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„Die Partei hat immer recht". Bemerkungen zum geplanten deutschen Rajkprozeß (1950) | APuZ 27/1956 | bpb.de

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APuZ 27/1956 „Die Partei hat immer recht". Bemerkungen zum geplanten deutschen Rajkprozeß (1950)

„Die Partei hat immer recht". Bemerkungen zum geplanten deutschen Rajkprozeß (1950)

LEO BAUER

Der nachstehende Aufsatz von Leo Bauer ist ein Beitrag zur Orientierung über die parteipolitische Situation in den Ostblockstaaten, vor allem auch in der Sowjetzone Deutschlands. Gerade zum jetzigen Zeitpunkt der im kommunistischen Parteigefüge aller Länder spürbaren erheblichen Bewegung verdienen die Ausführungen dieses ehern, führenden Kommunisten besondere Beachtung.

Die folgenden Zeitungszitate umreißen den äußeren Rahmen meiner Verhaftung, Verurteilung, Verschickung nach Sibirien und meiner Freilassung. Sie sind ein „Beweis" für das Schlagwort: „Die Partei hat immer recht!“ Deshalb stelle ich sie an den Beginn meines Berichtes.

* „Das ZK unserer Partei hat in seiner letzten Sitzung einen schwerwiegenden BesMufl gefaßt. Die vorläufigen Ergebnisse einer noch nidtt abgeschlossenen Untersuchung der ZPKK *) über das Verhalten einer Reihe hochgestellter Partei-und Staatsfunktionäre gaben den Anlaß für ihren Ausschluß aus der Partei bzw. für die Enthebung von allen Punktionen.

Der Ausgangspunkt ist bei allen zehn Betroffenen der gleiche: Langjährige und teilweise bis in die jüngste Zeit hineinreichende Verbindungen mit Vertretern des anglo-awerikanisdten Geheimdienstes, insbesondere mit dem als „barmherzigen Samaritern" getarnten amerikanischen Spion Noel H. Field.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß dieser Beschluß des auf dem 3.

Parteitag gewählten Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands von großer historischer Bedeutung ist. Es ist nicht übertrieben, wenn man feststellt, daß er den Beginn einer neuen Etappe in der Geschichte unserer Partei bedeutet, eine neue Stufe in der Entwicklung der SED zu ejner Partei von neuem Typus . . .

Die Prozesse gegen die Spionage-, Sabotage-und Mörderbanden der Verräter Rajk in Ungarn (Sept. 1949) und Kostoff in Bulgarien (Dezember 1949) erbrachten eine Fülle von Beweisen dafür, daß die angloamerikanischen Geheimdienste schon lange vor Beendigung des zweiten Weltkrieges mit ihren Vorbereitungen für den dritten Weltkrieg gegen die Sowjetunion und die mit ihr verbündeten oder befreundeten Ländern begannen . . .

Im Budapester Prozeß gegen Rajk und Komplicen spielte auch der Name Noel H. Field keine geringe Rolle. Tibor Szönyi erklärte z. B., daß er bereits lange Zeit vor seiner direkten Eingliederung in den amerikanischen Spionagedienst in Beziehungen zu Field gestanden habe. Im Gerichtsprotokoll über die Vernehmung von Szönyi heißt es wörtlich:

„Der Hauptmithelfer und unmittelbare Mitarbeiter des Allan Dulles in dieser Arbeit, nämlich im Anwerben von Spionen unter den politischen Emigranten war Noel H. Field, der in der Sdtweiz offiziell Leiter einer amerikanischen Hilfsorganisation, der unitarisdten Hilfsorganisation, Unitarian Service Committee, tatsächlich aber unmittelbarer Mitarbeiter des Dulles in der Spionageorganisation war. Seine Aufgabe bestand darin, daß er als Leiter der Hilfsorganisation den politischen Emigranten wirtschaftliche Unterstützung und Hilfe zukommen lasse, und dadurch mit letzteren eine Verbindung und Freundschaft ausbaue, sowie eine Eingliederungstätigkeit für die amerikanischen Spionageorgane entfalte."

Auch Rajk selbst, der nie in der Schweiz war und auf dem Wege über die Gestapo aus einem französischen Lager nach Ungarn zurückkehrte, konnte trotzdem selbst über das Wirken von Field berichten. In seiner Aussage heißt es: „Es war im Internierungslager von Vernet, als ein amerikanischer Staatsbürger namens Field, der meines Wissens Leiter der amerikanischen Spionageagentur für Mittel-und Osteuropa war, nach Ende des Bürgerkrieges mich im Internierungslager besuchte. Er berief sich darauf, daß er aus Washington die Weisung erhalten habe, mit mir zu sprechen und mir behilflich zu sein, aus dem Lager zu entkommen und nach Ungarn zurückzukehren. Er sagte mir auch, daß man mir darum gern zur Heimkehr verhelfen möchte, damit ich als nicht entlarvter Kommunist innerhalb der Partei gemäß den Weisungen der Amerikaner arbeiten und bemüht sein möge, die Partei zu desorganisieren, zu zersetzen und nach Möglichkeit auch deren Leitung in die Hand zu bekommen . . .“

Dieser amerikanische Oberagent Field hatte offenkundig auch den Auftrag der Bearbeitung deutscher Emigranten. Er entledigte sich dieser Aufgabe mit ziemlichen Erfolg unter der Maske des wohltätigen Bieder-mannes und Freundes der Arbeiterklasse, der über beträchtliche Geldmittel verfügt . . .

Lex Ende, Willy Kreikemeyer, Paul Bertz, Leo Bauer und Paul Merker befolgten also in der Tat die Befehle der amerikanischen Imperialisten und sabotierten die Entfaltung einer antifaschistischen Widerstandsbewegung . . .

Es ist einfach nicht zu glauben, daß alle diejenigen, die mit Field in Verbindung standen, noch bis zum Jahre 1949 der Meinung waren, daß sie es mit einem amerikanischen Wohltäter der Menschen und Freund der Arbeiterklasse zu tun hatten. Aber selbst wenn das der Fall gewesen wäre, allerspätestens im September 1949 hätten ihnen durch die im breitesten Umfang gemachten Berichte über den Rajk-Prozeß die Schuppen von den Augen fallen müssen ... Unser neugewähltes ZK ist im Zusaimuenltang mit den Untersudtungsergebnissen der ZPKK iw Falle der ehemaligen Emigranten in den westlichen Ländern vor der Selbstkritik nidtt zurückgesdireckt. Es hat festgestellt, daß auch der Parteivorstand nicht genügend wachsam war. Bis zum 3. Parteitag waren in der Parteiführung versöhnlerische Tendenzen gegenüber solchen Parteifunktionären vorhanden, die in der Vergangenheit ernste Fehler begangen hatten. Eine Anzahl widitiger Fälle, über die Material vorlag, wurde nicht gründlich und schnell untersucht. Das vorliegende Kommunique beweist, daß jetzt begonnen wird, mit diesem faulen Liberalismus Schluß zu machen. Es beginnt ein neuer Absdtnitt in der Entwicklung unserer Partei . . .

In Ausführung des Beschlusses der 2. Tagung des Zentralkomitees der SED am 24. August 1950 wurden vom Politbüro folgende Maßnahmen durdigeführt:

Wegen Verbindung mit dem Agenten der amerikanischen Spionage Noel H. Field und umfangreicher Hilfe für den Klassenfeind werden Paul Merker, Leo Bauer, Bruno Goldhammer, Willy Kreikemeyer, Lex Ende und Maria Weiterer aus der Partei ausgeschlossen.

Die Genossen Bruno Fuhrmann, Hans Teubner, Walter Beling und Wolfgang Langhoff, deren Tätigkeit nur zu einer mittelbaren Unterstützung des Klassenfeindes führte, werden aller ihrer Funktionen enthoben . . .

Berlin, den 31. August 1950“

(Auszüge aus der Veröffentlichung des „Neuen Deutschland" vom 1. 9. 1950 unter dem Titel „Das ZK der SED zur Verbindung von Funktionären der SED mit amerikanischen Agenten“.)

Ungarn läßt Ehepaar Field frei „Budapest, den 18. November. (UP) Die Ungarische Regierung gab am Mittwoch bekannt, daß das amerikanische Ehepaar Noel und Herta Field, das sich fünf Jahre lang in Untersuchungshaft befand, in Freiheit gesetzt worden sei, da sich die Beschuldigungen, die gegen die Fields erhoben worden waren, als haltlos erwiesen hätten.

Erst vor wenigen Wochen war ein Bruder Noel Fields, Herman Field, in Polen aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Auclt in seinem Fall lautete die einzige offizielle Begründung, die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen seien nicht gerechtfertigt gewesen . . .“

(Frankfurter Rundschau, 19. XI. 1954) „Niemand ist es gestattet, irgendwelche Willkürakte zu begehen. Auch der Generalstaatsanwalt muß sielt im höheren Maße bewußt sein, daß er die Verantwortung für die strikte Durchführung der Gesetze t. r. acg. t... u (Aus dem Referat von O. Grotewohl auf der 3. Parteikonferenz der SED im März 1956)

Rakosi: Rajk zu Unrecht hingerichtet „Ko. Wien, 30. März. Rakosi, der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei Ungarns, hat in einer Rede vor den Parteiaktivisten der nordwestungarischen Stadt Eger (Erlau) bekanntgegeben, daß der 1949 hingerichtete Innen-und Außenminister Laszlo Rajk und seine damaligen Mitangeklagten voll rehabilitiert worden seien. Rakosi bezichtigte den 1953 zu lebenslänglidter Haft verurteilten ungarischen Polizei-chef Gabor Peter, den Schauprozeß gegen Rajk auf Provokation aufgebaut zu haben. Er sei schuld an der ungeredttfertigten Verurteilung.

Mit Rajk waren damals der Kaderdtef der Kommunistisdien Partei, Dr. Tibor Szönyi, und der ehemalige Führer der Kommunistisdien Jugend in Ungarn, Andreas Szalay, zum Tode durdi den Strang verurteilt und hingeriditet worden. Gegen zwei weitere Mitangeklagte Rajks, Feldmarsdialleutnant Palffy, Österreidter und Polizeioberst Bela Konrondy, hatte im Herbst 1949, also ein halbes Jahr nadt dem politischen Prozeß, ein Militärtribunal die Todesstrafe ausgesprodten .. „Rakosi hat in seiner Rede in Eger, die am 29. März von dem Parteiorgan „Szabad Nep“ veröffentlicht wurde, auch angekündigt, daß andere politisdte Prozesse in Ungarn überprüft werden sollen, vor allem jene, in denen ungarische Sozialdemokraten verurteilt worden sind.“

„Es ist damit zu rechnen, daß auch die anderen Satellitenländer dem ungarischen Beispiel folgen und die Sdtauprozesse gegen Slansky in der Tsdtedtoslowakei und gegen Kostow in Bulgarien neu aufrollen . .

(Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 31. 3. 1956)

Wenig sinnvoll mag es erscheinen, heute, nachdem die Machthaber aller Oststaaten selbst zugeben, daß sie unzählige Menschen unschuldig gehängt oder in die Kerker geworfen haben, über die Ereignisse, die durdi die einleitend wiedergegebenen Zitate umrissen werden, zu berichten. Einer der davon Betroffenen war ich. Ich war zum Tode verurteilt. Ich wurde zu 25 Jahren Zwangsarbeit „begnadigt". Meine wiedererlangte Freiheit, die öffentlichen Eingeständnisse der von Partei und Staat verübten Verbrechen, die jetzt erfolgte Rehabilitierung der Toten und Lebendigen der Blutprozesse, die Beschlüsse des 20. Partei-tages der KPdSU und der 3. Parteikonferenz der SED, die scheinbar eine neue Ära einleiten — dies alles könnte zur Schlußfolgerung führen, es sei nicht mehr opportun „darüber zu sprechen“. Ich kenne die Geschichte. Ich weiß, daß selbst jene, welche heute gezwungen sind, allein den bewußten und geplanten Mord zuzugeben, Verteidiger finden werden. Ich höre schon, wie sie z. B. unter Berufung auf Georg Büchner auch jetzt noch versuchen werden das ungeheuerliche Geschehen zu entschuldigen. Vielleicht wird Nationalpreisträger Wolfgang Langhoff einmal mehr die berühmten Worte des St. Just aus „Dantons Tod“ sprechen: „Es scheint in dieser Versammlung einige empfindliche Ohren zu geben, die das Wort „Blut“ nicht wohl vertragen können. Einige allgemeine Betrachtungen mögen sie überzeugen, daß wir nicht grausamer sind als die Natur und als die Zeit. Die Natur folgt ruhig und unwiderstehlich ihren Gesetzen; der Mensch wird vernichtet, wo er mit ihnen in Konflikt kommt. Eine Änderung in den Bestandteilen der Luft, ein Auflodern des tellurischen Feuers, ein Schwanken in dem Gleichgewicht einer Wassermasse und einer Seuche, ein vulkanischer Ausbruch, eine Überschwemmung begraben Tausende. Was ist das Resultat? Eine unbedeutende, im großen ganzen kaum bemerkbare Veränderung der physischen Natur, die fast spurlos vorübergegangen sein würde, wenn nicht Leichen auf ihrem Wege lägen.

Idt frage nun: soll die geistige Natur in ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen als die physische? Soll eine Idee nicht ebensogut wie ein Gesetz der Physik vernichten dürfen, was sich widersetzt? Soll überhaupt ein Ereignis, das die ganze Gestaltung der moralischen Natur, das heißt der Menschheit, umändert, nicht durch Blut gehen dürfen? Der Weltgeist bedient sich in der geistigen Sphäre unserer Arme ebenso, wie er in der physischen Vulkane und Wasserfluten gebraucht. Was liegt daran, ob sie nun an einer Seuche oder an der Revolution sterben?

Die Schritte der Menschen sind langsam, man kann sie nur nach Jahrhunderten zählen, hinter jedem erheben sich die Gräber von Generationen. Das Gelangen zu den einfachsten Erfindungen und Grundsätzen hat Millionen das Leben gekostet, die auf dem Wege starben. Ist es denn nidtt einfadt, daß zu einer Zeit, wo der Gang der Geschidtte rasdter ist, auch mehr Mensdten außer Atem kommen? Wir schließen schnell und einfach: da alle unter gleichen Verhältnissen geschaffen werden, so sind alle gleich, die Unterschiede abgerechnet, welche die Natur selbst gemacht hat. Es darf daher jeder Vorzüge und darf keiner Vorrechte haben, weder ein einzelner noch eine geringere oder größere Klasse von Individuen. — Jedes Glied dieses in der Wirklichkeit angewandten Satzes hat seine Menschen getötet. Der 14. Juli, der 10. August, der 31. Mai sind seine Interpunktionszeichen. Er hatte 4 Jahre Zeit nötig, uw in der Körperwelt durchgeführt zu werden, und unter gewöhnlichen Umständen hätte er ein Jahrhundert dazu gebraucht und wäre mit Generationen interpunktiert worden. Ist es da so zu verwundern, daß der Strom der Revolution bei jedem Absatz, bei jeder neuen Krümmung seine Leichen ausstößt?

Wir werden unserem Satze noch einige Schlüsse hinzuzufügen haben; sollen einige hundert Leichen uns verhindern, sie zu machen? — Moses führte sein Volk durch das Rote Meer und in die Wüste, bis die alte verdorbene Generation sich aufgerieben hatte, ehe er den neuen Staat gründete. Gesetzgeber! Wir haben weder das Rote Meer noch die Wüste, aber wir haben den Krieg und die Guillotine.

Die Revolution ist wie die Tödcter des Pelias: Sie zerstückt die Menschheit, um sie zu verjüngen. Die Menschheit wird aus den Blutkessel, wie die Erde aus den Wellen der Sündflut, mit urkräftigen Gliedern sich erheben, als wäre sie zum ersten Male geschaffen.“

(Dantons Tod, 2. Aufzug, 7. Szene) * In der Tat: In den knapp drei Jahren der restlosen Isolierung, einer absoluten Einzelhaft, nur unterbrochen von lästigen sinnlosen Vernehmungen, bei denen ich bereits mit dem Leben abgeschlossen hatte und nicht wußte, wann — um mit Köstler zu sprechen — das Unendliche endlich beginnen wird, in diesen drei Jahren hatte ich genügend Zeit zum Nachdenken — über meinen eigenen Weg, wohl mehr noch aber über das Seltsame, was man im Heute das Leben und die Politik der Menschen nennt und das man im Gestern als die Geschichte der Menschheit bezeichnet. St. Just hatte nicht übertrieben, meinte ich da. Was gilt da schon der Einzelne? „Der Kampf fordert Opfer; wo gehobelt wird, fallen Spähne“ und wie die schönen Sprüche alle heißen mögen. Sie alle sollten mich „trösten" und oft überkam mich große Verzweiflung. Hat das alles einen Sinn gehabt? Das war die stetige Frage. Irgendwann und irgendwie siegte jedoch das politische Bewußtsein. Damit komme ich gleich zur Beantwortung der Frage: Warum muß ich trotz der neuen Entwicklung über das Erlebte berichten? Steht man im politischen Kampf, nimmt man für sich das Recht in Anspruch, eine eigene Meinung zu vertreten, muß man auch bereit sein, die Konsequenzen dafür zu tragen. Denn es ist eine alte Wahrheit: Im Kampf gibt es Sieger und Besiegte. Bitter ist es, zumindest vorübergehend zu den letzteren zu gehören. Bleibt die Hoffnung, die Gewißheit sogar, daß die Wahrheit doch siegen wird. Ich gehöre zu den „Glücklichen“, die sogar noch als „Lebende“ erfahren, wie es ist, wenn die Folterer sagen müssen: „Wir haben gegen das Recht gehandelt. Wir haben Menschen, von denen wir wußten, daß sie unschuldig sind, gequält, gefoltert, zu gefälschten Geständnissen gezwungen, ermordet“. Es ist ein angenehmes Gefühl, dies zu erleben. Doch kommen Zweifel auf. Warum gerade jetzt diese, ausnahmsweise, wahren und richtigen Geständnisse? Welche Folge haben diese Geständnisse? Werden jene, die nunmehr diese Verbrechen zugeben, zur Verantwortung gezogen? Dabei meine ich natürlich nicht die „Kleinen“, die Handlanger. Ich meine auch nicht die „Schuldigen", die stets gefunden werden, um auf sie die eigenen Fehler abwälzen zu können. Walter Ulbricht z. B. (von ihm wird noch viel die Rede sein), ist ein anerkannter Meister — und es ist ohne jeden Zweifel seine stärkste Begabung — im Finden von Sündenböcken für die zahllosen Fehler und Verbrechen, die er nachweisbar begangen hat. Seine ganze politische Karriere basiert darauf, daß er seinen Auftraggebern und Beschützern rücksichtslos zahllose Menschen opferte, wenn nötig, engste Mitarbeiter und Freunde. Ich meine die Führer der Zentrale in Moskau und die Unterführer in den von der Zentrale kontrollierten Staaten.

Seien wir großzügig. Nehmen wir einen Moment an, die Geständnisse seien ehrlich gemeint. Man sei entschlossen, aus den begangenen Verbrechen der Vergangenheit zu lernen und damit eine radikale, konsequente, ehrliche und grundsätzliche Abkehr von der gesamten bisherigen Politik einzuleiten — in der Erkenntnis, daß die verübten Verbrechen ein integraler Bestandteil der bisherigen Politik gewesen sind. Was dann? Dann könnten die Ungeheuerlichkeiten zwar weder entschuldigt noch verziehen werden und schon gar nicht den Initiatoren ä la Ulbricht, die in sehr vielen Fällen nur aus persönlicher Machtgier verbrecherisch handelten. Aber immerhin: Das Opfer jedes einzelnen (diese einzelnen bilden eine Legion) bekämen noch nachträglich einen gewissen Sinn. Was ist jedoch die Wirklichkeit? Sind die Geständnisse der bolschewistischen Führer begleitet von dieser Erkenntnis? Sind in den Beschlüssen des 20. Parteitages der KPdSU und gleichfalls — was Deutschland angeht — in denen der 3. Parteikonferenz der SED auch nur Ansätze für eine solche Entwicklung zu verzeichnen?

In seiner Stellungnahme in der italienischen Zeitschrift „Nuovi Argomenti“ zu der Veröffentlichung der Rede des russischen Parteichefs Nikita S. Chruschtschow anläßlich einer Geheimsitzung des 20. Partei-tages der KPdSU hat der erste Sekretär der kommunistischen Partei Italiens, Palmiro Togliatti, einer der großen Führer der kommunistischen Bewegung, auf diese Fragen geantwortet:

„Wir müssen offen und ohne Zögern anerkennen, daß der 20. Moskauer Kongreß zwar einen gewaltigen Beitrag zur Lösung vieler neuer Probleme der demokratischen und sozialistischen Bewegung geleistet hat und einen überaus bedeutenden Schritt in der Entwicklung der Sowjetgesellschaft darstellt. Aber wir können uns von der Haltung des Kongresses angesichts der Fehler Stalins nicht befriedigt erklären... Die wahren Probleme treten dabei nicht zu Tage — so z. B. wie es kam, daß die Sowjetgesellschaft sich soweit vom selbst vorgezeichneten demokratischen Weg und von der Legalität entfernen konnte. Eine völlige Überprüfung drängt sich auf, wobei die verschiedenen Phasen der Entwicklung dieser Gesellschaft zu verfolgen sind.“

Wie konnte das Sowjetsystem so gewaltige Erfolge erzielen, während in seinem „Mechanismus“ so große Irrtümer bestanden? Die Auswirkungen von Stalins „Irrtümern“, so kann man in dem Interview Togliattis lesen, wögen sehr schwer, erstreckten sich auf viele Lebensgebiete und könnten so schnell nicht behoben werden. Ein großer Teil der sowjetischen Führungsschicht sei durch den Stalinkult erschlafft; sie habe die kritischen und schöpferischen Fähigkeiten eingebüßt. Rechtlosigkeit, Stagnation und teilweise Degeneration breiteten sich im Gesellschaftskörper durch das Überhandnehmen der Bürokratie, dieses russischen Erdübels, aus. (Wiedergegeben nach der Neuen Züricher Zeitung Nr. 166 und 168 vom 18. Juni 1956 und 20. Juni 1956).

Pietro Nenni, der italienische Sozialistenführer, der jahrelang engstens mit den Kommunisten zusammenarbeitete, wird in einem Artikel der am 24. Juni 1956 im „Avanti“ als Vorabdruck eines für die Zeitsdirift „Mondo Operaio“ bestimmten Aufsatzes erschien, noch deutlicher. Nenni spricht von dem Ausbruch einer tiefgehenden Krise innerhalb des kommunistischen Lagers, deren Verlauf schwer vorauszusagen sei, weil sie bisher nur die ersten Anzeichen offenbart hat. Nach Nenni bildet die Stalinsche Despotie nur den Ausgangspunkt einer notwendigen grundsätzlichen Kritik des Sowjetsystems und diese habe man auf dem 20. Parteitag unterlassen. Nenni billigt der Oktoberrevolution die „Legitimität" zu; aber er weigert sich, die Erklärung zu akzeptieren, daß für ihre spätere Entartung die Verfehlungen eines Einzelnen die Schuld trügen. (Wiedergabe nach „Neuer Zürcher Zeitung“ Nr. 173 vom 25. 6. 1956.)

Einige Bemerkungen, um das Gesagte zu beleuchten, sollen in diesem Zusammenhang speziell, was Deutschland angeht, gemacht werden, wobei sie im Rahmen dieser Arbeit nur den Sinn einer Andeutung der Problematik haben können.

Der Personenkult und die kollektive Verantwortung

Es ist unnütz, in diesem Zusammenhang über Stalin oder Berija zu sprechen. Ihre Rolle ist genügend bekannt und es bedurfte dazu keiner neuen Konferenz. Aber was soll das aus dem Munde eines Ulbricht widerlich anmutende Geschrei gegen Stalin? Hat er — Ulbricht — nicht gerade alles getan, um Punkt für Punkt den „Stalinismus“ in der Zone zu verwirklichen? Hat Ulbricht nicht noch „in Stalinismus gemacht“ zu einer Zeit, als Stalins Götterdämmerung in der Sowjetunion für jeden, der in den vergangenen Jahren dort lebte, bereits offenkundig war? Sah und sieht Ulbricht nicht sein Hauptziel in der Übertragung des „Stalinismus" auf ganz Deutschland? Man redet von Stalins Terror (als habe e r allein ihn ausgeübt). Aber was ist — um nur eine Frage zu erwähnen — mit der Macht des Stalinschen SSD? Man nenne doch die Dinge beim Namen: Stalin — diesmal hat man den größten Toten gewählt — soll der Sündenbock für alle Verbrechen sein, die allen bekannt waren und von allen gebilligt wurden. Gemeinsam mit Stalin wurden die notwendigen Beschlüsse gefaßt. Gewiß gab es Diskussionen, aber nicht grundsätzlicher Art. Im Gegenteil: Es steht einwandfrei fest, daß z. B. Ulbricht bis zum vergangenen Jahre alle Mittel anwandte, um zu verhindern, daß die Deutschen aus den Arbeitslagern der Sowjetunion in ihre Heimat zurückgeführt würden. Noch heute wehrt sich das Politbüro der SED mit allen Mitteln, die Opfer der Terrorzeit, die in den ostzonalen Zuchthäusern schmachten, freizulassen. Einige wurden „begnadigt oder amnestiert". Aber noch heute erklären die Ulbrichts, niemand sei in der Ostzone zu Unrecht verurteilt worden. Das heißt also: Die politische Linie des Politbüros und später des Präsidiums des ZK der KPdSU unter Führung von Stalin, maßgeblich für alle kommunistischen Parteien der Welt, wurde für richtig erachtet, und es wurde versucht, sie in den einzelnen Ländern mit aller Konsequenz durchzuführen. In seinem Schlußwort der 3. Parteikonferenz der SED — (am 29. 3. 1956) bestätigte Grotewohl die Richtigkeit dieser These; er betonte, daß die politische Linie der „Stalinistischen" SED-Politik seit 1946 richtig gewesen sei. Die neuen Kritiker Stalins waren also alle am großen Verbrechen beteiligt. Und nur taktische Gründe (von innen und außen bestimmt) erfordern heute eine „Selbstkritik“ — auf dem Rücken des toten Stalin.

Man sprach auf diesen Konferenzen von der Abkehr vom Personen-kult und von der Verwirklichung der kollektiven Verantwortung. Nie wurden entscheidende Beschlüsse von irgendjemand allein gefaßt. Aus eigener Kenntnis der Dinge bin ich bereit zu bezeugen, daß in allen wesentlichen Fragen nicht Ulbricht allein entschied, sondern das zuständige Kollektiv (auch im Fall Merker, Bauer, Ende, Kreikemeyer usw.). Gewiß wurden die Dinge von „der starken Hand, dem verlängerten Arm, gelenkt“, aber hat sich dies nach der Abkehr vom „Personenkult“ geändert? Der Verlauf der 3. Parteikonferenz der SED bewies das Gegenteil. Sie war genau so straff und gut organisiert wie alle vorhergehenden Kongresse. Es gäbe keine freien Diskussionen. Referate und sonstige Reden, vorher festgelegt und kontrolliert, wurden verlesen. Die Rednerliste stand vorher fest; jeder wußte, welche Rolle er zu spielen hatte. Unter der Parole des Kampfes gegen den Personen-kult wurde in Berlin, um Ulbricht zu retten, dessen persönliche Verdienste, wie vorher, herausgestrichen. Gewiß hat sich etliches geändert und ich werde noch darauf zurückkommen. Aber im Grundsätzlichen kaum. Mit der alleinigen Feststellung der Verbrechen und politischen Fehler und dem Abwälzen dieser auf einen Toten unter Berufung auf den falschen Personenkult ist nichts getan.

Palmiro Togliatti stellt in seinem Interview im „Nuovi Argomenti“ in diesem Zusammenhang folgendes fest:

„Idt schließe die Erklärung aus, daß es wegen des Terrorapparates, der die Lage mit militärischen und polizeilichen Mitteln beherrschte, unmöglich gewesen wäre eine Änderung herbeizuführen. Es scheint mir riclttiger zu sein, anzunehmen, daß Stalin trotz seinen Fehlern die Unterstützung der herrschenden Kader genoß.“

Diese Feststellung betrifft auch Ulbricht und seine Freunde.

Die Koexistenz

Die Theorie der möglichen Koexistenz zweier verschiedener wirtschaftlicher und sozialer Systeme hatte Stalin von Lenin übernommen. Also auch hier nichts Neues. Die jetzigen Kritiker Stalins bemühen sich, durch ihre Kritik an Stalin den Beweis zu erbringen, daß sie es mit der Koexistenz angeblich ernster meinen als er, aber eine Frage bleibt auch jetzt noch unbeantwortet — die entscheidende Frage! Der bekannte französische Kommunist und Schriftsteller Pierre Herve hat sie in seinem ausgezeichneten Buch „La Revolution et les fetiches“ noch vor dem Parteitag der KPdSLI unumwunden gestellt:

„Wenn der Kampf um die friedliche Koexistenz die Angelegenheit aller Menschen und besonders der Kommunisten ist, ergeben sich jetzt daraus eine Reihe anderer Fragen: Man kann nämlich nidtt behaupten, daß dieser Kampf sich lediglich auf eine gesonderte Aktivität (Untersd-iriftensammlungen, Beteiligung an der Friedensbewegung usw.) zu beschränken hat und nicht gleichzeitig die Gesamtheit der Politik einer Kommunistischen Partei betrifft. Jede Verringerung der Intensität des „Kalten Krieges" beeinflußt notwendigerweise die Bedingungen für die Politik einer Kommunistisdten Partei. Umgekehrt aber kann diese Politik so gehalten sein, daß sie die internationale Entspannung begünstigt oder ihr im Wege steht. Es kann nidtt davon die Rede sein, den Klassenkampf zu unterdrücken — aus dem einfadten Grunde, weil das nidtt möglidt ist, aber die Formen, die dieser Klassenkampf auf allen Gebieten des inneren Lebens eines Landes annimmt, können nidtt ohne Folgen auf das internationale Leben bleiben *).

Man kann, so meint Herve ganz richtig, nimmt man selbst die Moskauer Begründung für die Notwendigkeit der Koexistenz, in dieser Welt den internationalen Kampf für den Frieden nicht trennen von der Notwendigkeit einer analogen ehrlichen Politik in jedem Lande. Die Antwort der Kommunistischen Partei auf das Buch Herve’s, in dem er kritisch alle Fragen der kommunistischen Politik analysiert, war sein Parteiausschluß fast zur gleichen Zeit, als in Moskau unter dem Banner des Kampfes gegen Stalin ein neuer Propagandazug für die Koexistenz eröffnet wurde. Interessant ist es festzustellen, daß Pierre Herve nach dem 20. Parteitag unter Berufung auf die Beschlüsse dieser Konferenz seine Wiederaufnahme in die Partei beantragte. Sie wurde abgelehnt. Und sehr ausweichend und oberflächlich, mit sehr viel „wenn und aber“, oft aber auch mit einer zynischen Verneinung (siehe z. B. Rede von Paul Wandel auf der 3. Parteikonferenz der SED) wurde die unerbittliche Frage Herve’s beantwortet.

Die Einheits-und Bündnispolitik der Kommunistischen Partei Auch hier ist nichts Neues zu verzeichnen. Die Stalinisten feierten schon auf dem 7. Weltkongreß der Komintern im Jahre 193 5 den französischen Kommunistenführer Thorez für seine großen Erfolge in der Einheits-und Volksfrontpolitik. Seitdem sind diese Parolen aus der kommunistischen Agitation nicht verschwunden. Jeder wußte, was der Sinn dieser Politik sein sollte: Der Versuch, auf diesem Wege leichter die Massen zu gewinnen, die Macht zu erobern, die anderen Parteien zu zerschlagen und die „Diktatur des Proletariats“ nach sowjetischem Muster zu errichten. Ist das „Stalinismus?“ Der Bundestagsabgeordnete Herbert Wehner hat in Nr. 9 des „Vorwärts“ (v. 2. 3. 1956) in einem Artikel über die Bedeutung des 20. Parteitages diese Frage beantwortet: „Gilt Lenins brutale Formel noch?

In einer grundlegenden taktischen Schrift Lenins „Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ findet sich die bru-tale Formel, die Kommunisten müßten die Sozialdemokraten durch ihre Stimmabgabe ebenso stützen, wie der Strick den Gehängten stützt. Lenin bediente sich dieser Formel seiner Zeit, um die zur sektiererischen Abkehr von jeder Teilnahme am Parlament neigenden Kommunisten in verschiedenen europäischen Ländern zur Tätigkeit in den Parlamenten und Gewerkschaften anzuspornen. Auf dem 20. Parteitag der KPdSU ist von mehreren Rednern zu umschreiben versucht worden, daß man unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht unbedingt auf die Alleingültigkeit des sowjetrussischen Weges pochen müsse.

Der politische Kampf in den anderen Ländern gehe in erster Linie um Fragen wie die Verteidigung des Friedens, der demokratischen Freiheiten und der nationalen Unabhängigkeit. Dafür bestünde die Möglichkeit, die überwiegende Mehrheit der Nation auf einer „einheitlichen demokratischen Plattform" um sich zu scharen.

Die große Frage ist: Soll auch dafür letzten Endes das oben zitierte Rezept gelten, die Sozialdemokraten und die anderen, mit denen man sich auf einer „einheitlichen demokratischen Plattform" treffen will, ebenso zu stützen, wie der Strick den Gehängten stützt? Oder sind unter den neuen Bedingungen auch in dieser Beziehung grundlegende Korrekturen zu erwarten?

Auf solche Fragen kann nur die Praxis der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der übrigen Kommunistischen Parteien Antwort geben. Was in dieser Beziehung z. B. bisher aus der Ecke der „SED" hörbar geworden ist, zeugt nicht von einer Änderung," Soweit Wehner.

Diese Beispiele — sie könnten um viele vermehrt werden — mögen an dieser Stelle genügen. Daraus ergibt sich, daß auf keinen Fall die Vergangenheit schon tot ist und ad acta gelegt werden darf. Im Gegenteil:

Der in den Oststaaten schon vor Jahren (schon vor dem Tode Stalins) begonnene innere Gärungsprozeß hat durch die letzten Ereignisse eine Bestätigung erhalten und zweifellos in den Beschlüssen des 20. Partei-tages der KPdSU und der 3. Parteikonferenz der SED neue Quellen für eine Vertiefung gefunden. Er macht es geradezu zur Pflicht, ohne persönliche Haßgefühle und nicht, um dem Haß zu dienen, so objektiv wie möglich über den deutschen Teil jener bitteren und blutigen Tragikomödie zu berichten, die mit der Titokrise 1948 begann und erst jetzt einen Abschluß findet — einen relativ erfreulichen aber nur für jene, die inzwischen zufällig nicht dem Henker zum Opfer fielen.

Etwas anderes kommt hinzu:

Für jeden Beobachter der Entwicklung in der Sowjetunion, in den Volksdemokratien und in der Ostzone nach dem 20. Parteitag der KPdSLI, ist es augenscheinlich, daß die Machthaber der Zone unter Führung von Walter Ulbricht sich am energischsten dagegen sträuben, die notwendigen Rehabilitierungen und die sich daraus ergebenden Änderungen in der Partei — und Staatsführung durchzuführen. Die Unzufriedenheit innerhalb der SED und der Bevölkerung der Zone ist darüber so groß, daß die Parteiführung sich gezwungen sieht, öffentlich Gründe für ihr Verhalten anzugeben. Am 29. April 1956 veröffentlichte das „Neue Deutschland", das Zentralorgan der SED, den Versuch einer solchen Begründung unter dem Titel „Die leninistische Geschlossenheit unserer Partei“ und einen Bericht einer Diskussion Otto Grotewohls mit den Studenten der Berliner Humboldt-Universität zum gleichen Thema. Zwei Hauptargumente werden angeführt, um zu beweisen, in der Ostzone seien keine Maßnahmen, wie in der UdSSR und in den Volksdemokratien notwendig. Grotewohl meinte wörtlich: „Mandie Genossen verweisen auf Polen und sagen: in Polen, in der Tsd-tedio-Slowakei, in Bulgarien sind Minister abgelöst worden, und da das nun einmal im Gange ist, müßten auch bei uns die Dinge so fortgeführt werden. So ist das aber doch nicht. Was diese Länder zum Teil jetzt korrigieren, das haben wir schon 1953 getan.“ Stimmt schon diese Behauptung nicht und kann sie niemand überzeugen, so stellt die zweite Begründung einfach eine Lüge dar. In dem Artikel „Die leninistischste Geschlossenheit der Partei“ heißt es wörtlich: „Wir haben keinen solchen Prozeß wie z. B.den Rajk-oder Kostoff-Prozeß bei uns gehabt und demzufolge auch nicht so tiefgreifende Korrekturen durchzuführen.“ Walter Ulbricht und seinen Freunden scheint entgangen zu sein, daß der Schreiber dieser Zeilen von den Sowjets 1955 entlassen wurde und sich z. Zt. in der Bundesrepublik befindet. Die letzte Behauptung des Politbüros der SED ist ein weiterer entscheidender Grund für die Notwendigkeit der Veröffentlichung meiner Erlebnisse.

Der Anfang vom scheinbaren Ende

Die Tragikomödie begann für die Öffentlichkeit erst Anfang September 1950. Ich persönlich wurde schon am 23. August 1950 verhaftet. Es ist notwendig, diesen Vorgang genau zu schildern, damit klar wird, wer die Verantwortung dafür trägt. An diesem Tage wurde ich vormittags in meinem Büro im Rundfunkhaus — im Westsektor Berlins — angerufen und ersucht, Nachmittags 15 Uhr zu einer Besprechung mit der zentralen Parteikontrollkommission zu kommen. Im Büro von Hertha Geffke, der Vorsitzenden der Untersuchungskommission zur Feststellung der Verbindungen von deutschen Kommunisten zu dem angeblichen amerikanischen Spion Field wurde mir jener Beschluß verlesen, der am 1. September 1950 im „Neuen Deutschland" veröffentlicht wurde und aus dem zu Beginn dieses Artikels die wesentlichen Stellen wiedergegeben sind. Es wurde mir weiter mitgeteilt, ich sei aus der Partei ausgeschlossen, das ZK werde dies am nächsten Tag bestätigen und mir stehe das Recht zu, bis zum nächsten Morgen eine Erklärung zu dem eben verlesenen Beschluß zu Händen des ZK abzugeben. Direkt nach Verlassen des Büros wurde ich einen Meter vor dem Parteihaus der SED in der Lothringer Straße von Agenten des SSD verhaftet und in das Gefängnis in der Schumannstraße gebracht. Damit war der Schlußstrich unter die Untersuchung der Partei gezogen, die seit dem Ende des Rajk-Prozesses im September 1949 lief und die darin bestand, daß ich von der Kontrollkommission ein einziges Mal, genau 50 Minuten, vernommen wurde und darüber hinaus drei Berichte über meine Verbindung zu Field liefern durfte. Der Schlußstrich sollte — und das drückte sich in der erfolgten Verhaftung aus — nach dem Wunsch der Partei und insbesondere nach dem Wunsch von Walter Ulbricht der Anfang auch meiner physischen Liquidierung sein. Die Bestätigung dafür erhielt ich schon zwei Tage später. Am 25. August 1950, gegen 22 Uhr, erhielt ich im Gefängnis den Besuch des Mitglieds des Zentralkomitees der SED, des Staatssekretärs im Staatssicherheitsministerium der DDR, Mielke. Unumwunden teilte er mir in Gegenwart eines anderen Beamten mit, daß es die Absicht der Partei sei, spätestens im Februar 1951 gegen Merker, Ende, Kreikemeyer, Goldhammer und mich einen Schauprozeß analog zu den Prozessen gegen Rajk und Kostoff (Bulgarien) durchzuführen und daß er von mir erwarte, daß ich der Partei keine Schwierigkeiten dabei machen würde. Der Begleiter Mielkes unterstrich einige Wochen später in einer neuen Vernehmung, die sehr „freundlich“ verlief, die persönliche Rolle von Ulbricht in der ganzen Angelegenheit, indem er feststellte, es würde im entscheidenden Maße von Walter Ulbricht persönlich abhängen, welchen Verlauf die Untersuchung nehme. Es steht also einwandfrei fest, daß entgegen der jetzigen Darstellung einzig und allein die Parteiführung der SED unter direkter Leitung von Walter Ulbricht für die Verhaftungswelle des August 1950 verantwortlich ist. Wenn Ulbrichts Absicht, uns zu liquidieren nur sehr teilweisen Erfolg hatte, so lag das bestimmt nicht an ihm.

Die Hintergründe

Mit der Veröffentlichung der Stellungnahme des Informationsbüros der Kommunistischen und Arbeiterparteien zum Fall Tito aus dem Jahre 1948 begann eine entscheidende Verschärfung in den Auseinandersetzungen innerhalb der Kommunistischen Parteien. Es war klar, daß im Moment, in dem die Kommunistischen Parteien außerhalb der Sowjetunion auf Grund des Kriegsausganges in verschiedenen Ländern des Ostens die Macht ergriffen, die bis dahin theoretisch geführte Diskussion über den besonderen Weg jedes einzelnen Landes zum Sozialismus, schärfere Formen annehmen mußte. Lediglich aus taktischen Gründen hatte das Politbüro der Kommunistischen Partei der SU 1945 allen Kommunistischen Parteien den Befehl erteilt, den „besonderen Weg“ zu proklamieren. Es stellte sich jedoch sehr bald heraus, daß die Sowjetunion überhaupt nicht daran dachte, diesen Grundsatz ernsthaft in den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den in Frage kommenden Ländern anzuerkennen. Diese Länder, einschließlich der sowjetischen Zone, wurden als faktische Kolonien betrachtet, deren Wirtschaft nicht den eigenen Interessen dienen sollte, sondern den Zielen der sowjetischen Politik. In allen Volksdemokratien erhob sich Widerstand. Die primitivsten Notwendigkeiten zwangen einfach jeden vernünftigen Politiker, den Widerspruch, der zwischen den Forderungen der sowjetischen Führer einerseits und dem Interesse des jeweiligen Volkes andererseits lag, zu erkennen. Im Sommer 1948 hatte ich anläßlich eines Aufenthaltes in Prag die Gelegenheit, mit einigen jener Männer zu sprechen, die später im berüchtigten Slansky-Prozeß gezwungen wurden, die schlimmsten Verbrechen zu gestehen und den Tod am Galgen fanden. Slansky selbst, Clementis, Andre Simone und andere erzählten mir über die Ereignisse des Jahres 1947, als die Tschechoslowakei sich für den Marshall-Plan aussprach und nur unter dem Druck von Moskau die bereits ausgesprochene Zustimmung zurückziehen mußte. Natürlich waren diese Männer niemals Spione. Sie sprachen sich 1947 für den Marshall-Plan aus, weil sie der Überzeugung waren, im Interesse des tschechoslowakischen Volkes zu handeln. Sie mußten dem unerhörten Druck Moskaus nachgeben. Dabei vertrat Clement Gottwald genau die gleiche Auffassung wie Slansky und andere. Die Männer des Politbüros des ZK der Sowjetunion und unter ihnen besonders Mikojan und Chruschtschow haben niemals diese öffentliche selbständige Handlung der tschechoslowakischen Kommunisten vergessen. Lange nach dem Tode Stalins erklärte Chruschtchow auf dem Parteitag der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei in Prag, daß die Liquidierung der Slansky-Gruppe ein großer Erfolg im kommunistischen Sinne gewesen sei (inzwischen sind die noch lebenden Verurteilten des Slansky-Prozesses auch rehabilitiert). Was mir Slansky, Clementis und einige andere sagten, war mir nicht fremd. Aus ihren Worten sprach die große Unzufriedenheit mit dieser Entwicklung. Denn die Gespräche fanden nach dem Bruch des Kominform mit Tito statt.

Die Situation war natürlich in Deutschland noch schlimmer und nicht nur Politiker der SED, sondern viele verantwortliche Funktionäre der westdeutschen KPD erkannten nach 1945 sehr bald, wohin die Politik der Sowjetunion und ihrer Handlanger in der Leitung der SED führe. Vom ersten Moment an war klar zu erkennen, daß die Sowjets die Spaltung Deutschlands vertiefen wollten, es sei denn, es gelänge ihnen, ganz Deutschland unter die Botmäßigkeit des Politbüros in Moskau zu bringen. Jeder wußte, daß die ökonomische Ausräuberung der sowjetischen Besatzungszone unter dem Motto „Demontage, Reparationen aus der laufenden Produktion usw.“ für Jahre und Jahrzehnte die Verelendung der Bewohner dieser Zone bedeuten mußte. Wer waren die Hauptverantwortlichen dieser Politik seitens der Sowjets? Malenkow und Mikojan! Jeder wußte, daß die sogenannte Friedensgrenze an der Oder und Neiße nicht nur den Prinzipien Lenins in seinem berühmten Aufruf: „An Alle, Alle, Alle!“ widersprach, sondern daß sie dem Ansehen der kommunistischen Bewegung in Deutschland einen fast nie wieder gutzumachenden Schlag versetzen würde. Genau so verhielt es sich mit dem Uranbergbau, mit dem Weiterbestehen der nazistischen Konzentrationslager (natürlich war allgemein bekannt, daß z. B. in Buchenwald sehr viele ehemalige Sozialdemokraten interniert waren). Gewiß, die Bedingungen in Deutschland waren nicht leicht. Genau wie im Westen die führenden Politiker aller Parteien nach der Kapitulation ihre Politik den Wünschen der westlichen Besatzungsmächte unterordnen mußten, genau so mußten besonders die führenden Männer der SED den Wünschen der sowjetischen Besatzungsmacht Rechnung tragen. Das hinderte aber eine Anzahl von Funktionären nicht, die Schädlichkeit der sowjetischen Politik zu erkennen und im Rahmen der Partei gegen sie anzugehen. Bis zum Sommer 1948, d. h. bis zur Titokrise, war das mehr oder weniger möglich. Naturgemäß wurden diese Opponenten in ihrem Tun von Walter Ulbricht und seinen engsten Freunden mit größtem Mißtrauen beobachtet. Für einen Kenner war das verständlich. Nie und nimmer hätte Ulbricht auf Grund seiner Fähigkeiten je die Stellung erreicht, die er jetzt innehat. Dazu war absoluter Gehorsam gegenüber der sowjetischen Macht nötig.

Nah der Titokrise schlug Ulbrichts Stunde. War es bis dahin zumindest geduldet, über die Endgültigkeit der Oder-Neiße-Grenze zu diskutieren, so hörte das im Sommer 1948 auf. In einer Rede vor dem Parteivorstand der SED proklamierte Walter Ulbricht die Oder-Neiße-Grenze als die endgültige Friedensgrenze zwischen Deutschland und Polen und verlangte den unerbittlichen Kampf gegen alle, die damit nicht einverstanden waren.

In dieser Periode wurde ein anderer direkter Agent Moskaus damit beauftragt, die theoretischen Grundlagen für die neue verschärfte und rücksichtslose Politik der Sowjetunion in der Ostzone und in ganz Deutschland zu verkünden. Es handelt sich um Rudolf Herrnstadt. Das Verhältnis von Herrnstadt zu SED und KPD, aber auch zu Walter Ulbricht wird am besten durch die lapidaren Sätze charakterisiert, die er mir im September 1948 in der Tatra sagte: „Der langen Rede kurzer Sinn. Ich bin der einzige echte Bolschewik in Deutschland. KPD und SED sind ein kleinbürgerlicher Misthaufen. Und da Walter Ulbricht — auch nah Meinung der russishen Freunde — zumindest ein halber Bolshewik ist, mähe ih mit ihm zusammen Politik.“

In zwei großen Artikeln entledigte sih Herrnstadt seines Auftrages. In dem Artikel: „Über die Russen und wir“ verlangte er rückhaltlose und bedingt'gslose Anerkennung dessen, was sowjetish ist. Das eigene Denken oder gar die selbständige kritishe Stellungnahme gegenüber dem, was aus Moskau kommt, wird als niht zulässig erklärt. „Wenn die Russen ja sagen, haben wir ja zu sagen, und wenn nein, dann nein, selbst wenn wir die Beweggründe nicht begreifen. Nur weil Moskau es sagt, ist es so richtig.“

War dieser Artikel noh allgemein gehalten, so bedeutete der zweite Artikel, der sih mit der von Anton Ackermann im Jahre 1946 im Auftrag des damaligen Zentralkomitees der KPD begründeten Theorie des besonderen friedlihen deutshen Weges zum Sozialismus auseinander-setzte, die offene Kriegserklärung an alle, die konsequent den Standpunkt vertraten, daß jedes Land auf Grund der besonderen ökonomishen, sozialen, politishen und anderen Bedingungen den Weg zum Sozialismus beshreiten müsse. Anders Herrnstadt: Wörtlih erklärte er im Auftrage des Politbüros der KPdSU, es gäbe nur einen einzigen Weg zum Sozialismus, den sowjetischen. Es wird von Herrnstadt dabei ausdrücklich betont, daß auh niht die kleinste Abweihung von diesem Wege zugelassen werden könnte. Das bedeutete mit anderen Worten für die Ostzone eine Verarmung bis zu dem Niveau, auf dem sih Ruß-land in den Jahren nah der Revolution befand. Das bedeutete weiter die absolute Anerkennung jeder Anweisung Moskaus, das bedeutete endlih die Anerkennung Moskaus als der alleinseiligmachenden Kirche eines Pseudokommunismus. Heute, nahdem man wieder, um salonfähig zu werden, den besonderen Weg zum Sozialismus in Worten bejaht, versuht Ulbricht, die damalige Ablehnung damit zu begründen, daß diese Theorie zu sowjetfeindlihen Angriffen benutzt worden sei. Wahr ist daran nur eins: Innerhalb der Partei wehrten sih alle, die das Denken noh niht aufgegeben hatten und ehrlihe Sozialisten waren, gegen eine solhe Selbstaufgabe und die restlose Unterwerfung unter Moskau. Der erwartete Erfolg der Kominformbeschlüsse gegen Tito und der darauffolgenden Neuorientierung der Politik in den Volksdemokratien und in der Ostzone blieb aus. Im Gegenteil: Niemand, außer Walter Ulbricht und seinen Freunden, war von einer Schuld Titos überzeugt, und nur wenige waren bereit, die Herrnstadtschen Postulate anzuerkennen. Das Politbüro des ZK der Sowjetunion glaubte aber jeden Widerstand brechen zu müssen. Männer und Frauen, die zu populär waren, als daß man es hätte wagen dürfen, sie öffentlich zu richten, starben plötzlich. Der Tag wird noch kommen, an dem die endgültige Ursache des vom Politbüro Stalins gewünschten Todes von Georgi Dimitroff festgestellt werden wird. Andere mußten mit der altbewährten Methode der sogenannten Entlarvung als imperialistische Spione und Agenten ausgerottet werden. Aus geographischen Gründen (Nähe Jugoslawiens) wurde von Moskau zum Start dieser Aktion Budapest bestimmt. Im September 1949 fand der Rajk-Prozeß statt, in dem sämtliche Angeklagten alle nur gewünschten Schuldbekenntnisse öffentlich ablegten und zur „Belohnung“ dafür dem Henker übergeben wurden. Im Rajk-Prozeß wurde auch der große amerikanische Gegenspieler Noel H. Field der Weltöffentlichkeit vorgestellt, der angeblich die Aufgabe hatte, in allen Satellitenstaaten die Unzufriedenen zu sammeln und aus ihnen billige und gefügige Werkzeuge des amerikanischen Nachrichtendienstes zu machen. Damit war die Grundlage gelegt, um in allen anderen Volksdemokratien und in der Ostzone das große Vernichtungswerk beginnen zu können. Der Prozeß gegen Kostoff in Bulgarien folgte. Schon hier klappte es nicht ganz. Kostoff wehrte sich öffentlich gegen die Selbstbeschuldigungen, die er in der Untersuchung, nach der Folterung, in Protokollen unterzeichnet hatte.

Noch im September 1949 beauftragte das Politbüro der SED eine Sonderkommission der Zentralen Parteikontrollkommission unter Vorsitz von Herta Geffke, die notwendigen Untersuchungen in der Ostzone und in Westdeutschland durchzuführen. Ich habe schon geschildert, wie die Untersuchung aussah. Eine Untersuchung war auch nicht nötig. Walter Ulbricht waren durch den Rajk-Prozeß endlich die Mittel in die Hand gegeben, die Kritik Moskaus für sein Versagen in der deutschen Politik auf andere abwälzen zu können und gleichzeitig dabei seine persönlichen Feinde und Widersacher zu vernichten. Das Resultat der Untersuchung stand von vornherein fest. Es wurde im Juli 1950 auf dem 3. Parteitag von Wilhelm Pieck im Rechenschaftsbericht schon angedeutet und im August 1950 den Betroffenen selbst durch den Ausschluß aus der Partei und durch die Verhaftung zur Kenntnis gebracht.

Zusammenfassend läßt sich also sagen: Natürlich haben die Anschuldigungen gegen die inzwischen Rehabilitierten nicht das geringste mit den Taten zu tun, derentwegen Hunderte ermordet oder ins Gefängnis gebracht wurden. Im Kampf um eine echte sozialistische Politik mußten jene, die der Überzeugung waren, daß die Moskauer Politik zur Katastrophe führt, in den Jahren 1948— 1952 eine Niederlage hinnehmen und sie mit ihrem Blut oder dem Freiheitsentzug bezahlen. Keiner von ihnen war Spion und dies wird auch heute von den damaligen Anklägern öffentlich bestätigt. Ja, man mußte sogar zugeben, daß der „amerikanische Spion" Field gar kein Spion sei und alle gegen ihn erhobenen Anschuldigungen völlig aus der Luft gegriffen worden waren.

Wer war Noel H. Field?

Ich möchte versuchen, diese Frage aus meiner persönlichen Bekanntschaft mit Field zu beantworten, muß aber schon jetzt erklären, daß ich darauf keine klare und endgültige Antwort geben kann. Weder die anderen kommunistischen Emigranten noch ich, die Field auf Grund seiner Tätigkeit als Leiter eines amerikanischen Hilfskomitees kannten, sahen in ihm einen amerikanischen Spion. Niemals hat Field versucht, irgendeinen Kommunisten gegen die Kommunistische Partei aufzuwiegeln oder gar aus ihm einen amerikanischen Agenten zu machen. Daß in jener Zeit des Krieges, in der die Sowjetunion und die USA Verbündete gegen Hitler waren, kommunistische Emigranten von einem amerikanischen Hilfskomitee unterstützt wurden, stellte keinen Grund für die Kommunisten dar, in dem Leiter dieses Komitees einen Kommunisten zu vermuten. In den Jahren der Hitlerperiode, also auch schon vor dem Kriege, erhielten die politischen Emigranten, darunter auch die Kommunisten (mit ausdrücklicher Zustimmung der Internationalen Roten Hilfe, Moskau), finanzielle und sonstige Unterstützung von den verschiedenen amerikanischen Hilfsorganisationen. Ich kannte Field seit 1942 persönlich sehr gut. Nie hat er mir etwas über seine angebliche kommunistische Tätigkeit in der Vergangenheit erzählt. Er machte aber aus seiner liberalen Einstellung keinen Hehl und betonte immer, daß er unter den Kommunisten viele Menschen getroffen habe, die ihm nicht nur sympathisch waren, sondern mit denen er auch einen sehr engen menschlichen Kontakt hatte. Ich weiß nicht, ob die Anschuldigungen gegen Field, er sei ein sowjetischer Agent gewesen, stichhaltig sind. Nur eins gebe ich zu bedenken: Wenn er ein Spion war, so ist er jedenfalls der erste gewesen, der offen — nicht nur für die Kommunisten allein, sondern auch für die amerikanischen Dienststellen und an ihrer Spitze Allan Dulles — seine kommunistische Einstellung dadurch zu erkennen gab, daß er Kommunisten materiell unterstützte, ihnen half, wo er nur konnte und auch persönliche Beziehungen zu ihnen pflegte. Das erscheint mir als großer Widerspruch, denn aus meiner langjährigen Mitgliedschaft in der KP und auf Grund eigener Erfahrungen ist mir bekannt, daß Agenten Moskaus, wie Field einer gewesen sein soll, direkt ein Verbot haben, sich als Kommunisten zu deklarieren, Verbindungen irgendwelcher Art mit kommunistischen Parteimitgliedern zu haben oder gar ihnen demonstrativ zu helfen. Diesen Widerspruch kann ich nicht lösen.

Wie schon gesagt, haben die kommunistischen Emigranten in Field keinen amerikanischen Spion gesehen und auch die Tatsache, daß er in des Schweiz während des Krieges zu Allan Dulles enge Beziehungen hatte, konnte daran nichts ändern. Denn selbstverständlich betrachtete jeder Kommunist dies in der Kriegszeit auf Grund des gemeinsamen Krieges der Sowjetunion und der USA gegen Hitler als normal.

Field hatte sich durch seine großzügige Hilfe Freunde erworben und da unter den Angeschuldigten viele waren, die das normale menschliche Gesetz der Dankbarkeit, trotz der stalinistischen Erziehung, nicht vergessen hatten, war es selbstverständlich, daß sie Field auch nach dem Kriege in ihrer Heimat gern bei sich sahen. Sie waren auch bereit, ihm zu helfen, als er in der Ära des Kalten Krieges wegen seiner Unterstützung der Kommunisten die Stellung als Direktor des Hilfskommitees verlor. Field, der publizistisch tätig war, reiste durch die Länder der Volksdemokratien, kam ab und zu nach Deutschland, verkehrte bei seinen alten Bekannten und lernte auch viele neue Menschen kennen, darunter führende Funktionäre der verschiedenen kommunistischen Parteien. Wesentlich ist: Sowohl die Verbindungen aus der Kriegszeit als auch seine Reisen und Verbindungen nach dem Kriege waren den kommunistischen Parteien restlos bekannt. Ich möchte ausdrücklich unterstreichen, daß auch Walter Ulbricht die Verbindung von deutschen Kommunisten zu Noel H. Field schon 1945 in allen Einzelheiten kannte und daß es einfach Lüge ist, wenn später behauptet wurde, die „Freunde“ Fields hätten ihre Verbindung zu ihm der Partei verheimlicht. Umgekehrt ist es richtig. Eben . weil all'diese Verbindungen bekannt waren, konnte man aus Noel H. Field im Moment, da es darum ging, die innerparteiliche Opposition zu liquidieren und man sie zu diesem Zwecke als amerikanische Spionage-Agentur abstempeln mußte, die mysteriöse und zentrale Schlüsselfigur der bevorstehenden Prozesse machen. Wie stets, kam es dabei nicht darauf an, daß die öffentlich erhobenen Anschuldigungen sich widersprachen, daß Daten nicht stimmten, daß bestimmte Vorwürfe einfach schon deswegen nicht der Wahrheit entsprechen konnten, weil die Angeklagten gar nicht in der Lage waren, die von ihnen angeblich geforderten Aufträge durchzuführen. Das war unwichtig. Ein genereller Moskauer Säuberungsbeschluß lag vor und niemals hat z. B., was Deutschland angeht, Walter Ulbricht einen Befehl lieber und mit größerer Leidenschaft durchgeführt, als in diesem Falle. Daß sein Vorhaben nicht gelang, daß kein Schauprozeß in Berlin stattfand und daß er letztlich unter anderem auch an diesem Fall früher oder später ganz scheitern wird — all das ist nicht sein persönliches Verdienst. Dazu haben viele Ursachen beigetragen.

Die Untersuchung gegen mich

Die Untersuchung gegen mich zerfällt in drei Teile. Sie dauerte genau vom 23. August 1950 bis zum 25. September 1952. Diese Zeit habe ich (außer drei Wochen) ausschließlich in Einzelhaft verbracht. In dieser Periode gab man mir insgesamt acht Büchlein (darunter sechs Reclamhefte) zu lesen. Genau zwei Jahre wurde mir selbst der Spaziergang nicht zugestanden. Den weitaus größten Teil dieser Periode mußte ich im Keller verbringen, in Zellen, die kein Fenster und kein Tageslicht hatten. Ein Haftbefehl wurde mir am 7. September 1952 — ich wiederhole — am 7. September 1952, also nach über zwei Jahren Haft nach meiner Überführung in das sowjetische Gefängnis in Karlshorst vorgelegt.

Erste Periode meiner Untersuchung Die erste Periode der Untersuchung gegen mich wurde von dem schon geschilderten Besuch Mielkes eingeleitet. In dieser Zeit, etwas bis zum März 1951, hatte ich ausschließlich mit Vertretern des ostzonalen Staatssicherheitsdienstes zu tun. Die Untersuchung bestand darin, daß man von mir verlangte, ich solle über meine Spionagetätigkeit für die Amerikaner aussagen. Als ich das strikte ablehnte und zwar einfach deswegen, weil ich nie Spionage getrieben hatte, wurde ich wüst beschimpft und Drohungen wurden ausgestoßen. Nur indirekt versuchte man, auch einen physischen Druck auf mich auszuüben. Zahnschmerzen, Fieber und sonstige Krankheiten wurden ausgenutzt, um mich gefügig zu machen. Ein Wort über die deutschen Vernehmer: Es handelte sich bei vielen von ihnen um frühere Angehörige der Nazipartei, die im Kriege in der Sowjetunion in Gefangenschaft geraten, sich selbstverständlich aus rein opportunistischen Gründen als Antifaschisten in der Gefangenschaft „bekannten“, Schulung erhielten und jetzt den Auftrag hatten, im Auftrage Moskaus und des Politbüros der SED unter Führung von Walter Ulbricht alte Kommunisten, die unangenehm geworden waren, zu liquidieren. Sie waren in der Tat die treuesten Helfer Walter Ulbrichts. Schwer ist festzustellen, was sie mehr auszeichnete: ihre grenzenlose Dummheit, ihre Überheblichkeit oder ihre rücksichtslose unmenschliche Brutalität.

Aus den Fragen, die sie mir stellten, ging sehr bald hervor, daß die Verhaftungen aller Beteiligten ungenügend vorbereitet waren. Als Material waren lediglich die von allen Verhafteten zugegebenen Tatsachen vorhanden. Niemand leugnete die Bekanntschaft mit Field. Jeder schilderte die Art der Verbindung. Durch meine Tätigkeit als Funktionär der KPD in Hessen hatte ich selbstverständlich auch offizielle Verbindung zur amerikanischen Militärregierung, aber auch das war bekannt. Unsere politischen Meinungverschiedenheiten, die ja Jahre hindurch in der Partei ausgetragen worden waren und aus denen ich z. B. nie ein Hehl gemacht hatte, galten als weitere Grundlage. Soweit ich feststellen konnte, müssen einige derer, die mit mir verhaftet worden waren, schon kurz nach der Verhaftung sich schuldig bekannt haben. Aber augenscheinlich reichten selbst diese Geständnisse nicht aus, um die anderen, die falsche Selbstbeschuldigungen kategorisch ablehnten, zu belasten. Kläglich war auch das Resultat der Aufforderung des Zentralkommitees an die gesamte Mitgliedschaft der SED und KPD, in der Erklärung vom 1. September 1950 enthalten, in der von den Mitgliedern verlangt wurde gegen die Verhafteten Aussagen zu machen. Wenige Mitglieder leisteten dieser Denunziationsaufforderung Folge. Unter ihnen befand sich — mit einer der widerlichsten Erklärungen — Prof. Dr. Hans Mayer, über dessen Charaktereigenschaften jeder anständige Mensch nie Illusionen hatte, der aber anscheinend Wert darauf legte, einmal mehr zu beweisen, was für ein Wicht er ist. Es kam ihm nicht darauf an, in seiner Erklärung über meine Tätigkeit in Hessen Behauptungen aufzustellen, die so kindisch erfunden waren, daß es mir ein leichtes war, die Haltlosigkeit der Beschuldigungen Mayers nachzuweisen. Eine Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang ein „Großer“ der Zone, der Nationalpreisträger Prof. Robert Rompe, der heute noch sehr viele Freunde im Westen hat und von manchem Professor der Bundesrepublik als „wissenschaftliche“ Leuchte und anständiger Mensch angesehen wird. Aus erbärmlicher Feigheit heraus gab er Erklärungen ab, die einfach erlogen und erfunden waren.

In der großen Dummheit und in dem Unvermögen der Vernehmer ist einer der Gründe zu sehen, warum der mir von Mielke angekündigte Schauprozeß zum vorgesehenen Termin nicht stattfinden konnte. Leicht konnte ich alle Anschuldigungen in diesen ersten Monaten zurückweisen. Unnötig zu sagen, daß es mir trotz alledem nicht wohl zu Mute war. Ich war lang genug Mitglied der Partei gewesen, um zu wissen, daß man sich damit nicht zufrieden geben würde. Und ich lachte nicht über die Erklärungen eines der ehemaligen nazistischen Untersuchungsrichter: „Und wenn es Jahre dauert, wir bringen Sie doch dazu, das zu gestehen, was wir wollen!“ Interessant war auch, daß man zu dieser Zeit den Gestapokriminalrat Sattler für einige Tage in meine Zelle legte. Er war 1947 aus Westberlin entführt worden. Bei der Gestapo hatte er das Referat SPO. Jetzt arbeitete er für den SSD und sollte mich bespitzeln.

Zum Abschluß dieser ersten Periode meiner Untersuchung erhielt ich wieder den Besuch von Mielke, dessen geistigen Fähigkeiten sich aber auch in Nichts von denen seiner Untergebenen unterschieden. Schon zu Beginn der Vernehmung wurde es klar, daß Ulbricht und Mielke von Moskau schwerste Vorwürfe erhalten hatten, weil es ihnen nicht gelungen war, den Schauprozeß zum vorgesehenen Termin durchzuführen. Eindeutig ging aus der Art der Vernehmung durch Mielke hervor, daß er den Auftrag hatte, mit allen Mitteln zu versuchen, doch noch einen „Erfolg" für die deutsche Partei herauszuholen. Bei dieser Vernehmung wurde mir ebenfalls klar, daß man in mir jene Person sah, die zur zentralen Figur des Verfahrens gemacht werden sollte. Meine Renitenz, die Tatsache, daß ich auch nach Monaten härtester Untersuchungshaft bei meiner Erklärung blieb, die ich Mielke bei seinem ersten Besuch im August 1950 abgegeben hatte — „es ist möglich, daß die Partei einen Schauprozeß braucht, aber ich erkläre Ihnen hierdurch, daß ich nicht bereit sein werde, die Rolle eines Rajk oder eines anderen zu übernehmen und mich Verbrechen zu bezichtigen, die ich nie bgingen habe“ —, diese Tatsache veranlaßte Mielke sich mit mir in ein politisches Gespräch über die Notwendigkeit von solchen Schauprozessen einzulassen. Hier zum erstenmal wurde zugegeben, daß es unwichtig sei, ob ich schuldig oder unschuldig wäre. Gerade wenn ich ein ordentlicher und echter Kommunist sei, müsse ich auch diesem Befehl der Partei Folge leisten, denn: „Die Partei hat immer recht in ihren Entscheidungen.“ Unmöglich ist es, im Rahmen dieser Schilderung die etwa 4 Stunden währende „Unterhaltung“ wiederzugeben. Größter Anstrengungen bedurfte es oft, um ein Lachen über die Primitivität der Argumente Mielkes zu verbergen. Stolz hörte ich dann im Verlauf der Unterhaltung die Worte des ehemaligen Adjudanten von Mielke, der z. Zt.der Vernehmung Hauptuntersuchungsrichter war: „Es ist unverständlich. Nun sitzen Sie schon unter solch schweren Bedingungen seit Monaten im Gefängnis. Und immer sind Sie noch so geistig frisch.“ Daß dieser ehemalige Nazi, der im ersten Moment der persönlichen Gefahr zu seinen angeblich schlimmsten Feinden überlief, jetzt genau so Befehlen Folge leistete, wie er es vorher bei der Liquidierung von Juden und Partisanen getan hatte, war im Grunde unverständlich. Nun, Mielke und ich konnten uns nicht „einigen“. Spät in der Nacht schloß er die Vernehmung mit der ultima ratio eines Mielke: „Bis-her haben wir versucht, Sie im „Guten" zu überzeugen. Ich warne Sie! Die nächste Zeit wird anders aussehen und andere Männer werden mit anderen Mitteln das erreichen, was wir bisher nicht geschafft haben." Daß diese Drohung sich nur auf die Russen beziehen konnte, war mir völlig klar, denn schon einige Male vorher hatte man mir gesagt, es läge in meinem Interesse, sofort auszusagen. Ansonsten würden die Russen den Fall übernehmen und dann würde ich erst wirklich wissen, was es heißt, von den „kommunistischen Sicherheitsorganen" verhaftet zu sein. Mir war klar, daß ich zwar einen Erfolg zu verzeichnen hatte. Der geplante Schauprozeß mußte zumindest verschoben werden. Klar war mir jedoch auch, daß Mielke mich mit seinen letzten Worten nicht angelogen hatte und daß ich schwersten Zeiten entgegengehen würde.

Die zweite Periode meiner Untersuchung Wochen vergingen. Täglich und stündlich wartete ich auf meine Über-führung in ein Gefängnis der Sowjets. Nichts dergleichen geschah. Die Sowjets besuchten mich im deutschen Untersuchungsgefängnis, bis zum April 1951 in der Schumannstraße und anschließend im Kellergefängnis in Hohenschönhausen. Die ersten Vernehmungen waren zermürbend, aber langweilig. „Erzählen Sie über Ihre verbrecherische Tätigkeit!" „Ich kann darüber nichts erzählen, weil ich keine verbrecherische Tätigkeit ausübte." „Sie lügen!" „Ich lüge nicht!“ Pause von einer Stunde. Dann folgten die gleichen Fragen. So ging es Tag und Nacht — Nacht und Tag. Die Untersuchungsrichter lösten sich ab. Um zu beweisen, daß sie angeblich unendliches Material gegen mich gesammelt hätten, deutete jeder von ihnen irgendeine Sache an, die mit meiner politischen Ttigkeit in der Emigration und nach 1945 in Hessen zu tun hatte. An den Tatsachen selbst war nichts zu leugnen, schon deswegen nicht, weil sie allgemein bekannt waren und weil ich sie schon lange vorher zugegeben hatte. Worum es ging, war sehr einfach: Von mir allein zu hören, daß ich alles im Auftrage des amerikanischen Geheimdienstes getan hatte, daß ich einer Gruppe von Verswörern angehörte und daß ich meine sämtlichen Mitarbeiter nennen sollte. Aber gerade das konnte ich nicht.

„Amüsante" Zwischenfälle gab es: Ein neuer Untersuchungsrichter ließ mich kommen. Er schaute mich unentwegt, etwa eine Stunde an, ohne ein Wort zu sprechen. Dann fragte er: „Was sind Sie eigentlich?" Auf meine Gegenfrage, was er damit meine, antwortete er: „Bei uns pflegt man auf diese Frage zu antworten, ich bin ein Mensch. Daß Sie nicht einmal wußten, daß Sie ein Mensch sind, beweist nur noch mehr die Richtigkeit der Parteiauffassung über Sie. Sie sind ein Verbrecher, Sie sind kein Mensch." Ein anderes Mal: „Sie sind ein Spion!" „Nein!“ „Kannten Sie Field?,, „Ja!“ „Ist Field ein Spion?“ „Das war mir nicht bekannt!“ „Sie wollen also behaupten, daß sich das Oberste Gericht der ungarischen Volksdemokratie geirrt hat und auch die Partei?“ „Das will ich nicht sagen, aber man kann sich ja irren!“ „Sie Provokateur, die Partei irrt sich nie! Die Partei hat immer recht!“ Ein anderes Mal: „Ich bin unschuldig!“ „Sie wollen also behaupten, daß die Partei Sie zu Unrecht aus der Partei ausgeschlossen und verhaften ließ? Mich interessiert nicht, ob Sie schuldig oder unschuldig sind. Die Tatsache, daß Sie in einem Gefängnis der Arbeiterklasse sitzen, ist ein Beweis, daß Sie ein Verbrecher sind!“ Als ich einmal wagte, an Jagoda und Jechow, zwei ehemalige Leiter der GPU, die in der 30er Jahren liquidiert worden waren, zu erinnern, um damit zu sagen, daß auch die Sicherheitsorgane der Sowjetunion sich irren könnten, war es aus. Nit Schaum vor dem Munde brüllte der Untersuchungsrichter wie ein Wahnsinniger und stürzte sich auf mich. Bei dieser Gelegenheit machte ich zum erstenmal mit den „humanen“ Untersuchungsmethoden des ersten „sozialistischen Staates“ der Welt Bekanntschaft. Die Vernehmungen wurden schärfer und schärfer und ebenso die Begleitumstände.

Wie oft mußte ich in dieser Zeit an Artur Köstlers „Sonnenfinsternis“ denken. Selbstverständlich wußten meine Folterer, daß ich überempfindliche Augen hatte (vor meiner Verhaftung mußte ich nach einem Autounfall Dunkelbrille tragen) und eines Abends konzentrierte man auf mich, während vieler Stunden, stärkste Jupiterlampen. Ich wußte nicht mehr, was mit mir geschah, aber ich lallte mein „unschuldig“ weiter. Nur eine Frage blieb offen für mich: nicht die Frage, daß ich „gestehen“ würde, sondern wann ich gestehen würde. Eines Tages begann der letzte Akt der zweiten Untersuchungsperiode. Der Chef der sowjetischen Untersuchungsabteilung erschien persönlich. Es begann ein wochenlanges Ringen, das mit meiner Kapitulation Ende Mai 1951 endete. Zehn Monate hatte ich widerstanden, dann war es vorbei. Die Waffen waren zu ungleich. Alle Mittel der Brutalität der direkten und indirekten Folter fanden Anwendung. Hatte ich Zahnschmerzen, gab man mir Tabletten, um die Schmerzen zu verstärken. Hatte ich Fieber, erhöhte man künstlich die Temperatur. Alle Vernehmungen fanden nachts statt. Tagsüber, soweit keine Vernehmungen waren, durfte selbstverständlich nicht geschlafen werden. Ich lernte auch die Schönheiten eines „sozialistischen“ Karzers schätzen. Unnötig ist es, über die anderen direkten Foltermethoden zu sprechen. Sie sind allgemein bekannt und inzwischen auch von den Urhebern selbst zugegeben. Ich glaube aber kaum, daß all’ dies, Drohungen, Geschrei, Schlaflosigkeit, Schmerzen und Karzer mich dazu gebracht hätten, zu kapitulieren. Die psychologische Bearbeitung war gefährlicher und die Russen sind die großen Meister in der Anwendung dieser Methode. Dem Geschrei und den Schlägen folgten unmittelbar sachlich und menschlich geführte Diskussionen. In einer Nacht des Mai 1951 hatte mir, auf meinen verzweifelten Schrei, „Ich bin doch ein Mensch", der Chef der sowjetischen Untersuchungsrichter zynisch geantwortet: „Eben darin liegt Deine Tragödie und Dein großer Fehler, daß Du Dich als Mensch betrachtest. Nur jene sind Menschen, die wir als Menschen ansehen. Du bist weniger als ein Haufen Mist! Und wenn Du das endlich begriffen hast, dann wirst Du endlich klug werden und alles gestehen, was wir wollen."

Dieser Antwort folgte kurze Zeit später, in der gleichen Nacht, ganz plötzlich, eine Unterhaltung im wahrsten Sinne des Wortes, in der der gleiche Chef mit mir von Mensch zu Mensch, ja, von Genosse zu Genosse, von Freund zu Freund, sprach: „Genosse Bauer seien Sie doch kein Kind. Seit über 20 Jahren sind Sie politisch tätig und seit 20 Jahren in der kommunistischen Partei. Sie kennen die Geschichte der Säuberungsprozesse 1937/38. Sie wissen, daß alle das aussagten, was wir wollten. Die Russen sind stärker als Ihr Deutsche. Auch unsere Trotzkisten waren stärker als Ihr. Wir haben deren Widerstand gebrochen. Inzwischen haben wir von den Methoden der Gestapo noch zugelernt, und auch Sie werden noch alles gestehen. Aber wozu diese Starrköpfigkeit? Sie hilft Ihnen doch nicht. Gewiß, ich gebe Ihnen ohne weiteres zu, daß alles, was Sie getan haben, als Fehler, ja sogar als kleiner politischer Fehler, angesehen werden kann. Ich weiß, daß die Führer der SED und KPD wenig wert sind, und daß sie es verdienten, genauso hier zu sitzen wie Sie. Wir werden Sie noch über alle Führer vernehmen. Aber wenn wir es für nötig erachten, politische Fehler als Verbrechen zu erklären, dann sind es eben politische Verbrechen und Sie müssen sie zugeben. Wer Agent ist, bestimmen wi r.“ Das alles wurde — ich wiederhole — im ruhigsten Tone, sachlich, im Verlaufe einer Diskussion, vorgetragen. Der Mann war ohne Zweifel intelligent. Hier sprach ich mit keinem primitiven Folterknecht, obwohl auch er es sehr gut verstand, seine Fäuste zu gebrauchen. Hier war ein Mann, der die Geschichte der kommunistischen Bewegung und auch der deutschen Partei sehr genau kannte. Hier sprach ich mit jemand, der über große psychologische Fähigkeiten verfügte. Er hatte keine Illusionen über sich selbst, über seine Arbeit, über die Partei. Der Mensch als Mensch war für ihn ein fremder Begriff. Aus ihm sprach im übrigen ein Stolz auf alles Russische, wie ich ihn selten vorher kennengelernt hatte. Auch das Schlechte war bei den Russen schlechter als bei den anderen Völkern. Aus ihm sprach gleichzeitig ein absolutes Machtgefühl, das ich selbst 193 3 während meiner Haftzeit bei den Nazis nicht kennengelert hatte. Hier stand er vor mir, gut angezogen, gepflegt, als der Repräsentant eines mächtigen Staates, der offen zu verstehen gab, daß sein Staat, seine Regierung bereit sind, mit allen Mitteln das, was sie für richtig halten, der ganzen Welt zu diktieren. Wie oft wurde mir die Frage gestellt, wie die Geständnisse zustande kommen. Einer der Gründe dafür ist zweifellos in der psychologischen „Bearbeitung" zu suchen. Nie wurde von mir nach solchen „Unterhaltungen“ — bei dieser Gelegenheit erhielt ich auch eine Zigarette — verlangt, ein Geständnis abzulegen. Ich wurde in die Zelle zurückgeschickt und mir allein überlassen. Man erwartete auch nicht so schnell ein Geständnis, denn die nächste Vernehmung begann wieder in der „harten“ Form.

So ging es weiter bis Ende Mai. Idi kämpfte mir mir und wußte weder

aus noch ein. Ich wollte mir treu bleiben und doch sagte die Vernunft: „Du kennst das Ende. Du weißt seit dem 23. August 1950, dem Tag der Verhaftung, daß Du hier nicht mehr lebendig herauskommst. Wozu also diese Qualen? Gesteh’ und Du hast alles schneller überstanden! Das Ende ist das gleiche." In dieser Verfassung wurde ich eines nachts — es war in der Nacht vom 30. zum 31. Mai 1951, früh 2. 00 Uhr aus meiner lüft-und lichtlosen Zelle (Tag und Nacht gab es nur künstliches Licht) zur Vernehmung geholt. Ich werde diese Nacht nie vergessen. Im großen Vernehmungszimmer stand das Fenster weit offen. Ich konnte den Himmel und die Sterne sehen. Die herrliche frische Luft, nach der ich mich so sehnte, strömte in das Zimmer. Ich war wie betäubt. Der Chef war da, begleitet von seinem tatarischen Dolmetscher, einem angsterregenden Burschen und einem blonden Russen, der später meine ganze Untersuchung führte. Lange Zeit sprach niemand ein Wort. Es war eine umheimliche Stille. Ich fühlte instinktiv, daß die Entscheidung bevorstand, und ich atmete fast auf, als der Chef zum Fenster ging und es schloß. Denn das war für mich das bekannte Zeichen dafür, daß es „ungemütlich“ zugehen würde. Und schon krampfte sich in mir alles zusammen. „Auf keinen Fall gibst Du nach.“ Ich hatte noch nicht zu Ende gedacht und schon begann das Feuerwerk. Schon viel hatte ich erlebt und glaubte nicht mehr überrascht werden zu können. Welch ein Wahn! Schreiend und brüllend fielen sie über mich her. Die Schläge hagelten, die Drohungen rissen nicht ab. In allen Einezlheiten wurden die Folterungen geschildert, die mir bevorstünden. Man glaube ja nicht, daß diese Herren dabei ihre Pflicht vergaßen. Wie stets bei dieser Art Vernehmungen kontrollierte einer die Llhr. Nur 10 Minuten hintereinander durfte ich geschlagen werden, 10 Minuten, die mir eine Ewigkeit erschienen. Dann hatte ich 20 Minuten Pause, die so mit Gebrüll ausgefüllt war, daß ich mich fast wieder nach den 10 Minuten Schlägen sehnte, und sie folgten dann auch. So ging es etwa 2— 3 Stunden. Je mehr sie schlugen, je mehr sie drohten, je mehr sie schrien, desto sicherer wußte ich: Heute zumindest wirst Du nicht das Geständnis ablegen.

Der Chef muß das gefühlt haben, ich weiß nicht woran. Vielleicht war es mein Gesichtsausdruck, vielleicht nur der starre Blick, vielleicht nur — es wurde mir oft vorgeworfen — ein unbewußtes zynisches Lächeln. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins: Plötzlich wurde es still, und diese Stille war fast unerträglich. Ihnen und mir lief der Schweiß. Sie zitterten wie ich und atmeten tief und unregelmäßig wie ich. Das Fenster wurde wieder geöffnet. Ich bekam einen Schüttelfrost. Niemand sprach. Der Chef ging im Zimmer auf und ab. Ich saß, wie stets bei solchen Gelegenheiten, nicht in der Ecke, sondern mitten im Zimmer. Ich wartete auf das, was kommen sollte. Und das war fürcherlicher als alles Vorhergehende. Ich fühlte plötzlich, wie eine Hand mein Haar zart streichelte, fast so zart wie eine Frauenhand. Es war die gleiche Hand, die mich kurz vorher schlimmer als einen Hund geprügelt hatte. Mit seinen schönen Augen, aus denen plötzlich alle Härte, alles Gemeine verschwunden schien schaute er mich lange und menschlich an. Die Unterhaltung begann: „Leo, wissen Sie was vor 8 Tagen war?“ Ich wußte nicht, worauf er hinaus wollte und schwieg. „Wissen Sie es wirklich nicht? Haben Sie vergessen, daß vor 8 Tagen Ihr Sohn Andre 1 Jahr alt wurde? Ich weiß, wie Sie sich auf diesen Sohn gefreut haben. Im Moment Ihrer Verhaftung war er 3 Monate alt. Es geht ihm gut. Wollen Sie ihn nicht wiedersehen? Wollen Sie weiter sinnlos den Helden spielen? Leo, ich spreche zu Ihnen wie ein Vater zu seinem Sohn. Ich beschwöre Sie, geben Sie den unnützen Widerstand auf. Sie wissen wie ich, daß jeder Kampf Opfer kostet. Ich kenne Sie genug, um jetzt zu wissen, daß Sie wahrscheinlich unschuldig sind. Aber Sie waren zu bekannt in der Öffentlichkeit. Sie waren ein führender Mann der Partei und in diesen Fällen kann die Partei nie zugeben, daß sie nicht recht hatte. Ich kann Ihnen auch noch etwas anderes sagen. Das Material, das gegen Sie vorliegt, ist nicht sehr viel wert. Wahrscheinlich wird kein öffentlicher Prozeß stattfinden. Wir betrachten Sie trotzdem als einen amerikanischen Agenten, und Sie müssen es gestehen, ob es wahr ist oder nicht. Ich verspreche Ihnen als Chef der Untersuchungsabteilung, daß Sie keine allzu hohe Strafe erhalten werden und daß Sie dann zu Ihrer Familie zurückkehren können. Denken Sie an Ihren Sohn!“ So ging es weiter bis zum frühen Morgen. Ich fühlte, wie sich in mir die Verkrampfung löste, wie midi langsam mein Ich verließ und ich ein anderer wurde. Ich sprach kaum. Es war so angenehm, dieser tiefen, echt russischen Stimme zu lauschen und selbst das Deutsch des Übersetzers klang plötzlich angenehm. Nur ein Bedürfnis hatte ich: Ruhe, Ruhe, Ruhe! Der deutsche Posten kam, mich zu holen. Zum ersten Mal erhielt er den Befehl, mir nicht die Hände zu fesseln (nur bei den Deutschen wurde man in Fesseln geführt). Zum Abschied gab mir der Chef die Hand, seine letzten Worte waren: „Denken Sie an Ihren Sohn und dann wird alles gut.“

Er hatte recht. Schon einige Stunden später verlangte ich den Gefängnisleiter und ersuchte ihn, die russischen Stellen zu verständigen, daß ich um eine sofortige Vernehmung bitte. Sie hatten es plötzlich nicht eilig. Erst zwei Tage später kamen sie: Der Chef, der andere und diesmal eine Dolmetscherin (in ihrer Gegenwart wurde gewöhnlich nicht geschlagen). Er wußte also, daß er gewonnen hatte.

„Genosse Bauer, Sie haben den Wunsch geäußert, uns zu sprechen. Wir stehen zu Ihrer Verfügung und hören Ihnen zu. Sprechen Sie, solange Sie es wünschen.“

Ich versuchte darauf hinzuweisen, daß mich weder seine Drohungen noch seine Schläge und noch viel weniger seine Versprechen zu einer Sinnesänderung gebracht hätten. Darüber war er beleidigt. Ob ich dem Wort eines sowjetischen Offiziers nicht traue? Ich hätte, so sagte ich, seit Wochen über das ganze Problem nachgedacht und sei nun bereit, zuzugeben, daß ich verbrecherisch gehandelt habe. Die erste überraschende Frage auf meine Erklärung lautete: „Worin hat eigentlich Ihre verbrecherische Tätigkeit bestanden?“ Ich muß gestehen, daß es mir nicht leicht fiel, zu antworten, und wahrscheinlich hatte ich zuviel bei der Antwort gestottert. Jedenfalls folgte der Erklärung über meine Verbrechen wieder einmal ein längeres Schweigen und dann plötzlich die Frage des Chefs: „Gen. Bauer, haben Sie sich nicht zu früh entschlossen, Geständnisse abzulegen?“ Ich war entgeistert und sagte ihm, daß ich überhaupt nichts mehr verstehe. Er meinte nur, ich würde ihn noch verstehen. Er teilte mir dann mit, daß er von mir ein eigenhändig geschriebenes Geständnis über meine verbrecherische Tätigkeit erwarte. Ich würde in seiner Gegenwart das Geständnis schreiben. Damit endete die zweite Periode meiner Untersuchung.

Die dritte Periode meiner Untersuchung Diese Periode währte vom. Mai 1951 bis Dezember 1952. Bis August 1952 verblieb ich noch in Hohenschönhausen. Zum Teil wurde die Untersuchung gemeinsam von sowjetischen und deutschen Untersuchungsrichtern geführt. Dann war man sich anscheinend klar, daß trotz meines Geständnisses an einen Schauprozeß endgültig nicht zu denken war, und ich wurde in das sowjetische Untersuchungsgericht, in die berüchtigte Hölle von Karlshorst, überführt. Dort wurde endlich im Dezember 1952 die Untersuchung abgeschlossen.

Die dritte Periode meiner Untersuchung bestand in den ersten Monaten in der Fabrizierung meines eigenhändigen Geständnisses, anschließend in der Herstellung von unzähligen Protokollen verschiedenster Art und in zwei Gegenüberstellungen.

Der ganze Fall war nicht leicht, nicht einmal für die so geübten sowjetischen Vernehmungsrichter. Selbst der Chef wußte nicht recht, wie der Fall dargestellt werden sollte. Etliche Male mußte ich die Niederschrift meines eigenen Geständnisses neu beginnen, da es nie richtig war. Einmal hatte ich vergessen, bei der Nennung von Field die Bezeichnung Spion vorwegzusetzen; ein anderes Mal, als ich meine innerparteiliche Opposition schilderte, war der Chef der absolut richtigen Meinung, daß das nicht ginge, denn ich sei ja ein Spion gewesen und als solcher war es meine Pflicht, mich zu tarnen, als guter Kommunist aufzutreten usw. usw. Als ich darauf meine innerparteiliche Opposition wegließ und nun eine Spionagetätigkeit erfand, war es wieder nicht gut, denn es fehlten plötzlich die Gründe, warum ich zum „Klassenfeind“ übergelaufen sei. So ging es weiter. Bald jedoch hatte ich den Eindruck, daß auch ihm das Ganze zu schwer schien, und er ließ mich schreiben. Genau 2 Monate dauerte es. Ich schrieb in dieser Zeit 150 Seiten Kriminalroman. Zum meinem Glück stellte es sich heraus, daß meine geistigen Kräfte trotz der Leiden und Qualen der vergangenen Monate nicht sehr stark nachgelassen hatten, und es machte mir oft eine wahre Freude, meine verbrecherische Tätig-keit in allen Einzelheiten zu schildern, die unmöglichsten Kombinationen zu schaffen und sie als meine Spionagetätigkeit im Auftrage des amerikanischen Nachrichtendienstes darzustellen.

Seltsame Dinge geschahen. So sollte ich zum Beispiel alle nennen, die nach meinem Wissen direkt oder indirekt amerikanische Agenten waren. Natürlich wurden alle mit mir Verhafteten als Agenten betrachtet, und ich wurde gezwungen, sie als solche zu bezeichnen. Unter anderem nannte ich aber auch Max Reimann (er hatte von Amerikanern und Engländern Zigaretten erhalten und angenommen und ihnen oft in seiner grenzlosen Eitelkeit tatsächlich vertrauliche Dinge erzählt), Dahlem, Ulbricht, Mielke, Herrnstadt, Prof. Robert Rompe, Prof. Dr. Hans Mayer und einige andere mehr. Ich begründete es mit ihrer ganzen Politik und ihrem Verhalten. AIs der Chef sich von seiner Dolmetscherin diesen Teil meines Geständnisses zum ersten Mal übersetzen ließ, war er begeistert und ich bekam gleich eine ganze Schachtel Zigaretten. Eine Woche später jedoch kam er wütend ins Gefängnis, zerriß vor meinen Augen die in Frage kommenden Seiten meines Geständnisses und meinte, ich sei ein Schuft, Lump und Provokateur. Wie könne ich es wagen, solche unumstrittenen Führer der Arbeiterklasse, deren Namen mir heilig sein müßten und die ich überhaupt nicht in den Mund nehmen dürfe, in diesem Zusammenhang zu nennen? Ich mußte neu schreiben. Immerhin hatte ich erreicht, daß man von mir nicht mehr verlangte, amerikanische Agenten zu nennen. Später erlebte ich in Karlshorst, daß über jeden einzelnen dieser heiligen Führer der internationalen Arbeiterklasse ausführliche Protokolle mit mir gemacht wurden, wobei allergrößter Wert darauf gelegt wurde, auch in diesen Protokollen die allgemeingültige sowjetische Methode für Protokolle anzuwenden: In ihnen darf kein günstiges Wort über die Person, die im Protokoll behandelt wird, stehen. Besonders eingehend und ausführlich wurde ich über Walter Ulbricht vernommen.

Der Chef war nicht recht zufrieden mit meinem Geständnis. Auch der Versuch, aus mir einen gefügigen Verbrecher zu machen, den er dadurch unternahm, daß er mir einen Spitzel in die Zelle steckte, der im großen und ganzen lediglich die Aufgabe hatte, mir beizubringen, wie sich ein Verbrecher zu benehmen habe, scheiterte. Das Manöver war zu durchsichtig, und ich blieb sehr bald wieder allein. Der Chef gab es auf, und es begann die Herstellung des Protokolle.

Es ist nicht nötig, die Art noch einmal zu schildern, wie solche Protokolle „produziert“ werden. Alles Notwendige ist dazu schon unzählige Male gesagt worden. Jeder, der restlos gebrochen war, unterschrieb ohne Zögern alles, was der Untersuchungsrichter im Protokoll niederlegte und was überhaupt nichts mit den Antworten des Betroffenen zu tun hatte. Ein anderer versuchte noch, selbst beim Schreiben der Protokolle zu kämpfen und manchmal gelang es ihm sogar, zu erreichen, daß die eine oder andere Stelle geändert wurde. Wenigen gelang es, für die Zukunft zu arbeiten und solche Antworten zu geben, daß der Untersuchungsrichter zufrieden war, aber gleichzeitig dadurch für alle Zeiten festgelegt wurde, daß die angeblichen Geständnisse nicht der Wahrheit entsprachen. Ich glaube, daß es mir gelungen ist, eine Reihe solcher Dinge in meine Protokolle zu schmuggeln und sie haben ohne Zweifel einige Jahre später, nach der Rehabilitierung Fields, eine Rolle gespielt. Im Übrigen aber war es gleichgültig, wie man sich in dieser Periode der Untersuchung verhielt. Das Resultat war stets dasselbe. Entlastungszeugen, Entlastungsmaterial gab es nicht. Letztendlich unterschrieb man. Nur ganz selten wollte es der Zufall, daß man eine allzugroße Lüge der Untersuchung widerlegen konnte.

Ein Beispiel dafür: Im Herbst 1951 wurde ich über den ehemaligen kommunistischen Funktionär Fritz Sperling vernommen. Der Untersuchungsrichter war trotz aller Fälschungen im Protokoll mit dem Resultat nicht sehr zufrieden, und er gab es mir deutlich zu verstehen. Einen Abend später kam er wieder und stellte mir die Frage: „Warum haben Sie der Untersuchung verheimlicht, daß Sie im Jahre 1945 Fritz Sperling mit einem Vertreter des amerikanischen Nachrichtendienstes OSS in Wiesbaden in Verbindung brachten und daß er bei dieser Gelegenheit endgültig angeworben wurde? „Meine Antwort war klar: „Ich konnte das nicht gestehen, weil es nicht den Tatsachen entsprach. Ich war mit Sperling nie in Wiesbaden und habe ihn dort niemals mit Amerikanern zusammengebracht.“ Ohne auch nur im Geringsten von meiner Antwort beeindruckt zu sein, wiederholte er, immer heftigender werdend, die gleiche Frage.

Ich merkte bald, daß er annahm, hier endlich eine Aussage in Händen zu haben, durch die bewiesen wurde, daß ich eine ernste Sache verschwiegen hatte. Nach geraumer Zeit erklärte ich, daß ich natürlich bereit sei, auch das zuzugeben, aber er müsse mir schon sagen, wie und wann das geschehen sei, und mit welchem Amerikaner ich Sperling in Verbindung gebracht habe. Das sei nötig, damit die Aussagen von Sperling und von mir übereinstimmten. Ich würde lügen, wenn ich behaupten wollte, daß die Antwort auf meine Bitte zart ausfiel. Immerhin verschwand er aus dem Zimmer, kam nach einiger Zeit wieder und plötzlich wurde ich über diesen ganzen Fall nicht mehr vernommen. Ich merkte, daß ich „gewonnen“ hatte.

Zwei Tage später, bei der nächsten Vernehmung, benahm er sich „normal“. Der Name Sperling fiel von seiner Seite nicht mehr. Aber wahrscheinlich hatte ich persönlich Lust zu einer kleinen Abwechslung und bat darum, eine Erklärung abgeben zu dürfen. Großzügig wurde es mir gestattet und ich sagte, daß ich noch einmal im Interesse der Wahrheit scharf nachgedacht hätte, und ich könnte mit Bestimmtheit sagen, daß ich Sperling niemals mit einem Vertreter des amerikanischen Nachrichtendienstes in Verbindung gebracht habe. Aus meiner Ecke wurde ich an den Schreibtisch gerufen und „freundlich lächelnd“ sagte er mir: „Schauen Sie selbst. Was soll ich tun?“ Er zeigte mir zwei Dokumente. Das eine enthielt eine handschriftliche Erklärung von Sperling (ich kannte seine Handschrift und seine Unterschrift, und beides stimmte), in der tatsächlich Sperling behauptete, ich hätte ihn 1945 in der Wohnung von Eriöa Glaser in Wiesbaden mit einem amerikanischen Nachrichtenmann in Verbindung gebracht, und er habe sich dort verpflichtet, für den amerikanischen Nachrichtendienst zu arbeiten. Da er sich an den Namen des Mannes aber nicht mehr erinnere und auch nicht an die Straße, lege er im zweiten Dokument dieser Erklärung eine Skizze bei. Das zweite Dokument bestand aus zwei Zeichnungen. Die eine stellte ein Haus mit einem kleinen Vorgarten dar. Fenster waren auch eingezeichnet. Am rechten Fenster des dritten Stockes war ein Kreuz und dazu ein Vermerk: Dort fand die Besprechung statt. Die zweite Zeichnung stellte das Zimmer dar, in dem die Besprechung stattgefunden haben sollte: Ein Tisch, etliche Sessel usw. Sperlings Gedächtnis war so gut, daß er sogar genau aufzeichnen konnte, wer von den Teilnehmern der Besprechung auf welchem Sessel gesessen hatte. Das wirklich überzeugend. Die Sache hatte nur zwei Haken. Erstens wußte Sperling nicht, daß Erica Glaser auch verhaftet war und natürlich auch aussagte, daß nie eine solche Besprechung stattgefunden hatte. Zweitens befand sich Erica Glaser nachweisbar zu der Zeit überhaupt nicht in Wiesbaden und hatte im Jahre 1945 nie eine Wohnung in Wiesbaden. Ich habe herzhaft damals über die Sache gelacht, und Sperling hat mir sehr leid getan. Er war in diesem Falle einfach ein Opfer des Untersuchungsrichters geworden, der behauptet hatte, ich hätte eine solche Aussage gemacht.

Mie diesem Untersuchungsrichter habe ich noch andere seltsame Dinge erlebt. Natürlich wurden auch Protokolle über sämtliche Führer der KPD gemacht, darunter von meinen ehemaligen Genossen in Hessen, Oskar Müller und Walter Fisch. In beiden Fällen lautet meine Antwort jedes-mal, daß Oskar Müller oder Walter Fisch das oder das getan hätten. Der Untersuchungsrichter dagegen verlangte, daß ich sagen müßte: Der Agent Oskar Müller, der Agent Walter Fisch, denn, so meinte er, sie seien genau solche Verbrecher wie ich. Um einem sinnlosen Streit aus dem Wege zu gehen, gewöhnte ich mir das an. Einige Wochen später kamen wir wieder auf Walter Fisch zu sprechen und in meiner Antwort auf irgendeine Frage sprach ich, wie vorher verlangt, von dem Agenten Walter Fisch. Diesmal war der Untersuchungsrichter wieder nicht zufrieden. Das Wort Agent sei jetzt überflüssig. Natürlich sei Fisch ein Agent, aber wenn er in meinem Protokoll so bezeichnet würde, müßte er am nächsten Tag verhaftet werden. Das sei aus taktischen Gründen unmöglich und deshalb müsse das Wort Agent wegfallen. Tatsächlich wurden auch alle anderen Protokolle demgemäß abgeändert, der Inhalt im übrigen aber so gelassen.

Die Vernehmungen schleppten sich hin. Der Untersuchungsrichter empfand ohne Zweifel die unergiebigen Vernehmungen meiner Mitangeklagten Erica Glaser und meiner selbst als große Belastung und wünschte gleich uns ein baldiges Ende herbei. Einige Fragen konnten überhaupt nicht geklärt werden. Warum war ich z. B„ obwohl ich gewarnt worden war, obwohl ich wußte, daß eine Untersuchung gegen mich lief, und obwohl ich im Westen Berlins mein Büro hatte, nicht geflohen? Ebenso-wenig konnte natürlich die Frage geklärt werden, warum der große Spion Bauer in seinem Notizbuch, das er im Moment der Verhaftung bei sich trug, die Privatadressen des amerikanischen Nachrichtenmannes Noel H. Field und anderer ihm bekannter Amerikaner, ebenso wie die Telefonnummern amerikanischer Dienststellen, nämlich der amerikanischen Militärregierung in Wiesbaden, hatte. Der Untersuchungsrichter war auch höchst unzufrieden, als bei seiner Überprüfung aller Protokolle im November 1952 der sowjetische Staatsanwalt feststellte, daß mit den Protokollen wenig anzufangen sei. Alle waren sich einig, daß hier etwas nicht stimme, aber es lag ja ein Befehl vor. Pro forma wurden noch zwei Gegenüberstellungen durchgeführt (mit Erica Glaser und mit dem ehemaligen zweiten Vorsitzenden der KPD, Kurt Müller). Am 10. Dezember 1952 wurde endlich die Untersuchung abgeschlossen. Die Verabschiedung durch den Untersuchungsrichter bestand in den Worten: „Sie glauben, Sie haben uns hereingelegt. Sie werden dafür Ihren Denkzettel erhalten. Über zwei Jahre haben wir mit Ihnen gearbeitet, und Sie haben bis heute nicht gelernt, wie sich ein Verbrecher zu benehmen hat. Sie werden es noch lernen.“ Der gleiche Untersuchungsrichter hatte bei einer Nachtvernehmung, als er schon müde war und keine Lust hatte, ein Protokoll zu beenden, die vorgeschriebene und geplante Arbeitszeit aber im Vernehmungszimmer mit mir absitzen mußte, mir die Möglichkeit gegeben, seine Denkart kennenzulernen, die Denkart des kleinen Tschekisten: „Ich war dabei“, so sagte er, „als der Chef Ihnen bestätigt hat, daß Sie wahrscheinlich gar kein Verbrecher sind. Die Möglichkeit dazu besteht aber doch, abgesehen davon, daß die Partei Ihre Verurteilung verlangt und ich den Auftrag habe, sie vorzubereiten. Und weil ich keine Lust habe, ins Gefängnis zu gehen, mache ich die Protokolle so, daß daraus klar hervorgeht, daß Sie ein Verbrecher sind.“

Der Prozeß

Am ersten Weihnachtsfeiertag 1952 wurde ich von Karlshorst ins Gefängnis Lichtenberg überführt. Die Freude war groß. Denn nach langen Jahren befand ich mich endlich wieder einmal in einer normalen deutschen Gefängniszelle, die nicht nur mir im Vergleich zum furchtbaren Aufenthalt in den Kellern von Hohenschönhausen und Karlshorst fast wie das Zimmer eines Luxushotels erschien. Bereits am nächsten Tag wurde Erica Glaser und mir die Anklageschrift verlesen. Ich wurde auf Grund des § 58, Artikel 4, 6, 10 und 11 des Strafgesetzbuches der RSFSR angeklagt und einem Militärtribunal zur Aburteilung übergeben. 24 Stunden später begann der Prozeß. Er dauerte zwei Tage.

Man erspare mir Einzelheiten über den Verlauf. Eine größere Farce kann man sich nicht vorstellen. Aus jedem Wort, das der Gerichtsvorsitzende sprach, ging hervor, daß das Urteil schon lange vor Beginn des Prozesses feststand. Meine Mitangeklagte und ich durften ausführlich sprechen, die drei Richter hörten gelangweilt zu. Am 28. Dezember 1952 nachts 23. 50 Uhr wurde das Urteil vom Dolmetscher verlesen, währenddessen der Gerichtsvorsitzende, dem man ansah, daß er von einem ausgiebigen Nahtmahl kam, unentwegt Wasser trank: „Die Anklage wird vom Tribunal in jedem Punkte für richtig befunden. Die Angeklagten haben sich gegen den § 58, Artikel 4, 6, 10 und 11 des Strafgesetzbuches der RSFSR vergangen und sind demgemäß abzuurteilen. Leo Bauer und Erica Glaser werden zum Tode durch Erschießen verurteilt. Ihr Vermögen wird konfisziert. Das Urteil unterliegt nicht der Kassation.“ Nah der Belehrung, daß uns das Reht zustehe, ein Begnadigungsgesuh an das Präsidium des Obersten Sowjets der Sowjetunion zu rihten, wurde die Verhandlung geschlossen. Der Gerihtssekretär forderte noch unsere Untershrift unter eine Quittung, wodurh bestätigt wurde, daß uns das Urteil zur Kenntnis gebraht worden war. Shon stürzten sih auf uns Gefängnisbeamte. Einzeln wurden wir in die Todeszellen gebraht.

Warum wurde ich zum Tode verurteilt?

Der § 58 Artikel 4 bestraft jeden Sowjetbürger — und jeder Bewohner der DDR wurde noch 1952 von den sowjetischen Behörden einem Sowjetbürger gleichgestellt (das sagte mir der Untersuhungsrihter) —, der Verbindung zur Weltbourgeoisie hat. Kein Untersuhungsrihter konnte mir erklären, was das bedeutet. In meinem Fall genügte die Tatsache, daß ih aus der Emigration und aus der Zeit meiner Tätigkeit in Westdeutshland viele amerikanishe, englishe und französishe Bekannte hatte.

§ 58 Artikel 6 Abs. I, II, III bestraft militärishe, politische und wirtschaftliche Spionage. Ih weiß, daß die Begründung für meine Verurteilung als Spion unglaubwürdig klingt. Dennoch verhält es sih so. Aus folgenden Gründen wurde ih als amerikanischer Spion, der militärische, wirtshaftlichc und politishe Spionage gegen die Sowjetunion getrieben hat, verurteilt: 1. Weil ih im Jahre 1942 dem „amerikanischen Spion“ Field Informationen über die Tätigkeit der Kommunisten im Kampf gegen Hitler gegeben hatte. Des weiteren -hatte ih dem gleihen Field Namen kommunistischer Emigranten gegeben, damit sie von ihm als Direktor eines amerikanishen Hilfskommitees finanzielle Unterstützung erhielten.

2. Weil ih von Oktober 1945 bis Oktober 1947 monatlih der amerikanishen Militärregierung in Wiesbaden einen Beriht über die Tätigkeit der KPD in Hessen übergeben hatte und darüber hinaus auf Befragen durch amerikanishe Stellen über die Stellungnahme der Kommunisten zu vershiedenen Gesetzen oder politishen Ereignissen, Auskunft erteilte.

Das waren die zwei einzigen Begründungen für meine Verurteilung zum Tode als amerikanischer Spion. Daß die Berihte für die amerikanishe Militärregierung überhaupt niht von mir stammten, sondern von der Organisationsabtcilung der KPD, Land Hessen, ausgearbeitet worden waren, und daß diese Berihte in ganz Deutschland auf Grund eines alliierten Kontrollratsbeshlusses von allen im Jahre 1945 zugelassenen Parteien abgeliefert werden mußten, und daß endlich diese Berihte nichts anderes enthielten, als eine Zusammenfassung der öffentlihen Tätigkeit der Partei, spielte keine Rolle. Ih wurde deswegen zum Tode verurteilt. Durh diese Tätigkeit hatte ih als amerikanisher Agent militärishe, politishe und wirtshaftlihe Spionage gegen die SU getrieben.

In der Begründung für die Verurteilung auf Grund des § 58 Artikel 10 Abs. I und II, der die kollektive Agitation gegen die Sowjetunion und die Verleumdung der Sowjetunion bestraft, kam der eigentlihe Grund für die Notwendigkeit meiner Verhaftung und Liquidierung zum Ausdruck. Die Begründung lautete u. a.: 1. Ih sei seit 1945 für den Aufbau einer einheitlihen demokratishen deutshen Arbeiterpartei auf dem Boden des besonderen, friedlihen, deutshen Weges zum Sozialismus eingetreten.

2. Ih hätte systematisch Anweisungen der Zentrale in Berlin für falsch erklärt und mih gegen sie gewandt.

3. Ih sei ein Gegner der Oder-Neiße-Grenze gewesen.

4. Ih sei ein Gegner der Demontage, der Reparationen aus der laufenden Produktion, der Zwangsverschickungen nah Aue gewesen. 5. Ih hätte den Standpunkt vertreten, daß durh die falshe Politik der SED die Einheit Deutschlands gefährdet und dadurh die Auseinanderentwicklung der beiden Deutshland immer größer werde. 6. Im Jahre 1947, im Anschluß an die Ministerpräsidentenkonferenz in München hätte ich offen das Verhalten der Vertreter der sowjetischen Zone kritisiert und besonders Walter Ulbricht, der für das Verhalten verantwortlich war. Ich hätte es auch abgelehnt, in einer anschließenden Sitzung des Zentralsekretariats der SED mein Verhalten in München einer Selbstkritik zu unterziehen und für falsch zu erklären.

7. Ich sei der Meinung gewesen, daß der Marshallplan auch von der Ostzone hätte akzeptiert werden müssen.

8. Ich hätte durch einen kleinbürgerlichen Objektivismus „den Klassenkampf“ verraten. Ich sei ernsthaft dafür eingetreten, im Interesse des Aufbaus Deutschlands Einheitsfront und Blockpolitik nicht als taktische Manöver, sondern als absolute Notwendigkeiten zu betrachten.

9. Auf Grund meiner sozialdemokratischen Vergangenheit und meiner kleinbürgerlichen Herkunft hätte ich als Trotzkist und Titoist die demokratischen Rechte in den bürgerlichen Demokratien verteidigt und erklärt, daß ohne die Grundrechte der Menschen der Sozialismus nicht verwirklicht werden könne. Dabei hätte ich den Mangel an Freiheit in der Sowjetunion und besonders in der Ostzone kritisiert, genau so wie das Weiterbestehen der nazistischen Konzentrationslager. 10. Ich habe meine antisowjetische Einstellung bis zu meiner Verhaftung auch dadurch bewiesen, daß ich in meiner Wohnung in der Ostzone viele westliche Zeitungen und Zeitschriften, darunter „Spiegel“, der „Monat“, „News Week“, „Die Welt“, „Frankfurter Rundschau“ etc. etc. gesammelt hätte. In jeder dieser Zeitungen sei mindestens ein Artikel gegen die Sowjetunion oder die Satellitenstaaten enthalten gewesen. (Mein Hinweis, daß ich diese Zeitungen nachweisbar als Chefredakteur des Deutschlandsenders erhalten hatte — der Intendant des Rundfunks bestätigte es — und daß ich diese Zeitungen mit nach Hause nahm, um sie dort zu lesen, weil es zu meinen Pflichten gehörte, wurde zwar vom Gericht in der Verhandlung anerkannt, aber trotzdem wurde ich auch deswegen verurteilt).

Anklageschrift und Urteilsbegründung — bis auf den Urteilsspruch Wort für Wort identisch — enthielten noch mehr solcher Begründungen.

Bedarf es dazu einer kritischen Stellungnahme im einzelnen? Es entsprach der Wahrheit, daß ich mit vielen Punkten der Politik der SED nicht einverstanden war und vor allem die doppelte Buchführung, die darin bestand, daß man stets etwas anderes sagte, als man wirklich meinte, verachtete. Jedoch kann ich auch heute noch nicht begreifen, was diese oppositionelle Haltung überhaupt mit dem sowjetischen Strafgesetzbuch zu tun haben soll. Trotzdem hat diese Begründung für meine Verurteilung auch ihre „gute" Seite. Bewiesen wurde dadurch, daß jede Kritik an der Politik einer kommunistischen Partei als Angriff auf die Sowjetunion angesehen wird. (Das wurde auch wörtlich von meinem sowjetischen Untersuchungsrichter erklärt.) In dieser Begründung für meine Verurteilung ist auch wohl der entscheidende Grund dafür zu suchen, daß man es nicht gewagt hat, den deutschen „Rajk-Prozeß“ öffentlich durchzuführen und einen Schauprozeß in Berlin zu veranstalten. So klug waren die Verantwortlichen, um zu wissen, daß der größte Teil der Bevölkerung der Ostzone, und darunter ein sehr großer Teil der Mitglieder der SED, die gleichen Auffassungen vertraten. Was man sich in Ungarn und Bulgarien leisten konnte, das war im geteilten Deutschland und im geteilten Berlin nicht möglich.

Dem Ende entgegen

Eine Woche nach der Verurteilung wurde ich mit anderen Verurteilten unter unwürdigsten Bedingungen über Brest-Litowsk nach Moskau in das Gefängnis Butirki gebracht. Bis zum 24. Juli 1953 wußte ich nicht, was mein Schicksal sein würde. Die letzte Bemerkung des Untersuchungsrichters, der Verlauf des Prozesses, die Urteilsbegründung hatten mir kaum Hoffnung gelassen. Knapp sechs Monate wartete ich auf die Erschießung (nach sowjetischem Gesetz darf diese Wartezeit höchstens 99 Tage betragen). Man erspare mir Einzelheiten über diese Monate. Sie sind „unwichtig“. Ich wußte nicht, was sich in der Welt abspielt. Ja, ich wußte nicht einmal, was in Moskau vorgeht.

Ich „lebte“ mitten in Moskau und hatte keine Ahnung vom Tode Stalins, von der Ernennung Malenkows und von der Verhaftung Berijas. Ich wartete. Am 24. Juni, 22 Uhr, wurde ich endlich von acht Milizionären aus der Zelle geholt. Ich war sicher, den letzten Weg zu gehen. Er führte mich jedoch zur »großmütigen" Begnadigung durch das Präsidium des Obersten Sowjets. Die Todesstrafe war in 25 Jahre Arbeitslager umgewandelt worden. Von diesem Moment an war ich, wie es im offiziellen Sprachgebrauch heißt, „einen Arbeitsvertrag mit der Sowjetunion eingegangen“. Ich wurde durch die Begnadigung in das unendlich große Heer der Arbeitssklaven des angeblich ersten sozialistischen Staates der Welt eingereiht.

Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, wollte ich hier meine Erfahrungen und Erlebnisse schildern, die ich in den Arbeitslagern Ostsibiriens, in Taischet, sammeln konnte. Es wird an anderer Stelle geschehen. Nur eins: Was auch immer zur Rechtfertigung der Arbeitslager gesagt worden ist und gesagt werden wird — durch nichts kann dieser Schandfleck in der Geschichte der Sowjetunion ausgemerzt werden, es sei denn durch eine radikale Abkehr von dem System, das zu den Arbeitslagern geführt hat und auch heute noch das Bestehen der Arbeitslager zuläßt, selbst wenn mir bekannt ist, daß sich die Lage in den Lagern sehr verbessert hat und die Zahl der politischen Arbeitssklaven stets geringer wird. Ein System, das solch eine Ungeheuerlichkeit zuläßt, hat nicht das Recht, sich als sozialistisch zu bezeichnen. Mit der Abkehr von Stalin, der tatsächlich einer der Hauptorganisatoren — aber nicht allein — der Arbeitslager war, ist es nicht getan.

Epilog

Die Liquidierung, von Walter Ulbricht für mich geplant, schien vollzogen. Ich war zwar nicht erschossen, aber in den Arbeitslagern verschwunden. Kein Mensch wußte, wo ich mich befand.

Die politische Entwicklung im Ausland, besonders aber — und das möchte ich nachdrücklich unterstreichen — die politische Entwicklung in der Sowjetunion, die bereits vor dem Tode Stalins, auf Grund neuer oppositioneller Kräfte, begann, hat es mit sich gebracht, daß Walter Ulbrichts Wunsch nicht in Erfüllung ging und hat mich in die Lage versetzt, heute, einige wenige Monate nach meiner Rückkehr aus der Taiga Sibiriens, die Machenschaften dieses Mannes und seines Clans darzustellen.

Man macht sich im Ausland keine Vorstellung von der Größe und Stärke der inneren Opposition in der Sowjetunion. Nur möchte ich vor einem Irrtum warnen. Diese Opposition, von der ich spreche, und die verantwortlich ist für die Streikbewegungen in den Arbeitslagern der SEI und besonders für die Konzessionen, die die kommunistische Partei der Sowjetunion auf ihrem letzten Parteitag machen mußte, hat nicht das geringste mit jenen Hunderten und aber Hunderten von Gruppen zu tun, die seit 1917 vergeblich versuchten und versuchen, ohne ein bestimmtes positives Programm die Macht der Sowjets zu erschüttern. Die Führer der Opposition, von denen ich spreche, sind Sozialisten, gehörten oder gehören der Partei und dem Komsomol an und vertreten ein sozialistisches Programm, das für sie aber nur verwirklicht werden kann, wenn echte Demokratie, Freiheit und Wohlstand des Volkes Grundlage dafür sind. Diese Führer — und darin liegt ihre Stärke — werden unterstützt von den Millionen junger russischer Menschen, die durch den Krieg und in der Nachkriegszeit zum ersten Male mit westlicher Zivilisation bekannt wurden, dadurch begriffen, wie sie in den Berichten über das Leben im Westen belogen worden waren und sich jetzt nach tatsächlichem Wohlstand, nach Freiheit und Demokratie sehnen. Mit vielen von ihnen, die dieser Einstellung wegen, aus der sie nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion keinen Hehl gemacht hatten, als Sträflinge in den Lagern Sibiriens landeten, habe ich gesprochen. Sie betrachten sich als Sowjetmenschen. Sie sind sehr kritisch nicht nur gegenüber dem Geschehen in ihrem eigenen Lande, sondern auch gegenüber dem Westen. Sie fanden dort nichts, was ihnen ihre sozialistische Weltanschauung hätte nehmen können. Sie be-und verurteilten das Negative des Westens. Mit der gleichen Intensität aber anerkennen sie die große Bedeutung auch nur der formalen demokratischen Rechte für jeden Menschen, die sie im Westen kennenlernten und noch stärker waren sie von dem Lebensstandard des Westens beeindruckt.

Einmal mehr wurde die Richtigkeit der These bestätigt: „Das Sein bestimmt das Bewußtsein". Diese Menschen lieben den Frieden so stark wie sie ihre Heimat lieben. Aus diesem Grunde hat ihre politische Aktion ein Ziel: In ihrem Lande das jetzige System durch ein echtes sozialistisches und demokratisches zu ersetzen. Ihre große Hoffnung bleibt, daß sich aus eigener Kraft eine analoge Entwicklung im Westen anbahnt, und daß damit endlich eine dauernde Grundlage für das Zusammenleben der Völker geschaffen werden kann.

Ein anderes Anliegen dieser Menschen ist: Der Eiserne Vorhang möge von beiden Seiten gehoben werden. Nur so sei es möglich, von außen zu helfen, das Schlechte in ihrem Lande zu überwinden. Eine Fortsetzung des Kalten Krieges sei nur eine Unterstützung für die offenen und getarnten Anhänger Stalins.

Dieser inneren Opposition in der Sowjetunion, die natürlich Parallel-erscheinungen auch in den anderen Ländern des Ostblocks hat, sind in erster Linie — ich wiederhole es — die Änderungen der letzten Jahre in der Sowjetunion zu verdanken. Ihr ist auch zu verdanken, daß jetzt eine Rehabilitierung der unschuldigen Opfer des Terrorsystems vorgenommen werden muß.

Auf seltsame Art erfuhr ich davon. Von August 1954 ab erhielten wir im Lager das Zentralorgan der SED, das „Neue Deutschland“ (bis Dezember 1954). In einer Novembernummer fand ich u. a. eine Nachricht unter dem Titel: „Amerikanischer Agent entlarvt". Ich wollte schon über die Nachricht hinweglesen, als mir plötzlich der Name Her-man Field auffiel. Einige Tage später veröffentlichte das „Neue Deutschland“ die Nachricht von der Rehabilitierung Noel H. Fields.

Ich kann nicht schildern, was ich in diesem Moment verspürte, Unzählige waren sinnlos gemordet oder ins Gefängnis und ins Lager geworfen worden, und jetzt wurde zugegeben, daß Field gar kein amerikanischer Spion gewesen sei. Ich wußte das vorher. Auch die Organisatoren der Terrorwelle wußten es. Jetzt gaben sie es zu. Ich schrieb sofort nach Moskau und ersuchte um Wiederaufnahme des Verfahrens. Überraschend schnell erhielt ich eine vorläufige Bestätigung über den Eingang meines Gesuches. Einige Monate später sollte ich nach Moskau gebracht werden. Ich wurde jedoch krank und lag mit einer schweren Gelbsucht drei Monate im Krankenhaus. Dort und im Lager wurde ich einige Male vernommen. Jedesmal versprach man mir, daß ich bald nach Hause fahren könne. Als die Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und der Regierung der Sowjetunion schon beendet waren, erhielt ich plötzlich den Bescheid, daß ich nach Moskau und anschließend nach Deutschland fahren würde. Tatsächlich wurde ich in das Stammlager gebracht und alle Vorbereitungen für meine Abreise getroffen. Ein Gegenbefehl jedoch kam und so verließ ich Sibirien mit meinen anderen Kameraden am 4. Oktober 195 5, um am 20. Oktober 195 5 in der Bundesrepublik einzutreffen.

Am Abend vorher, in Frankfurt/Oder, hatten Beauftragte Lllbrichts einen Versuch unternommen, meinen Übergang nach dem Westen zu verhindern. In diesem Falle „verdanke“ ich es dem sowjetischen Begleitoffizier unseres Transportes, der einen Skandal verhindern wollte, daß ich doch weiterfahren konnte. Er griff ein, weil ich mich laut und energisch gegen das „Angebot“ wehrte und meine Kameraden eine drohende Haltung gegen die SED-Funktionäre einnahmen. Ohne den Gegenbefehl, der mich im Stammlager Taischet erreichte, wäre ich bestimmt den gleichen Weg gegangen wie meine Mitangeklagte Erica Glaser. Sie wurde nach Moskau gebracht und zwar in das Gefängnis Lubijanka. Dort fand eine neue kurze Untersuchung statt, die mit der Feststellung endete, die Verurteilung habe auf einem Irrtum beruht und sie sei rehabilitiert. Auf ihre wiederholte Frage nach meinem Schicksal wurde ihr mitgeteilt, daß auch ich schon auf der Reise nach Moskau sei. Einige Tage später jedoch erfuhr sie von den gleichen Beamten, daß ich nicht mehr nach Moskau komme, sondern mich schon auf der Fahrt nach Deutschland befände. Damit endete mein scheinbares, von Ulbricht gefordertes Ende. Ich bin noch einmal davongekommen.

Schlußbemerkung

Ich habe mich bemüht, meinen Fall so darzustellen, wie er sich abgespielt hat. Ich habe versucht, soweit es irgend menschenmöglich ist, jede persönliche Note wegzulassen. Deshalb sprach ich z. B. nicht über meinen Gesundheitszustand als Folge der fürchterlichen fünf Jahre. Deshalb ließ ich die Gefühle unerwähnt, die ein Mensch hat, der die besten Jahre seines Lebens und vieles andere einer politischen Bewegung opferte und dann ein solches Schicksal durch sie erlebt. Es ist mir aber ein Bedürfnis, zum Schluß festzustellen: Ich veröffentliche meine Erlebnisse nicht aus persönlichen Haßgefühlen gegenüber irgendwelchen Personen, von denen ich weiß, daß sie in der unsaubersten Art und Weise gegen besseres Wissen und nur aus persönlich-egoistischen Gründen für die bittersten Jahre meines Lebens mit verantwortlich waren. Wie ich schon sagte, wehren sich Ulbricht und andere Führer der Ostzone, selbst die Beschlüsse des 20. Parteitages in ihrem Machtbereich durchzuführen. Monate sind vergangen, seitdem der 20. Parteitag der KPdSU stattfand und seitdem Nikita S. Chruschtschow seine furchtbaren Anklagen gegen Stalin und damit gegen das, was man als „Stalinismus" bezeichnet, bekanntgab. Bis heute jedoch hat man es in der Ostzone nicht für notwendig befunden, öffentlich zum Terror in der Ostzone Stellung zu nehmen, öffentlich die Opfer des deutschen Stalinismus zu rehabilitieren.

Im Gegenteil: Man besitzt den traurigen Mut, unter Berufung darauf, daß unser Prozeß nicht „öffentlich" stattgefunden hat, zu behaupten, in der Ostzone seien keine tiefgreifenden Korrekturen durchzuführen. Man glaubt noch, es genüge, die Schuld für die Vergangenheit einem Manne allein zuschieben zu können, um sich dadurch vor der eigenen Verantwortung zu drücken. Gleichzeitig ist aber in dem schon erwähnten Artikel: „Die Leninistische Geschlossenheit unserer Partei“ (veröffentlicht in „Neues Deutschland" Nr. 104 vom 29. April 1956) zu lesen: „Alle Beschlüsse unserer Parteiführung sind kollektiv beraten und gefaßt worden und das gleiche gilt für die Beschlüsse des Ministerrates.“ Das gilt auch für jene Worte Albert Nordens auf der dritten Parteikonferenz der SED: „Möge feder Staatsanwalt und Richter, jeder Angehörige unserer Volkspolizei und Staatssicherheit und unsere bewaffneten Streitkräfte so handeln, daß die westdeutschen Werktätigen sagen: , Solch einen Staatsapparat, eine solche Justiz, solche Diener des Volkes wünschen wir auch in Westdeutschland'.“ („Neues Deutschland" Nr. 77 vom 29. 3. 1956.)

Solange solche Worte gesprochen werden, solange festzustellen ist, daß die Führung der SED sich mit allen Mitteln sträubt, selbst den Beginn einer neuen Entwicklung im kommunistischen Lager mitzumachen. solange bleibt es im Interesse des Kampfes um die Wiedervereinigung Deutschlands eine Pflicht, an der Überwindung der bewußten Widerstände mitzuwirken. Und deshalb auch veröffentliche ich meine Erlebnisse. Ulbricht und seine Freunde sind die großen Verantwortlichen für die Entwicklung in der Ostzone. Sie rücken von Stalin und Berija ab, denken aber nicht daran, den „Stalinismus" in der DDR abzuschaffen. Sie wissen warum: Diesem System, zu dem der Terror als ein integraler Bestandteil gehört, verdanken sie ihre jetzige Macht. Sie können also die Änderungen nicht vornehmen. Andere werden es an ihrer Stelle tun, dadurch die Quelle der Unmenschlichkeit beseitigen und endlich den Weg für die Wiedervereinigung Deutschlands freilegen.

Fussnoten

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