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Zehn Jahre danach | APuZ 32/1955 | bpb.de

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APuZ 32/1955 Die zwei Systeme politischer Erziehung in Deutschland Zehn Jahre danach

Zehn Jahre danach

Hans Rothfels

Abdruck einer Rede, die am 9. Mai 1955 im Festsaal der Tübinger Universität als Einleitung zu einer Vorlesungsreihe „ 1945— 1955“ gehalten wurde. Der Vortrag ist enthalten in; „VIERTELJAHRSHEFTE FÜR ZEIT-GESCHICHTE", 3. Heft, Juli 1955. Die Wiedergabe erfolgt mit Erlaubnis des Verlages wie des Verfassers.

Am 9. Mai 1945, eine Minute nach Tagesbeginn, trat die Gesamtkapitulation der deutschen Wehrmacht in Kraft. Es ist der Wunsch des „politischen Forums“ der Tübinger Studentenschaft gewesen, daß dieses Ereignisses und der tiefeinschneidenden Vorgänge, die in ihm sich zusammenfassen, d. h. aber auch derer, die zu ihm hinführen und von ihm ausgehen, in einer akademischen Rede gedacht werde. Eine Aufgabe ist damit gegeben, zu der niemand sich drängen wird und der doch nicht ausgewichen werden darf. Sie kann nicht mit dem Aufrühren irgendwelcher Sentiments oder Ressentiments gelöst werden. Sie stellt sich insbesondere sehr anders, fundamental anders, und sehr viel mehr in die Schicht des Grundsätzlichen dringend dar, als wenn man ein Jahrzehnt nach Versailles vom Katheder aus den Tag von Compiegne in seinen geschichtlichen Rahmen und seine Perspektiven einzuordnen versuchte. Die Unterschiede liegen nicht nur in unvergleichlichen Größenverhältnissen begründet, die schon den deutschen Ablauf schwer übersehbar machen, und dazu in einer gigantischen Ausweitung des Schauplatzes, von dem der deutsche nur mehr ein Ausschnitt ist. Sie haben ebenso und wesentlicher mit dem Charakter einer Epoche zu tun, in der die Reduktion des Menschlichen durch eine technische Zivilisation die damit vorgegebene Tendenz zum Totalitären voll zum Durchbruch gebracht hat, — einer Epoche, deren Kriegführung — eben als eine totale — die Grenzen von Front und Heimat, von Soldat und Zivilist längst verwischt hatte und mit einer, wie es sich aufdrängt, fatalen Logik in totaler Niederlage endete.

In der Tat entzogen sich ihre Ausmaße jedem Vergleich und jedem historischen Vorbild. Zum ersten Male in der neueren Geschichte wurden sämtliche Streitkräfte eines großen Staates, Offiziere, Unteroffiziere, Mannschaften im Prinzip, d. h. soweit sie der deutschen Kontrolle unterstanden, zu Kriegsgefangenen gemacht. Zum ersten Male wurde ein Gebiet, das wohl früher schon Teilzerstörungen erfahren hatte, in der Pfalz etwa oder in Ostpreußen, das im 17. Jahrhundert und noch einmal in der napoleonischen Ära Durchzugs-und Operationsfeld fremder Heere gewesen war, in seinen Städten als Trümmerfeld übergeben und als Ganzes von feindlichen Truppen besetzt. Ich brauche die Etappen der Überwältigung nicht nachzuzeichnen: Das Erreichen der Reichs-grenze im Westen durch die Engländer und Amerikaner schon im September 1944, des Rheins Ende Februar, sein Überschreiten bei Remagen am 7. März 1945 und den Vormarsch der westlichen Alliierten auf breiter Front von Ende dieses Monats an. Dazu dann die Überflutung der deutschen Ostgebiete seit Mitte Januar und seit dem Neuantritt der Russen an der Oder am 16. April — mit allem Furchtbaren, was daraus folgte.

Die östliche Seite dieser Niederlage namentlich, d. h. die Austreibung und Abtrennung, Verlust einer tausendjährigen Geschichte und Verlust der deutschen Einheit, wird in den Erinnerungen des heutigen Tages mit Recht in vorderer Linie stehen. Auch für uns wird darauf zurückzukommen sein. Nicht weniger fehlen darf in dem Bild, das wir ins Gedächtnis rufen, das opferreiche Anringen, das in der Verteidigung des Heimatbodens oder dem Halten eines schützenden Gürtels im Südosten noch mit soldatischer Pflichterfüllung bis zuletzt geleistet wurde, um so ergreifender, je illusionsloser es geschah, ohne Hoffnung auf Wunder-waffen oder nicht mehr existierende Armeen. Auch Marineeinheiten boten noch einmal das Äußerste auf, um bedrohte Menschen zu retten, und die militärische Führung mühte sich nach Kräften, Flüchtlinge und ganze Truppenteile dem russischen Zugriff zu entziehen. Ebenso werden wir des Mutes der Männer gedenken, die auf eigene Verantwortung und, Gefahr das Unvermeidliche taten, um unverteidigte Ortschaften oder Lazarettbezirke vor der letzten Zerstörung zu bewahren. Aber man wird auch nicht vorbeigehen können an dem kläglichen Versagen so vieler Amtswalter der Partei, an dem betrügerischen Hinhalten der Bevölkerung bei feiger eigener Flucht, wie es so mannigfach für die Ostgebiete bezeugt ist, oder an den frevelhaften Worten jenes Berliner Appels: „Die Stunde vor Sonnenaufgang ist die dunkelste Stunde“: oder an Goebbels'letzter prahlerischer Verheißung von „einer Blütezeit des Deutschtums ohnegleichen" oder an dem hohlen Pathos drohender Proklamationen, wie denen des Stuttgarter Gauleiters, der die Worte Schillers von der „nichtswürdigen Nation“ anzurufen nicht verschmähte. Lind auch andere Erinnerungen wird man sich nicht ersparen dürfen: die an die Exekutionskommandos der SS hinter der kämpfenden Front oder an die standrechtlichen Erschießungen durch fanatisierte Kommandeure. Und schließlich gewiß nicht die an jene gespenstisch-makabren Szenen im Bunker unter der Reichskanzlei, die nach Bormanns irreführender Meldung an Großadmiral Dönitz mit einer abschließenden Lüge an das deutsche Volk endeten, wonach der Führer „bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend gefallen“ sei, sowie mit einem politischen Testament, das die Wahnvorstellungen und die unüberbietbare Ichbezogenheit des Autors noch einmal mit grellem Lichtkegel beleuchtete.

Unterschiede und Zusammenhänge Vor solchen Bildern verblaßt allerdings jeder Vergleich mit dem Ende des ersten Weltkrieges, und was an der Niederlage von 1918 einer älteren Generation als Tiefpunkt nationalen Daseins oder moralischer Demütigung erscheinen mochte, steht für den Zusammenbruch von 1945 im Zeichen sehr anderer und umfassenderer Kategorien. Ehe diese Bilanz aufzunehmen ist, wird es gut sein, den Unterschieden und den Zusammenhängen, die gleichwohl sich feststellen lassen, ein wenig nachzudenken. Sie liegen zunächst sehr sichtbar im äußeren Geschehen. Der erste Weltkrieg endete bekanntlich mit einem Waffenstillstand, ehe die kämpfenden Heere deutschen Boden betraten. Es gab damals eine militärische Leitung, die — was immer im ganzen oder im einzelnen zu ihrer Kritik zu sagen ist —, genug Verantwortungsbewußtsein sowohl wie die technische Möglichkeit besaß, auf die Beendigung eines aussichtslosen Kampfes zu dringen. Im nationalsozialistischen System kam das seiner Herrschaftsstruktur nach nicht in Frage, aber auch deshalb nicht, weil seine Vertreter aus vielen und nur zu begreiflichen Gründen keine glaubhaften außenpolitischen Partner waren. Nur der Sieg einer grundsätzlichen Opposition hätte hier vielleicht noch Wandel schaffen können. Diese Chance, wenn es je eine war, erlosch am 20. Juli. Was dann Himmler im letzten Moment noch versuchte, war kaum mehr als das Haschen nach dem Alibi und wurde von Hitler im Angesicht des Todes mit der leer gewordenen Geste der Ausstoßung quittiert. Insoweit und in dieser Teilansicht ist man berechtigt zu sagen, daß die Politik der bedingungslosen Kapitulation, wie sie in Casablanca verkündet und im deutschen Fall tatsächlich durchgeführt wurde — so wenig sie von der beanspruchten Weltverantwortung spüren ließ —, nur die genaueste Antwort auf eine Haltung war, de jede Verantwortung auch nur vor dem eigenen Volk längst hinter sich gelassen hatte. Es konnte eher geopfert werden als das System. Aber man wird die Casablanca-Formel auch noch in anderer und direkter Weise mit dem Kontrastbild von 1918, da die Monarchie letzten Endes doch um der Nation willen abtrat, zu verknüpfn haben.

Dem Waffenstillstand von Compiegne oder der bedingten Kapitulation von 1918 lag, wie bekannt, ein wenn nicht juristisches, so doch moralisches Vorabkommen zugrunde, das im wesentlichen Wilsons 14 Punkte zum Inhalt hatte. Auf dieser Basis konnte die deutsche Revisionspolitik nach Versailles mit guten Argumenten und erheblichem Erfolg operieren. Allein schon deshalb waren die westlichen Alliierten entschlossen, irgendwelche Bindungen durch festgelegte Maximen der Kriegs-oder Friedensziele nicht wieder einzugehen. Die atlantische Charta blieb daher ein kraftloser Schemen. Und es war weiter erklärte Politik der Gegner Deutschlands, daß die Kapitulation diesmal militärisch und nicht politisch sein müsse, als Abdankungsurkunde gleichsam für jene Kräfte, . die man im deutschen Militarismus verkörpert wähnte und als dauernde Friedensgefährdung damals betrachtete. Es ist bekannt, daß die Oberste Heeresleitung 1918 die Konsequenz der eigenen Unterzeichnung zu vermeiden gewußt hat. Selbst Groener schreibt in seinen noch ungedruckten Memoiren aus Anlaß der Bildung der Waffenstillstandskommission

„Mir konnte es nur lieb sein, wenn bei diesen unglückseligen Verhandlungen, von denen nichts Gutes zu erwarten war, das Heer und die Heeresleitung so unbelastet wie möglich blieben ...“ Und weiter: „Die Heeresleitung stellte sich bewußt auf den Standpunkt, die Verantwortung für den Waffenstillstand und alle späteren Schritte von sich zu weisen. Sie tat dies, streng juristisch gesehen, nur mit bedingtem Recht, aber es kam mir und meinen Mitarbeitern darauf an, die Waffe blank und den Generalstab für die Zukunft unbelastet zu erhalten.“

Eine gefährliche Linie Es wird hier ein Punkt berührt, der nur scheinbar vom Thema des heutigen Tages abführt. Indem man den Finger auf ihn legt, soll gewiß nicht Casablanca gerechtfertigt oder die schematische Vorstellung unterstützt werden von einem Generalstab, der, wenn er für Friedensschluß eintritt, sich für den nächsten Krieg aufzusparen wünscht, erst recht nicht das vorurteilsvolle Klischee des Militarismus, das Wheeler-Bennetts Buch über die „Nemesis der Macht“ durchzieht. Auf den deutschen Generalstab nach 193 3 oder gar auf die Männer des militärischen Widerstands angewandt, wird es zur vollendeten Karikatur. Und auch Groener war gewiß alles andere als ein Revancheapostel. Man wird seinen und seiner Mitarbeiter Wunsch verstehen können, das Prestige einer Armee zu schonen, die nach vierjährigem Ringen und zur Schlacke ausgebrannt noch immer in der Abwehr Heldenhaftes leistete, den Wunsch auch, ihr eine angesehene Stellung in der Republik zu sichern. Und doch knüpft hier eine gefährliche Linie an. Sie führt zur Dolchstoßlegende mit ihrer vergiftenden Wirkung im Innern und zum Mythus des „Im Felde unbesiegt“. Nur wenige mochten ihn in so grotesker Form bekennen, wie jener braunschweigische Minister, der 1931 schrieb: Der Weltkrieg sei 1918 nicht mit einer Niederlage zu Ende gegangen, „vielmehr war es ein Sieg, dessen Früchte uns durch 12 Jahre vorenthalten wurden“ Aber man spürt hier doch, welch illusionäres Vorbeisehen an der einfachsten Wirklichkeit, welche Verfälschung der Sprache und des Denkens, welche geistige und moralische Pervertierung von überdeckten und verdrängten Tatsachen sich herleiten kann. Es scheint müßig, daran heute angesichts eines so völlig verschiedenartigen Ablaufs zu erinnern. Ist die Niederlage von 1945 nicht wahrlich heim-gebracht worden, in Jahren des Hungers, der Besatzungswillkür und weitgehender Rechtlosigkeit bis fast zur Auslöschung staatlicher Existenz? Aber wenn man das Auftauchen einer neuen Dolchstoßlegende betrachtet, die Himmler zuerst nach dem 20. Juli mit jener zynischen Umkehrung eingeführt hat, nach der das deutsche Offizierskorps in seiner Klassenbefangenheit nicht nur der Sabotierung des nationalsozialistischen Krieges schuldig sei, sondern auch die Niederlage von 1918 verursacht habe, so mögen einem Zweifel kommen an dem Grad der Aneignung und inneren Verarbeitung selbst einer Katastrophe wie der von 1945. Und auch sonst hat nicht selten in jüngster Zeit Anlaß bestanden — etwa bei der Saardebatte —, sich zu fragen, ob angesichts der so veränderten Lage „zehn Jahre danach“ nicht die elementare Tatsache einer Niederlage ohnegleichen und die Erinnerung an den Nullpunkt bereits im Bewußtsein vieler ebenso ausgeklammert sind wie das für manche von dem gilt, was dahin geführt hat. Wie dem auch sei, der heutige Tag sollte im Zeichen nicht des Herumwühlens in Schmerzlichem, wohl aber des unverhüllten Aussprechens dessen stehen, was geschehen ist und sich nicht umdeuten läßt.

Damit werden wir auf eine Ebene der Betrachtung jenseits des bloß äußeren Ablaufs geführt, in die Schicht der Motivierungen und Zurechnungen. Noch einmal mag uns dabei der Vergleich mit und die Beziehung zu 1918 als Eingang dienen. Es war ja das Eigentümlichste der Friedensordnung von Versailles, daß sie auf moralisierendes Urteil sich gründete und zugleich ihre eigene Moral verletzte. Nichts hat mehr den Widerstand gegen sie aufgerufen als das einseitige und machtmäßig diktierte Verdammungsurteil über ein Land und seine Regierung als verbrecherisch und allein verantwortlich am Krieg. Wie man weiß, ist diese These durch die historische Forschungsarbeit nicht nur in Deutschland, sondern in allen Ländern Stück um Stück abgebaut worden. Es ließe sich mit einigem Recht sagen, daß dabei die Abwehr den Blick wohl zu sehr in enge Bahnen fixiert hat, und doch braucht innerhalb dieser Grenzen von den Ergebnissen des Revisionsprozesses nichts Wesentliches widerrufen zu werden. Aber dann haben wir es erleben müssen, daß unter dem Eindruck der Ereignisse seit 1933 das, was abgelegt erschien, wieder aufgelebt und nun erneut nach rückwärts projiziert worden ist auf die preußische wie auf die deutsche Vergangenheit hin, auf Charakterzüge der Nation wie auf ihre hegemonialen Bestrebungen — unter welchem Regime auch immer. So sehr das tendenziöser Fehlgriff und propagandistische Vereinfachung war, so wenig wird man sich von der Überprüfung der Traditionen dispensieren können, die Hitler selbst in seiner Person zu erfüllen behauptet hat, und so absurd wäre der Fehlgriff, wollten wir die berechtigte Abwehr der Schuldthese von 1918 nun unsererseits nach vorwärts projizieren in eine fundamental veränderte Lage hinein. Es kann nicht im Ernst versucht werden, die Verantwortlichkeit des nationalsozialistischen Deutschland für den zweiten Weltkrieg zu bestreiten. Jeder Rückfall in eine Apologie oder eine angriffsweise Defensive wäre völlig fehl am Platz. Gleichwohl hat man in der Richtung manches schon in deutschen Veröffentlichungen der jüngsten Zeit lesen können, so über den englischen Wirtschaftsneid und die Einkreisung Deutschlands, über das Wunschbild Hitlers nach friedlicher Revision der Karte und einem unversehrten, durch deutsche Schutzherrschaft gesicherten Europa, dem nur eigensüchtige Mächte oder die Weltverschwörung finsterer Gewalten-in den Weg getreten seien. „Als ich noch nicht Reichskanzler war..

Es ist hier nicht der Ort, und es fehlt die Zeit, sich damit gründlich auseinanderzusetzen. Wir haben genug der eindeutigen Zeugnisse — und nicht nur solche, die für Prozeßzwecke gesammelt oder zubereitet worden sind —, aus denen erhellt, wie Hitler die Möglichkeit, berechtigte deutsche Revisionen auf diplomatischem Wege zu erreichen, bewußt in den Wind geschlagen hat, wie er planmäßig auf gewaltsame Lösung der sogenannten deutschen Raumfrage ausgegangen ist und welches Schicksal den mitlebenden Völkern in dem großgermanischen Reich zugedacht war. Übrigens hat er selbst nie behauptet — jedenfalls nicht, solange alles gut ging —, durch andere auf den Weg des Verhängnisses gedrängt worden zu sein. Es genügt, die Worte zu zitieren, die er bei einem Besuch der Ostfront gesprochen hat. Sie sind nicht ohne Interesse für die Richtigstellung des Klischees vom angriffslüsternen deutschen Militarismus, vor allem aber gelegen sie des Führers eigene Rolle unmißverständlich und in einem nur zu charakteristischen Bild. „Als ich noch nicht Reichskanzler war,“ so ließ sich Hitler vernehmen, „habe ich geglaubt, der Generalstab gleiche einem Fleischerhund, den man fest am Halsband halten müsse, weil er sonst jeden anderen Menschen anzufallen drohe. Nachdem ich Reichskanzler wurde, habe ich feststellen müssen, daß der deutsche Generalstab alles andere als ein Fleischer-hund ist. Dieser Generalstab hat mich immer hindern wollen, das zu tun, was ich für nötig hielt. Der Generalstab hat der Aufrüstung, der Rheinlandbesetzung, dem Einmarsch in Österreich, der Besetzung der Tschechei und schließlich dem Krieg gegen Polen widersprochen. Der Generalstab hat mir abgeraten, gegen Frankreich offensiv vorzugehen und gegen Rußland Krieg zu führen.“ Das ist eine Selbstaussage von nicht zu übertreffender Drastik.

Aber man wird hier nicht innehalten dürfen. Es kann uns nicht nur darum gehen, die Veranlassungen und Motivierungen des äußeren Geschehens, das zur Katastrophe führte, unzweideutig festzustellen, soweit das innerhalb einer verschlungenen Kausalkette vieler Fatalitäten möglieh ist, sondern es geht um die Fatalität selbst. Sie ist letzten Endes in einem System begründet, das ja nach innen ebenso wie nach außen auf Gewaltsamkeit angelegt war. So sind die grauenhaften Dinge, die in den besetzten Gebieten, vor allem des Ostens, sich ereignet haben, eine Verlängerung dessen, was in deutschen Konzentrationslagern an wirklichen oder vermeintlichen Gegnern geschah. So war der Anspruch, die Unversehrtheit Europas und das Eigenleben seiner Völker gegen die bolschewistische Drohung zu sichern, in der Wurzel vergiftet durch die Verwandtschaft zu einem System, das angebliche Klassengegner ebenso radikal liquidierte, wie es der Nationalsozialismus mit angeblichen Rassegegnern tat. Wenn hier ein Unterschied bestand, so eher zu Lasten einer Staatsgewalt, die nicht auf orientalischem, sondern auf abendländischem Untergründe ruhte und die Austilgungen mit der kalten Rationalität technischer Machbarkeit betrieb. Vollends aber, wie hätte ein Regime als Befreier von einer kommunistischen Diktatur auftreten können, das nicht nur zeitweise mit ihr verbündet gewesen und ihr den Weg nach Westen durch den Ribbentrop-Molotow-Pakt zuerst geöffnet hat, sondern dessen Herrschaft im eigenen Volk auf Terror beruhte.

Hier rühren wir an die tiefe Paradoxie des 9. Mai. Es waren deutsche Patrioten, die den Tag der Kapitulation herbeiflehen mußten, so wenig sie sich über das danach Kommende Illusionen-machen mochten. Er bedeutete immerhin das Ende unsäglichen Leidens und Blutvergießens über den Erdball hin, die Ersparnis unersetzlichen Lebens auf Schlacht-feldern und in Gefangenenlagern, in Bombenkellern und Gestapoverliesen, mehr noch, er öffnete mit dem Sturz einer verbrecherischen Herrschaft mindestens die Möglichkeit für die Wiedergewinnung menschlicher Freiheit und menschlicher Würde.

Nicht nur ein deutscher Zusammenbruch Damit wird dann vollends deutlich, daß die Kategorien von nationaler Niederlage und demütigender Kapitulation das Ereignis von 1945 nicht mehr zu fassen vermögen. Man kann mit gutem Grunde sagen, und mancher aufrechte Deutsche empfand es so, daß die Ehre des geschlagenen Volkes tiefer und unheimlicher getroffen war durch das, was in seinem Namen zwölf Jahre lang geschehen wat, als durch das Fazit, das man schließlich ziehen mußte, oder durch das, was die Sieger verhängen mochten. Und weiterhin: Es geschah ja nicht nur ein deutscher Zusammenbruch, er schloß den Europas in sich ein. Wenn es zur Bilanz des 9. Mai gehört, daß jeder Versuch deutscher Hegemonie endgültig der Vergangenheit angehört, so ist dieser Tag nicht weniger ein Symbol für den lange schon in Gang befindlichen, nun aber eklatant werdenden Schwund der Vormachtstellung Europas in der Welt. Es waren überseeische und transkontinentale Mächte, die das Geschick des alten Erdteils von nun an bestimmen würden, ja dahinter deutet das Abwandern weltweiter Entscheidungen zu den farbigen Völkern sich an. Und noch ein letztes dieser Bilanz wäre ins Auge zu fassen: Indem das Unmenschliche, das im Nationalsozialismus konzentrierten Ausdruck gefunden hatte, von außen bekämpft wurde und von außen den entscheidenden Stoß erhielt, breitete es sich als universale Erscheinung erst recht über die Erde aus und bedrohte das Menschentum überhaupt.

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Die Fieberwelle der Vergeltung -Es versteht sich, daß das Gedenken des 9. Mai auch daran nicht vorübergehen kann, und daß uns die billige Erklärung des „Auge um Auge“ und „Zahn um Zahn“ nicht zu genügen vermag, — um so weniger als die Anmaßung der Rache, in eine Massenbewegung hinein entfesselt, erst recht die Unschuldigen zu treffen geeignet ist. Wer möchte es wagen, den Maßstab der Verursachung, oder gar eines zureichenden Grundes, geschweige denn mildernder Umstände anzulegen an jene furchtbaren Worte, in denen Ilja Ehrenburg die „vorwärtsstürmenden Rotarmisten“ zum Töten und Zerstampfen aufforderte, in denen er sie ermahnte, den „Rassenhochmut der deutschen Frauen“ mit Gewalt zu brechen und sie als rechtmäßige Beute zu nehmen Wer möchte in solchem Appell nur das Echo der nationalsozialistischen Rassenpolitik sehen, — obwohl er gewiß auch das war. Aber ebensowenig handelt es sich hier um das bloße Losgelassensein primitiver Instinkte und barbarischer Wildheit. Man wird um die Erkenntnis nicht herumkommen können, daß der deutsche Angriff, nicht nur der äußere, sondern der auf die Grundlagen des Zusammenlebens von Völkern, eine Fieberwelle der Vergeltung entband, in deren Anbranden, wie im Nationalsozialismus selbst, alles Untergründige emporgespült wurde und das Tier aus dem Abgrund seine Stunde gekommen sah.

In solcher Sicht werden uns die Schreckensszenen des 9. Mai in Prag ebenso bestätigen wie die erschütternden Dokumente, in denen die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten östlich der Oder und Neiße mit bedrängender Anschaulichkeit für die Nachwelt überliefert ist Wenn in der heutigen Erinnerungsstunde mit Recht am Eingang der blutigen Hekatomben gedacht wurde, die in allen Ländern und Völkern, über jeden Vergleichsmaßstab hinaus, direkt oder indirekt zur erschreckenden Bilanz des zweiten Weltkrieges zu rechnen sind, so gehören in ihre Zahl sowohl die Millionen hinein, die schon auf dem Wege zum Ausbruch von 1939 der Gewalt zum Opfer fielen, wie auch die nach Abschluß der Feindseligkeiten Ermordeten, desgleichen die vielen, die auf der Flucht ertranken oder im Schnee verkamen, die erfroren oder verhungerten, die Zwangsmärsche oder Zwangslager nicht überlebten. Es gehören gewiß auch die Frauen mit hinein, die nach tiefer Demütigung Hand an sich legten, oder die Männer, die sich der Schmach widersetzten. Allein aus den Reichsgebieten östlich von Oder und Neiße, also alle Volksdeutschen aus der Rechnung lassend, hat der Gesamtprozeß der Vertreibung den Tod von 1, 6 Millionen Deutschen zur Folge gehabt. An die materiellen und vor allem die seelischen Verluste derer, die das bare Leben retteten — aus dem gleichen Raum erreichten 7 085 000 das Bundesgebiet oder die Sowjetzone —, braucht nur eben erinnert zu werden.

Aber diese Erinnerung sollte im Zeichen des in der Charta der Heimatvertriebenen selbst so denkwürdig ausgesprochenen Verzichts auf Radie und Vergeltung eines bewußten Abreißens der Kette des Bösen, stehen. Auch wer sich als Historiker mit der Klarlegung der Vorgänge im deutschen Osten befaßt, wird das nur tun können im Bewußtsein des Beitrags, den Deutsche zu der Massenauswurzelung und Verpflanzung von Menschen unseligerweise geleistet haben, und in der Hoffnung, wie es im Vorwort zu den genannten Dokumenten heißt, die Einsicht zu verstärken, daß „sich Ereignisse wie die Vertreibung nicht wiederholen dürfen, wenn Europa noch eine Zukunft haben soll“. Hier kann es nicht um Rechnung und Gegenrechnung gehen, sondern nur um die Wahrheit in ihrer erschreckenden Totalität. Wie man jedem Versuch widerstehen sollte, die Unmenschlichkeiten, die im deutschen Osten geschehen sind, zu überdecken mit dem Hinweis auf die sehr viel größeren Zahlen der in Vergasungslagern Ausgetilgten, so wird überhaupt und erst recht in der umgekehrten Richtung der ansteigenden Neigung des Kompensierens auf den Nullpunkt des Engagements, d. h.der nihilistischen These, die das Selbst-zu-Verantwortende, ja jede ethische Ansprechbarkeit im Hinblick auf das Unrecht anderer auslöschen möchte und in der zynischen Stimmung des „Quittseins" endet, — es wird all dem am’heutigen Tage, wenn anders wir ihn mit offenem Visier begehen, die entschiedenste Absage zu erteilen sein.

Das gilt ebenso gegenüber gewissen Erscheinungen und Vorgängen in der Welt der westlichen Sieger. Auch daran ist in dieser Besinnungs-stunde nicht vorbeizugehen. Aber auch hier handelt es sich nicht um Aufrechnungen, sondern um die Erkenntnis von Zusammenhängen, die als Drohung mindestens unserer Zeit eigentümlich sind und bleiben. Es war nicht nur private Rachsucht einzelner, deren Familien in Auschwitz vergast sein mochten, oder primitive Ausbeutung ungewohnter Macht über Menschen, nicht nur nationaler Egoismus oder das Abreagieren erlittener Niederlagen, was sich zu Lasten des besiegten Landes und seiner Bewohner entlud. Schon während der Schlachten hat eine amerikanische Korrespondentin (Dorothy Thompson) einmal scharf-blickend und warnend darauf hingewiesen, daß man in Weltanschauungs-Kriegen und Kreuzzügen mit dem Gift sich zu infizieren in Gefahr sei, gegen das man kämpfe. Auch das ist eine Wahrheit des 9. Mai, die unverloren bleiben sollte. Die Infektion bestätigte sich u. a. in einer Übernahme kollektiven Denkens, also in jener Gleichsetzung von Deutschen und Nationalsozialisten, auf der die Kollektivschuldthese beruhte. Sie prägte sich ebenso in dem Urteil nach formalen Kategorien aus, das der Nationalsozialismus mit seinen biologischen Abstempelungsmethoden vorgebildet hatte, und in so mancher Verletzung der eigenen westlichen Prinzipien rechtsstaatlicher Natur. All das konnte um so einschneidender empfunden werden, je höher der Anspruch in das Amt des Weltenrichters griff. Man wird dazu rückblickend sagen können, daß gewiß die moralische Empörung in den westlichen Ländern nach 1939 sehr viel echter, sehr viel mehr in Tatsachen begründet war als nach 1914 und daß ohne diesen Sporn der Krieg der Demokratien nicht hätte geführt werden können. Aber jedes Ringen in apokalyptischer Perspektive steht in Gefahr blasphemischer Überhebung. So ist 1945 der Abfall von den eigenen Idealen sehr viel eingreifender erfolgt als 1919, — bis hin zu jenem zeitweiligen Extrem des Umschlags in kollektive Rachsucht, für das der Morgenthauplan als Zeugnis steht. Er ist, wie wir wissen, recht bald in seiner Unsittlichkeit wie seiner Unvernunft erkannt worden, aber hat doch seine Wirkung gehabt.

Niederlage abendländischer Gesittung Von hier aus allein schon ließe sich sagen, daß die westlichen Sieger mitten im Triumph in die Niederlage von 1945 einbezogen worden sind, eine Niederlage der abendländischen Gesittung, die sie im Gefolge des totalen Krieges mit ergriff. Lind diese Feststellung wird sich auf dem Boden konkreter Zusammenhänge bestätigen. In einer Ansprache schon des 13. Mai hat Churchill voll Sorge sich selbst gefragt: „Wofür hätten wir gekämpft, wenn nur an die Stelle der deutschen Invasionstruppen totalitäre oder Polizeiregierungen anderer Art treten würden? Es ist fast eine Binsenwahrheit heute, daß er wie Roosevelt dies Ergebnis seit der Moskauer Konferenz von Oktober 1944 bis nach Jalta hin entscheidend gefördert haben, zuerst durch die Preisgabe des eigenen Verbündeten Polen, aus der dessen kommunistische Beherrschung, seine Entschädigung bis zur Oder-Neiße-Linie hin, schließlich die sowjetische Machtstellung in Mitteldeutschland Zug um Zug gefolgt sind Es war indessen nicht nur Schwäche oder Vertrauensseligkeit, die dahin geführt haben, auch nicht kalter Zynismus, wie er allerdings aus Äußerungen der beiden westlichen Staatsmänner auf der Konferenz von Jalta schrill in unsere Ohren klingt als Zeugnis eines erschreckenden Befallenseins vom Fieber dieser Jahre. Man wird über das Persönliche hinaus indessen auch hier noch anderes in Rechnung zu stellen haben, insbesondere die Verschlingung aller politischen Erwägungen durch das eine dominierende militärische Ziel. Schon die Casablancaformel hatte mit den Sinn, ein russisches Abspringen zu verhüten. Und mit Betroffenheit liest man in Churchills Memoiren, daß in London im Sommer 1943 ein Stillhalten der Sowjetunion an den Reichsgrenzen befürchtet wurde. „Eine russische Zone in Deutschland“, so heißt es da, „blieb eine akademische Vorstellung, zu schön, um wahr zu sein.“

Man muß die letzten Worte dieses Satzes einsinken lassen, um ihre volle Bedeutung zu ermessen, selbst für immer noch mögliche Unter-strömungen unserer Tage. Für die Jahre 1944/45 besagen sie, daß auch Churchill, der den Bundesgenossen gewiß weniger zu idealisieren neigte, als Roosevelt es eine Zeitlang tat, unter der zwingenden Gewalt dessen stand, was militärisch notwendig war, um den Krieg überhaupt zu gewinnen. Ob eine andere Haltung es hätte verhindern können, daß die Sowjet-macht über die westslawischen Völker hin bis in die Mitte des europäischen Kontinents vordrang, wird schwer zu entscheiden sein. Die Vorstellung jedenfalls, daß die westlichen Sieger im letzten Augenblick sich gegen ihren Alliierten kehren würden, stammt zu sehr aus Hitlerschem oder Goebbelsschem Geist, um ernst genommen zu werden. Erst in dem kürzlich bekanntgewordenen Telegramm Churchills an Montgomery über die mögliche Wiederbewaffnung deutscher Kriegsgefangener — es fällt auch auf den 9. Mai — taucht ein solcher Gedanke auf. Bis zur Kapitulation hin aber wirkte die Dynamik des totalen Krieges, aus der es so unendlich schwer ist, sich zu befreien, als Verklammerung des unnatürlichen Bündnisses, das, wie man nicht vergessen sollte, erst Hitlers Angriff zusammengebracht hat und das der Eindruck immer noch erstaunlicher deutscher Leistungen mit der Ardennenoffensive, diesem nutzlosen Va-banue-Spiel dilettantischer Strategie, erst recht zu einer erpresserischen Waffe in der Hand Stalins machte. Das läßt sich für Jalta deutlich feststellen, und noch mehr drängt sich ein entsprechender Zusammenhang im Hinblick auf die Probleme des Fernen Ostens auf. Bekanntlich haben die amerikanischen Militärs den Widerstandswillen Japans so sehr überschätzt, daß man um den Eintritt der Sowjetunion als Bundesgenosse auch in diesen Krieg in Jalta glaubte werben zu müssen. Es läßt sich heute mit Sicherheit sagen, daß das unnötig war, daß die Zugeständnisse in der Mongolei und Mandschurei, auf Sachalin und den Kurilen, daß das Hin-weggehen über China, ja mehr noch, daß Hiroshima hätte erspart werden können, ohne daß die Blutopfer einer Landungsoperation in Japan erforderlich gewesen wären. Für Deutschland lagen die Dinge doch wohl sehr anders, eben weil hier ein bis zum Äußersten, d. h. bis zur Opferung des eigenen Volks, entschlossenes System bestand. So wird man nicht umhin können, zu sagen, daß in Europa der Verlust des Friedens im Siege und die Niederlage eines Kontinents sich mit schicksalhafter Logik vollzogen.

Daß die Bedrohlichkeit dieses Ausgangs verhältnismäßig bald realisiert worden ist, daß die destruktivsten Pläne von Jalta nicht ausgeführt wurden, daß eine Umkehr der westlichen Sieger, der Vereinigten Staaten insbesondere, erfolgte, spätestens in der Stuttgarter Rede des Staatssekretär Byrnes verkündet, dann vom Marshall-Plan unterbaut, das alles brauche ich nicht auszuführen. Es wird von dem äußeren Weg nach oben, den die Jahreszeiten 1945 bis 1955 umschließen, in anderen Vorträgen dieser Reihe die Rede sein, ebenso von der schwersten Hinterlassenschaft der Niederlage, der Teilung Deutschlands, dessen Wiederzusammenkom men nicht nur ein Kernproblem deutscher Politik, sondern jeder Friedensordnung ist, zudem ein Problem, das wie alles, das um 1945 kreist, nicht nur in die nationale, sondern in die menschliche Substanz tief hinein-schneidet. Schon die Berührung dieses einen Punkts, zusammen mit vielen anderen, wird die heutige Erinnerungsstunde davor bewahren, von dem Hochgefühl, es so herrlich weit gebracht zu haben, durchfärbt zu werden.

Man darf daher dankbar dafür sein, daß das Gedenken an den 9. Mai 1945 nicht mit einem zu voll genommenen und das Vergangene überdeckenden Feiertag westdeutscher Souveränität sich verquickt hat.

Endpunkt und Ausgangspunkt zugleich Sehr mit Absicht ist denn auch im Thema der „ 10 Jahre danach der Blick heute und hier auf den Tiefpunkt konzentriert worden, der Endpunkt und Ausgangspunkt zugleich ist. Das ergibt gewiß einen eindrücklichen Maßstab für das inzwischen so stattlich Aufgebaute, national wie international, aber es schließt auch das Wachhalten des Bewußtseins dafür ein, wie tief der Abgrund war, den menschlicher Aberwitz geöffnet hat, des Bewußtseins auch, daß'die Kräfte der Bedrohung fortbestehen. Im Blick auf den Osten wird das kaum in Gefahr sein, vergessen zu werden, aber eben in dieser eindeutigen Front mag die Versuchung eines neuen Pharisäertums liegen, einer durch Wohlstand geförderten Selbstgefällig keit oder der Illusion, „als ob“ wir schon im Besitze wären jener Solidarität des sozialen Handelns und der Unantastbarkeit menschlicher W ürde, die mehr noch als wirtschaftliches Gedeihen und militärische Abwehr-kraft den Bestand der westlichen Welt bedingen. Auch in der Besinnung darauf mag die Aneignung der Niederlage, die Erinnerung an das Un-menschliche, das zu ihr geführt hat und in ihr ausbrach, für uns fruchtbar sein.

Aber nicht auf diesen Ton allein sollen die letzten Worte des Gedenkens gestimmt sein. Es wird mindestens eine der vorwärtsweisenden Linien noch berührt werden dürfen, die am wenigsten mit günstiger werdenden äußeren Umständen, mit einem Wechsel der weltpolitischen Konjunktur, etwa seit dem Staatsstreich in Prag oder seit der Berliner Blockade, die überhaupt nicht eigentlich mit Politik zu tun hat, sondern mit der Bewährung des Menschentums gerade am tiefsten Punkt. Das liegt ja wohl auch dem so viel beredeten deutschen Wunder mindestens mit zugrunde: schlichte Tüchtigkeit, ein zähes Emporarbeiten und unverdrossenes Handanlegen, sowie irgend die Möglichkeit dazu sich bot. Und an noch Wunderbareres ist zu erinnern: Man wird immer wieder in Erzählungen aus jenen Jahren darauf stoßen, daß in allem Chaotischen und neben allen Verfallenserscheinungen wie sittlichen Gefährdungen, neben Eiartherzigkeit und Ellbogenkraft, Güte und Hilfsbereitschaft sich in einem Maße offenbart haben wie selten zuvor, daß nie freudiger geteilt worden ist, als wenn so blutwenig zum Teilen da war. Es kommt fast ein Ton der Sehnsucht in diesen Erzählungen zum Klingen, jedenfalls des Bedauerns, daß so wenig von diesem Außerordentlichen in eine geordnetere Zeit hat hinübergenommen werden können. Aber zu den Erinnerungen, die man heute aufrufen möchte, wird auch das gehören dürfen. „Sieger sind vielleicht Sie und ich ..

Und sie beschränken sich nicht auf eine, die geschlagene Nation. Wie der Ausbruch des Unmenschlichen über die Erde hinging, so sind auch die rettenden Kräfte vielerorts zutage getreten. Es ist früher hingewiesen worden auf die Dokumente der Vertreibung, von denen man Kenntnis nehmen muß, wenn man des Infernos der Völker im Osten gewahr werden will. Ihnen ist ein kleiner Band vorausgegangen, auf die gleichen Ereignisse bezogen, der den Titel trägt: „Dokumente der Menschlichkeit“ Er bezeugt in einer Fülle von originalen Berichten die Hilfe, die deutschen Flüchtlingen und Verschleppten von kriegsgefangenen Franzosen und Litauern, von Letten und Esten, von Polen und Tschechen — nicht zum wenigsten auch von Russen bis zur Verteidigung deutscher Frauen hin zuteil geworden ist. Die Worte eines Polen, der während der Hitlerzeit schwere Internierungsjahre in Deutschland verbracht hatte, mögen hier als Zeugnis stehen: „Sieger“, so sagte er zu einer Deutschen in der Tschechoslowakei, „sind nicht dort die wilden, rachedurstigen, beutegierigen Menschen, die im Vollbesitz ihrer Macht... an uns vorüberfahren. Sieger sind vielleicht Sie und ich, weil wir inmitten eines solchen Chaos Nächstenliebe üben und versuchen, auch in den einfachen Dingen des Lebens unsere Nationen und die Menschheit würdig zu vertreten.“ Auch das sollte in Erinnerung bleiben und gegen die Gefahr von Kollektivvorstellungen feien, die gerade hinsichtlich der Völker jenseits des Eisernen Vorhangs nur allzu leicht um sich greifen.

Es wird weniger nötig sein, davon zu sprechen, wie auch unter den dem Angriff wie der Besetzung unterworfen gewesenen nordischen Nationen und unter den westlichen Siegern die Stimme der Menschlichkeit sich Bahn brach. Ein Vorkämpfer des Hilfswerks, wie der Sohn Fridtjof Nansens, auch er lange Jahre in deutscher Haft gequält, und ein Wecker der Gewissen wie der englische Jude Viktor Gollancz, sind bekannt genug geworden. Lind zu viele haben von privater Seite, insbesondere aus den Vereinigten Staaten, und nicht nur von deutschstämmigen Bürgern oder Verwandten und Freunden, Pakete empfangen, die so mancher deutschen Familie das Leben gerettet haben, als daß man dabei zu verweilen brauchte.

Aber eines wird gesagt werden dürfen: Der Umschwung trat nicht nur aus Gründen der politischen Vernunft ein, die es einfach nicht erlaubte, die Mitte des europäischen Festlands zu einem einzigen physischen und moralischen Infektionsherd werden zu lassen, auch nicht nur — so sehr das gewiß wirksam war —, weil der Zwang der Lage Westdeutschland eine unerwartete Bedeutung in der Abwehrfront kommunistischer Penetration schließlich gab, nachdem die Einheit der Sieger unheilbar zerbrochen war. Die Voraussetzungen des Wandels lagen tiefer und traten früher ein, auch bei Männern von öffentlichem Einfluß. Sie rühren an das Grundsätzliche, um das es uns in dieser Stunde geht. Ich habe begonnen mit der Erinnerung an das Ereignis, das den 9. Mai 1945 eingeleitet hat.

Ich möchte schließen mit einer an den 8. Mai, den Tag, da in den Vereinigten Staaten die Feier der siegreichen Beendigung des Krieges in Europa, der „V-E-Day“, begangen wurde. An der Universität Chicago fand diese Feier vor 3 000 Hörern in der Universitätskirche statt. Der Besucher fand auf seinem Platz einen Kirchenzettel mit dem Text des Liedes „Ein feste Burg ist unser Gott“ in deutscher Sprache. Mit ihm wurde nach dem Orgelvorspiel die Feier begonnen. Die Rede hielt der damalige Präsident der Universität, der wegen seines Eintretens für eine humanistische Umgestaltung des amerikanischen Erziehungswesens weithin bekannte Dr. Robert M. Hutchins Er begann mit den Worten:

„Wir sagen Dank dafür, daß wir von der Bürde des blutigsten Krieges der Geschichte befreit sind, dank diesen tapferen Männern, den lebenden und den toten, die uns von ihr befreit haben. Wir bitten darum, es möge uns gegeben sein: Demut, Menschlichkeit, Vernunft und Milde zu beweisen in der Art, wie wir den Sieg nutzen, den sie für uns gewonnen haben." Und er fuhr fort: „Es tritt nun die wirkliche Probe der von uns öffentlich bekannten Ideale an uns heran, der Ideale, um derentwillen wir behauptet haben, in den Krieg eingetreten zu sein. Wir taten es, sagten wir, nicht um unsere eigene Haut zu retten, sondern um eine friedliche, gerechte und menschliche Ordnung möglich zu machen, die alle Völker der Erde umfassen sollte. Wenn es das ist, was wir wollen, so müssen wir jetzt Opfer bringen, nicht an unserem Leben, sondern an unserem Besitz, um Millionen unserer Mitmenschen vor dem Hunger und dem moralischen und politischen Verfall zu bewahren, den Hunger mit sich bringt. Es gibt schon einige Anzeichen dafür, daß wir weniger willens sein werden, unseren Besitz zu opfern, als wir willens waren, unser Leben zu opfern oder doch zum mindesten das Leben unserer Soldaten und Seeleute.“ — Auch solche mahnenden und warnenden Worte mögen in das Gedenken des heutigen Tages ausgenommen sein, und nicht nur in das rückwärts gewandte. — Anmerkung Prof. Dr. Wilhelm Flitner, ‘geb. 20. 8. 89 in Berka/Ilm. Lehrgebiet: Pädagogik, Geistesgeschichte.

Rothfels, Hans, Professor der neueren europäischen Geschichte der Universitäten Chikago und Tübingen. Geb. in Kassel 12. 4. 1891. Korr. Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Lehrgebiet: Deutsche Geschichte, Nationalitätenprobleme, Zeitgeschichte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das Zitat entstammt einem der Historischen Kommission der Bayrischen Akademie der Wissenschaften vorliegenden Gutachten. Die betreffende Stelle ist in der Biographie von Dorothea Groener-Geyer nicht verwertet.

  2. Zitat bei S. A. Kaehler, Vorurteile und Tatsachen (Hameln 1949), S. 14.

  3. Der Aufruf ist in russischer Sprache überliefert (danach offenbar die falsche Über-setzung „germanische" Frauen bei Görlitz, Der Zweite Weltkrieg 1939 1945, Stuttgart 1952, Bd. 2, S. 469). Siehe dazu auch die dokumentarischen Nachweise für erteilte Befehle zur Gewalttat in: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße. I. 1, S. 62 f„ Anni. 2.

  4. Siehe das in der vorigen Anm. genannte Werk. Zur Quellenfrage vgl. diese Zeitschrift 2 (1954), S. 202 ff. A. a. O. in der Einleitenden Darstellung (S. 158 E) die im folgenden genannten Zahlen.

  5. Die Jalta-Dokumente lagen bei Drucklegung nur erst in der Ausgabe der „New York Times“ (17. März) vor. Vgl. dazu und zum Folgenden: H. G. v. Studnitz, Wie der Frieden verloren wurde, „Außenpolitik", 6 (195 5), S. 258 ff.

  6. Herausgegeben vom Göttinger Arbeitskreis (1950) — Die im folgenden zitierten Sätze daselbst S. 111.

  7. Veröffentlicht durch Human Events (Washington—Chicago 1945). — Eine deutsche Übersetzung mit einer Einführung durch A. Bergsträsser — nach beiden ist hier zitiert — in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht’ (Mai 1955).

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