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Der dialektische Materialismus | APuZ 13/1956 | bpb.de

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APuZ 13/1956 Die beiden Deutschland Der dialektische Materialismus

Der dialektische Materialismus

GUSTAV A. WETTER S. J.

Aul vielseitigen Wunsch veröffentlicht die Bundeszentrale für Heimatdienst den Vortrag des Herrn Professor Dr. Wetter, Rom, den dieser auf Einladung des Herrn Vorsitzenden des osteuropäischen Kulturrates Graf Henckell-Donnersmarck in Bonn am 23. Februar 1956 gehalten hat.

Bei der Auseinandersetzung mit dem dialektischen Materialismus ist es wichtig, den Gegner nicht zu unterschätzen und sich die Sache nicht zu einfach zu machen, indem man einen Materialismus bekämpft, den der Kommunismus selbst als veraltet, als Vulgärmaterialismus oder Mechanismus ablehnt. Ich erinnere mich hier insbesondere an die Situation, die wir in Rom 1944 erlebten. Als zusammen mit den alliierten Truppen auch die italienischen Exilkommunisten, die während der Herrschaft des Faschismus in Moskau geschult worden waren, ihren Einzug in Rom hielten, begann sofort die Auseinandersetzung zwischen Kommunisten und Nichtkommunisten. Dabei konnte man die Feststellung machen, daß oft Argumentationen, die gegen den kommunistischen Materialismus vorgebracht wurden, wirkungslos blieben, weil sie der Eigenart des dialektischen Materialismus nicht gerecht wurden.

Nach der Lehre des dialektischen Materialismus ist zwar die Welt wesentlich Materie und enthält nichts anderes als Materie. Die Materie existiert seit Ewigkeit, und befindet sich seit Ewigkeit in Bewegung, d. h. Veränderung und Entwicklung. Nun ist es für den dialektischen Materialismus wesentlich, daß diese Bewegung eine aufsteigende Richtung hat, d. h. zu immer höheren Daseinsformen der Materie führt. An gewissen Knotenpunkten der Entwicklung kommt es zum Auftreten wesentlich höherer Erscheinungen. Während also der Vulgärmaterialismus versuchte, z. B. das Leben oder geistige Bewußtsein restlos auf chemische und mechanische Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen, und die geistige Tätigkeit des Menschen prinzipiell auf die gleiche Stufe stellte, wie die psychische Tätigkeit des Tieres, anerkennt der dialektische Materialismus den geistigen Charakter des menschlichen Bewußtseins als etwas wesentlich Höheres gegenüber der Tierpsyche und gibt auch zu, daß das Leben wiederum etwas wesentlich Verschiedenes und wesentlich Höheres darstellt im Vergleich zur leblosen Materie.

Trotz dieser formalen Unzurückführbarkeit des Höheren auf das Niedrigere soll aber andererseits dennoch im Verlaufe des Weltrevolutionsprozesses das Höhere einmal genetisch aus dem Niedrigeren hervorgegangen sein. Diese Behauptung stellt aber nun den dialektischen Materialismus vor die Notwendigkeit, philosophisch zu erklären, wie es möglich ist, daß Höheres aus Niedrigerem von selbst hervorgehe, ohne daß zu dieser Erklärung eine außerweltliche Ursache, etwa ein Weltschöpfer, herangezogen wird.

Und gerade diese Frage ist es, die durch die Übernahme und materialistische Umkehrung der Hegelschen Dialektik gelöst werden soll. Weil die Evolution in der Welt dialektisch verläuft, deswegen soll es verständlich sein, daß sie eine aufsteigende Richtung nimmt.

Es kann nun hier nicht unsere Aufgabe sein, den ganzen philosophie-geschichtlichen Prozeß zu verfolgen, wie Marx die Hegeische Dialektik übernahm und materialistisch umkehrte, welche weiteren Schicksale diese Dialektik innerhalb des Marxismus nahm. Für den heutigen Sowjetkommunismus hat immer noch, auch fast drei Jahre nach dem Tode Stalins, die Formel Gültigkeit, auf welche Stalin diese Lehre reduzierte.

Stalin faßt die ganze Lehre des dialektischen Materialismus in 7 Grundthesen, „Grundzügen“ zusammen, von welchen drei den marxistischen philosophischen Materialismus und vier die marxistische dialektische Methode behandeln. Das Wesen der drei materialistischen Thesen liegt in der schon eingangs erwähnten Behauptung der Ewigkeit der Materie und des Primates des Materiellen gegenüber dem Geistigen sowie in der Behauptung der totalen Erkennbarkeit der Materie.

Von den vier dialektischen Thesen besagt die erste, daß alle Dinge und Phänomene der Natur und der Gesellschaft eine Einheit, „ein zusammenhängendes einheitliches Ganzes“ bilden, „voneinander abhängen und einander bedingen." Die zweite verlangt, daß man die Natur betrachte „nicht als einen Zustand der Ruhe und Unbeweglichkeit, . . . sondern als Zustand unaufhörlicher Bewegung und Veränderung". Von größerer Bedeutung für unser Thema sind jedoch der dritte Grundzug, das sogenannte „Gesetz des Überganges der Quantität in Qualität", und der vierte, das „Gesetz der Einheit und des Kampfes der Gegensätze“.

Das Gesetz des Übergangs der Quantität in Qualität Das Gesetz des Überganges der Quantität in Qualität ist eben jener Punkt, der erklären soll, wie es im Entwicklungsprozesse der Materie zum Auftreten neuer, höherer Formen kommt. Nach diesem Gesetz hat jeglicher Entwicklungsprozeß eine zweifache Phase: eine revolutionäre und eine revolutionäre. Die Veränderungen im Weltevolutionsprozeß erfolgen zunächst auf dem Weg rein quantitativer, wir würden sagen, „unwesentlicher“ Veränderungen, d. h. auf dem Wege eines bloßen Zunehmens oder Abnehmens einer Gegebenheit, die schon von Haus aus vorhanden war. Sobald jedoch diese quantitativen Veränderungen eine bestimmte Grenze erreicht haben, die durch die jeweilige Natur des in Frage stehenden Dinges oder Phänomens bedingt ist, kann eine solche Veränderung nicht mehr fortgesetzt werden, ohne daß eine jähe, plötzliche „qualitative" Veränderung erfolgt, in der das Ding aufhört zu sein, was es war, und zu einem anderen wird: Die quantitative (nicht wesentliche) Veränderung ist durch einen Sprung in eine qualitative (wesentliche) umgeschlagen, das Ding ist ein anderes geworden.

Dieses Gesetz wird durch verschiedene, mehr oder weniger glücklich gewählte Beispiele erläutert. Das klassische Beispiel ist schon seit Engels der Prozeß der Erhitzung des Wassers: bis zu hundert Grad hat man es dabei mit einer ständigen, rein quantitativen Zunahme der Wärme zu tun; wird die Erhitzung jedoch über diese Grenze hinaus fortgesetzt, so erfolgt eine plötzliche qualitative Veränderung: das Wasser verwandelt sich in Dampf.

Oder, ein besseres Beispiel: wenn wir Wasser teilen, so haben wir es bis zu einer gewissen Grenze bloß mit einer rein quantitativen, mengenmäßigen Verringerung zu tun. Wird diese Grenze aber überschritten, was der Fall ist, wenn das Molekül in seine Bestandteile aufgelöst wird, so geht die quantitative Veränderung in eine qualitative, wesentliche, über, man erhält zwei Atome Wasserstoff und ein Atom Sauerstoff, in diesem Falle also tatsächlich zwei vom Wasser wesentlich verschiedene Substanzen.

Gesetz der Einheit und des Kampfes der Gegensätze Der vierte Grundzug, nämlich das Gesetz der Einheit und des Kampfes der Gegensätze, soll zeigen, worin die Quelle der Bewegung in der Welt zu suchen sei. Während die mechanistische Auffassung diese Quelle außerhalb der einzelnen Dinge und Phänomene finden will, in irgendeinem Anstoß, der von außen, von einem Anderen herkommt, und folgerichtig schließt und endlich zu einem ersten Beweger führen müßte, der keinen anderen Beweger nötig hat, also zu einem Schöpfer-Gott, verlegt der dialektische Materialismus, um dieser für ein materialistisches Weltbild so verhängnisvollen Folgerung zu entgehen, die Quelle der Bewegung ins Innere der Materie und des Primates des Materiellen gegenüber dem Geistigen, Dinge und Phänomene selbst. Mit Hegel sieht der dialektische Materialismus den Ursprung der Bewegung in der Tatsache, daß es in jedem Ding und Phänomen innere Widersprüche gibt, Widersprüche, die zum Hinausgehen aus sich selbst und zum Werden drängen; jede Bewegung ist in dieser Weise wesenhaft Selbstbewegung. Um diese These zu beweisen, führt die sowjetische Philosophie mit Engels und Lenin eine Reihe von Beispielen aus den verschiedenen Ordnungen der Wirklichkeit an; für das Gebiet der Physik beruft man sich auf den Dualismus Welte-Korpuskel, die Gegensätzlichkeit von Wirkung und Gegenwirkung, Ruhe und Bewegung, positiver und negativer Elektrizität, Nord-und Südpol im Magnet; für die Biologie: auf dem Gegensatz von Assimilation und Dissimiliation, Leben und Tod; für das Gebiet des gesellschaftlichen Lebens auf den Gegensatz zwischen Bürgertum und Proletariat im Klassenkampf; im allgemeinen sieht man in jedem Werden die Synthese von Sein und Nichtsein.

Lassen wir jene Beispiele beiseite, die als wenig glücklich gewählt bezeichnet werden müssen, wie zum Beispiel den Nord-und Südmagnetimus (in dem es sich nicht um einen inneren Widerspruch handelt, sondern nur um den Gegensatz zwischen verschiedenen Teilen, von dem man nicht behaupten kann, er löse Selbstbewegung aus, sondern höchstens, er setze einen anderen Gegenstand in Bewegung) und richten wir ünser Augenmerk vielmehr auf den grundlegenden Punkt, der einfach von Hegel übernommen wurde, nämlich den Widerspruch, der angeblich in jeder Bewegung gegeben ist: „Die Bewegung selbst ist ein Widerspruch; .. . ein Körper ist in einem und demselben Zeitmoment an einem Ort und nicht an ihm". Einen analogen „Widerspruch" entdeckt der dialektische Materialismus in jedem Werden, in der Form des Widerspruches zwischen Sein-und Nicht-sein. Und dieser „Widerspruch" ist es, der den Kem des genannten Gesetzes der materialistischen Dialektik ausmacht.

Anwendung im Bereich des gesellschaftlichen Lebens Bisher haben wir die allgemeinsten Gesetze betrachtet, die der dialektische Materialismus für die gesamte Wirklichkeit aufstellt; zugleich haben wir Gelegenheit gehabt, sie auf den Bereich der Natur angewandt zu sehen. Nun bleibt noch einiges über ihre Anwendung im Bereich des gesellschaftlichen Lebens zu sagen, was nach der sowjetischen Theorie Aufgabe des „historischen Materialismus" ict. Der historische Materialismus wird ja als die Anwendung des dialektischen Materialismus auf das Gebiet der Geschichte angesehen.

In der Darlegung des dialektischen Materialismus sahen wir die Materie bereits zum Grad des Bewußtseins emporsteigen. Es ist nun Gegenstand des historischen Materialismus, den weiteren Aufstieg der menschgewordenen Materie darzutun. Das Ziel, welchem diese Bewegung zustrebt, ist der Aufstieg zu stets höherer Freiheit und, besonders in der russischen Weiterbildung des historischen Materialismus, der Aufstieg auch zu stets höherer Geistigkeit..

Als unsere „menschenähnlichen Vorfahren" begannen, sich Arbeitswerkzeuge anzufertigen und mit ihrer Hilfe der Natur das Lebensnowendige abzuringen, war das die erste Morgendämmerung der Freiheit. Damit, daß der Mensch die Naturgesetze erkannte, errang er die Herrschaft über die Natur und begann, sie sich immer vollkommener zu unterwerfen. Aber die Befreiung aus der Versklavung an die Natur war nur der erste Schritt zur vollkommenen Emanzipation des Menschen. Für einen bestimmten Zeitraum blieb er noch unter der Knechtschaft einer anderen Notwendigkeit, die viel schwerer auf ihm lastet als die erste: der Versklavung auf wirtschaftlich-sozialem Gebiet. Je mehr sich die Produktionsmittel der materiellen Güter vervollkommneten, desto komplizierter wurde der Produktionsprozeß und mit ihm die gesellschaftlichen Beziehungen, in die die Menschen im Verlauf dieses Produktionsprozesses eintraten. So geschah es, daß die Menschen die Kontrolle über die gesellschaftlichen Beziehungen sowie über die gesamte soziale Entwicklung verloren, was zu tausend Übeln im gesellschaftlichen Leben, vor allem zur Unterdrückung und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, des weiteren aber auch zu Krisen, Arbeitslosigkeit, Kriegen usw. führte.

Aber auch hier erschien alsbald das Heilmittel. An einem bestimmten Punkt des soizalen Entwicklungsprozesses entdeckte der Mensch — in der Person von Marx — nun auch die sozialen Entwicklungsgesetze. Und damit erlangte er die Möglichkeit, von nun an auch die soziale Entwicklung bewußt zu lenken.

Welches sind nun die von Marx entdeckten Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung? Sie bilden den-Inhalt der sogenannten „materialistischen Geschichtsauffassung", die ich wohl als bekannt voraussetzen darf. Sie sieht als den für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung entscheidenden Faktor die Produktion der zum Leben nötigen materiellen Güter an. Die Produktionsweise bestimmt zunächst die soziale Struktur der jeweiligen geschichtlichen Epoche. Die soziale Struktur wird aber ihrerseits nun zur Basis, auf welcher sich sowohl der politische, als auch der ideologische Überbau erhebt. Die gesellschaftliche Entwicklung hat in ihrem Verlauf einen dialektischen Charakter: an gewissen Knotenpunkten kommt es immer wieder zu einer revolutionären Umgestaltung der gesamten Gesellschaftsordnung. Erst die Kenntnis der sozialen Entwicklungsgesetze gibt dem Menschen die Möglichkeit, seine weitere gesellschaftliche Entwicklung seiner bewußten Kontrolle zu unterstellen.

Da die Produktionsweise den entscheidenden Faktor in der gesellschaftlichen Entwicklung darstellt, genügt dazu, daß die Produktion planmäßig gestaltet wird. Die Abschaffung des Privateigentums über die Produktionsmittel durch die proletarische Revolution schafft dazu die Voraussetzung. Sie bedeutet deswegen die endgültige Emanzipation der menschlichen Gesellschaft, die letzte Revolution, oder, wie sich Engels prophetisch ausdrückt, den Sprung aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit, Und Plechanov, vielleicht der bedeutendste Theoretiker innerhalb des russischen Marxismus, fügt hinzu: Der Prolog der menschlichen Geschichte ist damit zu Ende, und ihre eigentliche Geschichte kann beginnen.

Ein besonderes Augenmerk verdient der weitere Ausbau, den diese materialistische Auffassung im Bolschewismus erfahren hat.

Schon Engels hatte sich gegen Ende seines Lebens unter dem Drucke der Kritik gezwungen gesehen, dem ideologischen Faktor eine viel bedeutendere Rolle zuzuerkennen, als es ursprünglich in der materialistischen Auffassung vorgesehen war. Die Ideologien, mit anderen Worten:

der geistige Faktor (Moral, Philosophie, Kunst, wie auch die politischen Institutionen, das Recht,) sind nach den Klarstellungen von Engels, zwar in Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Faktor entstanden, und so ist dieser der letzlich entscheidende Faktor des gesellschaftlichen Prozesses. Das soll aber nicht bedeuten, daß sie den einzigen bestimmenden Faktor der Geschichte darstellen; auch die Ideologien üben, nachdem sie einmal auf der wirtschaftlichen Basis entstanden sind, auf den Verlauf der Geschichte einen Einfluß aus.

Und das ist der Punkt, den Lenin und Stalin besonders betonen. Mit aller Schärfe wandte sich Lenin gerade gegen jene Strömungen innerhalb der deutschen und auch der russischen Sozialdemokratie, die alles der spontanen Entwicklung der Gesellschaft überlassen wollten, einer Entwicklung, die entsprechend den „ehernen Entwicklungsgesetzen" Marxens mit unausweichlicher Notwendigkeit auch ohne Revolution zum Sozialismus führen müsse. Diese These war für den revolutionären Charakter Lenins unannehmbar, und er legte den größten Nachdruck auf die Notwendigkeit des bewußt geführten Kampfes.

Entgegen jenen Marxisten, die alles auf die Karte der „spontanen Entwicklung" („stichijnost") setzten, legte Lenin allen Nachdruck auf den Faktor der revolutionären „Bewußtheit“ („soznatelnost").

Stalin bemühte sich nun, diese Auffassung wieder mehr In die traditionellen Kategorien von „Basis“ und „Überbau“ einzubauen, und entwickelt zu diesem Behufe seine Theorie vom rückwirkenden Einfluß des Überbaues auf die Basis und die Wirtschaft. Die verschiedenen politischen Institutionen und sozialen Theorien entstehen wohl auf Grundlage des ökonomischen Faktors und der sozialen Basis; einmal entstanden, üben sie jedoch ihrerseits wieder eine gewaltige „mobilisierende, organisierende und umgestaltende Wirkung“ aus.

Diese Tendenz des jüngeren russischen Marxismus nach Verlegung des Schwergewichtes in den Überbau, d. h. in den geistigen Faktor, zeigt sich auch in der Art und Weise, wie Stalin zwei Fragen löst, die seit jeher für den Marxismus eine etwas peinliche Angelegenheit darstellten, die aber mit besonderer Dringlichkeit zu lösen waren, nachdem mit der Einführung der Verfassung von 1936 in der UdSSR die sozialistische klassenlose Gesellschaft in ihrer ersten Etappe, der des Sozialismus, als bereits verwirklicht verkündet worden war.

Triebfedern der sozialistischen Entwicklung Die erste Frage betrifft die Triebfedern für die soziale Entwicklung in der sozialistischen klassenlosen Gesellschaft. Bisher hat nach dem historischen Materialismus die Triebfeder der gesellschaftlichen Entwicklung im Klassenkampfe gelegen. Und wie wir oben sahen, hat der dialektische Materialismus diesen Tatbestand im „Gesetz von der Einheit und dem Kampfe der Gegensätze“ auf alle Entwicklung schlechthin ausgedehnt. Daraus ergibt sich aber die Alternative: entweder gibt es in der sozialistischen Gesellschaft keine Widersprüche mehr — dann kommt aber die Geschichte zum Stillstand, oder es muß auch in der sozialistischen Gesellschaft wieder irgend welche sozialen Widersprüche geben.

Der zweite Punkt, der geklärt werden mußte, betrifft die Frage der revolutionären Umgestaltung an bestimmten Knotenpunkten der Entwicklung. Auch aus diesem ursprünglich soizologischen Gesetz von Marx hat der dialektische Materialismus ein allgemeines Seinsgesetz gemacht mit seinem „Gesetze vom Übergang der Quantität in Qulität“. Nadi diesem Gesetze hat alle Entwicklung schlechthin eine evolutionäre und eine revolutionäre. Phase. Wir stehen somit wieder vor der Alternative: entweder bleibt mit der Ankunft des Sozialismus die Geschichte stehen, oder es bietet sich die überaus tröstliche Perspektive, daß auch nach Errichtung der Sowjetgesellschaft nach einer gewissen Zeitspanne eine neue Revolution uns auch von dieser Gesellschaftsform wieder befreien wird.

Um bei der letzten Schwierigkeit zu beginnen: Stalin sucht sie dadurch zu lösen, daß er in seiner Schrift „Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft" zwischen verschiedenen Arten von „Sprüngen“ unterscheidet. Bloß in der Klassengesellschaft nehmen die Sprünge die Form von „Explosionen“ an, bei welchen es zu einem gewaltsamen Umsturz kommt. In der sowjetischen Gesellschaft wird es zwar auch noth Sprünge geben, etwa jenen vergleichbar, die in der Stachanovbewegung oder in der Kollektivisierung der Landschaft erfolgten. Diese letzte bedeutete eine wahre Revolution in der gesellschaftlichen Entwicklung der Sowejunion. Aber sie „vollzog sich nicht“, schreibt Stalin, „in der Form eines Sturzes der bestehenden Gewalt und der Schaffung eines neuen, sondern in der Form eines allmählichen Überganges vom alten, bürgerlichen System auf dem Lande zu einem neuen“.

Es wird also auch fürderhin noch Sprünge geben, aber Sprünge die erstens mehr .. allmählich'erfolgen, und zweitens nicht zum Sturze des bestehenden Regimes führen. Und es wird weiter Revolutionen geben, aber Revolutionen . von oben“ wie in der genannten Schrift Stalin cuphem s: sch den Vorgang der Zwangskollektivierung nennt der cinigen Millionen von Bauern das loben kostete um Nicht weniger aufschlußreich ist dic LE Midic Stalin für die oben erwähnte Schwierigke : gibt welches näm dh dic Triebkräfte der gese lschaft lichen Entwicklang . nter 3cm Sozial smus sein werden. Stalin Stellt vier mH» Tricbkräfte auf: die moralisdh-politisdhe Einheit des Sowjetvolkes den Sowjetpatriotismus die Freundschaft der National täten der Sov jctunion und end dh die berühmte Kr tik und So bstk tik Dics s . aber al e . o -c. . . c . e ersren gchörenden e sbe cidhan den ieneden des Verstandes Vonnsmren S dn . aus • v > 5 . m . o o Rehnb tic g de Gcis oo bes s wi nsche Eine MO umnrr dem Sommum ismus de pe stige Fokm de dr Bodaumng e ger wexBk . um-äa S Ibs k als gemakk sene » men -mp a 4 -o a - gseme -or ss mg se ngme arsüge ds iala tisäkm Maseialisms dasae *-u min '» . r sie * -S sme -s se — -T --

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auptdas nenschliche 3ew aßtsein iS etwas zrundsätzlich Verschiedenes und Höheres im Vergleich zur Tierpsyche anerkannt wird; und schließlich ist in der heutigen Sowjetphilosophie die Haltung eines entschiedenen erkenntnistheoretischen Realismus anzuerkennen, der den Gegenstand des Erkennens, die Außenwelt, als etwas vom erkennenden Subjekt seinsmäßig Unabhängiges anerkennt.

Eine andere Frage ist es jedoch, ob der dialektische Materialismus imstande ist, diese seine Positionen von seiner philosophischen Grund-position aus philosophisch zu rechtfertigen. Lind dies ist entschieden zu verneinen, da er in anderen Punkten Positionen bezieht, mit denen es unmöglich ist, die eben genannten logisch zu vereinen. Wir wollen unsere Einwände um die beiden Hauptpunkte des Systems gruppieren: Materialismus und Dialektik.

Kritik des sowjetischen Materialismus Gegen den sowjetischen Materialismus ist zunächst einzuwenden, daß er seine Grundthese, alles Wirkliche sei letzlich Materie und die gesamte Mannigfaltigkeit der Welt sei nichts anderes als Materie auf verschiedenen Stufen von Bewegungsformen, nirgends beweist. Er stellt sie einfach als Axiom an den Anfang aller seiner Spekulationen, was ihn des weiteren in ständige Widersprüche verwickelt.

Eine ähnliche Grundvoraussetzung, für welche der dialektische Materialismus den Erweis schuldig bleibt, ist die Behauptung von der Ewigkeit der Materie, die uns überdies noch unvereinbar scheint mit der weiteren These von der aufsteigenden Entwicklung. Anfanglosigkeit und Evolution scheinen uns nämlich unvereinbar, da eine aufsteigende vom weniger Vollkommenen zum Vollkommeneren führende Entwicklung ohne Anfang und Ausgangspunkt undenkbar ist. Auch steht diese Behauptung von der Anfanglosigkeit des Weltentwicklungsprozesses im Gegensatz zu den von den heutigen Astronomen und Physikern aufgestellten Hypotheken, die das Alter der Weltkörper auf ungefähr 5 Milliarden Jahre schätzen.

Mit diesem Materialismus wird nun das Element „Dialektik“ verbunden. um die aufsteigende Richtung der Entwicklung philosophisch rechtfertigen zu können. Jedoch wird gerade an dieser Frage in ganz besonderer Weise deutlich, daß Vereinigung von Materialismus und Dialektik ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Soll nämlich dic Entwicklung hoher führen, so ist dazu Voraussetzung daß dic Elemente nicht in beliebiger Weise aufeinanderfolgen, sondern in einer ganz bestimmten Abfolge. Es genügt nicht, um aus Elementen anorganischer Materie organische Materie zu erhalten ebliebige Elemente in beliebiger Ordnung aneinander zu setzen sondern es ist eint unendlich komplizierte Verbindung ganz bestimmter Elemente in ciner ganz bestimmten Ordnung notig welche eine komplizierteste Ans-w umd H nordn g etet schon gegebener Elemente aut ein noch r du gegebenes sondern in der Zukunft ost zu realisierendes Ziel voraussem Diese mentionel E Vorwegnahme des Znkünf gen -aher ein neistiges Primip voraus ein Sidh-efheben-Können über dm Hier 42 dladokazk Aüseziiaüss -es . ä äe e am Dhäkkn J" e ig • umi ddsung cu an än unE = In asus az -.: a sdkzr smu . ls un füäharen • ren ail m I e-'Sio i sus 6 ggnes .. cesfngen Ohe eine Negjemugi gnügs -cm. um üe Binulität die uw Hökezent vickg 31 ags : i t zu arklären Qas Boße Negjeren ü vr uns nüslid vou einem bestimenten } See a des gesamten unendlichten Wete und Unbestimmtheit des Nicht-A, aben nicht za rgend einem bestimmten 3 oder C oder N. Sech viel weniger ist das reine Negjeren mstande aus dieser ganzen unendlichen Fülle von Möglichkeiten jene einzige konkrete Bestimmtheit herauszufinden, die nötig ist, um den Evolutionsprozeß im gegebenen Augenblick höher zu führen. Der dialektische Materialismus (und übrigens nicht nur er) übersieht hier vollkommen, daß der Widerspruch, der angeblich zur Höherentwicklung antreiben soll, seine Auflösung nicht nur in einem Sprung nach oben, sondern mit genau dem gleichen Recht auch in einem Fall nach unten finden könnte und z. B. nicht den Aufstieg des Organismus zum Grade des Bewußtseins, sondern sein Absinken auf die Ebene des Anorganischen bewirken könnte.

Der dialektische Materialimus befindet sich in diesem Problem in einer wesentlich verschiedenen und ungünstigeren Lage als Hegel. Bei Hegel ist nämlich die Wirklichkeit von Haus aus Idee und Geist, und selbst die Natur ist nichts anderes als der Geist in seinem Anderssein, also letztlich mit ihm identisch. Wenn auch der oben gegen den dialektischen Materialismus erhobene Einwand in anderer Form auch gegen Hegels Handhabung der Dialektik vorgebracht werden kann, so befindet er sich auf dem Gebiete der Naturphilosophie dem dialektischen Materialismus gegenüber in dem entscheidenden Vorteil, daß die Natur nicht als letzter Grund und primäre Wirklichkeit angesehen wird, sondern als Abgeleitetes, Sekundäres.

Aus all dem geht hervor, daß der dialektische Materialismus gar kein Recht hat, von einer Dialektik im Weltrevolutionsprozeß zu reden, wenigstens für den Bereich der Natur, vor dem Erscheinen des Bewußtseins. Die Gedankengänge der Sowjetphilosophie bewegen sich demnach, wenigstens was die Entwicklung der Natur anlangt, nicht in einem dialektischen, sondern in einem kausalen Denkschema. Ist dem aber so, dann müssen wir aber des weiteren noch Verwahrung einlegen gegen die Erklärung, die der dialektische Materialismus für das Aufsteigen der toten Materie zu stets höherer Daseinsvollkommenheit erbringen will, da er darin offensichtlich gegen das Kausalgesetz verstößt. Wie oben dargetan wurde, soll diese Erklärung darin liegen, daß in der Evolution der Welt an gewissen Knotenpunkten die bisherige rein quantitative Veränderung in eine „qualitative“, das heißt eine Wesensveränderung umschlägt. Der dialektische Materialimus hat aber bei dieser Erklärung bloß die inneren, materiellen Vorbedingungen vor Augen, welche es verständlich machen, daß im Laufe des Veränderungsprozesses aus diesem bestimmten Dinge an dieser bestimmten Grenze dieses bestimmte andere Ding ersteht; er läßt aber dabei vollständig die Bedeutung außer acht, welche außer diesen inneren Dispositionen auch der äußeren Einwirkung zukommen, d. h. in philosophischer Terminologie, der sog. Wirkursache (causa efficiens). Um auf das oben aus Stalin angeführte Beispiel zurückzukommen: das Wasser verwandelt sich nicht „von selbst in Dampf“, sondern muß durch eine äußere Einwirkung erwärmt werden; ebenso zerfällt es nicht von selbst in Moleküle und in der Wasserstoff-und Sauerstoff-Atome, sondern muß wiederum durch eine äußere Einwirkung dazu gebracht werden. Dabei wird gerade in diesem letzten Beispiel.sehr schön ersichtlich, daß von der äußeren Einwirkung um so mehr erfordert wird, je größer die zu bewirkende Veränderung, der zu bewirkende „Sprung“ und der zu überwindende Niveauunterschied ist. Um das Wasser in immer kleinere Teilchen zu teilen bis hinab zum Molekül, genügen verhältnismäßig primitive, rein mechanische Verfahren. Lim aber das Molekül in seine Elemente zu zerlegen, sind schon viel kompliziertere Methoden nötig, Elektrolyse und dgl. Deswegen ist a priori zu erwarten, daß im Falle, daß z. B. tatsächlich das Leben und noch mehr das Bewußtsein auf evolutivem Wege entstanden sein soll, es auch hier bei diesem noch unvergleichlich höheren Niveauunterschied eines noch viel größeren Eingreifens seitens einer äußeren Wirkursache bedurfte.

Das Individuum nur ein vorübergehendes Moment Aus all dem geht hervor, daß die Berufung des dialektischen Materialismus auf seine „Dialektik" philosophisch unhaltbar ist und nichts erklärt. Wir stehen hier aber nicht nur vor irgend einem philosophischen Denkfehler, der eine rein akademische Angelegenheit wäre. Es handelt sich hier, angesichts der Tatsache, daß dieses System das gesamte geistige Leben fast eines Drittels der Erdbevölkerung beherrscht, um einen Irrtum, der die größten und verhängnisvollsten Auswirkungen für die gesamte Menschheit unserer Zeit hat.

Es hängt dies vor allem mit dem typischen Charakter gerade der marxistischen Dialektik zusammen, deren Wesen im „Kampf der Gegensätze“ gesehen wird. Bei Hegel war die dialektische Entwicklung so verlaufen, daß in der Synthese die These und Antithese versöhnt wurden und „aufgehoben" waren, auch im Sinne von „bewahrt". Wie Reinhard Lauth kürzlich zeigte, kam Marx unter dem Einfluß von Bakuninschen Gedanken dazu, daß die Antithese die These vernichten müsse (ins Soziale übersetzt bedeutet dies: die Vernichtung des Privateigentums und der Ausbeuterklassen durch die Revolution), was zur qualitativen Erhöhung der Antithese führt: sie verliert ihren Charakter der Antithese und bildet alleine nun die ganze Wirklichkeit. In diesem Sinne wurde auch in der offiziellen Richtung der Sowjetphilosophie immer ein entschiedener Kampf gegen die Auffassung jener Sowjetphilosophen geführt, bei denen man eine Wiederkehr des Hegelschen Versöhnungsschemas in der Auffassung der Dialektik zu spüren vermeinte. Diese orthodox-sowjetische Auffassung von der Dialektik im Sinne eines „Kampfes der Gegensätze“ nun ist es, welche nicht nur zur Vernichtung der Person überhaupt, sondern gerade zu jener brutalen Vernichtung der Person führt, die für das Sowjetsystem so charakteristisch ist.

Wir können jedoch nicht umhin, bei dieser Gelegenheit zu vermerken, daß nicht nur gegen die Marx’sche und sowjetische materialistische Dialektik, sondern auch gegen die Hegeische Dialektik selbst der Vorwurf erhoben werden muß, daß durch sie die Persönlichkeit geopfert wird, wenn auch hier nicht in jener brutalen Form wie im Kommunismus, sondern auf eine etwas verfeinerte Weise. Das Individuum ist hier nichts anderes, als vorübergehendes Moment, in welchem sich das Allgemeine, welches das eigentliche Subjekt der Entwicklung darstellt, auf jeweils neue Weise ausdrückt. Es fehlt ihm jedoch die Eigenständigkeit und individuelle Unvergänglichkeit. Der ganze sogenannte dialektische Entfaltungsprozeß ist eigentlich kein echter Dialog zwischen eigenständigen persönlichen, freien Partnern, sondern ein ewiger „Monolog", in welchem die eine absolute Idee in einem immanenten Entwicklungsprozeß sich selbst entfaltet und ihres eigenen Inhaltes sich bewußt wird. Hier liegt eine der wesentlichen Schwächen der Hegelschen Philosophie, wo die Kritik Schellings, Kierkegaards, wie überhaupt des ganzen Spät-idealismus einsetzte.

Wir können die philosophische Kritik des dialektischen Materialismus mit der zweifachen Feststellung beschließen: -

1. die Dialektik leistet nicht, was sie leisten soll, nämlich das Hervorgehen von Leben und Bewußtsein aus der Entwicklung der toten Materie zu erklären, ohne Zuhilfenahme einer außerweltlichen Erst-ursache;

2. gerade die Dialektik ist es aber, die den für das Sowjetsystem so charakteristischen Verlust der Persönlichkeit philosophisch grund-legt.

Bedeutung des Systems Dies führt uns zu einer letzten Frage: wenn also das System des dialektischen Materialismus auf einem grundlegenden Irrtum beruht, welche Bedeutung kommt ihm dann noch zu? Hat es einen Sinn, sich damit auseinanderzusetzen? Steht denn die politische Mächtigkeit des Sowjetsystems im Zusammenhang mit dem dialektischen Materialismus?

Man hat in letzter Zeit manchmal geltend machen wollen, daß die Ideologie in der Sowjetunion tot sei, daß niemand mehr von ihr durchglüht sei, wie dies noch zur Zeit von Lenin der Fall war, und daß darin eine der entscheidenden Schwächen des Sowjetsystems auch auf politischem Gebiet liege, die uns zu einem gewissen Optimismus berechtige.

Ich glaube, daß man mit derartigen Gedankengängen einem sehr gefährlichen Irrtum verfallen kann. Denn erstens läßt es sich sehr schwer feststellen, inwieweit die Menschen, die in der Einflußsphäre dieser Lehre leben müssen, sich der Prägung durch dieselbe entziehen können, selbst wenn sie oft in bewußter Opposition zum Regime stehen. Es ist nämlich dieser Lehre eigen, daß sic selbst ihre Gegner, selbst gegen ihren Willen und ohne daß sie es merken, bis zu einem gewissen Grade formt. Lind zweitens hängt die politische Wirksamkeit einer Lehre nicht unmittelbar von der Zahl derer ab, die von ihr hundertprozentig durchdrungen sind. Was aber hier entscheidend ist, ist die Tatsache, daß hinter dieser Lehre ein totalitäres Machtsystem steht, welches seine gesamte politische Tätigkeit sowie das ganze kulturelle Leben des Landes nach dieser Lehre ausrichtet und jeder anderen die Möglichkeit entzieht, sich zu entfalten und auszubreiten.

Worin liegt nun die Gefährlichkeit des dialektischen Materialismus, der dem Kommunismus seine ungeheure Mächtigkeit verleiht? Der erste und hauptsächlichste Grund für die Mächtigkeit des dialektischen Materialismus scheint mir darin zu liegen, daß er die von ihm beseelte politische und soziale Bewegung zu einer Art Pseudoreligion oder Religionsersatz macht. Es könnte dies zunächst paradox oder gar absurd erscheinen, wenn man eine Lehre und eine Bewegung, die doch ausdrücklich den Materialismus und Atheismus auf ihre Fahnen schreibt, in den Bereich des Religiösen verweisen will. Bei näherem Zusehen erweist es sich jedoch, daß im dialektischen Materialismus nur der wahre Gott, der transzendente Schöpfergott geleugnet wird, daß aber dabei der an sich absurde Versuch unternommen wird, an seine Stelle eine neue Gottheit, ein neues Absolutes zu setzen, und zwar das Seinsäimste im Bereich der ganzen Wirklichkeit: die Materie.

Wie nämlich schon N. Berdjaev bemerkte, unternimmt der dialektische Materialismus den Versuch, auf die Materie nicht nur geistige, sondern geradezu göttliche Attribute zu übertragen. Sie erscheint im dialektischen Materialismus als ewig, unendlich, und zwar nicht nur unendlich in der Zeit und im Raume, sondern, wie Lenin sich ausdrückt, auch „in die Tiefe", d. h. unendlich an innerer Seinsmäßigkeit. Ferner soll kraft ihrer dialektischen Entwicklung die Materie aus eigener Kraft zu stets höheren Seinsformen aufsteigen, also das Höhere aus dem Niedrigeren, das Vollkommenere aus dem Unvollkommeneren, das „Mehr“ aus dem „Weniger" hervorbringen, wozu tatsächlich echte schöpferische Kraft nötig wäre; kraft dieser ihr innewohnenden Schöpferkraft erhebt sich die Materie an einem bestimmten Knotenpunkt ihrer Entwicklung auf die Stufe des Geistigen, wird Mensch, um dann im Menschen sich zu stets höherer Vollkommenheit, in einem prinzipiell unbegrenzten Vervollkommnungsprozeß weiterzuentwickeln.

Auf diese Weise wird aber tatsächlich die Materie vergottet, indem die entscheidenden göttlichen Attribute auf sie übertragen werden: Aussichsein, Unendlichkeit, Ewigkeit, schöpferische Kraft, unendliche Vollkommenheit, Geistigkeit. Der dialektische Materialismus befindet sich hier in einer wesentlich anderen Situation als der Vulgärmaterialismus. Für diesen war das Vollkommenere (Leben, Bewußtsein) nur scheinbar etwas von der organischen Materie verschiedenes. In Wirklichkeit lasse es sich auf rein mechanische und chemische Gesetzmäßigkeiten zurückführen. Der dialektische Materialismus läßt das Höhere in seiner spezifischen Unterschiedlichkeit jedoch gelten; nur unternimmt er den an sich absurden Versuch, es aus dem Niedrigeren hervorgehen zu lassen.

Pseudochristentum Wir können jedoch noch einen Schritt weiter tun und im Kommunismus nicht nur eine Pseudoreligion schlechthin, sondern geradezu ein Pseudochristentum, eine Perversion des Christentums sehen.

Was ist das Christentum in seinem innersten Wesen? Es ist die Religion der Erlösung des Menschen, deren Frucht die Verklärung und Vergöttlichung darstellt, an welcher jedoch auch die materielle Schöpfung teilnehmen soll, jedoch all dies als Frucht des vorherigen Herabsteigens Gottes in die Welt, im Werke der Menschwerdnung des Sohnes Gottes und seines Sühnetodes am Kreuze. Aus dem Worte, das Johannes im Prolog zu seinem Evangelium formuliert: Und das Wort ist Fleisch geworden, wird zudem noch deutlich, daß es sich bei der Menschwerdung um ein Herabsteigen Gottes bis in die tiefste Seinsschicht der Welt, bis in den Bereich des Materiellen handelt, um darauf nicht nur den Menschen, sondern im Menschen teilhabend auch den Bereich des Materiellen zu sich emporzuheben.

Und was ist der Kommunismus in seinem tiefsten Wesen: Er ist genau die gleiche Aspiration nach Welterlösung, Weltverklärung und Vergöttlichung der Welt, aber unter positivem Ausschluß nicht nur eines Herabsteigens Gottes in die Welt, sondern eines Schöpfergottes überhaupt. Es ist die Materie, die aus eigener Kraft Mensch wird und im weiteren aus eigener Kraft sich selbst erlösen und vollenden soll. Daraus wird ersichtlich, daß der Kommunismus eine Perversion des Christentums darstellt gerade insofern dieses die Religion der Menschwerdung darstellt, und zwar der Menschwerdung, die sich nicht im einmaligen Herabsteigen des Sohnes Gottes auf die Erde erschöpft, sondern die fortgesetzt und zur Vollendung geführt werden soll durch die gesamte Heilsgeschichte hindurch in der Kirche. Schon daraus ergibt sich, daß die eigentlichen Antipoden im gigantischen Geisteskampf der Gegenwart sind: Kommunismus einerseits und Christentum, Kirche andererseits.

Bei anderer Gelegenheit benützte ich noch einen anderen Weg, um zu der gleichen Feststellung zu gelangen, daß Kommunismus und Christentum die eigentlichen Gegner im Gegenwartskampfe sind. Ich ging dabei aus von der Tatsache des Vorhandenseins einer ganzen Reihe von äußerlichen Analogien und Ähnlichkeiten zwischen beiden, von „Berührungspunkten“, die sich aber rein auf dem Gebiet des Formalen und Strukturellen halten, die sich aber sofort verflüchtigen, sobald man aufs Wesen geht, wo sich dann wiederum die ganze unüberbrückbare Gegensätzlichkeit zeigt. So können wir, um nur ganz kurz anzudeuten, was damit gemeint ist, im Kommunismus eine ganze Reihe von einzelnen christlichen Motiven und Auffassungen wiederfinden, wie z. B. die Auffassung von einer Ursünde (bestehend in der Einführung des Privateigentums), von der Erlösung (durch die unverschuldeten Leiden des Proletariats, welches Marx hier das unschuldige Opferlamm nennt, welches durch seine Leiden die gesamte Menschheit zu befreien hat), eine Art Offenbarung (die Aufstellung der materialistischen Geschichtsauffassung durch Marx), eine Art kirchliches Lehramt (ausgeübt vom Zentralkomitee der Partei) sogar eine Art Kirche (die Partei selber). Aus der Tatsache aber, daß sich diese sogenannten „Berührungspunkte“ rein im äußerlichen halten und mit einem ganz anders gearteten Inhalt erfüllt werden, sollte ersichtlich werden, daß gemäß dem Worte „die Extreme berühren sich“ wir es gerade im Christentum mit dem eigentlichen Gegner des Kommunismus zu tun haben. Leider wurde diese Ausrichtung meiner Gedankengänge nicht immer beachtet, ein gewisser Journalismus machte meine „Berührungspunkte" zu „Anknüpfungspunkten“

und rief mich als Kronzeugen an für die in der letzt i Zeit mit besonderer Hartnäckigkeit verfochtene These, daß sich die katholische Kirche nach der Koexistenz orientiere. Daß dies nichts ais ein grobes Mißverständnis ist, dürfte wohl aus obigen Ausführungen hinlänglich klar geworden sein.

Ein weiterer Grund für die Durchschlagskraft des Kommunismus scheint mir in der Geschlossenheit und scheinbaren Folgerichtigkeit dieses Systems zu liegen. Es läßt sich nicht leugnen, daß dieses System auf den philosophisch nicht vorgebildeten Leser und Zuhörer den Eindruck einer faszinierenden Folgerichtigkeit machen muß, der auch an die innere Richtigkeit dieses Systems glauben macht. Um die falschen Voraussetzungen und logischen Fehler zu durchschauen, dazu bedürfte es einer philosophischen Vorbildung, die nicht jeder besitzen kann. So kommt es, daß der Nichtfachmann den Eindruck erhält, in diesem System den Schlüssel zu allen Geheimnissen und die Lösung aller Fragen zu besitzen.

Dazu kommt noch folgendes: Wenn das System auch eine fundamentale Lüge enthält, so ist es deswegen nicht hundertprozentige Lüge. Jeder Irrtum enthält gewöhnlich einen Wahrheitskern. So ist es nicht nur nicht verwunderlich, sondern geradezu selbstverständlich, daß auch der Sowjetismus gewisse echte Erfolge auf Teilgebieten aufzuweisen hat. Angesichts des Eindruckes einer lückenlosen Geschlossenheit und Folgerichtigkeit, den der dialektische Materialismus auf den philosophisch nicht vorgebildeten Leser, bzw. Zuhörer, erwecken muß, ist es bei einigermaßen geschickter Propaganda ein leichtes, glauben zu machen, daß diese echten Teilerfolge und Teilwahrheiten der Erweis für die Richtigkeit des ganzen Systems sind.

Gefährlichkeit einer Schwarz-Weiß-Malerei Deswegen tut es not, immer wieder das Lingerechtfertigte eines solchen Vorgehens aufzudecken und eine authentische Kenntnis des gesamten Systems zu vermitteln und zu zeigen, wie die Teilwahrheiten durchaus nicht das ganze System rechtfertigen. Zugleich wird hier aber auch die Gefährlichkeit einer übertriebenen Schwarz-Weiß-Malerei ersichtlich, ein Antikommunismus, der am Gegner kein gutes Haar lassen will und der ihm jede wirkliche Leistung aberkennen will. Sobald die Leute nämlich merken, daß übertrieben wurde, wird die ganze Bekämpfung unglaubwürdig, und man erliegt um so leichter der raffinierten Propaganda der Gegenseite. Gerade die Erfahrungen, die im Zusammenhang mit den Moskau-Reisen des letzten Monats gemacht wurden, sollten in dieser Hinsicht eine Mahnung sein.

Aber nicht nur den Schlüssel zur theoretischen Beherrschung der Wirklichkeit, sondern auch zur praktischen Meisterung des Lebens verspricht dieses System. Es erfüllt seine Anhänger mit dem beseligenden Gefühl, einer großen und leuchtenden Aufgabe zu dienen, und mit einer erstaunlichen Siegeszuversicht. Sie wissen sich einer Sache verbunden, welcher der unfehlbare'Endsieg beschieden ist; sie sind oft erfüllt von dem stärkenden Bewußtsein, daß all ihr Kämpfen und Arbeiten unbedingt von Erfolg gekrönt sein wird.

Geistige Krise des Westens Und schließlich liegt ein letzter und entscheidender Grund der Stärke des Sowjetismus im geistigen Vakuum und in der Anfälligkeit des Westens, sowie in der Tatsache, daß der Sowjetismus letztes Produkt einer geistigen Krise des Westens selber ist und Endergebnis des Versagens der Christenheit in der Geschichte.

Wenn wir den Kommunismus auf Grund einer Analyse seiner Weltanschauung eine Perversion des Christentums nannten, so ist dies nicht nur im logischen, sondern leider auch historischen Sinne wahr. Er ist eine Umkehrung des Christentums, an welcher ganz Europa jahrhundertelang mitgewirkt hat, bis an die Stelle der Religion vom mensch-werdenden Gott die marxistische Pseudo-Heilslehre vom gottwerdenden Menschen trat. In Rußland wurde diese neue Lehre gerade von jenem Teile der Bevölkerung aufgegriffen, die von dem westlichen Zersetzungsprozesse am meisten infiziert war, nämlich der „Intelligenz“, und die dem positiven Christlichen Glauben, der in der breiten Masse des Volkes noch außerordentlich tief verwurzelt war, am meisten entglitten war. Schon Dostojewskij Katte jedoch vorausgesagt: die Unseren werden nicht nur Atheisten, sondern glauben an den Atheismus wie an eine Religion. So erhielt gerade hier der Marxismus seine markanteste, pseudoreligiöse Ausprägung, welche zunächst dem russischen und dann auch den anderen slawischen Völkern des Ostens aufgezwungen wurde und welche nun das in Europa entstandene Vakuum auszufüllen droht. Da dieses System jedoch unter dem Mantel der Antireligion auftritt und eine „wissenschaftlich"

begründete Wahrheit anzubieten vorgibt, merkt es der Europäer gar nicht, wie es in Wirklichkeit seine religiösen Aspirationen anspricht, die seit der Aufgabe der echten Relgiosität unbefriedigt warten und suchen. Daraus wird die ganze Gefährlichkeit und entscheidende Bedeutung gerade der gegenwärtigen Situation klar: bisher hat nämlich der Kommunismus bloß Völker erfaßt — wenn wir vielleicht absehen von den in ihrer Gesamtheit nie christlich gewesenen Völker Asiens — wo das Christentum noch lebendig war und denen er aufgezwungen wurde. Es ist, als ob die Vorsehung Europa noch eine letzte Gnadenfrist angeboten hätte, damit es sich besinne. Nun aber droht von dort der Funke überzuspringen auf das, in seiner ganzen geistigen Situation gemäß überaus anfällige und widerstandsschwache Europa. Wenn wir uns also diesem Ansturm des Sowjetismus erwehren wollen, müssen wir als ersten seine Bundesgenossen lahmlegen, die er in uns selbst vorfindet.

Welches sind diese nun?

Der Sowjetismus bietet zunächst einen materialistischen Glauben an. Er verspricht unfehlbare Lösung gerade desjenigen Problems, welches für einen Großteil der Bevölkerung im Westen zu dem Problem schlechthin wurde, nämlich das Problem der Sicherung der rein materiellen Existenz nicht nur heute, sondern auch für morgen. Die Sorge und Angst um die materielle Existenz führte jedoch dann dazu, in ihr das einzige Sein überhaupt zu sehen und in den materiellen Werten die einzigen Werte. Der schrankenlos entfesselte totale Materialismus weiter Kreise, hemmungsloses Gewinnstreben und fieberhafte Konsumwut sind das verhängnisvolle Ergebnis dieser Entwicklung.

Es ist geradezu zu einem Gemeinplatz geworden, was man immer wieder hören kann, daß nämlich im Osten der Materialismus gelehrt wird, während er im Westen gelebt wird. Daß darin aber eine gefährliche Anfälligkeit dem dialektischen Materialismus gegenüber zu sehen ist, liegt auf der Hand. Man kann dies vielleicht am besten durch den Hinweis auf die Tatsache erhärten, daß in der letzten Zeit in Amerika des öfteren Söhne ganz reicher Familien Kommunisten wurden. Eine Nachforschung hat als Erklärung ergeben, daß den jungen Leuten der Widerspruch zwischen ihrem rein materialistischen Leben und irgendwelchen idealistischen oder religiösen Lehren, zu denen sie sich formell bekannten, unerträglich geworden war.

Abgleiten ins Anonyme Ein weiterer Wegbereiter des Sowjetismus bei uns kann in Beziehung gesetzt werden zu seiner Dialektik.

Haben wir oben in der philosophischen Auseinandersetzung mit aller, auch der materialistischen Dialektik geltend machen müssen, daß in ihr die Einzelpersönlichkeit erstirbt und als bloßes Moment in die Allgemeinheit integriert wird und erst aus ihr her ihren ganzen Bestand erhält, so müssen wir leider die Feststellung machen, daß die auch im Westen vorherrschende Entpersönlichung des gesamten gesellschaftlichen Lebens den denkbar besten Boden für die Aufnahme der sowjetischen Dialektik bildet. Es hat vielleicht noch keine Zeit die Menschen in dem Maße zusammengeführt, wie die unsrige. Lind dennoch haben vielleicht noch zu keiner Zeit die Menschen derart an innerer Beziehungslosigkeit zueinander gelitten, an seelischer Vereinsamung der sie überwältigenden Masse, wie heute. Wir müssen auf allen Gebieten ein Abgleiten ins Anonyme feststellen, ein reines Nebeneinander der Menschen, an dem ihr personaler Kern nicht beteiligt ist. Man erleidet das Zusammengeführtwerden in Erwerb und Beruf mehr, als daß man daran innerlich beteiligt ist und es von sich aus gestaltet.

Das Ergebnis ist das Gefühl der Vereinsamung, die Sehnsucht nach einem Aufgenommenwerden in einen großen Zusammenhang, einer Aspiration, der der dialektische Materialismus in so vollständiger Weise entgegenzukommen verspricht. Daß er dann sein Versprechen nicht hält, ist entscheidend. Hat nämlich der Sowjetismus einmal gezündet und gezogen, so erweist er sich als eine grausige Einbahnstrecke; daß es aus ihr kein Zurück gebe, dafür sorgen dann schon die Panzer und das Spitzelsystem. Soll also diesem verführerischen Sog ein wirksamer Einhalt geboten werden, so ist die Grundvoraussetzung, daß die Person wieder zum Grundbaustein der Gesellschaft gemacht wird, daß die gesellschaftliche Entwicklung wieder ihren Ausgang nehme von der lebendigen Begegnung freier voll-personaler Partner und wir uns freimachen von der Nachwirkung des Hegelschen Geschichts-Monologs. Freilich wird diese geistige Gesundung und Erstarkung der Person nur möglich sein, wenn sie sich wieder als gleiche und doch jeweils verschiedene, einmalige Ebenbilder Gottes verstehen und durch dieses Partnerschaftsverhältnis Gott gegenüber erst in ihrer personalen Würde begründet werden.

Das Prinzip der Selbsthingabe Der Sowjetismus hat aber noch einen weiteren Bundesgenossen in uns, der mit dem Verlust der personalen Mitte im Westen zusammenhängt und diesen der sowjetischen Dialektik gegenüber wehrlos macht. Wir haben als Wesenskern der sowjetischen Dialektik den „Kampf der Gegensätze“ kennengelernt, der nicht auf eine Synthese in einer höheren Einheit hinstrebt, sondern auf eine Vernichtung der These, das heißt des Gegners. Wir sehen jedoch auch im Westen mit seinen sogenannten demokratischen Methoden im wesentlichen das gleiche Prinzip in Wirksamkeit. Der Unterschied liegt im Vergleich zum Osten bloß darin, daß im Prozeß der politischen Willensbildung der Gegner hier nicht physisch vernichtet wird, sondern durch rein quantitativ bemessene Stimmenmehrheit niedergestimmt. Es ist wiederum nicht die personelle Verständigung, die aus der verstehenden Begegnung zweier Partner ersteht, sondern die rein formale, oft rein zufällig erhaltene Stimmenmehrheit, die entscheidet.

Solange der Westen der sowjetischen Dialektik nichts besseres entgegenzusetzen hat, ist es klar, daß er mit seinem rein formalistischen Kampf der Gegensätze den mit brutalen Machtmethoden ausgetragenen Kampf der sowjetischen Dialektik gegenüber den kürzeren ziehen muß.

Was hier allein retten kann, ist die Überwindung der sowjetischen Dialektik mit ihrem Kampf der Gegensätze, durch eine vollkommenere, wiederum aus echter persönlicher Partnerschaft erstehende Form der kollektiven Willensbildung, in welcher statt der den Kampf der Gegensätze hervorrufenden Selbstbehauptung das Prinzip der Selbsthingabe der dienenden Selbstaufopferung vorherrscht.

/Eine Stelle aus einem Brief des jungen Bakunin mag dies veranschaulichen. In seiner ersten jugendlichen Hegelbegeisterung hatte sich Bakunin die Hegeische Dialektik in noch stark religiös geprägten Gedankengängen zu eigen gemacht. Das Moment der Negation in der Hegelschen Dialektik faßte er damals noch nicht, wie später, als Rechtfertigung des Opferung. „Alles Große, Geheimnisvolle und Heilige liegt in derundurchdringlichen und einfachen Eigentümlichkeit, die wir Persönlichkeit nennen; das Allgemeine, abstrakt für sich genommen . . . bleibt doch immer seicht, flach und tot; nur der persönlich geoffenbarte Gott, nur die unsterbliche und vom Geist Gottes verklärte. Einzelheit und Eigentümlichkeit des persönlichen Menschen — ist lebendige Wahrheit und die Verwirklichung dieser Wahrheit ist einzig und allein nur die Liebe, und die höchste Stufe alles Tuns und Wollens ist gerade die , — wo es sich aus sich selbst zur lebendigen Flamme der Liebe und zur heiligen Wirklichkeit des persönlichen Geistes aufhebt." Dieses Aufsteigen zum geistigen Personensein durch die Liebe bedeutet aber für Bakunin das „Aufgeben seiner selbst in der Selbsthingabe, um durch die Hingabe sich in der wahren Wirklichkeit wiederzufinden. Es ist nicht ein schlechhiniges Vergehen und Sterben, sondern ein Aufsteigen zur wahren Existenz durch den Tod, An die persönliche Unsterblichkeit glaubte Bakunin damals, wie er sich in einem anderen Briefe ausdrückt, „unbedingt". In diesem Sinne kann Bakunin als oberstes Lebensgesetz der geistigen Persönlichkeit formulieren:

„Die Selbstnegation ist das allgemeine und das höchste Gesetz jedes Geisteslebens . . . Der Geist hat nur das, was er weggibt.“

Welche Idee können wir entgegensetzen?

Von hier aus, scheint mir, können wir uns auch einen Zugang zur Beantwortung der Schicksalsfrage Europas erarbeiten; was können wir tun, um dem Ansturm seitens der kommunistischen Zwangseinheit einen wirksamen Damm entgegenzusetzen? Welche bessere Idee können wir der Christentum und Abendland in gleicher Weise bedrohenden Pseudo-Idee des Kommunismus entgegensetzen?

Die Stärke des Ostens ist, daß er eine Idee, e i n Leitbild hat, seine Schwäche, daß diese Idee falsch und seine Einheit Zwang ist. Die Schwäche des Westens ist, daß er viele Ideen, aber keine Idee, viele Leitbilder, aber kein Leitbild hat. Als seine Stärke stellt man hin: die Freiheit und die Wahrheit. Wir müssen uns jedoch zunächst ganz realistisch darüber klar werden, ob das, worin wir unsere Stärke sehen, echt ist, oder ob es sich bei näherem Zusehen als ausgehöhlt erweist. Unsere Position würde sich als ausgehöhlt erweisen, wenn wir uns damit ab-fänden, daß die Vielheit unserer Ideen einander widersprechen, statt sich als Teilwahrheiten und verschiedene Aspekte zu einer Wahrheit und einer Idee zu integrieren. Unsere Freiheit würde sich als Pseudofreiheit erweisen, wenn sie auf der Ausklammerung der Wahrheitsfrage beruhte und nicht jener Freiheit zustrebte, von der gesagt wurde: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Eine rein formal verstandene Freiheit würde eine der tiefsten Aspirationen des Menschenherzens nicht befriedigen, welches immer nach einem echten, leuchtenden Ziel strebt, welches wert ist, gewollt und erstrebt zu werden. Eine solche inhaltlose Freiheit würde jenes Vakuum in der Seele schaffen, welches eine der gefährlichsten Anfälligkeiten für den dialektischen Materialismus im Westen darstellt.

Lind wenn wir unsere Lage unter diesem Gesichtswinkel erforschen, müssen wir uns zunächst ganz realistisch eingestehen, daß das, was wir im Westen für unsere Stärke halten, tatsächlich sehr fragwürdig ist, daß die vielen Ideen, welche von den zahlreichen einander bekämpfenden Gruppen vorgetragen werden, nicht Teilwahrheiten einer großen Idee sind, und daß daher unser Freiheitsideal tatsächlich weitgehend nicht über das rein formalistische „tun können, was man will“, hinauskommt. Müssen wir daher an der Zukunft Europas verzweifeln?

Nicht unbedingt. Wir müssen uns allerdings der ungeheuren Verantwortung bewußt werden, die wir alle tragen und der Tatsache, daß wir tatsächlich in einer Schicksalsstunde Europas stehen. Wir haben nur eine Wahl: Entweder unser gegenseitiges Verhalten, das heißt das Verhalten der verschiedenen Gruppen bei uns bestimmt sein zu lassen von dem gleichen Prinzip des Vernichtungskampfes der Gegensätze und des Niedermachens der Gegenseite, welches der sowjetischen Dialektik zugrundeliegt — dann werden wir aber unausweichlich den kürzeren ziehen dem mit viel brutaleren Mitteln arbeitenden Sowjetismus gegenüber und wir enden in einem vollkommenen Verlust der Freiheit und der Zwangsuniformität. Oder aber wir greifen den Anruf der geschichtlichen Stunde auf und machen Schluß mit allem Auskneifen vor der Wahrheitsfrage und suchen in einem ehrlichen, echten Dialog, in echter Toleranz unter Achtung der fremden Überzeugung und des fremden Gewissens, in Verwirklichung der echten Freiheit, die auch das Gewissen des anderen achtet, nach einer neuen, gemeinsamen Lösung. Worauf es vor allem ankommt, ist die Gesinnungsänderung, die richtige Haltung zueinander. Gelingt uns diese, so ist noch Hoffnung vorhanden, selbst wenn wir auch im Augenblick der kommunistischen Pseudo-Idee keine einheitliche Idee entgegenzusetzen haben. Natürlich bin ich als katholischer Priester überzeugt, daß wir in der (Sozial-) Lehre unserer Kirche ein Leitbild besitzen, welches dem kommunistischen überlegen ist. Jedoch bin ich mir bewußt, daß von vielen im Westen im Augenblick dieses Leitbild nicht angenommen würde. Wenn wir also gegenwärtig kein einheitliches und gemeinsames Ordnungsbild dem kommunistischen entgegensetzen können, so haben wir doch eine große und einmalige Chance: daß die gemeinsame Gefährdung uns zwingt, in gemeinsamem, ehrlichen Bemühen, unter Achtung des fremden Gewissens und der fremden Überzeugung, nach einer gemeinsamen Lösung zu suchen, um in dieser Bemühung wieder zu einer tieferen, echten Einheit zusammenzuwachsen. Nicht im Sinne einer Restauration früherer Zeiten, sondern im Sinne einer schöpferischen Vorwärtsbewegung zu einer neuen Einheit, die die echten Anliegen und neuen Teilwahrheiten der neuen Zeit mit den aus der Vergangenheit ererbten, im Wesen des Menschen, das sich immer gleich bleibt, verankerten beharrenden Strukturen zu einer neuen gemeinsamen Idee integriert. Wir können sicher sein, daß von der Gegenseite besonders mit Hilfe der auf diplomatischer Ebene erreichten Annäherung alles getan werden wird, um diese Integration zu hintertreiben und zwischen uns einen Keil vorzutreiben. Unsere Antwort auf derartige Bemühungen soll darin bestehen, daß wir uns nur um so inniger zusammenschließen.

Die große Chance unserer Tage liegt also darin, daß wir gezwungen sind, wollen wir nicht untergehen, uns zusammenzuschließen zu einer Kampfgemeinschaft zur Verteidigung der allgemein menschlichen und allgemein christlichen Werte, eine Kampfgemeinschaft, die sogar zum Ausgangspunkt werden könnte dafür, daß wir selbst uns auch auf einer noch tieferen und entscheidenderen Ebene wiederfinden. So kann es vielleicht geschehen, daß Europa der kommunistischen Pseudo-Idee und Zwangseinheit wieder das Bild einer wahren Einheit in der Freiheit und Wahrheit entgegensetzt, deren Verlust jenes Versagen der Christenheit in der Geschichte zur Folge hatte, dessen letzte Auswirkung wohl in der kommunistischen Bedrohung gesehen werden kann.

In diesem Sinne möchte ich ein Wort Theodor Haeckers an den Schluß unserer Besinnung stellen:

Die Ceschidtte geht weiter, was gesdtehen muß, geschieht.

Zu lange Pausen sind nicht erlaubt.

Wenn die, die es eigentlidi tun sollten, es nicht tun, tun es eben andere — aber anders.

Fussnoten

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