selbstbestimmung entbundenen Wesens kann er erst dann ohne Abzug und Milderung erfahren, wenn er erkennen muß, wie gnadenlos die Welt es ablehnt, ihm von seiner Wahlentscheidung auch nur das Mindeste abzunehmen.

So wenig kann davon die Rede sein, daß von der Herausforderung des Reichs der Mittel das Anliegen der Menschenbildung überhaupt nicht oder nur am Rande berührt würde!

Utilität?

Die unverbrüchliche Strenge, mit der das Reich der Mittel gegenüber den möglichen Zwecken seine Neutralität wahrt, muß man sich auch dann gegenwärtig halten, wenn über das Recht einer in Humanisten-kreisen weit verbreiteten Meinung entschieden werden soll, die wir bereits kennen: der Meinung nämlich, daß, wer sich mit der „Außenwelt“

abgebe, wer sich mit den auf diese Außenwelt bezüglichen Doktrinen und Praktiken einlasse, sich damit unweigerlich dem Geist der „Nützlichkeit“ verschrieben habe. Diesem Geiste aber huldigen: das heiße der Sphäre des Humanen den Rücken kehren. Denn diese beginne erst da, wo dem Guten, Wahren, Schönen nur um seiner selbst willen und unter Fernhaltung aller Nützlichkeitserwägungen gedient werde.

Was ist mit dieser Behauptung geschehen? Die Neutralität der Welt der Mittel ist aufgehoben. Es ist ihre Solidarität mit einer bestimmten Klasse von Zwecken, nämlich den sog. „utilitarischen", proklamiert. Sie ist mit diesen Zwecken so gekoppelt, als ob sie nur in Relation auf sie die Mittelfunktion ausüben, zu allen anders gearteten Zwecken aber überhaupt nicht in Beziehung treten könne.

An dieser Meinung ist so viel richtig, daß man mit „äußeren“ Mitteln nur solche Zwecke realisieren kann, die selbst wieder die Gestalt von Vorgängen in der Außenwelt haben. Es trifft ferner zu, daß unter diesen Vorgängen diejenigen, die man aus Gründen der „Utilität“ verwirklicht zu sehen wünscht, einen breiten Raum einnehmen.

Allein ist es eigentlich in Ordnung, Zwecksetzungen schon aus dem Grunde über die Achsel anzusehen, weil sie sich nicht als unmittelbar dem Kultus des Guten, Wahren, Schönen zugehörig legitimieren können?

Ist es sinnvoll, solche Zweckhandlungen zu disqualifizieren, die unweigerlich stattfinden müssen, damit der Mensch im elementaren Sinne des Wortes existieren könne? Der Satz, „primum vivere, deinde philosophari" behält doch wohl deshalb sein gutes Recht, weil man nur dann dem Wahren, Guten, Schönen dienen kann, wenn diejenigen „äußeren“ Zwecke gesetzt und Mittel eingesetzt werden, mit deren Ausfall die Möglichkeit der Selbsterhaltung aufgehoben wäre. Nur zu leicht vergißt der Diener des „reinen“ Geistes, wie groß die Zahl, wie schwer die Mühsal derjenigen ist, die auf die Entzückungen dieses Geistes Verzicht leisten müssen, auf daß er selbst, entbunden von der Plackerei der Arbeitsfron, seines priesterlichen Amtes walten könne. Ist es billig, diejenigen aus dem Tempel der Humanität zu verweisen, ohne deren Arbeitsschweiß es diesen Tempeldienst nicht geben würde? • Aber es heißt die Disqualifikation der in der äußeren Welt sich realisierenden Zweckhandlungen in einer noch grundsätzlicheren Form überwinden. Der Fehler der zu prüfenden Denkweise liegt ja schon darin, daß sie überhaupt die äußeren Mittel mit einer bestimmten Klasse der durch sie zu realisierenden Zwecke koppelt, statt sich klar zu machen, daß sie überhaupt nicht „Mittel“ sein würden, wenn sie als solche so einseitig festgelegt wären. In Wahrheit kann davon keine Rede sein, daß alle durch „äußere“ Mittel zu realisierenden Zwecke um dieses ihres Zustandekommens willen solche von utilitarischer Art sein müßten. Es können durch Einsatz äußerer Mittel Zwecke verwirklicht werden, die, durch den selbstlosesten Edelmut eingegeben und mit entsagungsvollster Opferwilligkeit verfolgt, jeden Verdacht utilitarischer Berechnung zum Schweigen bringen. Natürlich kann es geschehen, daß, wer an der „äußeren“ Welt das Feld seiner Tätigkeit hat, auch in den Zwecken, denen seine Tätigkeit sich unterstellt, so im „Äußerlichen hängen bleibt, wie es ihm mit der Beilegung des Prädikats „utilitarisch nachgesagt werden soll. Aber dafür ist dann nicht die Äußerlichkeit der Materie, mit der er umgeht, verantwortlich zu machen, sondern gerade sein „Inneres“, das heißt die Motivationen, die in ihm die Herrschaft führen und die sich in den von ihm bevorzugten Zwecksetzungen ausprägen.

Daß die Befangenheit in äußerlich-utilitarischen Zwecksetzungen von der Beschäftigung mit äußeren Mitteln durch einen scharfen Schnitt getrennt werden muß — diese Notwendigkeit wird dann erst recht einleuchten, wenn man sich überzeugt, daß der analoge Schnitt auch im Bereich des „Inneren“ geführt werden muß, wenn fehlgehende Ineins-Setzungen vermieden werden sollen. Es ist durchaus nicht an dem, daß, wer den Kern seiner Lebenstätigkeit ausschließlich an Angelegenheiten und Wertgehalten der „inneren“ Welt hat, durch den Umgang mit dem Wahren, Guten, Schönen wider das Verfallen an äußerlich-utilitarische Zwecksetzungen immunisiert würde. Die Beweise des Gegenteils stehen in beschämender Fülle zu Gebote.. Nicht das Was der den Menschen für sich fordernden Tätigkeit, das Wie der sie beseelenden Gesinnung entscheidet darüber, ob er in ihrer Ausübung sich selbst gewinnt oder

6. Die Antinomie der Menschenbildung

Rehabilitierung unserer Lebensordnung Aber haben wir nicht, indem wir dem Versuch entgegentraten, das Ganze der auf die Sachwelt bezogenen Tätigkeiten aus dem Reich der „Bildung“ zu verbannen, im Grunde nur dasselbe getan wie die oben kritisierten pädagogischen Reformer — wie jene Vorkämpfer einer „realistischen“ Erziehung, die alles in beste Ordnung gebracht zu haben glaubten, wenn sie die einschlägigen Materien auf Grund des ihnen angeblich eignenden „Bildungswertes“ den anerkannten humanistischen Bildunggütern als Vervollständigung anreihten? Haben wir nicht — was im Kern dasselbe wäre — die Bedenken, durch welche die klassischen Humanitätsdenker bewogen wurden, jene Materien fernzuhalten, als gegenstandslos abgewiesen

Die Antwort auf diese Frage ist nicht in einem Satze zu geben. Sie will in mehrere Teilantworten zerlegt sein.

In einer Hinsicht sind die Apostel der Humanität in der Tat widerlegt und die „realistischen“ Bildungstheoretiker gerechtfertigt worden. Als unhaltbar hat sich die Meinung und Vorstellung erwiesen, die in dem Heraufsteigen der technisierten Arbeitswelt die Folge eines Fehltritts erblicken will, durch die der Mensch seinem Auftrag untreu geworden sei. Als Fehltritt kann nicht verurteilt werden, was nur Erfüllung einer den Menschen an die Welt und sie an ihn verweisenden Beziehung ist. Was Goethe als ein zu beklagendes Übel sich in die Menschheit meint „einschleichen“ zu sehen, das ist in Wahrheit die Einlösung eines Versprechens, das dem Menschen als dem Pflegling und Partner der Welt in die Wiege gelegt wurde. Alles, was zur Verwirklichung dieses Versprechens geschieht, ist über den Verdacht erhaben, Abirrung von der Bahn des Menschlichen zu sein. In dem Reich des „Humanen“ hat es volles Bürgerrecht.

Daß diese Wahrheit eingeschärft werde, das tut heute mehr not denn je — und zwar nicht zum wenigsten aus pädagogischen Gründen. Denn das, was die Generation Goethes wider die Maschinenwelt auf dem Herzen hatte, hat sich in den seitdem verstrichenen Menschenaltern zu einer Klageweise verdichtet, die immer wieder von Poeten, Literaten, Philosophen, auch von einzelnen Theologen den Zeitgenossen in die Ohren gesungen wird. Diese Klageweise aber kann, wo immer sie Gehör findet, zwischen den ihr Verfallenden und dem sie umfangenden Lebens-zustand nur unversöhnliche Feindschaft stiften. Diese Verfeindung wäre dann allenfalls zu ertragen, wenn die Bußprediger der Moderne uns zu sagen wüßten, was wir zu tun haben, um uns der von ihnen verdammten Daseinsverfassung zu entledigen und zu einer ihnen wohlgefälligeren Lebensform aufzusteigen. Da aber kein Einsichtiger daran zweifelt, daß schon der Versuch, die Arbeitsordnung der industriellen Gesellschaft abzubauen, von Millionen mit dem Leben bezahlt werden müßte, daß also der an der Sache sich orientierende „Fortschritt“ durch keinerlei Deklamationen, sondern höchstens durch verheerende Katastrophen gebremst oder gar stillgestellt werden kann, so kann jene Verfeindung, wo immer sie ernst gemeint und nicht bloß wichtigtuerisches Gehabe ist, nur in der Finsternis der absoluten Daseinsverzweiflung ihren Abschluß finden.

Gegen diesen Nihilismus hilft nur die Einsicht, daß der Lebens-zustand, der sic in der Kooperation von Naturwissenschaft, Technik und industrieller Produktion seine Gestalt gegeben hat, nicht ein als Sündenstrafe zu ertragendes Schicksal, sondern ein gigantisches Werk ist, auf das trotz allem stolz zu sein der für seine Entstehung verantwortliche Mensch allen Grund hat. Nur so kann ihm das gute Gewissen erhalten bleiben, dessen Zuspruch er in seiner werkenden Mühsal wahrlich nötig hat. lind da Erziehung nicht dasjenige sein würde, als was sie sich mit diesem Namen bezeichnet, wenn sie nicht allem entgegenwirkte, was darnach angetan ist, dem Menschen seine Lebensaufgabe hoffnungslos zu verleiden, so muß und wird auch sie das Ihrige tun, dem allerwärts grassierenden Mißtrauen gegen Recht und Wert des uns verpflichtenden Lebenszustandes mit der Bejahung sowohl seiner Notwendigkeit als auch seiner Erhaltungswürdigkeit zu begegnen. Nichts kann unser Geschlecht weniger vertragen als ein Verschweben in Hölderlin-Stimmungen, in denen der Wille, es mit unserer Welt und Gegenwart aufzunehmen, in Nichts zergehen müßte.

Die Versachlichung des Menschen Allein mit dieser Wiederherstellung ist noch nicht alles gesagt. Mit ihr verbindet sich ein Vorbehalt, der einem Widerruf bedenklich ähnlich sieht. Es ist durchaus nicht an dem, daß mit dem Nein, das wir dem allzu liebevoll gehätschelten Weltschmerz und Kulturüberdruß unserer Tage entgegensetzen, auch den Bedenken und Sorgen, von denen schon unsere Klassiker sich gepeinigt fühlten, das Recht abgesprochen wäre.

Daß durch eine Lebens-und Arbeitsordnung, deren Bau von der Sache her bestimmt ist, der innerhalb ihrer tätige und durch sie beschlagnahmte Mensch in seinem Menschsein bedroht wird — um so kräftiger bedroht wird, je allseitiger und folgerichtiger sie sich zur Perfektion durchbildet: das ist eine Wahrheit, die zu bestreiten ein Zeitgenosse W. von Humboldts vielleicht noch den Mut gehabt hätte, ein Zeitgenosse Henry Fords absurd finden müßte. Ist er doch Zeuge und Opfer einer geschichtlichen Gesamtbewegung, die das an der Sache sich orientierende Denken in der Theorie des menschlichen Seins, das an die Sache sich bindende Handeln in der Praxis des menschlichen Wirkens in beängstigendem Vordringen zeigt.

Was das Erstgenannte angeht, so genügt die Erinnerung an jenen Expansionsvorgang, in dessen Verlauf die Formen des methodisch geregelten Denkens, die in der Bearbeitung der äußeren Natur so glänzend die Probe bestanden hatten, von der bewundernden Mitwelt zu allumfassenden Prinzipien der Daseinserfassung erhöht und in Konsequenz davon allen Wirklichkeitsbereichen, darunter vor allem der Menschenwelt, aufgenötigt wurden. Auch die aus dem menschlichen Treiben sich ergebenden Fragen, Aufgaben und Forderungen konnten, so meinte man, nur dadurch ihrer vollkommenen Lösung zugeführt werden, daß auch diese Daseinssphäre zur Sache umgedacht und in den der Sache angemessenen Verfahrensweisen angegangen würde. Die elementarste Äußerung dieser Wucherung lernten wir in dem Eroberungszug kennen, dem das Begriffspaar „Mittel-Zweck“ seine weitreichende Herrschaft zu verdanken hat. Ihren wissenschaftlichen Ausdruck fand sie in jener der mathematischen Naturwissenschaft auf dem Fuße folgenden Forderung, daß der Gesetzeswissenschaft von der Natur eine ebenso gebaute Gesetzeswissenschaft von der Seele, der Gesellschaft, der Geschichte zur Seite zu treten habe. Lind zur Vollendung gelangte der Parallelismus durch die Folgerichtigkeit, mit der die Naturwissenschaft vom Menschen sich in eine Technologie der Seelenbearbeitung, der Gesellschaftsregelung, der Geschichtslenkung hinein fortsetzte.

Den an zweiter Stelle genannten Ausbreitungsvorgang haben wir in millionenfacher Wiederholung in Gestalt des Arbeitsschicksals vor Augen, dem das Arbeitsgefüge der industriellen Gesellschaft — wie auch der ihm nachgebildeten Leistungssysteme — den Menschen überantwortet.

Von ihm ist hier zur Genüge die Rede gewesen. Worauf hier noch besonders der Blick gelenkt werden muß, das ist die Tatsache, daß diese Sachdienstbarkeit des Menschen überall da und nur da bis zur letzten Vollkommenheit durchgebildet wird, wo die oben erörterte Theorie vom menschlichen Sein von den Gemütern der Maßgeblichen Besitz ergriffen hat. Denn durch sie wird das Streben, den Menschen zum bloßen Sachvollstrecker, zum „Funktionär" zu entselbsten, ausdrücklich legitimiert, ja heilig gesprochen. Tragende Ideologie und ausführende Organisation des Sowjetstaates bringen dieses Zusammenspiel von Theorie und Praxis zu erschütternder Darstellung.

Der Konflikt als Symptom des Fehltritts Aber haben wir nicht mit dieser Zeitdiagnose in das Klagelied derer eingestimmt, denen wir soeben noch die Demoralisierung der Zeitgenossen schuld gegeben haben?

Das ist zunächst insofern nicht der Fall, als es natürlich ein anderes ist, eine Gefahr sehen und signalisieren, ein anderes, vor ihr die Waffen strecken. Noch tiefer aber greift eine weitere Abweichung.

Daß die Betätigungen, in denen die „Sache“ gebietet, zu einer Lebensgestaltung geführt haben, durch die das Menschentum des Menschen gefährdet wird, daß wir mithin durch sie in eine Konflikt Situation geraten sind: das ist die Feststellung, in der wir den angezogenen Richtern der Kultur und ihren klassischen Vorgängern Recht geben müssen. Wir trennen uns von ihnen in den Folgerungen, die wir aus der Anerkennung dieser Tatsache ziehen.

Für sie ist der aufgewiesene Konflikt der hinreichende Grund, das Ganze der Betätigungen die ihn hervorgerufen haben, auf einen Fehltritt des Menschen zurückzuführen, also auf eine Handlung, die von Rechts wegen nicht hätte stattfinden dürfen. Der Mensch hat gleichsam wider-menschlich gehandelt, als er den Weg dieser Entwicklung betrat. Er hat seine „Humanität“ verraten, als er sich der „Sache“ verschrieb. Und mit jedem Schritt, den er auf diesem Weg vorwärtstut, macht er den Verlust seiner selbst unheilbarer.

Dieses Verdikt kann nur verstanden werden als negative Kehrseite einer ganz bestimmten Auffassung von dem, was der Mensch sein soll und was er auch sein würde, wenn er den besagten Fehltritt unterlassen hätte. Wer in dem Auftreten von Konflikten grundsätzlicher Art die Aufforderung findet, den Fehltritt aufzuspüren, der für sie verantwortlich zu machen sei, der gibt dadurch zu erkennen, daß er als durch das Wesen des Menschen nicht nur ermöglicht, sondern gefordert eine Seelenverfassung ansieht, die der Konflikte entbehrt, die also in sich einstimmig ist. In einem Geschöpf, das eine Mehrzahl von Funktionen in sich vereinigt, kann diese Einstimmigkeit nur die Gestalt einer sie alle ins rechte Verhältnis setzenden Abgestimmtheit haben. Genau dies aber ist es gerade, worin die Humanitätsbewegung Zeugnis und Gewähr echter Menschlichkeit findet. Es ist die „proportionierliche" Ausgewogenheit der Gemütskräfte, durch die sich der Mensch als zur Humanität durchgedrungen aufweist. Wieder ist es der Begriff der „Totalität", in dem sich die hier waltende Grundvorstellung am deutlichsten ausspricht.

Denn in diesem Begriff ist nicht nur die Forderung enthalten, daß der Mensch alle als menschlich zu qualifizierenden Tätigkeitsformen in lükkenloser Vollständigkeit zur Entwicklung bringe, sondern auch, daß er sie zueinander ins rechte Verhältnis zu setzen wisse. Im Begriff der Totalität ist die Harmonie der im Menschen vereinigten Funktionen mit-gedacht.

Humanität ist Zusammenklang der Stimmen, die in Herz und Hirn des Menschen laut werden. Von solchen Voraussetzungen aus kann als „menschlich“, als Beitrag zur Verwirklichung der Humanität nur anerkannt werden, was sich dem Ganzen des menschlichen Seins reibungslos einfügt. Was sich wider diese Einfügung sperrt oder gar durch seinen Eintritt bestehendes Einvernehmen stört, ist schon dadurch als in-human erwiesen. Lind jeder innere Konflikt muß als Symptom einer Gleichgewichtsstörung verstanden werden, die durch eine Abirrung in Inhumane verschuldet ist.

Nun gibt es im Leben des modernen Menschen wenige Konflikte von allgemeiner Art, die so sehr mit dieser harmoniegläubigen Anthropologie konfrontiert zu werden verlangten, wie derjenige, um dessen Analyse wir uns hier bemüht haben. Der Gegensatz zwischen der Diktatur der Sachforderungen und dem Selbstbehauptungsdrang des Menschen gehört zu den inneren Entzweiungen der modernen Welt, die in sich durchzukämpfen kaum einem vollsinnigen Menschen erspart bleibt. Kein Wunder also, daß eine Anthropologie, der die innere Harmonie des Menschen als Ausweis seiner humanen Selbstvollendung gilt, in einer so peinlich empfundenen, so schwer zu bestehenden Disharmonie den Hinweis auf einen Fehltritt findet, durch den er sich an seinem Menschentum versündigt habe. Lind da es nicht wohl angeht, den Ursprung dieser Versündigung in dem Streben nach Wahrung des Selbst zu suchen — ist doch gerade dieses Streben der Ausfluß humanen Verantwortungsbewußtseins — so bleibt nichts anderes übrig, als die für den Konflikt haftbar zu machende Irrung in jenen Gedanken und Taten des Menschen zu suchen, denen die sachgebundene Arbeitswelt ihre Entstehung und ihre unaufhaltsame Ausbreitung verdankt.

Humanität als Harmonie Man sieht, mit welch unablenkbarer Folgerichtigkeit es von einem Humanitätsevangelium, das den wohlgearteten Menschen dem in sich harmonischen Menschen gleichsetzt, weitergeht zu dem vernichtenden LIrteil, das über den Menschen als den LIrheber der versachlichten Arbeitswelt gefällt wird. Daraus ergibt sich mit der gleichen Folgerichtigkeit:

eine Versöhnung mit dem Lebenszustande, der mit dem Ausbau dieser Arbeitswelt Wirklichkeit geworden ist, kann nur unter der Voraussetzung stattfinden, daß wir von der Vorstellung ablassen, der Wert des Menschen sei von dem Maß seiner Annäherung an das Ideal der vollendeten Harmonie abzulesen und alles, was an dieser Harmonie fehle, komme auf Rechnung eines Erlahmens der Menschlichkeit oder eines Verstoßes wider die Menschlichkeit. Ganz im Gegenteil: gerade dies heißt es sich zum vollen Bewußtsein bringen, daß ein Lebenszustand nicht schon deshalb inhuman zu schelten ist, weil er von Konflikten grundsätzlicher Art heimgesucht wird, daß ein Tun nicht schon deshalb als Verfehlung wider die Menschlichkeit zu verdammen ist, weil aus ihm schwer zu bestehende Gegensätze entspringen. Es könnte sein, daß der Mensch von sich selbst, seinem Wesen und seiner Bestimmung, gerade dann am meisten erführe, wenn er sich nicht im Wohlgefühl ungestörter Harmonie wiegt, sondern von dem Widerstreit nicht zu versöhnender Daseinsmächte aufgestört und umgetrieben wird.

Daß der Mensch das nicht auf Harmonie angelegte, sondern in Gegensätze verfangene und gerade an Gegensätzen wachsende Wesen ist — dies ist es, was sich einzugestehen den Kritikern der modernen Kultur widerstrebt. Weil sie vor dieser allerdings beunruhigenden Möglichkeit ihre Augen verschließen, darum müssen sie, steht der Wert dieser Kultur zur Verhandlung, zu einem Verdammungsurteil gelangen, das, wird es ganz ernst genommen, nur den Sturz in den Abgrund der Verzweiflung übrig läßt. Denn einer harmonischen Lebensverfassung ist die Menschheit nie ferner gewesen als in unseren Tagen. Den Mut, in diesem Dasein auszuharren, kann nur aufbringen, wer einer Daseinslage nicht schon deshalb die Erhaltungswürdigkeit abspricht, weil sie Spannungen und Widersprüche in ihrem Schoße trägt.

Allerdings ist der, der es mit Widersprüchen aufzunehmen bereit ist, nur dann wohlberaten, wenn er sich über die unterscheidende Eigenart derjenigen Gegensätze im klaren ist, die es auch wirklich verdienen, als konstruktive Momente im Bau des sich entfaltenden Geistes anerkannt zu werden. Daß diesen die ihnen gebührende Achtung versagt werde — diese Gefahr ist deshalb nicht klein, weil die Verwechslung mit Einstimmigkeiten minderen Ranges bedenklich nahe liegt.

Linser Dasein ist allenthalben durchzogen von jenen in unabschätzbarer Vielzahl und unausschöpfbarer Vielgestalt sich ausbreitenden Mißhelligkeiten, Entfremdungen, Verfeindungen, die nicht in der Struktur des seinen Auftrag verwirklichenden Geistes, sondern lediglich in psychologisch oder soziologisch verstehbaren Verwicklungen ihren Grund haben. Unmöglich kann seine Daseinslage recht verstehen, wer keinen Unterschied zu machen weiß zwischen diesen in unaufhörlichem Wechsel sich drängenden Wellenschlägen des Lebens und den dauernden, weil wesensbedingten Spannungen der geistigen Welt. Nur von den letzteren gilt es, daß sie im ursprünglichen Wesen des Menschen angelegt sind und deshalb nicht nur nicht unterdrückt, sondern ausgetragen sein wollen.

Man mache sich klar, daß der hier hervorgehobene Unterschied für den verschwimmen muß, der nur durch Wahrung der inneren Harmonie sein Menschentum meint retten zu können. Für ihn ist alles ein Angriff auf seine Menschlichkeit, wodurch das Gleichgewicht seiner Seele erschüttert und das Einvernehmen seiner Welt gestört wird. Was uns von diesen allzu Empfindlichen scheidet, das ist die Bereitschaft, die wesens-gegründeten Widersprüche des menschlichen Seins in ihrer Unumgehbarkeit zu sehen und ohne Abschwächung in die Bilanz dieses Seins einzustellen. Nur weil so gut wie alles darauf ankommt, diese urgegebenen und insofern recht eigentlich „humanen“ Gegensätze von den zeit-und lagebedingten und insofern behebbaren Mißhelligkeiten zu scheiden, wurde hier so viel Sorgfalt darauf verwandt, einleuchtend zu machen: es ist möglich, daß eine Entwicklung, in die das Menschengeschlecht sich einbezogen findet, in bitter empfundene und schwer zu lösende Zwiespältigkeiten einmündet und daß trotzdem die Tendenzen, denen diese Entwicklung gehorcht, über jede Anzweiflung erhaben sind, weil in ihnen nicht Eigensinn, Selbstsucht, Ehrgeiz ihre Befriedigung suchen, sondern eine in der Sache selbst liegende Notwendigkeit zum Durchbruch gelangt.

Humanität und Antinomie Die Welt der philosophischen termini stellt uns einen Begriff zur Verfügung, der wie geschaffen ist, dasjenige wiederzugeben, was wir der humanistischen Forderung der „Harmonie“ entgegenstellen. Es ist der Begriff der „Antinomie". Als Antinomie bezeichnen wir seit Kant diejenigen im Leben des Menschen auftretenden Widersprüche, die sich nicht etwa aus den Besonderheiten der jeweiligen seelischen, gesellschaftlichen, geschichtlichen Lage ergeben, sondern in der Grundstruktur seines geistigen Wesens als unabänderliche Konstanten vorgezeichnet sind — die infolgedessen auch dann, wenn sie entdeckt und ausgesprochen sind, nicht beseitigt werden können. Nun, unter den Widersprüchen, durch die unser Wesen entzweit wird, befinden sich wenige, auf die der so gefaßte Begriff der Antinomie so genau zuträfe wie auf den Widerspruch zwischen Mensch und Sache. Denn hier ist es wirklich so, daß der Gegensatz um so unfehlbarer zutage tritt, um so durchgreifender sich dem Dasein aufprägt, je angelegentlicher der Mensch darauf bedacht ist, das ihm als geistige Mitgift Anvertraute in die Wirklichkeit überzuführen.

Von uns aber, den heute Lebenden, wird gesagt werden dürfen, daß wir die in Rede stehende Antinomie bis zu einem Punkte vorgetrieben haben, der ein unüberschreitbares Extrem ihrer Darstellung markiert. Wir haben die Welt der sachlich fixierten Mittel zu dem Grade von Perfektion durchgebildet, daß sie die totale Ausrottung des Geschlechts bewirken kann, dem sie diese ihre Perfektion verdankt. Undenkbar, den Selbstwiderspruch über den Punkt hinaus fortzuentwickeln, an dem er die Vernichtung des ihn hervortreibenden Subjekts als Möglichkeit sichtbar werden läßt. Daß wir uns hier an einer keinen Fortgang zulassenden Grenze befinden, macht sich auch darin bemerklich, daß die Verantwortung, die der über die Verwendung der Mittel Entscheidende zu tragen hat, ihr unüberschreitbares Maximum dann erreicht, wenn die fällige Entscheidung zur Entscheidung wird über Sein oder Nichtsein desjenigen, in dem diese Verantwortung einzig ihren Ort hat.

Stellen wir der „Harmonie“ des mit den Augen der Humanitätsbewegung gesehenen Menschen die „Antinomie“ des im Sinne unseres Realismus verstandenen Menschen gegenüber, dann leuchtet es auch ein, weshalb es Bedenken hervorrufen muß, wenn die Grundbegriffe der klassischen Humanitätsbewegung auch heute noch weithin das pädagogische Gespräch beherrschen. Sie müssen, wo immer sie auch nur halbwegs ernst genommen werden, den Blick auf die Antinomik verstellen, die unverkürzt und unbeschönigt gesehen werden muß, wenn die Erziehung auch nur das Grundsätzliche an der ihr gestellten Aufgabe erfassen soll. Wer seine pädagogischen Gedanken noch immer unter den Leitbegriffen „Bildungsgut“, „Bildungswert“, „Bildungsziel" meint ordnen zu sollen, der beweist dadurch, daß sein Sehnsuchtsblick auch heute noch an dem Kunstwerk der zur Harmonie durchgedrungenen Persönlichkeit haftet und daß er es versäumt hat, sich von der Unabweisbarkeit der Gegen-macht zu überzeugen, die immer wieder dem Bildner dazwischen fährt und dem werdenden Werk die Züge aufprägt, von denen sein Entwurf nichts wußte. Es sollte nachgerade klar geworden sein, daß es noch keine Zeit gegeben hat, die für den Selbstgenuß der sich zum Kunstwerk formenden Persönlichkeit so wenig übrig hatte wie die unsrige.

7. Doppelleben

Zweiteilung der Existenz Es würde unserer Abrechnung mit den Nachklängen des klassischen Bildungsideals ein Wesentliches fehlen, wollten wir es versäumen, uns mit einer Auffassung auseinanderzusetzen, die auch unter den Bedingungen des modernen Arbeitslebens, die als bestehend und unverdrängbar anerkannt werden, dem Gedanken der „Bildung“ eine bestimmte Wirkungssphäre und damit ein sei es auch beschränktes Recht meint retten zu können Ihr liegt eine Argumentation zu Grunde, deren Inhalt sich in folgenden Sätzen wiedergeben ließe.

Es sei zuzugeben, daß das Leben des modernen Menschen in weitestem Umfang durch Mächte beschlagnahmt und durch Einrichtungen überbaut sei, denen er nicht dienen könne, ohne seine „Persönlichkeit“ hinter den Zwang von sachlichen Forderungen zurücktreten zu lassen. Aber da dem nun einmal so sei, so komme eben alles darauf an, den Kreis der nicht zu umgehenden Sachansprüche nach Möglichkeit einzuschränken und besonders darüber zu wachen, daß man nicht diesen persönlichkeitsfremden Gewalten mehr von seiner Seele überlasse, als zur Ausführung des unweigerlich zu Entrichtenden nötig sei. Je besser es gelinge, das Ganze des in ihrem Dienste zu Leistenden an die Peripherie des Daseins zu verbannen und den Kern des Menschen von diesem subalternen Treiben freizuhalten, um so eher werde es möglich sein, dem Selbst eine innere Zone zu reservieren, in der es, unabgelenkt durch das Hineinreden des ihm Fremden und Äußerlichen, zu jener Vollkommenheit heranreifen könne, die erst dem Wort „Persönlichkeit“ die rechte Erfüllung gebe. Die „pädagogische Provinz“ erlebt als abgesonderter Bezirk der seelischen Wirklichkeit ihre Auferstehung.

Wie man sieht, soll hier der „Bildung" der ihr drohende Untergang dadurch erspart werden, daß der Vorgang, in dem sie sich vollzieht, in einen dem Zugriff der Zeitgewalten verschlossenen Bereich verlegt und so allen ablenkenden Einflüssen entrückt wird. Es ist die radikale Scheidung der Gebiete, die das ermöglichen soll, was das Leben in seiner ungeteilten Ganzheit nicht mehr herzugeben vermag. Lind nachdem diese Scheidung einmal vorgenommen ist, hat man auch keine Mühe, Abstand und Rangunterschied dessen, was diesseits und jenseits der Scheidelinie geschieht, ins hellste Licht zu rücken. Der Außenbezirk ist die Domäne der banalen Nützlichkeit und äußeren Zweckhaftigkeit; in ihm regieren die Mächte der Selbstsucht, der Erwerbsgier, des Erfolgs-und Herrschaftsstrebens. Der Innenbezirk ist das heilige Land, in dem alle niedrigen Begehrungen verstummen, alle untergeordneten Zwecke zergehen und nur, in LImgang und Austausch erlesener Seelen, die hehren Werke des Geistes gehütet, verehrt und durch neue Schöpfungen bereichert werden. Hierhin, in diesen Burgfrieden der Innerlichkeit, hat sich die Persönlichkeit retten müssen in einem Zeitalter, dessen öffentliche Gewalten ihr offenkundig den Untergang geschworen haben. Hier, in der Stille dieses geweihten Bezirks, kann aber auch alles das in verklärter Gestalt Wirklichkeit werden, was im Getümmel des öffentlichen Treibens ohne Gnade untergehen müßte.

Wo der hier wiedergegebenen Auffassung beigepflichtet wird, da wird „Bildung“ zu einem Prädikat, das nur demjenigen Teil des menschlichen Lebens zukommt, in welchen die ihr zugewandten Bestrebungen geflissentlich zurückgenommen werden. Was außerhalb dieses bevorzugten Teils liegt, das wird, nicht mit resignierendem Bedauern, sondern im Gefühl gönnerhafter Überlegenheit, dem Spiel der bildungsfremden oder bildungsfeindlichen Mächte überlassen. Der Mensch ist „Persönlichkeit", wenn und solange er sich mit diesem Teil seiner Gesamtexistenz in eins setzt; er suspendiert dieses sein Selbstsein, wenn und solange er den Gewalten des organisierten Gemeinlebens den nicht zu verweigernden Zoll entrichtet. Er entschließt sich zu einer Daseinsform, die einer ihrer Verfechter nicht übel als „Doppelleben“ bezeichnet hat. Ja, eine noch weiter gehende Hoffnung scheint sich an die Stiftung dieses „inneren Reichs" anschließen zu dürfen. Sollte nicht die Erwartung begründet sein, daß eines Tages der Orden der in diesem Doppelleben geübten Ritter des Geistes von seiner Gralsburg aus die Welt der entselbsteten Sachlichkeit überrennen und zu einer würdigeren Daseinsform empor-reißen wird?

Unschwer erkennen wir in der sich dergestalt der modernen Welt anpassenden „Bildungs“ -Theorie die zeitgemäße Erneuerung jenes Dualismus vom „Inneren“ und „Äußeren“, auf den sich Lebensentwurf und Bildungsphilosophie eines Humboldt, Gymnasialprogrammatik und Unterrichtsplan eines Niethammer gründeten. Die Anpassung an die gewandelte Zeit liegt darin, daß auch der Freund und Anwalt der abgesonderten Bildungsprovinz sich nicht der Notwendigkeit verschließen kann, dem „Äußeren“ von der eigenen Existenz so viel zu überlassen, wie im Interesse der Lebensfristung ratsam erscheinen muß. Die Reihe derer ist außerordentlich dünn geworden, denen ihre soziale und ökonomische Lage es noch anheimstellt, ob und wieweit sie dem Leviathan des gemeinsamen Lebens an ihrer Daseinsenergie einen Anteil gönnen wollen. So ist aus dem humboldtischen „Leben und Weben in sich" das „Doppelleben" geworden.

Elite und Masse Man würde irren, glaubte man in dem Bekenntnis zum Doppelleben nicht mehr vor sich zu haben als das persönliche Lebensprogramm eines Literatentums, das vor dem Angriff des Leviathan in den Naturschutzpark eines ästhetisierenden Kastalien ausweicht. Dieses Programm würde ja nicht in Gestalt von Schriftwerken vor die Öffentlichkeit treten, wollte es nicht für eine Lebensform werben, die nicht etwa bloß seinem literarischen Verkünder, sondern jedem auf Wahrung seiner „Person-lichkeit" bedachten Zeitgenossen anstehe. Und daß dieser Puf nicht ungehört verhallt, dafür ist bei der Resonanz, deren die der Zeitkritik sich widmende Schriftstellerei gewiß sein darf, aufs beste gesorgt. Wir haben also allen Grund, uns zu fragen, was wir zu gewärtigen haben, wenn diesem Rufe Folge geleiset wird.

Zunächst ist es klar, daß die Botschaft der Geistesjünger nur bei der Minorität Widerhall finden kann, auf die sie berechnet ist und an die sie sich ausschließlich wendet: bei der „Elite“ derer, die sich zum Adel des Geistes meinen rechnen zu dürfen und aus dieser ihrer Wohlgeborenheit das Recht auf eine exzeptionelle Daseinsweise herleiten. Daß die weit überwiegende Mehrheit, die besteht aus den solcher Auszeichnung nicht Teilhaftigen, im Rahmen und nach Anweisung der herrschenden Arbeitsordnung ihr Tagewerk zu verrichten fortfahre, ist die stillschweigende Voraussetzung. Denn an ihrer Arbeitstreue hängt ja für die Gesamtheit die Möglichkeit des Existierens. Aber da ist doch die Frage am Platze, welche Wirkung es haben muß, wenn, wie es nicht ausbleiben kann, von der die Elite inspirierenden Geistesphilosophie eine Kunde in diese Welt der Arbeit dringt. Das mindeste, was dann eintreten wird, ist die Entmutigung dessen, der sich sagen lassen muß, daß er eine Arbeit von höchst untergeordnetem Range verrichte. Ist ihm aber erst einmal der Sinn und Wert dessen, wovon sein Leben erfüllt ist, fraglich geworden —wie soll ihm dann das gute Gewissen und die innere Freudigkeit erhalten bleiben, ohne die noch nie etwas Rechtes in der Welt vollbracht worden ist? Niemand hört es gerne, daß er zu schuften habe, damit eine kleine Minderheit von Auserlesenen die Weihehandlungen des Geistes zelebrieren könne.

Immerhin wäre es denkbar, daß die Kundgebungen jenes Aristokratismus nicht tief genug in die Welt der Arbeit einstrahlten, um die ihr Angehörigen an sich und ihrem Tun irre machen zu können. Sehr viel ernster ist, wie mir scheint, ein Anderes zu beurteilen. Daß die in der Menschenwelt zu vollbringenden Tätigkeiten nach Rang und Wertgehalt so abzustufen seien, wie die Botschaft der Geistgläubigen behauptet, das ist nicht eine Anschauung, die durch diese Botschaft erst hervorgebracht zu werden brauchte: in dieser These gelangt eine Denkweise zum Ausdruck, die, sei es auch unausgesprochen und uneingestanden, die Haltung weiter und einflußreicher Kreise nicht erst seit heute oder gestern bestimmt. Die Zweiteilung der menschlichen Welt, der Dualismus der hier und der dort zu übenden Praktiken und zu befolgenden Maximen, der Dualismus von Seele und Sache, Geist und Geschäft, Poesie und Politik: das sind Vorstellungen, die im Gemüt gerade der Maßgeblichen eine üb. eraus folgenreiche Herrschaft nur zu lange ausgeübt haben. Daß die Welt jener Angelegenheiten, die nur durch gemeinsame Verabredung und planvolle Organisation besorgt werden können, Verkehrsregeln unterstehe, Entschließungen fordere, Handlungen gestatte, von denen der Mann von Geschmack sich zu distanzieren nicht umhin könne, daß infolgedessen der Mensch als solcher erst jenseits dieses zwielichtigen Bezirks zum Vorschein kommen könne: war das nicht die Überzeugung, von der sich nur zu viele gute Bürger in ihrem Verhältnis zu den öffentlichen Dingen bestimmen ließen? Es lohnt sich, darüber nachzudenken, in welchem Umfange die deutsche Katastrophe durch die Verbreitung dieser das „äußere“ Leben aushöhlenden Denkweise mitverschuldet worden ist.

Wenn irgendwo, dann zeigt es sich hier, daß die Diskrepanz zwischen Bildungsideal und gesellschaftlichem Prozeß nicht ein beiläufiger Schönheitsfehler ist, über den man sich durch den Blick in die imponierende Wirtschaftsbilanz trösten lassen dürfte, sondern ein Gebrechen der Lebensverfassung, das die Seelen verwirrt und die Entschlüsse verdirbt.

Der Versuch, der „Bildung“ durch eine Zweiteilung der menschlichen Existenz ein Reservat im Inneren zu retten, könnte nicht gründlicher ad absurdum geführt werden, als es durch die Schicksale geschieht, die der Mensch gerade dadurch über sich heraufbeschwört, daß er das sorglich abgesonderte „Äußere“ jenen fragwürdigen Mächten überläßt, die er aus seinem „Inneren“ meint aussperren zu können. Es steht nicht in seiner Macht, durch einen Willensentschluß sein Leben in zwei Provinzen zu zerlegen, die so voneinander abgetrennt und gegeneinander abgedichtet wären, daß sie nach völlig entgegengesetzten Prinzipien verwaltet werden könnten. Das der Verwahrlosung anheimgegebene „Äußere“

und das für die Bildung reservierte „Innere“: beide verharren nicht in der verordneten Isolierung, sondern durchdringen sich zu einem Gesamtgeschehen, in dessen trübem Strudel die Bildung am sichersten untergeht.

Humanität und Antinomie Allein gewichtiger noch als die Frage nach der Realisierbarkeit des im Programm des „Doppellebens" Vorgesehenen ist die andere, ob denn, gesetzt den Fall, diese Selbstzerteilung des Menschen wäre möglich, die Lebensverfassung desjenigen, der sie praktiziert, auf das Prädikat „Bildung“ Anspruch haben würde. Das würde ganz sicher dann nicht der Fall sein, wenn wir daran festhalten, daß dieses Wort die Wesensgestalt des ganzen Menschen und nicht bloß die Beschaffenheit eines künstlich ausgegrenzten Teil Stücks seines Innenlebens bezeichnen soll. Wenn die Antinomie nun einmal zum Wesen des vollentwickelten Menschen hin-zugehört, dann muß sie auch in den Lebenshorizont dieses Menschen ohne jeden Versuch der Verharmlosung oder gar Verleugnung Aufnahme finden. Was wäre das für eine „Bildung", die sich nur durch Abblendung eines bestimmenden Grundzugs menschlicher Existenz zu konstituieren und zu behaupten vermöchte!

Ein ganzer Mensch darf deshalb nur derjenige heißen, der nicht den Versuch macht, dem ihm anstößigen, weil sein Harmonieverlangen störenden Widerspruch durch eine Sezession in die Innerlichkeit aus dem Wege zu gehen, sondern den Mut hat, ihn ungemildert und unbeschönigt in seine Lebensrechnung einzustellen. Und wenn man dem Begriff „Bildung" auch bei der Einbeziehung dieses Zwiespalts nicht entsagen will, dann muß das Verhältnis dieses abgewandelten Bildungsbegriffs zu dem von unseren Klassikern kanonisierten dahin bestimmt werden, daß er den lediglich auf die „Persönlichkeit“ gerichteten Vollendungsdrang durch Einfügung in ein übergeordnetes Ganzes relativiert, das ihm die Gegenbewegung einer auf ihre Sachforderungen bestehenden Welt zuordnet. Als „gebildet“ darf darnach nur gelten, wer diese Spannung sieht, anerkennt und als unaufhebbares Grundmotiv in seinen Lebens-plan einbaut.

In diesem Sinne interpretiert, könnte sogar Goethes Aufforderung, „mit der Welt verbunden ein Ganzes zu bilden,“ als Hindeutung auf den gewandelten Humanitätsbegriff gelten — wenn nicht der Begriff des „Ganzen" noch zu viel von der die Antinomie verschleiernden Harmonisierungstendenz anklingen ließe. Der Einzige, der auch im Angesicht der aufgedeckten Spannung Recht behält, ist doch schließlich Pestalozzi. Indem er den zwischen den „Erfordernissen der kollektiven Existenz“ und den „Ansprüchen des Individuums“ aufklaffenden Gegensatz als „ewigen Widerspruch“ bezeichnet, erkennt er ausdrücklich den antinomischen Charakter dieses Gegensatzes an.

8. Antinomie und Reflexion

Seelenleben und Reflexion Auch wer das Bestehen und die Lebensbedeutung der Antinomie einzuräumen bereit wäre, könnte gleichwohl den Überlegungen, die wir ihr gewidmet haben, mit dem Einwand begegnen: Zugegeben, daß die Antinomie zum Wesen des Menschen gehöre, sei doch zu fragen, warum Theorie und Praxis der Menschenbildung es nötig hätten, ihr in den maßgebenden Untersuchungen einen so breiten Raum zuzubilligen, wie es hier gefordert sei. Was der „Harmonie“ recht sei, sei darum der „Antinomie“ noch lange nicht billig. „Harmonie“ sei eine Verfassung des menschlichen Wesens, die nicht von selbst da sei, sondern nur als Ergebnis eines auf sie sich richtenden Bestrebens zustande kommen könne. Es habe also einen guten Sinn, wenn man den Blick des Menschen und zumal des zu erziehenden Menschen auf sie als auf ein anzustrebendes Ziel hinlenke. Die Antinomie aber sei ein Zug an der menschlichen Lebensverfassung, auf den willentlich hinzuarbeiten nicht bloß ungereimt sei, weil er kaum zur Verwirklichung reizen könne, sondern auch und vor allem deshalb sich erübrige, weil er schon von selbst Wirklichkeit geworden sei und immerfort werde. Die Antinomie ziehe den Blick auf sich nicht als den Willen lockendes Strebensziel, sondern als das Gemüt bedrückender Tatbestand. Wozu einem Sachverhalt, der sich ohne menschliches Zutun ganz von selbst herstelle, an dem überdies das Herz schwerlich Gefallen finden könne, ein solches Maß von Aufmerksamkeit zuwenden?

Im Hintergründe dieses Gedankengangs steht eine Vorstellung, die ans Licht gezogen werden muß, wenn über sein Recht geurteilt werden soll Es ist die Vorstellung: mit dem, was ohnehin schon da ist, sich abzugeben hat höchstens theoretisches Interesse. Es ist, was es ist, gleichgültig, ob von seinem Daß, seinem Wie, seinem Warum Notiz genommen wird oder nicht. Es wird von dem ihm geltenden Erkenntnis-bemühen so wenig berührt wie das Ding von der Belichtung, durch die es sichtbar gemacht wird. Es würde sein, was es ist, auch wenn die Erkenntnisbelichtung unterbliebe. Wird diese allgemeine Vorstellung auf das Verhältnis zwischen der Antinomie und dem auf ihre Erhellung ausgehenden Denken übertragen, so kann in der Tat die Beschäftigung mit ihr als ein Bemühen erscheinen, an dessen Ergebnis der reinen Theorie gelegen sein mag, an dem aber ein auf Menschenbildung, also auf praktische Wirkung gerichtetes Streben kaum interessiert sein kann.

Es bleibe dahingestellt, ob die wiedergegebene Vorstellung sich halten läßt, wenn sie das Verhältnis zwischen dem menschlichen Erkennen und einem a u ß e r menschlichen Erkenntnisgegenstand bestimmen will. Als völlig in die Irre führend erweist sie sich, wenn sie das Verhältnis zwischen dem menschlichen Denken und einem Gegenstand zu treffen beabsichtigt, welcher seinerseits wieder im Raume der mit dem Worte „Mensch“ bezeichneten Gesamtwirklichkeit seinen Plat hat. Hier muß sie unweigerlich Schiffbruch leiden, weil sie außer acht läßt, daß in diesem Falle denkendes Subjekt und zu denkender Gegenstand miteinander eins sind. Der Mensch, der Menschliches überdenkt, ist mit der Menschheit und dadurch unweigerlich mit sich selbst, der er doch auch der Menschheit angehört, beschäftigt. Indem er denkend ein anderer wird, als er bei Ausfall dieses Denkens sein würde, wird auch das von ihm Gedachte ein anderes, als es bei Ausfall dieses Denkens sein würde.

Daraus folgt: es gibt keinen inneren Vorgang, keinen inneren Zustand, der nicht-dadurch, daß er zum „Gegenstand“ wird, genauer: dadurch, daß das Denken des ihn vollziehenden bzw. erlebenden Subjekts sich ihm zuwendet, ein anderer würde, als er beim Unterbleiben dieser Zuwendung sein würde. Die Selbstbesinnung, die „Reflexion“, verwandelt alles, worauf sie sich richtet, und zwar schon dadurch, daß sie sich darauf richtet. Sie ruft weiterhin dadurch umgestaltende Wirkungen hervor, daß sie, wie es die Regel ist, innere Bewegungen in Gang bringt, die einem bewußten Eingriff in das seelische Geschehen gleichkommen. Der Mensch schaut seinem inneren Leben nicht untätig zu wie einem Verlauf, auf den er keinen Einfluß hätte. Er holt hervor und bringt zur Entfaltung, was seinen Beifall findet, er drängt zurück und schafft sich aus den Augen, was ihm Mißbehagen bereitet. In alledem wird der seelische Prozeß bedeutsam abgewandelt. Es ist eben ein ungeheurer Unterschied, ob der Mensch in vorbehaltloser Hingegebenheit in einem Erlebnis aufgeht oder es obendrein in das Licht reflektierender Selbsterforschung rückt. Es wird, dergestalt der Naivität des unbefangenen Voll-zuges enthoben, ein anderes, als es in unbelichtetem Zustande sein würde, und es zieht seelische Umlagerungen nach sich, die bei Wegfall der Belichtung ausgeblieben wären. Die Funktion, die es im Zusammenhang des Seelenlebens ausübt, wird dadurch modifiziert, daß die Selbst-erforschung nach seiner Stellung und Verrichtung innerhalb dieses Ganzen fragt und ihm, je nach dem Ergebnis dieser Befragung, einen anderen Platz anweist.

Abhängigkeit und Freiheit sind in diesem Geschehen wunderlich verschlungen. Weder vermag das Selbst etwas von dem zum Verschwinden zu bringen, was es in sich vorfindet, noch ist es ihm als einem unabänderlich Hinzunehmenden ausgeliefert.

Segen der Reflexion Alles, was im Vorstehenden ausgeführt wurde, gilt auch von dem Verhältnis, das zwischen der Antinomie und der auf sie sich richtenden Reflexion obwaltet. Die Antinomie wird zunächst in den Unstimmigkeiten erfahren, in denen sie sich dem geradehin lebenden Menschen fühlbar macht. Je drückender sie werden, um so unfehlbarer rufen sie die Reflexion auf den Plan, die nach dem Wie und dem Woher des Unbehagens fragt. Der so erweckten Reflexion ist es nicht gegeben, die Antinomie zum Verschwinden zu bringen — sie wäre nicht Antinomie in kantischem Sinne, wenn diese Möglichkeit bestände — aber ebensowenig ist sie dazu verurteilt, es bei der Konstatierung des Konflikts als eines Faktums bewenden zu lassen, das unter Ausschluß abwandelnden Eingreifens untätig hinzunehmen wäre. Er kann in der Ordnung des inneren Haushalts auf sehr verschiedenartige Weise einkalkuliert und untergebracht werden.

Verkennen wir nicht, wie glücklich wir uns schätzen dürfen, daß wir als auf die Antinomie Reflektierende nicht in die Passivität des einflußlosen Zuschauers gebannt sind? Wir müßten ja die Gabe der Reflexion als einen Fluch beklagen, hätten wir sie nur zu dem Zweck mitbekommen, damit wir einen uns mit äußerer und innerer Vernichtung bedrohenden Prozeß in ohnmächtiger Verzweiflung seinen Gang nehmen sähen. Statt dessen dürfen wir uns sagen, daß schon die bloße Einsicht in Wesen, Herkunft und Wirkung der Antinomie mehr ist als ein Wissen, daß den gewußten Dingen ihren Lauf lassen müßte. Weil unser eigenes Sinnen, Planen und Tun es ist, das durch seine Hervorbringungen die Antinomie heraufbeschwört, so wird der von ihr ausgehende Druck schon dadurch gemildert, daß wir für den Sinn der Vorgänge und das Recht der Handlungen sehend werden, in denen der antinomische Lebens-zustand sich herangebildet hat. Wir hören auf, uns mit unbegründeten Vorwürfen zu verfolgen und als Opfer einer irreparablen Verirrung zu beklagen. Das ist mehr als eine Erlösung des von Skrupeln heimgesuchten Gemüts. Wir, die sich dergestalt Entlastenden, sind doch zugleich diejenigen, die durch Entschluß und Tat den fraglichen Prozeß in die Zukunft hinein fortzuführen haben, und für diese Obliegenheit ist es wahrhaftig eine nichts weniger als nebensächliche Frage, ob sie mit gutem Gewissen oder mit zweifelnder Seele verrichtet wird.

Aber wie stets, so hat auch hier die Diagnose ihren vollen Sinn erst als Vorbereitung der Therapie. Die moderne Arbeitsordnung hat ihr Leben nicht nur in dem Denken und Wirken der Menschen, die sie in ihren Dienst stellt, sondern auch in den Einrichtungen, durch die sie ihren Dienst regelt. Diese Einrichtungen aber sind zwar in ihren Grundzügen durch das Gebot der Sache unabänderlich vorgezeichnet. Aber das heißt doch nicht, daß sie bis in die letzten Einzelheiten hinein der menschlichen Verfügung entzogen und als unabwendbares Verhängnis festgelegt wären. Sie lassen an tausend und abertausend Stellen die Wahl zwischen Möglichkeiten, die sich gerade durch das Maß der Rücksicht, die sie dem Menschen erweisen, beträchtlich voneinander unterscheiden. In diesem Spielraum sich sowohl sach-als auch menschenkundig zu bewegen vermag nur der, der die aus dem Zusammenstoß von Sache und Mensch entspringende Antinomie durchschaut und deshalb die Ansprüche beider Seiten richtig abzuschätzen versteht. Der ihrer Unkundige weiß, entweder nur von sachlichen Notwendigkeiten oder nur von menschlichen Rechtstiteln.

Fehlgehende Reflexion Wesen und Lebensbedeutung der Reflexion zu erhellen ist die Geschichte der Humanitätsidee wie wenige geeignet. Denn diese Idee ist ganz und gar Schöpfung des reflektierenden Geistes. Hat sie doch, wie wir sahen, zum unablösbaren Hintergrund eine Kritik der modernen Kultur, die in ihrem Kern nichts anderes ist als die Aufdeckung der Antinomie. So läßt sich denn an der Geschichte dieser Idee ablesen, daß die Reflexion mehr ist, etwas anderes ist als die Betrachtung einer Reihe von Begebenheiten, die, gleichgültig gegen die ihr gewidmete Aufmerksamkeit, ihren in sich geschlossenen Gang nähme. Diese Geschichte zeigt uns, wie tief der Mensch durch das Nachdenken über sich selbst, durch die Belichtung der in ihm arbeitenden Gegensätze, in seine Daseinsgestaltung eingreift.

Aber noch ein Weiteres kann die Entwicklung dieser Idee uns lehren. Nicht bloß darauf kommt es an, daß die Reflexion überhaupt dem auf gefährliche Wege geratenen Kulturgeschehen ihre Aufmerksamkeit zuwendet. Entscheidend ist, daß sie sich in der Deutung dieses Geschehens von Irrtümern und Mißverständnissen freihält — daß sie erleuchtende Reflexion ist. Denn es ist durchaus nicht an dem, daß der Einfluß, den die Reflexion auf das durch sie belichtete Geschehen ausübt, in eben dem Maße zurückginge, wie ihre Deutung sich auf Irrwege verliert. Durch die fehlgehende Deutung wird-der der Deutung unterliegende Ablauf von Ereignissen nicht weniger in Mitleidenschaft gezogen als durch die ihm vollkommen angemessene. Nur daß dann eben die falsch verstandene und ausgelegte Bewegung, weil über sich selbst im Irrtume, auch in ihrem faktischen Fortgang von der Richtung abweicht, die einzuhalten ihr zum Heile dienen würde. Wer sich falsch sieht, handelt auch falsch. So kann es auch geschehen, daß die der Antinomie sich zuwendende Reflexion durch die Mißverständnisse, die in ihrer Auslegung unterlaufen, Abwehrhandlungen nahelegt und Gegenwirkungen in Gang bringt, die zwar darauf berechnet sind, dem Notstand zu steuern, ihn aber in Wahrheit verschlimmern. In dieser Fehlentwicklung zeigt sich, daß die Reflexion mit allen Betätigungen des Geistes die Möglichkeit der Verkehrung, die Versuchung zum Abgleiten teilt. Es gehört zu den dunkelsten Verhängnissen der Kultur, daß sie, sich selbst mißverstehend und deshalb mißleitend, den eigenen Untergang betreiben kann. Zwei Formen sind es besonders, in denen die fehlgehende Reflexion der Menschheit von heute zum Irrlicht zu werden droht. Die eine liegt da vor, wo die Antinomie zwar gesehen, aber nach Wesen und Herkunft mißdeutet wird. Die andere besteht in dem Versuch, die Antinomie im Selbstverständnis der Menschheit zu tilgen. Dort kommt der Mensch in Versuchung, durch falsch angelegte Gegenzüge das Übel zu steigern, dem er steuern möchte. Hier wird er blind für die Bedrohungen, die er sehen müßte, um ihnen nicht zum Opfer zu fallen. Beides Fehlentwicklungen, die uns bereits ausgiebig beschäftigt haben!

Wer in dem Bemühen, mit der Antinomie fertig zu werden, die organisierte Arbeitswclt als Frucht eines Fehltritts in Acht und Bann tut und als einzige Möglichkeit, sich vor den Folgen dieses Fehltritts zu salvieren, den Rückzug in die Innerlichkeit empfiehlt, der liefert jene Welt einer Verwahrlosung aus, die früher oder später auch sein künstlich ausgegrenztes Geisterreich ergreifen wird. Wer in dem Wunsche, die Erde in einen Schauplatz diesseitiger Glückseligkeit zu verwandeln, den an der Sache sich orientierenden Fortschritt zum universalen Bewegungsgesetz erhöht und diesem Gesetz zuliebe die Menschheit in einen einzigen Mechanismus umbildet, der setzt einen Seelenmord in Szene, der das Konsortium seiner Veranstalter so wenig verschonen wird wie das Millionenheer der ihm Ausgelieferten. Hier wie dort wird die Menschheit das Opfer einer die eigenen Daseinsbedingungen verkennenden Fehl-deutung — dort einer zu bereitwillig vor den Widrigkeiten der Kultur kapitulierenden, hier einer zu hoffnungsfroh auf den Aufstieg der Zivilisation vertrauenden. Aber der Mensch braucht so wenig der Leidtragende seines eigenen Sündenfalls zu sein, wie er der Wegbereiter der irdischen Vollkommenheit ist.

Lehren der Reflexion Die Schädigungen, die das Menschsein erleidet, wenn die Reflexion in die Irre geht, lassen uns von der negativen Seite her, an Fehlbildungen des menschlichen Seins, ermessen, was die irrtumfreie Reflexion für die

Selbstgestaltung dieses Seins bedeutet. In dem, was zur Abwehr dieser Fehlformen gesagt wurde, war auch schon mit ausgesprochen, was anerkannt und beherzigt werden will, damit der Mensch weder von der übersehenen Antinomie verschlungen noch von der mißdeuteten verbildet werde.

Folgendes ist es, was die erleuchtende Reflexion an Aufschlüssen zu bieten hat:

Der Mensch lernt mit der Arbeitswelt, in der sich sein Tagewerk vollzieht, in Frieden leben, weil sie freigesprochen ist von der Anklage, in einem fluchwürdigen Fehltritt ihren Ursprung zu haben und den ihr Hingegebenen durch die Fortwirkungen dieses Fluchs zu erdrücken. Er lernt darüber hinaus die Größe der Geistestat ermessen, die sich im Aufbau dieser Arbeitswelt ein Denkmal gesetzt hat.

Der Mensch wird wider die Versuchung gewappnet, sich so an die der Arbeitswelt entspringenden Sachforderungen zu verlieren, daß er seiner selbst als des sich selbst bestimmenden und die Arbeitswelt regierenden Subjekts vergißt. Er wird fähig, den Widerspruch zu sehen und zu bestehen, der darin liegt, daß die Bemühung um die Sache ihn gleichzeitig als Menschen bildet und doch auch in seinem Menschsein bedroht.

Der Mensch wird wider die Versuchung gewappnet, sich der bei Hingabe an die Arbeitswelt nicht vermeidbaren Spannung dadurch zu entziehen, daß er sein Menschentum in ein Inneres flüchtet, das die Arbeitswelt als das Wider-menschliche außer sich hält und so den Widerspruch durch äußere Teilung auflöst. Er wird fähig, er selbst zu sein, ohne sich darum der Welt zu versagen.

Der Mensch lernt in sich das Wesen kennen, dem es nicht beschieden ist, in bruchlosem Wachstum zur Harmonie heranzureifen, sondern dem es obliegt, in stetem Ringen mit immer von neuem aufbrechenden Gegensätzen Selbst zu werden und Welt zu gestalten.

9. Die Unverdrängbarkeit des Umgangs

Umgang und Sachbeherrschung Wir haben damit die Prinzipien einer „Bildung" entwickelt, wie sie sich unter den Lebensbedingungen und angesichts der Forderungen zu gestalten hätte, die sich aus dem Aufbau einer nach Maßgabe der „Sache“

organisierten Arbeitswelt ergeben. Ein anderes Antlitz müßte natürlich die Erziehung innerhalb einer Gemeinschaft zeigen, die noch nicht die Schwelle der sich organisierenden Arbeitswelt überschritten hätte, deren Verhältnis zur Welt sich also ausschließlich in der Form des „Umgangs“

regelte.

Oberflächlicher Betrachtung könnte es nun so scheinen, als ob die beiden hier unterschiedenen Systeme der Erziehung zueinander im Verhältnis der Ablösung stünden, als ob also, wenn die Erziehung zur Sachbemeisterung einsetze, die aus dem Umgang erwachsene und auf den Umgang berechnete Erziehung einfach deshalb das Feld zu räumen habe, weil ihr alle Ansatzpunkte und Bewährungsmöglichkeiten im Leben der Gemeinschaft genommen seien. Im Hintergründe dieser Meinung steht natürlich die Überzeugung, daß auch zwischen den hier unterschiedenen Lebenssystemen das Verhältnis der Ablösung obwalte. Die Herrschaft über die Sache übernehme die Funktion, die vor ihr der Umgang ausgeübt habe.

Wir kennen die Gründe, die es nicht wenigen selbstverständlich erscheinen lassen, daß, wenn die Sache sichtbar und verfügbar geworden sei, der Umgang abzudanken habe. Die Ergebnisse der neuen Wissenschaft von der Natur sind so viel exakter und umfassender als alle dem Umgang abzugewinnenden Erfahrungen, die Verfahrensweisen der neuen Technik der Natur so viel zuverlässiger und ausgreifender als alle im Umgang sich bildenden Praktiken, die Produkte der neuen Bearbeitung der Natur so viel zweckmäßiger und vielfältiger verwendbar als alle im Umgang herzustellenden Gebrauchsgüter, daß schon der unbefangene Beobachter hier nichts anderes vor sich zu haben glaubt als die Ablösung eines Anfangs-und Vorbereitungsstadiums kindlich unbeholfener Versuche durch die Phase der vollendeten Meisterschaft.

Dieser Eindruck würde selbst dann aufgekommen sein und die Ober-hand gewonnen haben, wenn er nicht schon in den Frühzeiten der neuen Weltbemächtigung durch alsbald auftretende Doktrinen bestätigt worden wäre, die ihn zum Rang einer wissenschaftlich erhärteten Wahrheit zu erheben bestimmt waren. Die Bahnbrecher des Neuen zögerten nicht, zu Gunsten des von ihnen entworfenen neuen Weltbildes jede von ihm abweichende Weltansicht für illusionär und daher reif zur Verabschiedung zu erklären. Daß von diesem Verdikt gerade und vor allem der im Umgang sich bildende Weltaspekt getroffen werden sollte, lehrt schlagend das Schicksal der Desavouierung, das über die von der Welt uns dargebotenen Sinneseindrücke hereinbricht. Denn es ist, wie wir sahen, gerade die Welt in ihrer sinnlich-anschaulichen Gegenwärtigkeit, mit der der Mensch sich im Umgang findet und partnerschaftlich verbündet.

An die Dementierung der im Umgang sich bildenden Welterfahrung schließt sich folgerichtig die Abwertung jener Formen des Schaffens an, in denen die handwerkliche Praxis sich auslebt. Sie ist die notwendige Kehrseite zu der bedingungslosen Apotheose, die der technischen „Erfindungskunst"

und ihren menschheitsbeglückenden Errungenschaften widerfährt.

Aber am grellsten treten die in der Disqualifizierung des Umgangs beschlossenen Folgerungen dann hervor, wenn sie sich auf dasjenige Lebensverhältnis erstrecken, in dem das mit dem Begriff „Umgang Gemeinte seine vollkommenste Erfüllung findet: auf dasjenige Lebensverhältnis, welches den Menschen mit seinesgleichen verbindet. An keiner anderen Stelle begegnet das Ansinnen, dem Umgang das Vertrauen zu kündigen, so heftigen Widerständen wie hier. Deshalb könnte es kein besseres Zeugnis geben für die Macht, mit der die neue Form der Weltbemeisterung vom Menschengeist Besitz ergreift, als die Tatsache, daß selbst diese Sphäre des Umgangs sich die Disqualifizierung mußte gefallen lassen, von der zunächst der Umgang mit der außermenschlichen Natur betroffen worden war.

Man wird fragen, wo und in welcher Form dies geschah. Die Antwort ist einfach genug. Es geschah in dem Augenblick, in dem die adaequate Erkenntnis der Menschenwelt einer angeblichen Naturwissenschaft von der Seele, der Gesellschaft, der Geschichte, die angemessene Behandlung der Menschenwelt einer angeblichen Technologie der Seele, der Gesellschaft, der Geschichte überwiesen wurde. Denn genau so, wie Wissenschaft und Technik der äußeren Natur mit der Prätention auftreten, die aus dem Umgang mit der Natur erwachsenen Erfahrungen und Fertigkeiten durch das Angebot eines weit Vollkommeneren überflüssig zu machen — genau so ist in dieser neuen Wissenschaft vom Menschen der Anspruch enthalten, die flüchtigen, unzuverlässigen und zusammenhanglosen Beobachtungen, an denen der Umgang von Mensch zu Mensch seine einzige Richtschnur hat, durch ein geordnetes und methodisch gesichertes Wissen zu ersetzen, in dem Theorie und Praxis gleich zuverlässige Wegweisung finden. Wie sollte, wer sich in seinem Verhalten zur menschlichen Mitwelt durch ein ganzes Konsortium wissenschaftlicher Disziplinen beraten weiß, in den dem Umgang abzugewinnenden Erfahrungen von Menschenart und -unart mehr erblicken können als rudimentäre Überbleibsel einer primitiven Menschenkunde, die durch den Fortschritt des Geistes längst überholt ist!

Umgang als Lebensgrund Wer in der Wissenschaft die vollständige Rezeptensammlung für alle zu bewältigenden Lebensprobleme zu besitzen überzeugt ist, der kann natürlich auch der Erziehungs-und Bildungsarbeit nur den radikalen Abschied von jeder auf den Umgang bezogenen pädagogischen Bemühung und den vorbehaltlosen Übergang zu einer auf die Sachwissenschaft schwörenden Erziehung anempfehlen. Die „neue“ Erziehung hat einfach an die Stelle der alten zu treten.

Allein ob der Sachverhalt getroffen wird, wenn wir hier nicht mehr zu sehen glauben als die Ablösung des Mangelhaften durch das Vortreffliche, des Schlechteren durch das Bessere, das muß uns schon dann zweifelhaft werden, wenn wir uns erinnern, daß die Polarität von „Mensch" und „Sache", die Korrelation von „Subjekt“ und „Objekt" an jenem Lebensverhältnis, das wir als „Umgang“ bezeichneten, nicht einen der Verdrängung würdigen und der Ablösung bedürftigen Vorgänger hat, sondern den Mutterboden, aus dem sich beide, Glied und Gegenglied, in wechselseitiger Abhebung herausdifferenzieren. Schon dieser Umstand genügt, um der Vorstellung von einem „Ablösungs" vorgang den Boden zu entziehen. Wenn das Hinterherkommende dem Vorausgegangenen so verpflichtet ist, wie es sich in dieser Abhängigkeit verrät, dann tut es nicht wohl daran, sich ihm gegenüber als Überwinder aufzuspielen.

Noch schwerer aber wiegt ein Zweites. Es wäre ein Irrtum, zu meinen, der Vorgang, der aus dem Grunde der im Umgang erlebten Weltverbundenheit die Parteien „Mensch“ und „Sache“ hervortreibt, sei ein einmaliges geschichtliches Ereignis, dessen Ergebnis auf die nachkommenden Geschlechter als fertig zu übernehmendes Erbe, als endgültig eingebrachte „Errungenschaft“ ohne weiteres übergehe. Es ist durchaus nicht so, daß den Nachwahsenden die Phase des Umgangs erlassen wäre und gleich mit der „Sache“ anzufangen gestattet würde. Vielmehr ist jene Differenzierung ein Vorgang, der in jedem neu heraufkommenden Geschlecht, ja in jedem einzelnen ins Dasein hineinwachsenden Individuum von Anbeginn an wiederholt werden muß, wenn es in der Sphäre der Sachbemeisterung Fuß fassen soll. Gewiß wird dieser Vorgang erleichtert und beschleunigt, wenn er in der lernenden Berührung mit dem sich vollzieht, was die dahingegangenen Geschlechter an Sacherschließung bereits hinter sich gebracht haben. Aber abgenommen wird er keinem, der an diese Sphäre den Anschluß sucht. Jedes Kind, das in einem vor unseren Augen ablaufenden Prozeß die Dinge als „Objekte“ sehen und behandeln lernt, vollzieht damit von neuem den Umschlag, der die im Umgang als Lebenspartner begegnende Welt in die theoretisch und praktisch zur Sache neutralisierte Welt verwandelt.

Und endlich drittens: auch der, der es in der theoretisch-praktischen Bewältigung der Welt zu hoher Könnerschaft, ja zu wirklicher Meisterschaft gebracht hat, hört darum nicht auf, mit ihr die Beziehungen zu unterhalten, die in Gestalt des LImgangs erlebt werden. „Sache“ ist die Welt für ihn genau so lange und nur so lange, wie er ihr denkend und handelnd in der Einstellung des auf Sachbeherrschung ausgehenden Subjekts gegenübersteht. In eben dem Maße, wie die dazu erforderliche Anspannung des Geistes nachläßt, treten an der Welt wieder die Züge hervor, die der Versachlichung weichen mußten, und das heißt: die Situation des LImgangs ist wiederhergestellt — eine Rückbildung, in der sich die polare Zusammengehörigkeit von Objektbildung und Subjekthaltung von der negativen Seite offenbart.

Ja, tiefer gesehen ist der Sachforscher sogar mit seinem sachbezogenen Tun selbst auf den Umgang angewiesen. Erinnern wir uns, daß der Mensch niemals die mit der Sachhingabe einhergehende Zurückdrängung seiner Person auf sich nehmen würde, es sei denn, daß ein in der Tiefe eben dieser Person verwurzeltes Motiv ihm diese Entselbstung ratsam erscheinen ließe! Wenn das Stück Natur, dem sein forschender Eifer gilt, ihm nicht zunächst ein Antlitz zukehrte, durch das es sein Interesse auf sich zieht, wenn es ihm nicht in seiner sinnlichen Erscheinung Anreize zur Untersuchung und Ansatzpunkte zur methodischen Bearbeitung darböte — was sollte ihn dahin bringen, ihm soviel Teilnahme zu schenken, was ihn dazu vermögen, ihm so viel Anstrengung zuzuwenden? So läßt uns gerade die Lebenshaltung des Sachforschers erkennen, wie wenig davon die Rede sein kann, daß vor der vordringenden Sachwissenschaft der Umgang den Rüdezug anzutreten hätte.

Die Wahrheit des Umgangs Es wäre mit dem Gesagten nicht viel gewonnen, hätten wir nicht mehr nachgewiesen als dies, wie unverdrängbar die Eindrücke sind, in denen der Umgang sich je und je seinen Inhalt gibt. Der Vorwurf, daß der Mensch durch sie über das Wirkliche getäuscht werde, wäre durch diesen Nachweis nicht widerlegt. Worauf es uns ankommt, das ist die Rehabilitierung desjenigen, was man die „Wahrheit“, d. h. die welterschließende Kraft dieser Eindrücke nennen könnte. Diese Wahrheit ist es, für die Goethe mit seinem Kampf gegen den Absolutheitsanspruch von Newtons rechnender Wissenschaft eine Lanze gebrochen hat. Man kann das, was Goethe in seinen hierher gehörigen Darlegungen unternimmt, als einen einzigen großen Rettungsversuch verstehen, durch den er die dem Umgang vorbehaltene und nur im Umgang zu gewinnende „Wahrheit“ vor der Überwältigung durch den mathematisch-technischem Denkimperialismus bewahren möchte. Und wenn er Newton gegenüber ohne Frage den kürzeren zieht in dem Bemühen, der mathematischen Naturwissenschaft unter Berufung auf die dem Umgang aufgesparte „Wahrheit“ die Glaubwürdigkeit zu entziehen, so behält er tausendmal recht mit dem leidenschaftlichen Aufstand wider die Zumutung, die besagte „Wahrheit“ dem Herrschaftsanspruch einer dogmatisch verabsolutierten Wissenschaft zum Opfer zu bringen.

Und als der diesen Aufstand Erregende ist Goethe heute so aktuell wie nur je. Denn je großartiger die Triumphe sind, durch die die rechnende Naturwissenschaft in den seit Newton verflossenen zwei Jahrhunderten die Welt in Erstaunen gesetzt hat, um so mehr ist auch die Neigung zur Erneuerung jenes Denkimperialismus gestiegen, der von keiner anderen Wahrheit wissen will als von der sich in Gestalt von Maß und Zahl darbietenden.

Indem wir beides ablehnen: sowohl mit Goethe die mathematische Wissenschaft von der Natur als auch mit Newton den Umgang mit der Natur einer Täuschung des Menschen schuldig sprechen, stehen wir wieder vor einem Sachverhalt von antinomischem Charakter. Denn es ist doch schließlich dieselbe Natur, die uns im Umgang dies konkret-beseelte Antlitz zukehrt und in der Wissenschaft als dies abstrakt-formale Relationsgefüge entgegentritt. Muß denn nicht entweder jener oder dieser Aspekt als der „eigentlich“ gültige ausgezeichnet werden? Lind doch soll der eine so gut wie der andere recht behalten!

Indessen glaube man nicht, daß die hier sichtbar werdende Antinomie eine andere sei als diejenige, die uns bereits beschäftigt hat. Wenn uns bis hierher die Antinomie als der zwischen „Mensch“ und „Sache“ auf-brechende Gegensatz zu denken gegeben hat, so heißt es jetzt einsehen, daß die Schärfe dieses Gegensatzes nicht verstanden werden kann, es sei denn, daß man die in Form des LImgangs erfolgende Begegnung mit der Natur in die Betrachtung einbeziehe. Denn warum wird die Spannung zwischen der zur Sache formalisierten Natur und dem zum Selbstsein strebenden Menschen so schmerzhaft verspürt, wenn nicht aus dem Grunde, weil dieselbe Natur, die der Mensch jetzt in die Ferne des zu kühler Indifferenz herabgestimmten Objekts zurückweichen sieht, ihm zuvor in einer Gestalt begegnet ist, die das genaue Gegenteil ist von reservierter Abstandnahme und teilnahmloser Sachlichkeit: nämlich in der Gestalt des ihn beanspruchenden und seine Antwort herausfordernden Lebenspartners? Das will wahrlich nicht besagen, daß sie ihm bis zum Eintritt der Objektivierung nur als huldvolle Gönnerin begegnet wäre: sie mag ihm ebenso oft das grauenerregende Antlitz der Verderberin zugekehrt haben. In keinem Falle aber beobachtete sie ihm gegenüber die Zurückhaltung des gegen sein Dasein gleichgültigen Unbeteiligten. Er wußte sich von ihr angesprochen und durch sie in die Schranken gefordert. Es war ein echtes Lebens Verhältnis, das ihn mit ihr verbündete. So lange dies Lebensverhältnis dauert, kann sich der Mensch durch die Natur anerkannt, in seinem Sein bestätigt, in seinem Wert geachtet fühlen. Sie rechnet mit ihm, selbst wenn sie ihn zermalmt; denn sie verschmäht es nicht, sich mit ihm zu messen. Nicht so die Natur, die sich zur Sadie neutralisiert hat. Für sie ist er als Mensch, als dieser bestimmte Mensch nicht vorhanden. Sie fragt nach ihm so wenig wie nach einem verächtlichen Stück Holz. Sie wäre ja nicht „Sache“, wenn sie Unterschiede machen wollte. Die kalte Gleichgültigkeit, in der die zur Sache reduzierte Natur dem Menschen entgegenstarrt, muß ihn im seinem Menschsein gerade deshalb so empfindlich treffen, weil dieselbe Natur ihn zuvor in seinem Menschsein respektiert und der Zuwendung für würdig erachtet hat. So bildet jenes Lebensverhältnis den Hintergrund, von dem sich der Gegensatz von Mensch und Sache in seiner fühllosen Härte ungemildert abzeichnet. Kein Wunder, daß Goethe, indem er den Menschen vor den Übergriffen des sachgebundenen Denkens in Schutz nimmt, vor allem der im Umgang begegnenden Natur ihr Recht zu wahren sucht und sie, die allgegenwärtige Gefährtin des Menschen, nicht scharf genug von der zur Sache neutralisierten und damit dem Menschen entfremdeten Natur trennen kann.

10. Umgang und Menschenbildung

Pflegebedürftigkeit des Umgangs?

Obwohl es indessen nur die uns vertraute Antinomie ist, die uns im Widerspruch der Naturaspekte begegnet, sehen wir doch an unserem Problem eine neue Seite heraustreten, sobald wir diesen Widerspruch in die Beleuchtung der „Bildungs“ -Frage rücken. Wenn zum rechten Menschentum der Kreis von Erfahrungen hinzugehört, die'nur der Umgang spenden kann, muß dann nicht die Arbeit der Bildung diesen Kreis unter ihre Obhut und Pflege nehmen?

Diesem Vorschlag tritt ein Einwand entgegen, vollkommen analog demjenigen, der wider die Beschäftigung mit der Antinomie überhaupt ins Feld geführt wurde. Auch hier heißt es: wozu sich die Pflege von etwas angelegen sein lassen, was ohnehin seines Daseins und Wirkens gewiß sein darf? Daß der Mensch jemals aufhöre, mit der Welt diejenigen Beziehungen zu unterhalten, die wir unter dem Namen „Umgang" zusammenfaßten, kann kein klar Denkender besorgen. Selbst wenn er auf die Wahrheit jener Doktrinen schwört, die ihn anhalten, den dem Umgang entfließenden Gewißheiten jedes Zutrauen zu verweigern, braucht er nur aus dem Äther der Theorie auf den festen Boden der Realität zurückzukehren, um alsbald wieder im Bann der Eindrücke zu stehen, die als Täuschung zu verabschieden ihm sein Dogma zuredete. Die farbige, tönende, lockende, erschreckende Welt, jenem Dogma zufolge eine trügerische Phantasmagorie, nimmt ihn genau so in Beschlag wie den von solchen Doktrinen gänzlich Unangekränkelten. Selbst wenn er von der Überlegenheit aller naturwissenschaftlich-technischen Veranstaltungen durchdrungen ist, hört er darum nicht auf, mit der ihm in sinnlicher Gegenwärtigkeit begegnenden Natur in derselben Weise „umzugehen“ wie der solchen Wissens Unteilhaftige. Selbst wenn er sich im Besitz einer unfehlbaren Naturwissenschaft von der Menschenwelt und einer den Erfolg garantierenden Technologie der Menschenbearbeitung glaubt, fällt es ihm nicht ein, den im Umgang mit seinen Mitgeschöpfen sich bildenden konkreten Erfahrungen den Glauben zu kündigen und sein Handeln statt an ihnen an allgemeinen Regeln zu orientieren, die das vollsaftige Leben blutleeren Abstraktionen zum Opfer bringen. Was sich so unverdrängbar zu behaupten weiß — wozu dem auch noch erzieherische Obsorge zuwenden? Wozu dem ohnehin Vorhandenen eine Pflege angedeihen lassen, auf die das keineswegs fertig vorgefundene Vermögen der Sacherschließung vollen Anspruch hat?

Verkümmerung des Umgangs Allein diesen Einwand zu widerlegen genügt der Hinweis auf die Überlegungen, durch die er hervorgerufen wird. Ob der Umgang einer besonderen pädagogischen Fürsorge bedürfe — diese Frage konnte überhaupt nur laut werden auf Grund der Tatsache, daß der Umgang eine Form des Lebens ist, die auf der von uns erreichten Entwicklungsstufe nicht bloß in unbefangener Selbstverständlichkeit getätigt wird, sondern auch die Besinnung auf sich gezogen hat. So lange dies nicht der Fall war, konnte sie nicht zum pädagogischen Problem werden. Daß sie es werden konnte und geworden ist, darin bezeugt sich der Verlust der Naivität, die ihrem ursprünglichen Vollzüge zu eigen war. Daß aber die Reflexion auf sie hingelenkt wurde, das hatte hinwiederum nicht zum wenigsten seinen Grund in den Exzessen des Eroberungsdranges, den die Bahnbrecher der Sachwissenschaften dadurch entfesselten, daß sie den von ihnen erprobten Denk-und Handlungsformen absolute Geltung beilegten. Indem dieser Drang der Lebensform des LImgangs das Daseinsrecht bestritt, machte er die Rettungsaktion notwendig, durch die dem Umgang die ihm zugemutete Abdankung erspart werden sollte — eine Aktion, die einer höherstufigen Betätigung der Reflexion gleichkam. Wiederum zeigt es sich, daß die Reflexion niemals bloß eine Betrachtung ist, die den durch sie belichteten Gegenstand ungewandelt ließe. Sie greift so oder so in seine Gestaltung ein. Lind wenn sie bei diesem Eingreifen von Voraussetzungen ausgeht, durch die das Wesen ihres Gegenstandes verkannt wird, so ruft sie durch ihr Fehlgehen diejenige Reflexion auf den Plan, durch welche der ihr unterlaufene Irrtum berichtigt und die durch sie verschuldete Entstellung behoben wird. Aber die Wiederherstellung des Gegenstandes ist nicht einfach eine Rückkehr zu der Lage, die dem ersten Eintritt der Reflexion vorausging. Das Wiedergewonnene ist vom Licht einer Bewußtheit durchstrahlt, deren es vorher ermangelte.

Es ist die Aufgabe der Wiederherstellung, vor die wir uns gestellt fanden, als wir im Gefolge Goethes den Umgang wider die ihm drohende Verkümmerung in Schutz nahmen. Es ist die nämliche Aufgabe, auf die die pädagogische Besinnung sich zubewegt, wenn sie sich fragt, ob der Umgang einer ihm eigens zugewandten erzieherischen Pflege bedürftig sei oder auch ohne sie seines ungeschmälerten Gedeihens sicher sein könne. Muß sie sich überzeugen, daß er in Gefahr ist, unter dem Druck unangemessener Denkformen zu verkümmern, so hat sie die Gegenwirkungen einzusetzen, die ungehörigen Übergriffen Einhalt gebieten.

Kein Zweifel, daß dies die Situation ist, in die sich die Erziehung von heute versetzt findet. Vieles wirkt zusammen, um den Menschen in seiner Empfänglichkeit für die Gesichte der ihm begegnenden Natur, in seiner Aufnahmebereitschaft für die Anrufe der ihm begegnenden Menschenwclt zu erschüttern. Von allen Seiten dringen Beschwörungen und Verwahrungen auf ihn ein, die ihn dahin bringen möchten, sein Vertrauen zur Welt durch das Vertrauen zu pseudowissenschaftlichen Dogmen zu ersetzen. Sollte es da nicht angezeigt sein, in ihm das Unterscheidungsvermögen großzuziehen, das ihn befähigt, Vertrauen so zu gewähren und zu versagen, wie nicht das Vorurteil eigensinniger Doktrinen, sondern die einsichtige Würdigung der zwischen Mensch und Welt obwaltenden Beziehungen es anrät?

Mag also auch der Mensch sich den Eindrücken der Welt nicht so ganz zu entziehen imstande sein, wie die kritisierte Lehre es ihm vorschreibt, so gibt das den für die Bildung des Menschen Verantwortlichen noch nicht das Recht, sich in dieser Hinsicht jeder Verpflichtung ledig zu fühlen.

Der Mensch von heute hat es nötig, wider die Machtsprüche immunisiert zu werden, die im Namen einer fälschlich absolut gesetzten Wissenschaft über das Ganze des Lebens ergehen, und in dem Vertrauen gefestigt zu werden, auf das bestimmte dieser Wissenschaft inkommensurable Erfahrungen, bestimmte ihr verschlossene Formen des Wirkens Anspruch haben. Lim seine „Bildung“ wird es um so besser bestellt sein, je klarer und bewußter er den zwischen jenen und diesen obwaltenden Gegensatz zu sehen und, wenn es handeln heißt, in Rechnung zu stellen vermag.

Verkümmerung des zwischenmenschlichen Umgangs Statt der erörterten Antinomie durch sämtliche dem Menschen beschiedene Erfahrungskreise nachzugehen, begnügen wir uns damit, sie an der Stelle aufzusuchen, an der sie sich zu unüberbietbaren Schärfe herausarbeitet und daher auch die schwersten Kollisionen heraufbeschwört. Diese Stelle ist gegeben -nach allen Vorausgegangenen versteht es sich von selber — in dem Bereich der zwischenmenschlichen Bezüge. Es ist die Welt des Menschen, die wie in der Theorie so auch und erst recht in der Praxis unter den Übergriffen einer ihre Kompetenzen überschätzenden Denk-und Handlungsform zu leiden hat — es ist die Welt des Menschen, die nur durch den Einspruch und Widerstand der einzig im Umgang zu erwerbenden Erfahrungen, der einzig im Umgang einzusetzen-den Gegenwirkungen aus den durch jene Übergriffe verschuldeten Entstellungen wiederhergestellt werden kann.

Wir sahen, wie die moderne Welt eine ständig wachsende Zahl von Menschen in ein Arbeitsgefüge hineinzwingt, dessen Bau in seinen Grundzügen durch das Gebot der Sache bestimmt ist und das daher dem Einzelnen eine Arbeitsleistung abfordert, die nur von der Sache her und nicht durch die Rücksicht auf seine Person bestimmt ist. Auf diese Weise kommt es dahin, daß Menschen von prinzipiell unbegrenzter Zahl dadurch, daß sie an ein und demselben arbeitsteilig organisierten Produktionsprozeß beteiligt sind, aufs engste miteinander verbunden werden. Aber was sie aneinander bindet, das ist nicht eine unmittelbar, d. h. im Verkehr von Mensch zu Mensch sich herstellende Beziehung, sondern die mittelbar, d. h. durch Verpflichtung auf dieselbe Sache, zustandekommende Einordnung in ein und denselben Arbeitszusammenhang. Sie blicken, im Bilde gesprochen, nicht einander ins Angesicht, sondern auf die den einen wie den anderen für sich einspannende Sache. Soweit der Zusammenhang der Menschen in dieser Sachgebundenheit begründet ist, entbehrt er aller Züge, die den Umgang als solchen kennzeichnen.

Und es fehlt nicht an Sozialtheorien, die die Vollkommenheit einer gesellschaftlichen Ordnung daran meinen messen zu sollen, wie weit sie es fertiggebracht habe, das Verhalten der in ihr vereinten Menschen so gänzlich dem Gebot der Sache konform zu machen, daß die Bindung im Umgang als überflüssig, wo nicht störend empfunden werde.

Zumal jene Doktrinen, die die „Technik der Gesellschaft“ der Verwirklichung näher zu bringen bestimmt sind, können gar nicht anders als in einer so total durch die Sache bestimmte Gesellschaftsverfassung das Ideal menschlicher Ordnung erblicken. Denn jene Technik wird das Getriebe des menschlichen Lebens um so sicherer in ihren Griff bekommen, je gründlicher die durch den Umgang verschuldeten Schwankungen des Zusammenlebens ausgemerzt sind. Und daß die „Technik der Gesellschaft"

mehr ist als ein Hirngespinst politischer Utopisten, das beweist die Praxis der politisch-gesellschaftlichen Systeme, deren Ehrgeiz es ist, sich dem Ideal der vollkommen in der Sache ausgehenden Gesellschaft nach Möglichkeit anzunähern.

Nun versteht es sich von selbst, daß dieses Ideal der zum reinen Funktionszusammenhang entleerten Gesellschaft aus dem einfachen Grunde von der Möglichkeit der Verwirklichung ausgeschlossen ist, weil die Menschen, sie mögen, sei es aus freiem Entschluß, sei es unter dem Druck des Systems, noch so sehr darauf bedacht sein, sich zu Mandataren der Sadie zu entselbsten, Menschen zu sein nicht aufhören. Und das bedeutet: es steht nicht in ihrer Macht, den Kreis von Erlebnissen, Erfahrungen, Bedürfnissen, Begehrungen, den das Wort „Umgang“ bezeichnet, so völlig aus ihrem Daseinshorizont zu verbannen, wie das Aufgehen in der Sache es erfordern würde. Der Arbeitsgenosse, mit dessen Leistung sich die eigene sachgemäß zusammenfügt, bleibt auch dann noch der Mitmensch, wenn man in ihm nicht mehr als den Mit-funktionär sehen möchte. Was in der Macht des Menschen steht, das ist nur dies; den Umgang mit dem denkbaren Mindestmaß von innerer Teilnahme abzuspeisen und ihn auf diese Weise an den Rand des Lebens abzudrängen. Es entsteht so der Typus des dem Menschlichen abgestorbenen Sachfanatikers. In seinem Verfahren waltet eine Daseinsökonomie, genau entgegengesetzt derjenigen, deren sich der aus dem Sachdienst in die Innerlichkeit flüchtende Anwalt der Menschlichkeit befleißigt, und doch mit ihr einig in dem Bestreben, die Antinomie durch äußere Aufteilung der Gebiete und Depotenzierung des einen von ihnen zum Verschwinden zu bringen.

Wiederherstellung des zwischenmenschlichen Umgangs Daß die durch den Sachzusammenhang der Produktion verbundenen Menschen zugleich im Verhältnis des Umgangs stehen, das ist ein Umstand, der von dem nur auf den Sachertrag Erpichten als Hemmung und Nachteil gebucht und nach Möglichkeit außer Wirksamkeit gesetzt wird.

Er bringt ein Moment der Unsicherheit und Unbeherrschbarkeit in den Produktionsprozeß hinein, durch das, so scheint es, das Aufgehen der Rechnung gefährdet wird. Ganz anders die Reflexion, die die Antinomie unabgeschwächt und unbeschönigt in die Lebensbilanz einzusetzen bereit ist! Sie hat vor den Herolden der Sachdienstbarkeit zunächst einmal dies voraus, daß sie sich gegen einen Sachverhalt zu sträuben unterläßt, der durch keine Kunstgriffe der Daseinsgestaltung zum Verschwinden gebracht werden kann. Aber sie begnügt sich nicht damit, diesen Sachverhalt als ein Faktum anzuerkennen, das, ein unabänderliches Verhängnis, so wie es ist hinzunehmen wäre. Zwar kann er nicht beseitigt werden, aber er sperrt sich auch nicht dagegen, durch Einsicht erleuchtet und auf Grund dieser Einsicht so gemodelt zu werden, wie es im Interesse des durch ihn beschlagnahmten Menschen liegt. Daß zwischen der Sachverpflichtung des Menschen und der Bindung an seinesgleichen ein Verhältnis der Spannung besteht, das ist eine Voraussetzung, an der rütteln zu wollen dieser Reflexion absurd erscheint. Sie weiß: es wird immer so bleiben, daß die in-der Sache liegenden Forderungen mit den durch menschliches Empfinden nahegelegten Rücksichten Zusammenstößen. Aber die Situationen, die solche Zusammenstöße hervorrufen, sind nicht in sich so unabänderlich festgelegt, daß sie abwägende Voraussicht, besonnene Überprüfung und besserndes Eingreifen ausschlössen. Sie gestatten nicht nur, sie fordern verantwortungsvolle Gestaltung.

Wir wissen, daß die Bedingungen solcher Gestaltung auf beiden Seiten nicht gleich günstig liegen. Die Sache läßt zwar, wie sich zeigte, der Modifikation des Einzelnen einen gewissen Spielraum. Aber in der Gesamtanlage weist sie abwandelnde Eingriffe ab. Viel beweglicher, wandlungsfähiger, beeinflußbarer ist das, was in der Sphäre des Umgangs zwischen Mensch und Mensch vor sich geht. Mehr als dies: es gewinnt überhaupt erst dadurch seine Gestalt, daß die partnerschaftlich Verbundenen sich für ein bestimmtes Verhalten und gegen ein anderes mögliches Verhalten entscheiden. Hier findet der Wille zu bewußter Lebensgestaltung ein weites und dankbares Feld. Gilt es also, dem Widerspruch zwischen Sachforderung und menschlichem Anspruch etwas von seiner Härte zu nehmen, so wird das Entscheidende auf der Seite des Umgangs und nicht auf der Seite der Sachordung geschehen müssen. Wenn die Sache durch die Unerbittlichkeit der Forderung den Menschen sich selbst zu entfremden nur zu sehr geeignet ist, so kommt alles darauf an, daß diejenigen, die durch die Bindung an die nämliche Sache aneinander verwiesen und beieinander festgehalten werden, ihrem personalen Verhältnis einen Inhalt zu geben wissen, der durch seine menschliche Erfüllheit ihnen hilft, dem Druck der Sache standzuhalten. Es können durch die Weise des Miteinanderlebens und -wirkens die Motive, aus denen die Bereitschaft zur Sachleistung entspringt, erweckt und niedergehalten, veredelt und vergröbert werden.

Was hier in einer abstrakten Gedankenführung entwickelt wurde, das deckt sich mit dem Inhalt der Erfahrungen, die etwa seit einem halben Jahrhundert das Leben der industriellen Gesellschaft denjenigen beschert hat, die erkannten, daß das zentrale Problem dieser Gesellschaft sich stellt nicht in der Frage nach der Sache, die durch den Menschen zu produzieren ist, sondern in der Frage nach dem Menschen, durch den die Sache zu produzieren ist. Daß der Schwerpunkt der Fragestellung sich dergestalt verlagerte, das konnte nicht ausbleiben in einem Zeitalter, das nicht nur mit der gigantischen Ausweitung und technischen Vervollkommnung seiner Produktionsformen die Überwältigung des Menschen durch die Sache mit atemraubender Beschleunigung an den Tag brachte, sondern auch politische Systeme auf den Plan treten sah, die den zur Sachhörigkeit entmündigte Menschen durch ihre Ideologie zur Norm erhoben — ja die ihn sogar durch ihre Methode der Menschen-bearbeitung heranzuzüchten mit beängstigendem Erfolge bestrebt waren.

An dem Gegenbilde dieses menschenmörderischen Treibens zeichnet sich alles dasjenige ab, was anderwärts gedacht und geplant, versucht und vollbracht worden ist in dem inständigen Bemühen, das menschliche Verhältnis zwischen den durch den Produktionsprozeß Zusammengebrachten, seien sie nun Führende oder Geführte, Erdenkende oder Vollstreckende, auf diejenige Form zu bringen, die geeignet wäre, den Druck der Sache zu mildern und den Menschen im Glauben an sich selbst zu bestärken.

Man erkannte, daß selbst eintönige und ermüdende Arbeit da am ehesten ertragen, am willigsten geleistet wird, wo der rechte Geist das Ganze durchwaltet, wo Verständnis, Rücksicht, Hilfsbereitschaft, kurz, ein im Bewußtsein der Solidarität gegründetes Einvernehmen die Werkenden aller Stufen und Grade zusammenhält. So kam es, daß die Zone des Umgangs, die so lange im Schatten der Sachnotwendigkeit gelegen hatte, in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückte.

Das Ganze der Überlegungen, Versuche, Erfolge, auf die hier andeutend hingewiesen wurde, ist ein schlagender Beleg dafür, wie weit der grundlegende Sachverhalt, den wir im Begriff der „Antinomie zu fassen versuchten, sich bereits in das Bewußtsein der Verantwortlichen vorgearbeitet hat. Denn alle die Sorgen, die jenen Bemühungen zu Grunde liegen, können nur den beschweren, der sowohl die Linausweichlichkeit der Forderungen erkennt, mit denen die durchorganisierte Arbeitswelt den ihr Verhafteten in Beschlag nimmt, als auch um die Bedrohung weiß, der die Person kraft dieser Beanspruchung ausgesetzt ist. Nur der hier klar Sehende kann der Notwendigkeit inne werden, dem bedrohten Selbstsein des Werkenden durch jene Kräfte menschlicher Vergemeinschaftung zur Hilfe zu kommen, die nur da ihre Segenswirkungen entfalten können, wo dem Umgang sein Recht gewahrt bleibt.

Die Erziehungsausgabe Wer einmal erkannt hat, wie sehr unsere Zukunft davon abhängt, daß der den Menschen mit dem Menschen verbindende Umgang davor geschützt wird, durch das Schwergewicht der Sachforderungen erdrückt zu werden, der wird der Meinung Valet sagen, die Welt des Umgangs sei aus dem Grunde keiner erzieherischen Pflege bedürftig, weil sie sich schon ohne unser Zutun gestalte und erhalte. Gewiß: daß sie der Diktatur der Sache gänzlich das Feld räume, ist nicht zu besorgen. Aber ob sie in kümmerlichen Andeutungen vegetiert oder in vollkräftigem Leben gedeiht, das hängt einzig von der Gesinnung und Haltung derjenigen ab, in deren Tun und Lassen der Umgang sein Profil gewinnt. Gesinnung und Haltung aber sind Daseinsmächte, die heranbilden zu helfen nun einmal eine der wesentlichsten unter den Aufgaben ist, die der erzieherischen Bemühung als solcher gesetzt sind. Und wenn die Entwicklung der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Zustände nur zu sehr dar-nach angetan ist, dem Umgang seine Rechte zu verkürzen, dann gehört die Erziehung zu den Kräften, die sich in allererster Linie aufgerufen fühlen müssen, der hier drohenden Verkümmerung zu wehren. Um aber dieser Verkümmerung erfolgreich begegnen zu können, muß der Mensch sehend geworden sein für die Verwicklungen, durch die sie bewirkt wird. Das bedeutet: es muß sich ihm die Antinomie enthüllt haben, deren Bedrohlichkeit sich in diesen Ausfallserscheinungen verrät. Wenn er von ihr nichts wüßte, würde er auch keine Veranlassung verspüren, vor den ihr innewohnenden Bedrohungen auf der Hut zu sein. Deshalb wird die Erziehung, die den auf sie entfallenden Anteil an der Verantwortung für das Werdende recht begreift, eine Erziehung zur Wachsamkeit sein — zu der Wachsamkeit, deren es bedarf, damit nicht der Mensch, ohne es zu wissen und zu wollen, der Entseelung des im Umgang pulsierenden Lebens Vorschub leiste. Nur wenn die Erziehung das Ihre tut, die Einsicht in Art und Umfang dieser Selbstgefährdung zum Gemein-besitz zu machen, dürfen wir hoffen, dem uns bedrohenden Schicksal der Selbstzerstörung zu entgehen.

Wenn man die Bedingungen mustert, unter denen heute „Bildung“, „Menschlichkeit“ errungen und gewahrt werden muß, dann ermißt man die Größe des Abstandes, der eine diese Bedingungen einrechnende Pädagogik von der Pädagogik des humanistischen „Persönlichkeits" -

kultes trennt. Und ich stehe nicht an, zu behaupten, daß heute das pädagogische Leben am kräftigsten in den Kreisen derjenigen pulsiert, die, weil an der Berührungsstelle von Erziehung und Wirtschaft postiert, am wenigsten in Versuchung kommen, in ihren pädagogischen Planungen den Bedingungen des modernen Arbeitslebens die ihnen gebührende Rücksicht zu versagen und einer Bildung unter der Glasglocke der Innerlichkeit das Wort zu reden. Die Antinomie muß sich ihnen aufdrängen, wenn anders sie den Menschen nicht über der Sache vergessen.

11. Umgang mit Außermenschlichem

Begegnende Natur Welche Aufgaben der Erziehung mit dem Problem des rechten Umgangs gestellt sind, das haben wir uns an derjenigen Lebenssphäre verdeutlicht, in der der Umgang das Höchstmaß von seelenbannender Eindringlichkeit erreicht: an der Sphäre der zwischenmenschlichen Beziehungen. Vergessen wir aber nicht, daß das Lebensverhältnis, welches wir in dem terminus „Umgang“ zu fassen versuchten, sich auch in den Beziehungen realisiert, die den Menschen mit der Wirklichkeit des Außer-und Untermenschlichen, der belebten und der unbelebten Natur, verknüpfens Konnte doch Goethe die Eigenart dieses Verhältnisses an einem so neutralen, d. h. alle Lebensgebiete übergreifenden Phänomen, wie die Farbe es darstellt, zur Anschauung bringen.

Wie sehr auch in diesen Bereichen der Umgang Gefahr läuft, durch die Wucht der Sachbezüge erdrückt zu werden, kann niemandem entgehen, der bemerkt, wie stark die Seele des modernen Menschen sich durch die der Sachsphäre entstammenden Formen der Wirklichkeitserfassung und Wirklichkeitsbehandlung hat in Beschlag nehmen lassen. Lim so unübersehbarer die Verpflichtung, die der Bildungsarbeit aus der auch hier drohenden Verkümmerung der nur im Umgang zu gewinnenden Erfahrungen erwächst! Goethes Bemühen, dem Menschen für die „Sprache der Natur“ die Ohren zu öffnen, hat wahrlich an Aktualität unerhört zugenommen in einem Zeitalter, das alles tut, um die den Menschen durch ihre Anrede suchende Natur, die Natur der Farben, Formen, Klänge, Stimmungen, hinter der wissenschaftlich rubrizierten und technisch disziplinierten Natur verschwinden zu machen. Der Mensch von heute muß daran erinnert werden, daß die Natur mehr ist als ein gigantisches Rechenexempel und ein unerschöpfliches Kräftereservoir. Er muß wieder den Zugang zu den Erschütterungen und Erhebungen gewinnen, die nur der Umgang mit ihr dem aufnahmebereiten Gemüt gewährt. Und wenn er ihn gewinnt, dann wird sich das bestätigen, was oben in allgemeiner Form festgestellt wurde: daß der aus der Entfremdung wiederhergestellte LImgang nicht dasselbe ist, was er vor Eintritt der Entfremdung war. Er ist, weil auf einem Umweg wiedererworben, der naiven Selbstverständlichkeit enthoben, wird mit gesteigerter Bewußtheit genossen und mit verstärkter Beflissenheit durchgebildet.

Kunst Daß die neue Naturverbundenheit diesen Zug von Reflektiertheit an sich hat — daß sie sich in diesem Sinne zu „vergeistigen“ vermochte: dies ist es, was uns begreifen läßt, daß der Umgang mit der Natur einer bestimmten Richtung des Schaffens zum Ursprungsort und Nährboden werden konnte. Wiederum ist es schon Goethe gewesen, der den hier vorliegenden Zusammenhang in voller Klarheit gesehen hat. Denn es ist kein Zufall, daß die Problematik der dem Umgang investierten Farbe ihm aufgegangen ist nicht in der Beschäftigung mit der Farbe der noch unberührten Natur, sondern im Nachdenken über die Funktion, die die Farbe in der Malerei ausübt. Er fragt nach ihrem Beitrag zur Gestaltwerdung der Kunst.

Es ist eine in die Tiefe dringende Einsicht, durch die Goethe dazu vermocht wird, die dem Kunstwerk einverleibte Farbe so eng mit der im Umgang sich darbietenden zu verknüpfen, ja geradezu die Eigenart dieser sich durch jene erhellen zu lassen. Es ist die Einsicht, daß die Kunst mit der im LImgang begegnenden Natur in einem Verhältnis steht, dessen Innigkeit gerade dann am schlagendsten hervortritt, wenn es mit dem Verhältnis verglichen wird, daß zwischen derselben Natur und der objektivierenden Wissenschaft obwaltet. Ohne Übertreibung darf man sagen, daß die Wissenschaft einerseits, die Kunst andererseits von der im Umgang begegnenden Natur her, die für die eine so gut wie für die andere die Ausgangslage bildet, den entgegengesetzten Weg einschlagen. Die Wissenschaft bringt, je strenger sie das Verfahren der Objektivierung und Formalisierung durchführt, um so gründlicher die im Umgang erfahrenen und als Ansprache der Natur vernommenen Qualitäten der Welt zum Verschwinden. Die ausdrückliche Desavouierung dieser Qualitäten, zu der sich ihre Wegbahner verpflichtet glaubten, ist das Siegel auf diesen Bruch mit der Welt des Umgangs. Genau umgekehrt die Kunst! Sie ist in jeglicher Gestalt so ferne davon, sich der im LImgang, und das heißt: der im ganzen Reichtum ihrer Qualitäten begegnenden Welt versagen zu wollen, daß sie die ihr zu dankenden Eindrücke liebend aufgreift, mit der Kraft der Gestaltung zu höchster Beredsamkeit empor-steigert und so den LImgang mit der Welt durch die Segnung des Genius rechtfertigt und verklärt. Wer es dem Respekt vor der objektivierenden Wissenschaft schuldig zu sein glaubt, dem Umgang jede daseinserhellende Kraft und damit seine „Wahrheit“ abzusprechen, der sollte bedenken, daß er damit zugleich die Kunst, diese sublimste Verdichtung des im Umgang mit der Welt Erfahrenen, zum müßigen Gaukelspiel herabwürdigt!

Die Erziehung zur Kunst und in der Kunst hat also nicht bloß die Aufgabe, den werdenden Menschen mit einer der großen Grundformen menschlichen Schaffens vertraut zu machen. Sie hat, darüber hinaus, einer Entwicklung entgegenzuarbeiten, die dahin tendiert, durch Liberwuchern der Sachbindungen die sich als Umgang realisierende Beziehung von Mensch und Welt dem Schicksal der Auszehrung zu überantworten. Von den Gestalten der Kunst in den Bann geschlagen, soll der Mensch in dem Weltvertrauen bestärkt werden, das ihm unter den Suggestionen einer der Sache verfallenden Kultur mehr und mehr verloren zu gehen droht.

In dem Gegensatz, der die Gestalten bildende Kunst von der die Sache nutzenden Zivilisation trennt, tritt uns noch einmal die Antinomie entgegen, von der das Leben des modernen Menschen beherrscht wird. Und vielleicht kommt der Abstand, der das „Bildungs" bemühen des Menschen von heute von dem im Zeitalter der Klassik möglichen und üblichen trennt, in nichts so klar zum Ausdruck wie in dem Wandel der Deutung, durch welchen der Kunst ihr Anteil an der Gestaltung des Lebens gesichert werden soll. Damals konnte die Kunst als die segnende Göttin gefeiert werden, in deren Himmel sich der Mensch von den Befleckungen neuzeitlicher Zivilisation reinigen dürfe. Heute gilt dieselbe Kunst uns als der eine Pol eines übergreifenden Verhältnisses, das als unverdrängbaren Gegenpol die Macht der die Welt entgötternden Zivilisation in sich befaßt. Im Zeichen dieser Polarität leben zu müssen ist das Schicksal, dem nicht sowohl auszuweichen als vielmehr standzuhalten der Mensch durch seine „Bildung“ befähigt werden soll.

Sprache Eine Erziehung, die ihre Zeit versteht, kann heute gar nicht anders als, je folgerichtiger in Theorie und Praxis die Sache die menschlichen Energien in ihren Dienst zwingt, um so angelegentlicher darauf hinarbeiten, daß die dem Umgang vorbehaltenen Eindrücke, Erfahrungen, Erhebungen in ihrer unverkürzten Eigenheit, und das heißt: in ihrem polaren Gegensatz gegen die Formen der Sachdienstbarkeit durchlebt, verstanden, ausgeschöpft werden. Wir können heute wissen, daß das eine dem anderen aufopfern oder in das andere auflösen zu wollen einer Selbstzerstörung unserer Existenz gleichkäme.

Wir fassen zum Abschluß ein Phänomen ins Auge, das deshalb unsere besondere Aufmerksamkeit verdient, weil es sowohl die innere Zusammengehörigkeit als auch die unauflösbare Gegensätzlichkeit des Einen und des Anderen mit unvergleichlicher Prägnanz zur Darstellung bringt. Dieses Phänomen ist die Sprache -

Von der „Sache“ ist nicht abzutrennen die Sprache, in der sie niedergelegt und fixiert ist. Die Wortbezeichnung ist nicht die nachträgliche Etikettierung einer Sache, die bereits in wortloser Form in Besitz genommen wäre. Vielmehr sind Profilierung der Sache und Präzisierung des sie bezeichnenden Wortes nur zwei Seiten eines und desselben Vorgangs. Es würde keine mathematische Naturwissenschaft geben ohne die Ausdrücke, in denen ihre Entdeckungen sich gestalten. Es würde keine Technologie geben ohne die Ausdrücke, in denen ihre Anweisungen ergehen. Es würde keine Organisation der Arbeit geben ohne die Ausdrücke, in denen ihre Ordnungen vorgeschrieben werden. In jeder dieser Formen des Gebrauchs ist die Sprache gekennzeichnet durch die Eigentümlichkeiten, die auch dem durch sie Bezeichneten zukommen. Sie ist die Sprache der vollendeten „Sachlichkeit". Aus ihr ist mit unerbittlicher Folgerichtigkeit alles ausgeschieden, was die Reinheit der Sache durch Beimischung von außersachlichen, d. i. „menschlichen“ Motiven trüben könnte. Zu letzter Vollkommenheit dringt diese „ent-menschte" Sprache durch in jener Geistesschöpfung, in der die Sache gleichsam Leib geworden ist: in der Formel. Daß die Formel sich sogar der Bindung zwar nicht an die Sprache überhaupt, wohl aber an eine bestimmte Sprache entziehen und zu einer für alle Sprachgemeinschaften ohne LInterschied verständlichen und verbindlichen Gestalt sublimieren kann: das ist das klarste Zeugnis dafür, wie sehr sich die der Sadie zugeordnete Sprache von aller Inhaltlichkeit des konkreten Lebens emanzipiert.

Allein wenn wir oben feststellten, daß die Sache von Menschen nicht als ein bloß Hinzunehmendes und Aufzugreifendes vorgefunden wird, daß sie nicht am Anfang steht, sondern durch eine unerhörte Anspannung des Denkens aus dem Grunde einer vor-sachlichen Weltverbundenheit herausdifferenziert werden muß, so gilt von der Sprache, in der die Sache sich ausdrückt, genau das gleiche. Auch sie ist nicht ein Anfängliches, sondern herausentwickelt aus dem Grunde einer anfänglichen Sprache, die deshalb jeder sachlichen Präzision entbehren mußte, weil sie nur im Durchleben ursprünglicher Weltverbundenheit, nur im Erfahren der durch sie heraufbeschworenen Gesichte, ins Dasein treten und Gestalt gewinnen konnte. Diese im Angesicht und unter dem Anruf der Welt gewordene und immerfort werdende Sprache — sie führt herkömmlicherweise einen Namen, in dem wir eine nachträgliche Rechtfertigung der von uns gewählten Terminologie finden können. Sie heißt: die „Umgangs" -Sprache. Sie ist mit all ihren Eigentümlichkeiten ein unüberbietbar eindrucksvolles Dokument jener Beziehung von Mensch und Welt, für die wir keinen besseren terminus zu finden wußten als eben „Umgang“. In ihr gewinnt ein Lebenszustand Zunge, der alle dem Spätling geläufigen Scheidungen und Unterscheidungen: Theorie und Praxis, Wirklichkeit und Wert, Sein und Sollen, Mittel und Zweck, Zweckmäßigkeit und Schönheit, Schönheit und Heiligkeit, noch vor sich hat.

Diese Sprache muß im Umgang mit der Welt ihr Wunderreich von Formen begründet haben, damit aus ihr kraft derselben Anspannung, die aus der Welt die Sache herauspräpariert, auch die zur Sache gehörige Sprache, zuhöchst die Sprache der Formel, herausdestilliert werden könne. Es ist ein und derselbe Prozeß, in dessen Vollzug die Sache selbst und die Sachsprache sich aus dem im Umgang webenden Lebens-geschehen herauslösen.

Lind endlich sehen wir auch insofern das uns von der Sache her vertraute Grundverhältnis wiederkehren, als, auch wenn die Sachsprache den höchsten Grad von Vollendung erreicht hat, die Sprache des Umgangs nicht etwa, weil durch Vollkommeneres entbehrlich gemacht, das Feld räumt, sondern in voller Wirksamkeit bleibt, ja, weil vom Gegen-extrem der Sachsprache sich absetzend, sich ihrer Eigenart und ihres Eigenrechts erst recht bewußt wird.

Wie sehr ihr solches Selbstbewußtsein ansteht, lehrt die Überlegung, daß nur aus dem Mutterboden der Umgangssprache diejenige Kunst erwachsen kann, die an der Sprache ihr Medium und ihr Organ hat: die Dichtung. Wollte die Umgangssprache abdanken, so müßte mit ihr die Dichtung von der Bildfläche verschwinden. Wie denn umgekehrt die der Sache dienstbare Sprache ihre Abkehr von der Welt des Umgangs in nichts so deutlich bezeugt wie in der der systematischen Ausscheidung jedes Wesenszuges, an den das dichterische Gestaltungsvermögen anknüpfen könnte. Die Sachsprache ist die ex professo amusische Sprache.

So findet in dem Gegeneinander von Sachsprache und dichterischer Sprache, von denen die eine so gut wie die andere in unserem Leben ihren Platz beanspruchen darf, die Antinomie des Menschlichen ihren schärfsten Ausdruck. Und zum letzten Male enthüllt sich uns die Abwegigkeit jener sublimierten Selbstsucht, die durch die Sezession in das Reich des „reinen“ Geistes den Widerspruch zum Verstummen bringen möchte. Denn unter den geistigen Mächten, die, wie man meint, nur in dem Abseits dieses geistgeweihten Bezirks ihre menschenerlösende Sendung erfüllen können, steht natürlich die Kunst und mit ihr die Dichtung in vorderster Linie. Aber eine Dichtung, die sich durch ihr ästhetisches Gewissen zur Absage an die Welt der sachgebundenen Arbeit verpflichtet glaubt, sucht sich damit aus einer Spannung zu lösen, deren Unaufhebbarkeit sie durch ihre eigene im gleichen Spannungsfelde stehende Sprache bezeugt. Sie trägt, sich dergestalt absondernd, an ihrem Teil dazu bei, den Menschen der Wirklichkeit zu entfremden, deren Gegensätze er sehen und bestehen muß, um nicht von ihnen verschlungen zu werden.

Abschluß Wir fanden uns genötigt, die unserem Zeitalter gemäße Auffassung von Menschlichkeit und Menschenbildung in aller Klarheit von derjenigen abzuheben, die als Vermächtnis unseres klassischen Zeitalters auf uns gekommen ist. Wenn wir uns erinnern, mit welcher Zähigkeit die einmal eingebürgerten Bildungsideen auch dann in den Gemütern zu haften pflegen, wenn die geschichtliche Gesamtbewegung zusehends von ihnen wegführt, dann wundern wir uns nicht über die Kraft der Widerstände, denen jeder Versuch einer den Umständen Rechnung tragenden Berichtigung begegnet. Wer einer solchen Richtigstellung das Wort redet, der darf gewiß sein, daß er der pietätslosen Neuerungssucht, der frevelnden Erhebung wider die heiligsten Überlieferungen, der schmählichen Kapitulation vor den Gewalten der Stunde schuldig gesprochen wird. Es kann ihm passieren, daß er kurzerhand den Anbetern des Götzen „Fortschritt" eingereiht wird, lind ganz sicher wird ihm dies Schicksal dann widerfahren, wenn er sich nicht gescheut hat, die mit diesem Worte bezeichnete Bewegungsform als Lebensgesetz bestimmter Kulturgebiete ausdrücklich anzuerkennen.

Allen möglichen Anklagen dieses Inhalts gegenüber stellen wir die Frage, ob die Auseinandersetzung mit dem Bildungsideal der Klassik, die hier vorgenommen worden ist, richtig verstanden wird, wenn man sie als Bruch mit diesem Ideal, als Heraustreten aus der von ihm herkommenden Überlieferung verurteilt. Das Recht dieser Auslegung muß schon dann zweifelhaft werden, wenn man sich erinnert, daß wir uns doch nicht deshalb so eingehend mit den Gestaltungen jenes Ideals beschäftigt haben, um zu der unserem Zeitalter gemäßen Ansicht des Menschlichen ein negatives, ein in jedem Zuge zu verwerfendes Gegen-bild zu gewinnen. Im Gegenteil: den Hintergrund dieser Auseinandersetzung bildete die Gewißheit, daß wir auch mit dem, was wir gegen das Festhalten an jenem Ideal einzuwenden haben, im Zuge der von ihm ausgehenden Überlieferung zu stehen nicht aufhören. Dies eben ist doch das von Hegel aufgedeckte Geheimnis des Geistes, daß er seinen Reichtum ausbreitet, indem er sich gegen die bereits zurückgelegten Stadien seines Werdens kehrt, nicht um sich von ihnen loszureißen und wieder von vorne anzufangen, sondern um aus ihnen hervorzuholen, was an nicht bewältigten, aber nach Bewältigung verlangenden Widersprüchen in ihnen enthalten war. Und von unserer Darlegung werden wir doch wahrlich behaupten dürfen, daß sie alles getan hat, um das ins Licht zu rücken, was in der Ideenwelt unserer Klassik an Ahnungen kommender Entzweiung und Weisungen zu ihrer Bemeisterung enthalten ist.

So ist unser Bestreiten zugleich ein Bewahren. Und es darf vielleicht gefragt werden, wer Überliefertes besser zu hüten weiß: wer es, und sei es auch in schneidendem Widerspruch zu der ihr Antlitz wandelnden Zeit, ohne Abstrich zu konservieren sich verpflichtet glaubt, oder wer es mit den Forderungen der kein Ausweichen duldenden Lage in eins zu bilden sich bemüht. Wenn ein Geschlecht in eine Entwicklung hineingeworfen ist, die mit einer so atemberaubenden, so alle Voranschläge überrennenden Vehemenz vorwärts stürmt wie die uns mit sich reißende, dann kann es sich nicht den Luxus leisten, seine Jugend im Zeichen eines Ideals heranzubilden, das die als Triebkraft wirkenden Mächte entweder ignoriert oder diskreditiert, statt sie einer neuen Gesamtansicht sinnvoll einzuordnen. Ob und wie „Menschlichkeit“ auch unter den Bedingungen des modernen Arbeitslebens erhalten werden kann, das vermag nur zu entscheiden, wer diese Bindungen zu erkennen imstande und anzuerkennen bereit ist.

Anmerkung Dr. Dr. h. c. Theodor Litt, ordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik an der Universität Bonn, geb. am 27. Dezember 1880 in Düsseldorf.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Naturwissenschaft und Menschenbildung, S. 108 ff.

  2. M. S c h e 1 e r hat, indem er von dem „Bildungswesen" in strenger Disjunktion das „Leistungs-und Herrschaftswissen“ abtrennte, zur Verbreitung dieser Auffassung wesentlich beigetragen.

  3. T h Litt, Die Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen, Wiesbaden 1948

  4. Mensch und Welt, S. 121 ff.

  5. Mensch und Welt S.138ff

  6. Zu 6. H. N o h 1, Die zweifache deutsche Geistigkeit und ihre pädagogische Bedeutung, in: Pädagogik aus dreißig Jahren, Frankfurt 1949, S. 190 ff. H. Weinstock, Die Tragödie des Humanismus 2, Heidelberg 1954.

  7. Zu 7. P.de Mendelssohn, Der Geist in der Despotie, Berlin-Grunewald 195 3. Daselbst reichliche Proben der im Folgenden zu behandelnden Denkweise.

  8. Die Selbsterkenntnis des Menschen, S. 11 ff. Denken und Sein, S. 147 ff.

  9. Mensch und Welt, S. 70 ff.

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