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Friedrich Schiller. Zu seinem 150. Todestag am 9. Mai 1955 | APuZ 19/1955 | bpb.de

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APuZ 19/1955 Friedrich Schiller. Zu seinem 150. Todestag am 9. Mai 1955 Zwischen Lechfeld und Baranow. Tausend Jahre deutscher Ostgeschichte an Hand dreier Jubiläen

Friedrich Schiller. Zu seinem 150. Todestag am 9. Mai 1955

Benno von Wiese

Kein deutscher Dichter ist von der Mit-und Nachwelt so überschwenglich gefeiert, aber auch so maßlos getadelt worden wie Friedrich Schiller. Mehr als die Kritik seiner Gegner hat ihm das Lob seiner Verehrer geschadet. Seit den Festreden von 18 59 ist das Bild Schillers immer wieder zu Gunsten des Trivialen und aktuell Politischen verfälscht worden. Bereits Adalbert Stifter hat vor der bedenklichen Popularität Schillers gewarnt. Manches bei Schiller schien ihm „falscher Glanz“ zu sein, der das Übel der Sentenzen, Phrasen und Hohlheiten begünstigt habe. Aber Stifter wußte auch, daß sich Schillers Bedeutung darin keinesfalls erschöpft. „Noch immer wird Götzendienst mit Schiller getrieben,“ schreibt er, „und ich fürchte, nicht mit dem großen Schiller, sondern mit dem fütternden.“ Solche und ähnliche Stellen in Stifters Briefen hatte sich Nietzsche in dem Exemplar, das er besaß, mit Bleistift angestrichen. Schiller hatte von Jugend an genug Selbstkritik, um die Gefahr zu erkennen, die gerade seine Macht über die Bühne für ihn bedeutete. Noch in einem seiner letzten Briefe, dem an Wilhelm von Humboldt vom 2. April 1805, heißt es: „Anfangs gefällt es, den Herrscher zu machen über die Gemüter; aber welchem Herrscher begegnet es nicht, daß er auch wieder der Diener seiner Diener wird, um seine Herrschaft zu behaupten; und so kann es leicht geschehen sein, daß ich, indem ich die deutschen Bühnen mit dem Geräusch meiner Stücke erfüllte, auch von den deutschen Bühnen etwas angenommen habe.“

INHALT DIESER BEILAGE

Goethe hat von Schiller gesagt, daß er von ihnen beiden die aristokratischere Natur gewesen sei. Das steht zu Schillers Popularität in einem merkwürdigen Gegensatz. Was ihn jedoch in erster Linie auszeichnet, ist das Großartige. „Großartig“ nannte ihn Goethe, „auch wenn er sich die Nägel beschnitt.“ Schillers Wesen hat etwas verwegen Kühnes, ja Gewaltsames, das sich in keine Formel und am wenigsten in die des bürgerlichen Familiendichters pressen läßt. Man sollte sich abgewöhnen, in erster Linie in ihm nur den Dichter des Liedes von der Glocke zu sehen.

Der Umgang mit Schiller hat immer etwas Gefährliches. Hugo von Hofmannsthal hat das gewußt, als er ihn bereits im Jahre 1905 als „Anwalt“ und als „Konquistador“, als erobernden „Abenteurer“ — im höchsten Sinne des Wortes — gedeutet hat, der die Weltanschauungen durchstürmt und sich in ihnen einrichtet wie in unterjochten Provinzen. Schillers Gestalten führen und verführen zugleich. Immer steckt in seinem Moralismus ein verborgener Immoralismus, der dem großen Entschluß, dem großen Abenteuer oder auch dem großen Untergang nachjagt. Immer sucht aber auch der Immoralist nach den höchsten Werten, die unser Dasein auf Erden zu adeln vermögen.

Von hier aus erklärt sich die suggestive Anziehungskraft, die die Gestalt des Verbrechers für Schiller gehabt hat. Das naive szenische Modell für die Schillerschen Dramen ist in fast allen Fällen die Kriminalgeschichte. Aber es gehört zum Paradox des Schillerschen Interesses am Verbrecher, daß ihm dieser gerade wegen der höchsten sittlichen Möglichkeiten so wichtig ist. Denn es kostet den „konsequenten Bösewicht nur einen einzigen Sieg über sich selbst, eine einzige LImkehrung der Maximen . . ., um die ganze Konsequenz und Willensfertigkeit, die er an das Böse verschwendete, dem Guten zuzuwenden“ (Aus Schillers Schrift „Über das Pathetische“). Reue, Selbstverdammung, heroische Verzweiflung sind für Schiller moralisch erhabene Phänomene; das Einstehen für das Sittengesetz ist nicht eine Sache des gemeinen Mannes und seiner rechtschaffenen Einsicht, sondern verlangt den höchsten aristokratischen Adel des Menschen. Wer auf gewaltsame Weise in die Irre ging, vermag dennoch aus freiem Entschluß, wenn auch meist nur mit dem Opfer des eigenen Lebens, wieder zum Anwalt einer ewigen Gerechtigkeit zu werden. Die Radikalität der Entscheidungen, vor die der Mensch gestellt ist, die jähen Umbrüche vom Guten zum Bösen oder mehr noch vom Bösen zum Guten, das sind die psychologischen und theologischen Themen, die seit seinem Räuber Karl Moor, der ein Don Quichote und ein gefallener Engel ist, Schiller immer wieder beschäftigt haben.

In erster Linie war Schiller Dramatiker, aber auch als Lyriker, Prosa-ist, Historiker und Philosoph wendet er sich stets an das weiteste Forum. Selbst seine persönlichsten Briefe gehen noch über das Private hinaus. Er hat wie kaum ein anderer Deutscher die Sache der Menschheit zu seiner eigenen gemacht. Nicht nur die Bühne, auch die Darstellung großer geschichtlicher Vorgänge oder das spekulative Ringen um eine gültige Wahrheit wird bei ihm zum Gerichtshof, zum „Tribunal“, auf dem über Heil und LInheil im irdischen und im ewigen Bereich der Menschheit entschieden wird. Oft freilich hat das Wort dabei eine solche Gewalt, daß es sich gleichsam verselbständigt hat und durch seinen rednerischen oder auch empfindsamen Glanz bestrickt und verführt. Hier beginnen Schillers Gefahren. Dann werden auch seine dramatischen Gestalten allzu konstruktiv und vieldeutig und bekommen etwas merkwürdig Schweifendes und Unbestimmtes, so daß man den Kern nicht mehr recht greifen kann, aus dem sie herauswachsen. Aber sie alle besitzen etwas, was ihnen Schiller nur aus seiner eignen Natur heraus mitgeben konnte und was auch ihrer Rhetorik eine besondere Schwung-und Strahlungskraft gibt: nämlich Größe.

Wie eine Legende: Die Geschichte seiner Jugend Größe hat nicht nur das Schillersche Wesen, sondern auch der Stil seines Lebens. Wie eine Legende ist vor allem die Geschichte seiner Jugend immer wieder nacherzählt worden. Bereits in der Militärakademie erwacht sein ursprüngliches Gefühl für die höheren Sphären des Daseins, das ihn über die engen, dumpfen Kreise des alltäglichen Lebens hinausträgt. Am Widerstand gegen die Akademie erlebt er die Spannung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft. Hier bereits lernt es Schiller, den Menschen als ein politisches Wesen zu sehen, das immer schon in bestimmte, eingeschränkte Konstellationen hineingestellt ist, aber mit der Kraft der Begeisterung sich in ihnen oder auch gegen sie behauptet. „Neigung für Poesie beleidigte die Gesetze des Instituts, worin ich erzogen ward und widersprach den Plänen seines Stifters. Acht Jahre lang rang mein Enthusiasmus mit der militärischen Regel.“ Wie eine mythische Erinnerung lebt Schillers Flucht aus der Akademie, mit der er sich dem Herrschaftsbereich des Herzogs Karl Eugen entzog, im Gedächtnis der Nachwelt. Wieviel Mut und Geisteskraft gehörte dazu, um ein der Unsicherheit und Gefährdung preisgegebenes Leben nur für die Dichtung zu wagen! — Der Dichter als Held, der Held als Dichter.

Wohl ist Schillers Leben später beruhigter und ausgeglichener. Die Existenz als Ehemann, Vater, Bürger und Professor gibt trotz aller wirtschaftlichen Sorgen einen zuverlässigen, beständigen Halt im Dasein. Aber nie verläßt ihn das Bewußtsein eines frühen vorzeitigen Endes. Schon in den Gedichten des jungen Schiller spüren wir die Schwermut des Todes. „Aus dem Frühling der Natur, aus dem Leben, wie aus seinem Keime wächst der ew’ge Würger nur.“ Immer wieder beschäftigt den Mediziner und den Dichter Schiller der unüberwindliche Zwiespalt von Geist und Stoff, von moralischer Selbstbestimmung und Versklavung an die Sinnenwelt. Immer wieder fragt er sich von neuem, wie es möglich ist, daß der selbstherrliche, freie, enthusiastische Geist „an das starre, unwandelbare Uhrwerk eines sterblichen Körpers geflochten“ ist. Dennoch konnte er, trotz aller Verzweiflung an der Vergänglichkeit des Irdischen, nicht aufhören, auf dem Wege der Spekulation den Trost einer ewigen Harmonie und Vollendung zu suchen. Der Pessimismus des jungen Schiller befindet sich im ständigen Widerstreit mit einem Optimismus, der sich das ganze Weltall vom Geist der Liebe beseelt wünscht.

Der Widerstreit von Geist und Körper gehört zum Stil des Schiller-sehen Lebens: Herr zu werden über alles Stoffliche und sei es auch mit der gewaltsamsten Anstrengung, alles irdisch Vergängliche in der reinen Flamme des Geistes zu verzehren. Mehr als einmal sah sich Schiller gezwungen, dem Tod „ins Gesicht“ zu sehen und seinen Mut dadurch zu stärken. Im Bewußtsein seiner Sendung als Dichter mußte er sein Werk dem lähmenden Widerstand eines kranken Leibes buchstäblich abringen. Der Vierunddreißigjährige schreibt jene großartig stolzen und doch auch wieder beklemmend traurigen Sätze an Goethe, die uns zeigen, daß Schiller seine Theorie des Erhabenen nicht nur gedacht, sondern auch gelebt hat. „Leider aber, nachdem ich meine moralischen Kräfte recht zu kennen und zu gebrauchen angefangen, droht eine Krankheit meine physischen zu untergraben. Eine große und allgemeine Geistesrevolution werde ich schwerlich Zeit haben in mir zu vollenden, aber ich werde tun, was ich kann, und wenn endlich das Gebäude zusammenfällt, so habe ich doch vielleicht das Erhaltungswerte aus dem Brande geflüchtet.“

Schiller starb mit fünfundvierzig Jahren. Es wird für immer ein Geheimnis bleiben, wie es ihm gelingen konnte, in einer solch gedrängten und ständig von Gefahren bedrohten Lebensspanne ein Werk zu schaffen, wie er es hinterlassen hat: eine Dramatik, die nicht nur in wachsendem Maße mit einer Art technischer Meisterschaft das Handwerk der Bühne beherrschte, sondern auch einen solchen universalen Gehalt besaß, daß die Bühne zum Gleichnis für das Verhältnis des handelnden Menschen zu den unerforschlich waltenden Mächten werden konnte; eine Geschichtsdarstellung, die die Schicksale von Nationen wie große Epen vor uns abrollen läßt und sie zugleich mit der höchsten psychischen Spannkraft erfüllt; eine Philosophie des Schönen, die so endgültige Dinge über Form und Inhalt, über Kunst und Volk enthält, daß sie ebenbürtig neben der Philosophie der Griechen steht und bis heute nicht wieder erreicht wurde; eine Lyrik, die sich vom sinnlich Massiven, vom Schwülstigen und Geschmacklosen hinaufzuläutern vermochte bis zu jener Schwerelosigkeit und freien Anmut, die aus dem „Dämonischen“ der reinen Geistesflamme stammt — aller widerstrebende Stoff ist verzehrt, so daß nur noch das Licht dieser Flamme selbst leuchtet in seiner kaum mehr erträglichen überirdischen Reinheit und Klarheit. Gab es je einen Lyriker, der so vom Stoffe bedrängt war wie Schiller? Aber gab es auch je einen, dem es in seiner weiteren Entwicklung so gelang, das Zuviel an Stoff zu vernichten in der reinen Form? Welch ein Paradox, daß Schiller sogar das Gedicht — und was wäre mehr Eingebung und Ge-schenk als dieses? — noch zu zwingen vermochte, sich der Gewaltsamke'seines Geistes zu beugen!

Schillers Popularität ein Mißverständnis Aber das größte Geheimnis bleibt Schillers moralische Existenz. Sie ist am stärksten seit Nietzsches bösem Wort vom Moraltrompeter von Säckingen bis heute der Mißdeutung ausgesetzt gewesen. „Bürgerlicher Liberalismus“, „patriotischer Humanismus“, „freiheitlicher Nationalismus“, diese und andere Formeln mußten herhalten, um für Schillers „Popularität“ zu sorgen oder umgekehrt seinen Genius anzufeinden. Ich behaupte, daß Schillers Popularität ein weitgehendes Mißverständnis ist. Das Großartige seiner Natur vermag viele zu ergreifen, aber seine Gedanken werden nur von wenigen verstanden. Es wäre durchaus nicht in seinem Sinne gewesen, als „Volkstribun“ gefeiert zu werden. Es gibt kaum eine schwierigere, aber auch nicht so leicht eine erregendere Lektüre als seine philosophischen Schriften und seine Gedankenlyrik. Die Dramen Schillers wiederum sind ebenso wie seine Balladen populär durch ihre sinnlichen Effekte, ihre bunten Lichter, ihre dialogisch zugespitzte Spannung, ihre fast reißerische Nähe zur Kriminalgeschichte. Wo Schillers „Ideen“ populär wurden, handelt es sich fast immer um eine Verfälschung. Man hielt sich an den rhetorischen Schwung seiner Worte, ohne die gewaltigen, auch denkerischen Anstrengungen seines Geistes nachzuvollziehen. Nur wenige vermochten zu sehen, wie in Schillers Dramen ein aristokratischer Geist alle theatralischen Mittel der suggestiven Beeinflussung lediglich darum virtuos benutzte, um die unbedingte Freiheit des Geistes in dieser so durch und durch bedingten Welt unseres irdischen Daseins zu ertrotzen. Nur wenige erkannten die furchtbaren Anfechtungen und Gewissensentscheidungen, denen die Schillerschen kleiden ausgesetzt waren, diese verirrten großen Seelen, in denen die Frage nach dem Höchsten niemals verstummt. Der letzte Zweck der Tragödie war für Schiller „die Darstellung des Übersinnlichen“. Auch Schillers „Moralität“ hat wie sein ganzes Wesen etwas Pro-metheisches. Er ist sittlich bis zum Vermessenen und Abenteuerlichen. Er stellt an den Menschen die Forderung, in dieser vom Widergöttlichen bedrohten Erde dem Göttlichen erst zu seiner Geburt zu verhelfen. Die „Menschwerdung des Heiligen“, der „Übergang des Menschen in den Gott“, das ist Schillers eigentliche Thematik, die auch noch den politischen Dichter stets vor theologische, wenn auch keineswegs eindeutig christliche Entscheidungen stellt. Soweit sich seine Gestalten auf das Abenteuer der höchsten sittlichen Forderungen einlassen, müssen sie es alle mit dem Tragischen bezahlen. Auch noch in der Anerkennung des bürgerlichen Lebensraumes und seiner typischen, ins Ideelle stilisierten Formen bleibt bei Schiller das gefährlich Großartige und erhaben Welt-lose seiner Existenz erhalten. Bereits das Porträt Schillers faszinierte Jean Paul, „schlug wie ein Blitz“ in ihn ein. „Es stellt einen Cherubin mit dem Keime des Abfalls vor, und er scheint sich über alles zu erheben, über die Menschen, über das Unglück und über die Moral. Ich konnte das erhabene Angesicht, dem es einerlei zu sein schien, welches Blut fließe, fremdes oder eigenes, gar nicht satt bekommen.“ Die Idee der Freiheit Vielleicht kann man als den elementarsten Instinkt Schillers seinen Willen zur Freiheit nennen. Sogar dem moralischen Gesetz sagte er seine Gegnerschaft an, wo es ihm erdrückend und versklavend gegen-übertrat. Schillers Liebe zum Schönen wurzelte darin, daß das Schöne den Menschen bereits in der Sinnenwelt frei zu machen vermag oder ihm zum mindesten die Illusion der Freiheit schenkt; seine Liebe zum Erhabenen darin, daß nur durch das Erhabene der Mensch noch über die Sinnenwelt hinaus seine Freiheit zu einer ganzen und vollständigen zu erweitern vermag. Erst so gelangt Schiller zu seinem universalen Begriff vom Menschen. Gerade die Idee der Freiheit aber hat zu den schlimmsten Mißdeutungen Schillers geführt. Wer verstehen will, was für ihn Freiheit bedeutet, muß zuerst imstande sein, den Adel seines Wesens zu empfinden. Denn niemals, auch in seiner Jugend nicht, hat Schiller Freiheit in einem nur materiellen Sinne ausgefaßt. Das war ihm schon darum unmöglich, weil er gerade das Stoffliche unseres Daseins im Sinnbild der Gefangenschaft, des Kerkers erlebte. Gewiß hat besonders der junge Schiller etwas von einem Rebellen, ja von einem Verschwörer an sich. Niemand wird in „Kabale und Liebe“ die Auseinandersetzung mit den sozialen Verhältnissen seiner Zeit leugnen wollen. Bezeichnet man jedoch dieses Drama als das bloße Tendenzstück eines politischen Revolutionärs, so verkennt man das religiöse Anliegen, das in dieser Dichtung ebenso wie in den „Räubern“ zum Austrag gelangt. Eine auf Macht, Berechnung und Maske aufgebaute Welt des Bösen wird in ihrer Begrenzung aufgedeckt und damit im tragischen Prozeß widerlegt. Gerade in dem Augenblick, als sie zu triumphieren glaubt, ist sie auch schon gerichtet, und die ewige Gerechtigkeit der Nemesis setzt sich im Weltlauf selbst, noch über die kämpfenden Parteien hinweg, in der Schlußszene dieses bürgerlichen Trauerspiels durch, in der Schiller den Untergang einer wehrlos preisgegebenen Familie in ein eschatologisches Weltgericht verwandelt hat.

Es ist sicher nicht falsch, wenn man sagt, daß in Schillers Dramen die Idee der Freiheit eine zentrale Bedeutung hat. Falsch jedoch ist es bereits, wenn man ihn als Freiheitsdichter der deutschen Nation beansprucht. Dann verwechselt man ihn mit seinen Epigonen, mit Theodor Körner oder mit Herwegh. Die Idee der Freiheit hatte für Schiller eine zentrale, auf die ganze Menschheit bezogene Bedeutung. Auch im Freiheitskampf des „Wilhelm Teil“ bleibt das an den Augenblick gebundene politische Handeln, des Einzelnen wie des Volkes, mit dem ewigen Welt-gesetz verknüpft. Auch hier geht es in der Verteidigung geschichtlich gewachsener Rechte, des in Leid und Arbeit erworbenen geschichtlichen Bodens und der gemeinsamen politischen Lebensformen, zugleich um ewige, übersinnliche Rechte und Pflichten der Menschheit.

Alles nur Stoffliche zu überwinden, ist für Schiller das Ziel des menschlichen Daseins. Von hier aus erklärt sich sein Haß auf die „rohe“ Natur, aber auch seine Sehnsucht nach der „wahren“ und „heiligen“ Natur, in der allein der Mensch seine Bestimmung zur Freiheit erfüllen kann. Wehe ihm, wenn er sie verfehlt! Wo Schiller diese Situation dichtet, hat seine Dichtung einen fast apokalyptischen Charakter. „Aus dem Gespräche verschwindet die Wahrheit, Glauben und Treue Aus dem Leben, es lügt selbst auf der Lippe der Schwur.

In der Herzen vertraulid-istem Bund, in der Liebe Geheimnis Drängt sid^ der Sykophant, reißt von dem Freunde den Freund, Auf die Unschuld sdrielt der Verrat mit verschlingendem Blid^e, Mit vergiftendem Biß tötet des Lästerers Zahn.

Feil ist in der geschändeten Brust der Gedanke, die Liebe Wirft des freien Gefühls göttlichen Adel hinweg.

Deiner heiligen Zeichen, o Wahrheit, hat der Betrug sich Angemaßt, der Natur köstlichste Stimmen entweiht, Die das bedürftige Herz in der Freude Drang sich erfindet;

Kaum gibt wahres Gefühl noch durch Verstummen sich kund.

Auf der Tribüne prahlet das Recht, in der Hütte die Eintracht, Des Gesetzes Gespenst steht an der Könige Thron.

Jahrelang mag, jahrhundertelang die Mumie dauern, Mag das trügende Bild lebender Fülle bestehn, Bis die Natur erwacht, und mit schweren ehernen Händen An das hohle Gebäu rühret die Not und die Zeit, Einer Tigerin gleiclr, die das eiserne Gitter durdtbrochen Und des numidischen Walds plötzlich und schrecklich gedenkt, Aufsteht mit des Verbrechens Wut und des Elends die Menschheit Und in der Asche sucht die verlorne Natur."

Schiller bejahte die Ordnung des menschlichen Lebens: Familie, Vaterland, Staat, Gesetze und Menschheit, er huldigte der Kultur und den Künsten, weil ohne sie der Weg des Menschen zur Freiheit in die Irre gehen muß. In der „heiligen Natur“ findet er in seiner klassischen Zeit Maß und Mitte, die weder durch die wilde Begierde noch durch die vorzeitig entfesselte Vernunft gewährleistet werden. Hier wurzelt das Recht der Menschen und Völker auf „Freude“; hier erlebt Schiller den Menschen als ein geselliges Wesen, dessen Gefühle für Vaterland und Familie, für Gewissen und Ehre von der Natur selbst gewollt sind und von der Gesellschaft respektiert werden müssen, wenn diese nicht in das Chaos des Verfalls geraten soll. LImgekehrt wiederum sind für Schiller alle politischen Ordnungen, die nur noch Macht oder Unterwerfung kennen, wie z. B. das Spanien Philipps II. oder die Zwingherrschaft Geßlers, der Inbegriff des Bösen, gegen den sein Instinkt für Freiheit leidenschaftlich rebellierte.

Kein patriotisches Patentstück . . .

Das alles ist jedoch weit mehr als „humaner Patriotismus“. Das Schicksal der Menschheit selbst und ihre nur religiös verstehbare Aufgabe, ihr Übergang in den Gott, steht auf dem Spiel. Nehmen wir die „Jungfrau von Orleans“ als Beispiel, weil gerade sie mit Vorliebe als ein Drama des vaterländischen Befreiungskampfes beansprucht wird. Aber die Betonung von Ehre und Nationalruhm gehört hier zur geschichtlichen Charakterisierung der französischen Nation und darf nicht aus heutigen Vorstellungen heraus gedeutet werden. Nicht ein patriotisches Patentstück ist dieses Drama, sondern die Legende vom erhabenen Menschen, der durch einen „furchtbar bindenden Vertrag“ mit dem Geisterreich auch noch den grausamsten Widerstand der Geschichte zu überwinden vermag. Der von Kant aufgenommene, von Schiller auf die Tragödie angewandte Begriff des „Erhabenen“ ist der Schlüssel zum Verständnis dieser Dichtung. Das Erhabene allein ist die Kraft in uns, durch die wir genötigt sind, als „reine Geister“ zu handeln. Der Glaube an das Erhabene bedeutet den Glauben an den „Engel“, an den „Gott“ im Menschen. „Die Fähigkeit das Erhabene zu empfinden“ — so lesen wir in Schillers philosophischen Schriften — „ist also eine der herrlichsten Anlagen in der Menschennatur. . . Das Schöne macht sich bloß verdient um den Menschen, das Erhabene um den reinen Dämon in ihm.“ „Das Erhabene verschafft uns also einen Ausgang aus der sinnlichen Welt, worin uns das Schöne gern immer gefangen halten möchte.“ Das naiv gemeinte kindliche Hirtenmädchen tritt zu Beginn als eine „schöne Seele“ im Bereich der Bühne auf, um zur „erhabenen“ zu wachsen und als solche in den Tod zu gehen. Das Heldentum dieser außerordentlichen Seele vermag mit einer Art mystischer Naivität auch noch in der anarchischen Welt der Geschichte das ewige Reich des Ideals zu verwirklichen: ein vom Geist berufenes, nachtwandlerisches Werkzeug Gottes.

Schillers Auffassung von der Geschichte Die Spannung von Ideal und Wirklichkeit, von Übermenschlichem und Sinnlichem, von Erhabenem und Stofflichem ist ebenso das Thema der Schillerschen Dramen wie die Voraussetzung seiner politischen Auffassungen. Die Verfälschung Schillers beginnt dort, wo man an die Stelle dieser unmittelbar durchlebten Spannung ihre ideologisch rhetorische Verbrämung setzt. Dann wird Schiller zu dem Dichter mit großem Pathos verkündeter „Ideale“. Dabei wird gänzlich übersehen, wie fern es ihm lag die Welt zu idealisieren oder mit Schlagworten beglücken zu wollen. Gerade in seiner Auffassung von der Geschichte wird das be-sonders deutlich. Geschichte war für Schiller ein Teil des blinden und chaotischen Wirkens der rohen Natur, eine Welt mehr des Bösen als des Guten, angetrieben von Intrige, Herrschsucht, Ehrgeiz, Sinnlichkeit, Verrat, Rache und Heuchelei: eine Welt des Egoismus und der Eitelkeit, des Betruges und des Mordes. Wer in Schillers historischen Schriften nachliest, wird erstaunt sein, mit welcher unbestechlichen Sachlichkeit hier die verborgenen Motive der menschlichen Natur, die Mischung des Lauteren mit dem Unlauteren und die sich daraus ergebenden geschichtlichen Folgen analysiert werden. „Wo der Mensch handelt, verschwindet mir der Schöpfer,“ sagt zugespitzt Schillers Menschenfeind von Hutten.

Erst im Studium der Geschichte und des menschlichen Handelns wird Schiller zum „Realisten“ und „Psychologen“.

Wie unerbittlich Schillers Bild von der Wirklichkeit ist, zeigt sein Gedicht „Die Worte des Wahns“. Nicht dem guten, sondern dem bösen Geist gehört die Erde. Darin stimmt Schiller den Argumenten seines Wallenstein durchaus zu. Das buhlende Glück verbindet sich gerade mit dem Schlechten. Den Schleier der Wahrheit wiederum vermag keine sterbliche Hand zu heben, oder es ergeht ihr wie dem Jüngling zu Sais, der es dennoch frevelnd versuchte und mit tiefem Gram und frühem Grab dafür zahlen mußte. Nicht draußen in der Welt, sondern nur im Menschen selbst ist das Schöne und Wahre zu finden. Der Edle, der Gute bleibt ein „Fremdling“, „er wandert aus und suchet ein unvergänglich Haus“. Das ist ein Lieblingsgedanke Schillers. Sein Menschenfeind von Hutten sagt sicher mit Schillers Einverständnis: „Die Welt kann dir nichts darbieten, was sie von dir nicht empfinge.“ Ähnlich heißt es noch in Schillers letzter kleiner abgeschlossener Dichtung „Die Huldigung der Künste“: „Wisset ein erhabener Sinn Legt das Grosse in das Leben, Lind er sucht es nicht darin“

Das ist ein verwandter Gedanke wie der aphoristische Satz: „Gemeine Naturen zahlen mit dem, was sie tun, edle mit dem, was sie sind.“

Aber so illusionslos auch Schillers Auffassung von der Geschichte ist, von einer nihilistischen Deutung ist er weit entfernt. Immer geht es in der Geschichte auch um die unerforschliche Gerechtigkeit der Gottheit. Geschichte ist Auseinandersetzung des menschlichen Handelns mit dem „gigantischen Schicksal“, „das den Menschen erhebt, indem es den Menschen zermalmt“. Sie stellt Menschen und Nationen vor ihre unabweisbare, unwiderrufliche Stunde. Wo wäre das deutlicher als im „Wallenstein“! Leidend und sich opfernd, aber gerade dann noch zum eignen Handeln aufgerufen, erfährt der Mensch den „Doppelsinn des Lebens“, aus dem heraus er alles geschichtliche Dasein als unbegreiflich frei und als notwendig zugleich, als unentrinnbares Verhängnis und als Gericht der Nemesis verehren muß. Geschichte ist für Schiller Theater-Szene und Tribunal zugleich, nicht nur die Welt als Bühne, nicht nur die Bühne als Welt, sondern auch Bühne der Gottheit.

Schillers Geschichtsdramen kreisen immer wieder um die Auseinandersetzung von irdischer und überirdischer Gerechtigkeit, von anarchisch geschichtlicher Welt und geistigem Anspruch der Idee. „Wie das Bewußtsein eines Mords“ lastet der furchtbare Himmel von Madrid, unter dem es nur Herrschaft oder Unterwerfung gibt, auf der Seele des Königs-sohnes Don Carlos. Welch ungeheure Spannweite zwischen dem enthusiastischen Entwurf der Idee der Menschheit und dem „kühnen Traumbild eines neuen Staates“, die der Menschenformer und Menschenspieler Posa noch in die absolute Monarchie Philipps hineinzutragen wagt, und der Unmenschlichkeit der Inquisition, für die jedes Band des Vertrauens bereits zweideutig und verdächtig ist. Aber diese Spannweite schafft den Raum für das Tribunal der großen geschichtlichen Szene. „Wallenstein , „Maria Stuart“, „Wilhelm Teil“, „Demetrius“ würden verwandte Beispiele für diesen Kampf zwischen Notwendigkeit und Freiheit, zwischen Macht und Geist, zwischen Wirklichkeit und Ideal geben. Wir müssen hier darauf verzichten, sie im einzelnen zu charakterisieren. Die Bewunderung Schillers gilt dem Großen und Erhabenen, das sich trotz der Geschichte i n der Geschichte immer wieder ereignet und das er auch dort bejaht, wo es vom Prometheischen und Frevelhaften sich nicht frei zu halten vermag. Die Geschichte ist dazu da, damit der Mensch sie als Widerstand überwinde und auch noch als Erdenbürger die Würde seiner himmlischen Abkunft beweise.

Zeitgenosse aller Zeiten Es gehört zu Schillers Konzeption, daß sich das religiöse und das politische Anliegen der Menschheit nicht trennen lassen. Wahre Freiheit wurzelt stets im Übersinnlichen, aber sie bleibt auch Aufgabe für unser sinnlich irdisches Tun. „Wo du auch wandelst iw Raum, es knüpft dein Zenith und Nadir An den Hiwwel dich an, dich an die Achse der Welt.

Wie du auch handelst in dir, es berühre den Hiwwel der Wille, Durch die Achse der Welt gehe die Richtung der Tat.“

Auch die Nationen sind für Schiller aufgerufen an diesem ewigen, von Gott selbst gewollten Gedanken der menschlichen Freiheit und der menschlichen Vernunft mitzuwirken, der trotz aller Finsternis der Geschichte dieser Geschichte noch ein vielleicht nie erreichbares Ziel setzt. Man tut gut daran, diesen Glauben Schillers nicht mit dem billigen Schimpfwort „Aufklärung“ abzutun. Schiller hat die tragische Seite der Geschichte viel zu deutlich gesehen, als daß es erlaubt sei, ihn als einen bloßen Optimisten des Fortschrittes, der Wissenschaft und der Bildung abzustempeln. Allerdings glaubte er an die Würde der Menschheit. Ihr zu dienen bleibt nicht nur die höchste Aufgabe des Künstlers, sondern auch die höchste Aufgabe einer Nation. In diesem Sinne sind Nation und Kunst benachbart. Ja, die Kunst ist es, die auch noch dem Staat seine letzte Sinngebung gibt. Denn nur so kann sich der bloß physische Staat des Bedürfnisses in einen geistigen Staat, der der Idee der Menschheit dient, verwandeln.

Nationalismus um seiner selbst willen war Schiller verhaßt. Darum ist kein Vorwurf oder auch keine Verherrlichung Schillers ungerechter als diejenige, die ihn zum nationalistischen Dichter stempelt. War er statt dessen ein unpolitischer Weltbürger, der sich angesichts der von „Sturm“ und „Mord“ erfüllten Jahrhundertwende in das „stille Reich der Träume“ zurückzieht und die Freiheit nur noch im Gesänge zu finden vermag? Manche seiner Äußerungen scheinen darauf hinzudeuten.

Die Epigramme der Xenien sprechen einen klaren Verzicht auf jeden politischen Machtanspruch der Deutschen aus. „Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche vergebens;

Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.“

Oder über das deutsche Reich:

„Deutscliland, aber wo liegt es? Ich weifl das Land nicht zu finden, Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.

Im gleichen Sinne schrieb Schiller am 25. Januar 179 5 an Friedrich Heinrich Jacobi: „Wir wollen, dem Leibe nach, Bürger unserer Zeit sein und bleiben, weil es nicht anders sein kann; sonst aber und dem Geiste nach ist es das Vorrecht und die Pflicht des Philosophen wie des Dichters, zu keinem Volk und zu keiner Zeit zu gehören, sondern im eigentlichen Sinne des Wortes der Zeitgenosse aller Zeiten zu sein.“

Die Sache der Menschheit war für Schiller in der Tat wichtiger als die Sache der Nation. Immer hat er das Größere auch dem Großen vorangestellt. Aber das heißt nicht, daß er kein Organ für die konkreten politischen Konstellationen besaß. Jeder Blick in seine geschichtlichen Dramen zeigt uns, wie sehr er stets ein Dichter der Völker und Staaten, der Herrscher und Beherrschten geblieben ist, mit einem untrüglichen Instinkt für Machtverhältnisse und deren Grenzen. Diese Dramen aber entstanden zur gleichen Zeit wie Schillers Bekenntnis zu einer Freiheit des Menschseins noch jenseits des politischen Raums. Vielen ist diese Wendung Schillers zur „Kulturnation“ unbequem gewesen. Sie vertrug sich nicht recht mit der These von dem revolutionären politischen Dichter. Man suchte sich zu helfen, indem man behauptete, es handle sich hier um den durch die Enge der Feudalverhältnisse erzwungenen Verzicht des „bürgerlichen Humanismus“ auf politische Gestaltung. In der Trostlosigkeit der eignen geschichtlichen Situation sei der deutschen Klassik nur die Flucht in die „Innerlichkeit“ übriggebliegen, eine Art Vorspiel zu einem wurzellosen Intellektualismus. Auf der Seite des klassischen Liberalismus Solche Thesen könnte man freilich auch umkehren. Der „wahre“ Staat kann nur verwirklicht werden, wenn der Mensch zuerst eine Freiheit gewinnt, die bei einem allzu aktiven Einlässen auf politische Situationen gerade verloren geht. Unbillig wäre es, von Schiller etwas zu verlangen, was weder seiner geschichtlichen Situation noch seiner geistigen Auffassung vom Menschen entspricht. Der Verzicht auf geschichtliche Gestaltung war niemals seine Forderung. Aber die Lösung, die die Französische Revolution anbot, mußte er ablehnen. Gerade unter dem Ein-druck der Ereignisse in Paris und ihrer schrecklichen Wirklichkeit gelangt er zu einer neuen Auffassung vom Staat. In den Briefen an den Herzog von Augustenburg (1793), aus denen Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung hervorgegangen sind, beginnt diese Auseinandersetzung, der man nicht gerecht wird, wenn man sie als „Flucht in die Innerlichkeit“ abtut. Wohl hat Schiller mit Nachdruck die Idee der Freiheit aus dem Politischen in das Persönliche verlegt, zugleich damit jedoch einen entscheidend neuen Gesichtspunkt auch für seine Auffassung von Staat und Gesellschaft gewonnen. „Politische und bürgerliche Freiheit bleibt immer und ewig das herrlichste aller Güter, das würdigste Ziel aller Anstrengungen und das große Zentrum aller Kultur; aber man wird diesen herrlichen Bau nur auf dem festen Grunde eines veredelten Charakters aufführen.“ Schillers Anliegen war es, die Sache des Menschen und der Menschheit auch noch gegen jede vom Staat beanspruchte Omnipotenz zu verteidigen. Sein Anliegen war es nicht, die Entwicklung eines deutschen Nationalstaates auf eine aktive Weise als Dichter zu fördern und zu unterstützen. Daß seine Dichtung trotzdem auch auf die seit den Freiheitskriegen sich entwickelnde national-staatliche Bewegung immer wieder eingewirkt hat, hängt mit Schillers ideellem Pathos der Freiheit zusammen, das gerade dort, wo es rhetorisch wurde, sich auf bequeme Weise mit einem materiell gemeinten Pathos des nationalen Volkstums koppeln ließ. Sind ja auch geschichtlich Liberalismus und Demokratie im 19. Jahrhundert ein Bündnis eingegangen, in dem lange Zeit die entscheidenden Unterschiede und Gegensätze verdeckt blieben! Kein Zweifel, daß Schiller, wenn man ihn schon in seiner politischen Gesinnung klassifizieren will, auf die Seite des klassischen, aber noch nicht des späteren politischen Liberalismus gehört. Ihn als einen Vorläufer der demokratischen Volkssouveränität zu bezeichnen, scheint mir ganz unsinnig. Zweifellos hat zum mindesten der klassische Schiller die Meinung seines Sapieha in der großen Reichstagsszene des „Demetrius“ geteilt: „Die Mehrheit?

Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn, Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen. Beküvnvnert sich ums Ganze, wer nichts hat? Hat der Bettler eine Freiheit, eitrig Wahl?

Er muß dem Mäditigen, der ihn bezahlt, Um Brot und Stiefel seine Stimm'verkaufen. Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen; Der Staat muß untergehn, früh oder spät, Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet."

Kritik des mechanisierten Staates Wem aber diese Stelle nicht genügt, um sich zu überzeugen, daß Schiller als Politiker eindeutig auf die Seite des klassischen Liberalismus gehört und jede andere Zuordnung eine gewollte oder ungewollte Vergewaltigung ist, der lese seine besonders im 6. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen ausgesprochene radikale Ablehnung des Staates der Französischen Revolution: „Diese Zerrüttung, welche Kunst und Gelehrsamkeit in dem innern Menschen anfingen, machte der neue Geist der Regierung vollkommen und allgemein. Es war freilich nicht zu erwarten, daß die einfache Organisation der ersten Republiken die Einfalt der ersten Sitten und Verhältnisse überlebte; aber anstatt zu einem hohem animalischen Leben zu steigen, sank sie zu einer großen und groben Mechanik herab. Jene Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines unabhängigen Lebens genoß und, wenn es not tat, zum Ganzen werden konnte, machte jetzt einem kunstreichen Uhrwerke Platz, wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet. Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. Aber selbst der karge fragmentarische Anteil, der die einzelnen Glieder noch an das Ganze knüpft, hängt nicht von Formen ab, die sie sich selbsttätig geben (denn wie dürfte man ihrer Freiheit ein so künstliches und lichtscheues LIhrwerk vertrauen?), sondern wird ihnen mit skrupelloser Strenge durch ein Formular vorgeschrieben, in welchem man ihre freie Einsicht gebunden hält.“

Die deutsche Nation Diese Kritik eines mechanisierten Staates und einer mechanisierten Gesellschaft ist die Voraussetzung für Schillers nach innen gerichtete Auffassung von der deutschen Nation, über die uns besonders die nachgelassenen Aufzeichnungen zu einem Gedicht aus dem Jahre 1801, dem man den mißverständlichen Titel „Deutsche Größe“ gegeben hat, Auskunft geben. Wiederum sind hier die politische Wirklichkeit des deutschen Kaiserreiches und seiner Fürsten und die ideelle Wirklichkeit der deutschen Nation nicht miteinander identisch. „Stürzte auch in Kriegs-flammen Deutschlands Kaiserreich zusammen, Deutsche Größe bleibt bestehn.“ Schiller charakterisiert sie als eine „sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und im Charakter der Nation, der von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist“. Offensichtlich überträgt hier Schiller seine eigene geistig aristokratische Haltung auf die ganze Nation und versucht von einem solchen Standort aus ihre Sendung in der Welt zu deuten. „Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag des Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit.“ Ein hoher, eschatologischer An-

spruch soll durch die deutsche Nation verwirklicht werden, „nicht im Augenblick zu glänzen und seine Rolle zu spielen, sondern den großen Prozeß der Zeit zu gewinnen“. Sobald man diese Verschmelzung sittlich religiöser und politischer Überzeugungen materialisiert und sie nur politisch im Sinne eines sich festigenden Nationalstaates und seines Anspruches ausdeutet, hat man in der angeblichen Nachfolge Schillers gerade das Beste von Schiller aufgegeben.

Hat Schiller mit seiner Wendung zur Klassik die Ideale seiner Jugend verleugnet? Ist aus einem „politischen Revolutionär“ ein „unpolitischer Weltbürger“ geworden? Aber gerade diese hartnäckige Konstruktion, die — gleichgültig mit welchen Vorzeichen — Schiller gegen Schiller aus-zuspielen versucht, hat am meisten den Zugang zum ganzen Schiller versperrt. Jede einseitige Überbetonung der religiösen oder der politischen Komponente in seinem Werk muß ihn notwendig verfälschen. Diejenigen, die sich bemühen, Schiller als Künder eines gesamten Deutschland zu sehen, sollten erst einmal lernen, ihn selbst in seiner gesamten Gestalt zu erfassen.

Auch der junge Schiller ist durchaus nicht nur politischer Revolutionär. Auch der Dichter der „Räuber“ und von „Kabale und Liebe“ war Theaterdichter und Theologe zurgleich; auch hier schon war ihm das Drama Theodizee, Rechtfertigung der Gottheit im offenen dramatischen Spiegel des menschlichen Lebens und auch noch der geheimsten Winkelzüge des menschlichen Herzens. Alle dramatische Dichtung Schillers wächst aus der Spannung von irdischer und überirdischer Gerechtigkeit, das heißt zugleich aus der Spannung von Staat und Religion. Nach der Meinung des jungen Schiller ist es die Aufgabe des Theaters, diese beiden in der Krise der Zeit extrem auseinander klaffenden Mächte wieder zusammenzuführen und damit den Weg zu einem wahren, auf Sittlichkeit und Religion gegründeten Staat erst möglich zu machen. Schon in seiner Jugend wußte Schiller, daß das große kulturelle Erziehungswerk vorausgehen muß, ehe der Gedanke der Nation verwirklicht werden kann. Dafür hatte die Bühne stellvertretende Bedeutung. Der Zuschauer soll die „moralische Weltregierung“, die er im wirklichen Leben so oft vermissen muß, durch die Schaubühne und auf der Schaubühne von neuem wiederfinden. Der Weg geht von der Bühne zur Nation, nicht aber von der Nation zur Bühne. „Wenn wir es erlebten, eine National-bühne zu haben, so würden wir auch eine Nation.“

Die Bühne als verwandelnde Kraft Verwandelnde Kraft hat die Bühne ebenso beim klassischen Schiller. Wie in Schillers frühen Schriften zum Theater, so soll auch in der Vorrede zur Braut von Messina die Bühne die „moralische Weltregierung“ durch den Schein der Kunst repräsentieren. Aber der Schiller von Weimar erwartet nicht mehr, daß die Wirklichkeit des politischen Lebens durch die Inhalte der Bühne auf einem direkten Wege verändert wird. Vielmehr ereignet sich die Verwandlung des Menschen jetzt im Bereich der Kunst selbst. Die Kunst ist die Wahrheit und als Wahrheit vermag sie den Menschen frei zu machen. Wie entschieden es Schiller damit meint, zeigt ein zentraler Satz aus der Vorrede zur Braut von Messina: „Die wahre Kunst aber hat es nicht bloß auf ein vorübergehendes Spiel abgesehen; es ist ihr Ernst damit, den Menschen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Freiheit zu versetzen, sondern ihn wirklich und in der Tat frei zu machen, und dieses dadurch, daß sie eine Kraft in ihm erweckt, übt und ausbildet, die sinnliche Welt, die sonst nur als ein roher Stoff auf uns lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive Ferne zu rücken, in ein freies Werk unseres Geistes zu verwandeln und das Materielle durch Ideen zu beherrschen.“

Die Wahrheit der Kunst liegt also nicht in dem Stofflichen, das sie mitteilt; vielmehr liegt sie in der Art, wie sie es mitteilt, das heißt in der Läuterung und Reinigung des Stoffes durch die künstlerische Form. Jede Art von stofflich gebundener Tendenzdichtung wird sowohl von Goethe wie von Schiller in ihrer klassischen Zeit eindeutig abgelehnt. Nur durch die im Symbolischen repräsentierte Macht der Poesie läßt sich das bloße Interesse am Stoff überwinden.

Kunst, in der hohen, inhaltlich erfüllten Bedeutsamkeit ihrer Form, bedeutet für den Menschen Erlösung und Heil. Das bleibt auch eine entscheidende Voraussetzung für die politischen Anschauungen des klassischen Schiller. Ausdrücklich wird in den Briefen an Goethe betont, daß der vollkommene Dichter das Ganze der Menschheit ausspricht. Die Kunst ist die einzige Brücke, die sich schon hier auf Erden vom Göttlichen zum Irdischen schlagen läßt. Daher kann Schiller am 7. Januar 1795 an Goethe schreiben, der Dichter sei „der einzige wahre Mensch“ und der beste Philosoph nur eine Karikatur gegen ihn.

Schillers Schönheitslehre in seinen „Ästhetischen Briefen“ verknüpft den Gedanken der Kunst mit dem des Volkes und des Staates. Die Zerrüttung der politischen Verhältnisse kann nur durch den veredelnden Einfluß der Kunst überwunden werden. Schillers so oft mißverstandener „ästhetischer Staat“, den er ausdrücklich mit der „reinen Kirche“ und der „reinen Republik“ vergleicht, stellt dem nur physisch-dynamischen und dem nur vernünftig-moralischen Staat, die beide — wenn auch in verschiedener Weise — Beschränkung und Versklavung zur Folge haben, einen auf persönlicher Freiheit gegründeten Staat gegenüber. Im 27. Brief über die ästhetische Erziehung heißt es: „Wenn im dynamischen Staat der Rechte der Mensch dem Menschen als Kraft begegnet und sein Wirken beschränkt — wenn er sich ihm in dem ethischen Staat der Pflichten mit der Majestät des Gesetzes entgegenstellt und sein Wollen fesselt, so darf er ihm in dem Kreise des schönen Umgangs, in dem ästhetischen Staat, nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freien Spiels gegenüberstehen. Freiheit zu geben durch Freiheit ist das Grundgesetz dieses Reichs.“

Man verkennt jedoch diese Staatsidee, wenn man sie wiederum nur materiell auslegt. Weder die auserlesene Geselligkeit romantischer Zirkel noch die Staatsidee des späteren politischen Liberalismus sind mit ihr identisch. Nicht so sehr der Politiker, sondern der Theologe und Künstler Schiller hatte das Traumbild eines ästhetischen Staates ersonnen. Es entstand aus der gleichen Sehnsucht, die ihn „Arkadien“ und „Elysium“ beschwören ließ, der Sehnsucht, die tragischen Fesseln unserer irdischen Existenz abstreifen zu dürfen und den Menschen schon auf Erden eine wahre Freiheit finden zu lassen. Nur der Dichter und der Künstler, der jederzeit zum Himmel der Gottheit zugelassen ist, kann diese Rückkehr des Paradieses bringen und den Frieden einer höheren Welt spenden.

Was hat uns Schiller heute noch zu sagen?

Man pflegt in unseren Tagen so gern zu fragen: Was hat Schiller uns heute noch zu sagen? Was bedeutet er für unsere Zeit und ihre besonderen politischen und geistigen Probleme? Aber die Frage sollte umgekehrt heißen: Wie können wir vor Schiller und seinen Forderungen bestehen? Wird es uns gelingen, sein Wesen und seine Ganzheit noch in einer angemessenen Weise zu erfassen? Schillers klare, strenge und einsame Bahn gleicht der Größe eines Gestirns. Wenn wir ihn an seinem 150. Todestag feiern und seiner gedenken, so sollte es ohne jeden Mißbrauch, ohne jeden Götzendienst, ohne jede falsche Popularität geschehen. Er selbst hat — wohl ohne es zu wissen — in dem Entwurf zu einem Gedicht „Orpheus in der Unterwelt", das sich in seinem Nachlaß findet, ein mythisches Sinnbild seines Daseins gegeben: „Die Töne der Leier bilden einen Lebenskreis um ihn her, daß er, ein Lebendiger, jugendlich Blühender, ungefährdet durdt den Schatten geht, obgleidt itntner von neuen Scheusalen bedroht. So gelangt er, unter Begleitung zahlloser Schatten, ein wäditig Sdireitender bis zum Throne des stygischen Königs.“

Fussnoten

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