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„Völker können sich nie genug schenken” | APuZ 43/1955 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 43/1955 „Völker können sich nie genug schenken” Deutschland und Frankreich in der Weltpolitik der Gegenwart Unterschiede, Mißverständnisse und Möglichkeiten zwischen Deutschland und Frankreich Tradition, Vernunft, Freiheit Die Augsburger Jahrtausendfeier

„Völker können sich nie genug schenken”

Theodor Heuss

Im Folgenden veröffentlichen wir die auf der Deutsch-Französischen Konferenz des DEUTSCHEN RATES DER EUROPÄISCHEN BEWEGUNG gehaltene Ansprache des Bundespräsidenten sowie die Referate von Professor Arnold Bergsträsser und Alfred Grosser. Die Konferenz faud in Bad Neuenahr vom 14. — 16. Oktober 1955 statt.

Inhalt Dieser Beilage:

Meine Damen und Herren!

Darf ich den paar Bemerkungen, die ich machen soll und will und werde, einen persönlichen Charakter geben. Es wird jetzt bald ein halbes Jahrhundert sein, als ich zum ersten Mal in Paris war — ein paar Wochen lang. Damals war unser Botschafter, der jetzt sein Amt verlassen hat, Wilhelm Hausenstein, ein Studienfreund von mir, mein Mentor, und ich kann mir den zarten Rausch dieser ersten Begegnung noch vergegenwärtigen. Wir streiften durch Kirchen und Galerien, die Stunden im Bois, im Luxembourg werden lebendig, ich hatte auch ein Skizzenbuch bei mir und habe von jener Zeit die Zeichnungen eines jungen Menschen, die mich selber rühren und die Atmosphäre beim Betrachten aufstehen lassen-

das Zusammenfließen von großer Geschichte, die ihre Bauzeugnisse an weite Plätze und in enge Gassen gestellt hatte, mit einer für das äußere Gefühl unbekümmert kräftigen Gegenwart. Das war 1906. Im Straßenbild gab es damals noch wenige Autos, so daß für das Erinnern die Zukunft. das heißt die rasende Technifizierung unseres Zeitalters mit ihrem Herrschaftsanspruch sehr zurückhaltend erschien. Das klingt wie eine unverbindlich schwärmende Romantik eines 22jährigen Jünglings und scheint nicht recht zu passen zu einem beginnenden Gespräch mit politischen Akzenten. Vielleicht aber doch. Jene damals aufdämmernde Zukunft ist zu einer unheimlichen Gegenwart geworden, mit neuen Maßstäben, neuen politischen Gewichtslagen, neuen geistigen Wertungen, und in ihr müssen die Völker Europas einen neuen Standpunkt suchen. Die VöJker, das mag in diesem Augenblick ein Abstraktum sein, denn sie selber in der Geschichte statten sich aus mit schmähenden oder schmückenden Worten, einmal das eigene, dann das fremde Volk bedenkend. Ich glaube, daß der Einzelne, und zumal jener, der bereit ist, ja vielleicht berufen ist, eine breitere Verantwortung im öffentlichen Leben auf sich zu nehmen, mit diesem Suchen nach dem neuen Standpunkt beginnen muß. Da ist es nun so, daß der Durchbruch aus dieser Gegenwart der seelischen Lähmungen und Unsicherheiten zu einer Zukunft relativer Gewißheiten zur Voraussetzung hat den erfolgreichen Kampf gegen die Vergangenheit, oder, vielleicht deutlicher, gegen die Geschichtslegenden, die mit dem Anspruch auf eine verpflichtende Symbolkraft von Geschlecht zu Geschlecht wandern. Ich will nicht falsch verstanden werden. Das gute Wissen um die Herkünfte und die Leistungen des eigenen Volkes ist ein Bedürfnis der Seelen, ein Gewinn für das eigene Mühen, Großem der Überlieferung würdig zu sein und Niedrigem mit dem eigenen Wert sich entgegenzusetzen. Das ist der Sinn der Tradition, der zur sicheren Fahrt helfen soll, wie der Ballast, der im Schiffsrumpf verstaut wird. Aber der Ballast der europäischen Vergangenheiten muß richtig und fest verstaut sein, damit er nicht bei leichtfertiger Gewichtslagerung das Schiff, die Schiffe manövrierunfähig macht und zu Havarien führt. Ich will jetzt gewiß keinen wohlgemeinten kurzen Geschichtsabriß der deutsch-französischen Beziehungen geben, der Bruderliebe und der Bruderfeindschaft. Les deux enfants de Charlemagne, wie Salvador de Madariaga vor sieben Jahren einmal ein Gespräch zwischen einem französischen Politiker und mir in Zürich apostrophierte, die beiden Brüder müssen halt sich verstehen und achten. Es schien dieser Gegenwart, in der wir leben, fast entschwunden zu sein, das einheitliche Sehen des romanisch-germanischen Geschichtsrhythmus, der für Leopold von Ranke doch eine Selbstverständlichkeit gewesen war. Die politische und militärische, die Geschichte im Hin und Her der Jahrhunderte der dynastisch-territorialen Kombinationen hat etwas schier Verwirrendes, wenn wir auf die Jahrhunderte zurückblicken, bis es mit der Geburtskantate eines jungen und verbindlichen National-gefühls — „Allons, enfants de la patrie“ — eine zugleich großartige und tragische Vereinfachung erfuhr, der dann Arndt und Schenkendorf und Rückert das Echo lieferten. Kann das Geschichte, Gewesenes werden, wie es, ich glaube, der ein Jahrhundert währende Krieg um das französische Territorium mit den Briten geworden ist. Er ist in seinen facts aus der

Fussnoten

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