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Revision der amerikanischen Außenpolitik überfällig | APuZ 40/1956 | bpb.de

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APuZ 40/1956 Revision der amerikanischen Außenpolitik überfällig Ein neuer Führer für England Die Verteidigung des nahen Ostens

Revision der amerikanischen Außenpolitik überfällig

George F. Kennan

Der Artikel von George F. Kennan wurde mit freundlicher Genehmigung des Verlages der amerikanischen Zeitschrift HARPER'S MAGAZINE, August 1956, entnommen.

Idi möchte vorausschicken, daß die Behandlung von Gegenwartsproblemen zur Zeit nicht meine Sache ist. Idi bin Historiker. Der Gegenstand meiner derzeitigen Untersuchungen liegt fast 40 Jahre zurück. Ich halte midi daher weder für besonders kenntnisreich noch für kompetent, über aktuelle Ereignisse zu sprechen. Ich schöpfe meine Kenntnisse lediglich aus Zeitungen und muß gestehen, daß ich sie nicht einmal mit der gebotenen Sorgfalt lese, denn ich finde es amüsanter und lohnender, das Gewebe aus Irrtum und Zwangsläufigkeit, in das sich unser Land vor 40 Jahren verstrickt sah, als jenes zu entwirren, in dem es heute gefangen ist.

Audi habe ich keine These anzubieten Midi plagen keine Botschaften an die Menschheit. In diesem großen Komplex der internationalen Politik gibt es für mich überhaupt keine absolute Gewißheit in irgendeinem Punkt. Ich kenne keinen einfachen Weg, der aus diesem Dilemma herausführt. Meine nachstehenden Gedanken hierzu entspringen eher einer Seelen-angst als voller Überzeugung — der Verwirrung und dem Bewußtsein weitgehenden Nichtwissens. Nadi dieser Einleitung möchte ich einige Bemerkungen zu den kürzlichen Veränderungen und der gegenwärtigen Situation in Rußland und den sich hieraus ergebenden Rüdewirkungen auf die Probleme der amerikanischen Außenpolitik machen.

Zuerst wollen wir uns kurz vergegenwärtigen, worin die Veränderungen in Rußland seit Stalins Tod bestanden haben. Nadi meiner Ansicht ist es das beste, die Prüfung mit der Feststellung zu beginnen, worin keine Veränderung stattgefunden hat.

Ich spiele hier auf die ziemlich allgemein verbreitete Annahme an, daß Stalin nämlich ein Mann des Krieges gewesen wäre, der danach trachtete, einen militärischen Angriff gegen die nicht-kommunistische Welt zu entfesseln, während seine Nachfolger Männer des Friedens seien. Ausgehend von dieser Annahme wird behauptet, daß wir zwar vor einigen Jahren recht daran taten, unsere Politik ausschließlich auf die Kriegsgefahr auszurichten, dies aber nicht mehr notwendig sei.

Das ist eine große Vereinfachung. Stalin war zweifellos kein netter Mann im üblichen Sinne, und seine Absichten uns gegenüber waren gemein. Doch bin ich überzeugt davon, daß es nicht in seiner Absicht lag, einen dritten Weltkrieg großen Stils zu entfesseln. Die Vorstellung, daß das stalinistische Rußland danach lechzte, den Westen anzugreifen und nur von unseren Atomwaffen abgeschreckt wurde, ist weitgehend eine Erfindung westlicher Einbildungskraft, gegen die einige von uns, die mit den russischen Problemen vertraut waren, im Verlauf der Jahre vergeblich ihre Stimmen erhoben haben.

In dieser Hinsicht handelt es sich bei der kürzlich eingetretenen Veränderung mehr um eine Wandlung der amerikanischen Interpretation der nach außen in Erscheinung tretenden Gegebenheiten als jener Gegebenheiten selbst.

Ich will damit nicht behaupten, daß überhaupt keine wesentlichen Unterschiede zwischen dem Standpunkt Stalins und seiner Nachfolger in bezug auf die Aussichten für Krieg oder Frieden bestehen. Obgleich Stalin keinen neuen Weltkrieg wünschte, beurteilte er die Möglichkeit, ihn zu vermeiden, vermutlich skeptischer als einige seiner Nachfolger. Nach meiner Ansicht war er gegenüber den Westmächten mißtrauischer — in der Beurteilung ihrer Motive zynischer — stand er der Möglichkeit, zu ihnen eine andere Beziehung als nur erbitterte, tödliche und gefährliche Feindschaft zu haben, ungläubiger gegenüber. Wie alle wahrhaft schlechten Menschen nährte er den Glauben, daß der Rest der Menschheit nicht besser als er selber sei und rechtfertigte damit seinen eigenen Haß auf die Menschheit.

Sein Verhalten wurde außerdem von seiner außerordentlichen — und sogar pathologischen — Eifersucht und Sorge um die Sicherheit seiner eigenen Macht beeinflußt. Die übrige Welt und ein ansehnlicher Teil der sowjetischen Gesellschaft waren nach seiner Ansicht von dem Wunsch besessen, ihn zu stürzen und zu beseitigen. Er jedoch würde sie alle überlisten. Er würde sich verstellen, seine Zeit abwarten und die Meinungsverschiedenheiten zwischen seinen Feinden ausnutzen. Auf diese Weise würde er, so dachte er, schließlich an allen Rache üben.

Auf Grund dieser Vorurteile — die in seinen letzten Lebensjahren die Form eines hochgradigen Verfolgungswahns annahmen —war Sta-lin einfach nicht imstande zu glauben, daß es zwischen den Interessen der sowjetischen Gesellschaft und der übrigen Welt echte Berührungspunkte gäbe. Nach seiner Ansicht gab es so etwas wie aufrichtige und unpolitische Kontakte zwischen den Völkern gar nicht. Kunst. Gelehrsamkeit, Wissenschaft — die in vergangenen Jahrhunderten die großen einenden Faktoren der Menschheit gewesen waren — alle diese Gebiete einer universalen Gemeinschaft waren nach Stalins Ansicht nur Schlachtfelder, auf denen er mit unglaublicher Doppelzüngigkeit und Hypokrisie seine dunklen Kämpfe mit den feindlichen Kräften austrug, von denen er sich umgeben glaubte.

Auf Grund dieser Einstellung brachte es Stalin fertig, sein eigenes Regime zur umfassendsten und finstersten Verschwörung zu machen — eine Verschwörung nicht etwa gegen die übrige Welt, sondern auch gegen das sowjetische Volk selbst und in gewissem Sinne gegen die gleiche kommunistische Bewegung, die ihn unterstützte. Und weiterhin brachte er es fertig, Rußlands Beziehungen zur übrigen Welt mit Undurchdringlichkeit, Furcht und Antagonismus zu belasten, und zwar so vollkommen und so schrecklich, daß sie Jahrzehnte wie eine große schwarze Wolke über den internationalen Beziehungen lagen und nur die naivsten Menschen mit Wunschträumen auf eine Aufhellung der Atmosphäre hoffen konnten, solange Stalin lebte.

Es war nicht der Wunsch nach Krieg. Es war nicht die Absicht, den Westen sobald wie möglich mit Waffengewalt anzugreifen. Es harte nichts zu tun mit den unbesonnenen Plänen und militärischen Vorhaben eines Hitlers. Sondern es war etwas so unendlich Böses — so grausam, so unbarmherzig, so bedrohlich — daß cs viele Leute begreiflicherweise nicht von Kriegslüsternheit unterscheiden konnten. Kein Wunder, daß die westliche Welt, und dieses Land im besonderen, — nachdem die Nachwehen des Krieges dieses alles klar zu Tage gebracht hatten — eilends darauf mit militärischen Verteidigungsmaßnahmen reagierten; kein Wunder, das ein beträchtlicher Teil der westlichen öffentlichen Meinung zur Überzeugung gelangte, ein Krieg wäre unvermeidlicli; kein Wunder, daß die Welt fünf Jahre lang in einem Zustand äußerster militärischer Nervosität und Spannung verharrte.

Die leninistische Tradition

INHALT DIESER BEILAGE: George F. Kennan:

„Revision der amerikanischen Außenpolitik überfällig" Danielle Hunnebelle:

„Ein neuer Führer für England"

(S. €7 ) Dankwart A. Rüstow:

„Die Verteidigung des Nahen Ostens" (S. 625)

Sind Stalins Nachfolger etwa besser? Hegen sie nicht die gleiche tödliche Feindschaft gegen die übrige Welt? Sind sie nicht auf Grund der Prinzipien der politischen Bewegung, der sie entstammen, genau so gefährlich und unzuverlässig wie Stalin selbst?

Alle diese Fragen können korrekt mit einem einfachen „Nein" beantwortet werden — aber es wäre irreführend, sieh mit dieser inadäquaten Antwort zu begnügen.

Rufen wir uns erstens ins Gedächtnis, daß das Rußland Stalins nicht das ursprüngliche sowjetische Rußland gewesen ist. Sein Kommunismus war nicht der leninistische — trotz oberflächlicher Ähnlichkeit eines großen Teils der Ideologie. Ich möchte nicht als Apologist Lenins erscheinen, dessen ideologische Überzeugungen und Methoden, durch die er sie in die Praxis umsetzte, ich für falsch halte. Aber nach meiner Meinung lasse ich ihm nur Gerechtigkeit widerfahren, wenn ich behaupte, er wollte nicht, daß der Triumph des Marxistischen Sozialismus die Form eines totalitären Albtraumes annahm. Er wollte nicht, daß die Menschen überall in ständigem Schrecken und Elend leben sollten. Zu welchen Maßnahmen er auch immer durch die Erfordernisse der diktatorischen Macht getrieben worden sein mag, er wollte das kulturelle Leben Rußlands nicht unterdrücken, und er unterdrückte es — tatsächlich — nur in sehr geringem Maße.

Vor allem glaubte er nicht, daß der Kampf für eine Weltrevolution (zu dem er sich viel aufrichtiger verpflichtet fühlte als Stalin jemals) die Auflösung der kulturellen und intellektuellen Bindungen zwischen dem russischen Volke und dem Rest der zivilisierten Welt erforderte. Im Gegensatz zu Stalin fühlte sich Lenin als Teil der kulturellen Gemeinschaft der Welt. Es gab also noch eine andere kommunistische Tradition: Die stalinistische war nicht die einzige.

Die Methode hat sich wesentlich geändert

Rufen wir uns zweitens ins Gedächtnis, daß es vermutlich niemanden in der Welt gibt, der eine bittere Lehre von den Schrecken und Irrtümer des Stalinismus empfangen hat als einige Männer seiner engsten Umgebung. Sie lebten nicht nur in panischer Angst um ihr eigenes Leben (denn es bestand immer die Möglichkeit, daß sich Stalins tödliches Mißtrauen willkürlich gegen einen von ihnen richten würde), sie lebten außerdem in der ständigen Furcht, daß er, getrieben von seiner außerordentlichen Gewalttätigkeit und Grausamkeit, sogar das sowjetische Regime und die Bewegung des Weltkommunismus zu Grunde richten könnte. Und kam es auch nicht zu diesen Katastrophen, so waren einige dieser Männer doch überzeugt davon, daß Stalin wichtige Vorteile verwirkte, die er für die Partei und die Bewegung hätte erreichen können, als er es unterließ, eine wendigere und liberalere Politik — und zwar auf innen-und außenpolitischem Gebiet — zu verfolgen.

Angesichts dieses Sachverhaltes war es nur natürlich, daß diese Männer nach Stalins Tod und Übernahme der Verantwortung versuchen würden, diesen Kurs zu ändern und zu einer Linie zurückzukehren, die mehr Lenins Idealen entsprach, so wie sie sie verstanden. Lind das scheinen sie tatsächlich auch getan zu haben.

Hier erhebt sich nun eine zweite Frage. Man wird behaupten, daß die von diesen Männern vorgenommenen Veränderungen nur die Methode und nicht das Ziel betreffen, daß der Triumph der sozialistischen Weltrevolution das Ziel bleibt, daß die gegenwärtige Taktik für uns gefährlicher ist als die Stalins, da sie feiner und wirksamer ist. Sollten wir also, so wird man fragen, weniger auf unserer Hut sein?

Da diese Art der Beweisführung mehrere Komponente enthält, ist darauf auch einiges zu antworten.

Es ist ganz richtig, daß sich das Ziel theoretisch nicht geändert hat. Aber die Methode hat sich sehr wesentlich geändert. Und wie sich die Methode geändert hat, das können wir von unserem Standpunkt aus nur billigen. Im Innern herrscht weit weniger Terror. Die Einschränkungen, denen in Rußland die schöpferische Tätigkeit auf kulturellem Gebiet unterworfen war, sind tatsächlich weitgehend gelokkert worden. Die kulturellen Beziehungen mit der übrigen Welt sind freizügiger geworden. Gegenüber den Satelliten ist die Einstellung liberaler geworden. Die Art und Weise, wie auf diplomatischer Ebene die Beziehungen zwischen den Regierungen gehandhabt werden, ist gekonnter, vertrauensvoller und höflicher geworden. Wir dürfen nicht übersehen, daß dies für die Handhabung der internationalen Angelegenheiten von äußerster Wichtigkeit ist. Mit anderen Worten, wir sind Zeuge einer Evolution der Struktur des sowjetischen Staates von der finstersten Form eines modernen totalitären Regimes zu etwas, das einem traditionellen autoritären Staat ähnelt, der oligarchisch regiert wird.

Was wollen wir noch mehr in dreieinhalb Jahren? Die Ziele haben sich natürlich nicht geändert, aber die Ziele sind ja auch die Endpunkte, während die Methode der Weg ist. Lind wer sind wir, die wir die Endpunkte höher stellen wollen als die Mittel? Wir sollten als Nation, die wir in der christlichen Tradition erzogen sind, etwas von der Bedeutung der Methode verstehen. Wir von allen Völkern sollten wissen, daß es die Methode — und nicht das Ziel — ist, die letzten Endes den Ausgang bestimmt.

Es gilt nach meiner Ansicht für uns alle, daß unsere Leistungen stärker von der Art und Weise unseres Verhaltens abhängen, als von den närrischen Tagträumen und Illusionen, die wir so oft für unsere Lebensziele halten. Deshalb ist das Verhalten in allen Fällen sowohl in unserem persönlichen Leben als auch in den Staatsgeschäften von so ausschlaggebender Bedeutung. Der Einzelne kann die Bestie in sich nicht ausrotten; aber er kann Wesentliches tun und seinen Freunden und Nachbarn das Leben erträglicher gestalten, wenn er sich so verhält, als ob die Bestie nicht existiere. Ebenso wenig wird ein Volk nicht imstande sein, seine un-realen oder absurden oder veralteten Ziele zu ändern — wenigstens nicht von heute auf morgen — die ihm theoretisch viel bedeuten. Aber es kann durch sein praktisches Verhalten viel dazu beitragen, die Aussichten auf eine stabilere, friedlichere und hoffnungsvollere Welt zu vergrößern.

Wir sollten deshalb weder die Nase rümpfen noch über die Veränderungen im sowjetischen Verhalten besonders erschreckt sein, denn sie liegen bestimmt in der allgemeinen Richtung, von der wir hoffen, daß die politischen Kreise sie im ganzen einschlagen werden. Nachdem wir die russischen Kommunisten die ganzen Jahre hindurch als zu totalitär kritisiert haben, sollten wir jetzt, wo sie Anzeichen einer Wandlung zeigen, weder verspotten noch lächerlich machen.

Wir sollten vor allen Dingen die neue Entwicklung nicht durch unser Prahlen entmutigen, sie sei Triumph und Rechtfertigung unserer Politik und eine schimpfliche Niederlage für die sowjetischen Führer, die diese Veränderungen in die Wege geleitet haben. Nicht wenn Menschen getötet, sondern wenn sie aufgeklärt, weiser und toleranter werden, erringt die Demokratie ihre Siege. Wenn die sowjetische Welt liberaler wird, dann ist es nicht unser Sieg, sondern den gesunden, hoffnungsbereiten Kräften zu danken, die — dank Gott — in allen Menschen leben. Sie mögen manchmal zu Boden gedrückt und entmutigt werden. Wenn es zu einer Niederlage gekommen ist, dann nicht eigentlich durch die Männer, die diese Veränderungen eingeführt haben, sondern durch diejenigen Tendenzen innerhalb ihres eigenen Systems — vielleicht auch ihrer eigenen Weltanschauung — die eines großen Volkes unwürdig sind und mit seinen tiefsten Wünschen nichts zu tun haben. Wir sollten die Situation in aller Bescheidenheit zur Kenntnis nehmen und uns als Mittler, nicht als Urheber der ewigen Wahrheiten fühlen, an die wir zu glauben behaupten, und wir sollten nicht als persönliches Verdienst beanspruchen, was in Wirklichkeit die Macht dieser Wahrheiten bewirkt hat.

Das Machtstreben

Wie sehen die sowjetischen Ziele aus, die uns so beunruhigen? Wir müssen hier zu entscheiden lernen zwischen den Dingen, die Menselten theoretisch gerne tun möchten, und den Dingen, die sie in ihrem Leben vernünftigerweise zu erreichen hoffen. Wir müssen auch zwischen dem Glauben, daß etwas Bestimmtes kraft des Naturgesetzes früher oder später eintritt, und der Entschlossenheit unterscheiden, dieses „Bestimmte" in unmittelbarer Zukunft durch eigene Anstrengungen zu verwirklichen.

Die derzeitigen sowjetischen Führer glauben nach meiner Ansicht ernsthaft, daß das kapitalistische System nur eine Episode in der Weltgeschichte ist, daß es nicht bestehen wird, daß es Widersprüche und Schwächen enthält, die möglicherweise zu seinem Untergang führen werden, und daß er früher oder später einer neuen Ordnung Platz machen muß, die sie Sozialismus nennen, dessen Charakteristikum hauptsächlich die Verstaatlichung der Produktionsmittel ist.

Wann werden nach ihrer Ansicht die Veränderungen frühestens eintreten? Chruschtschow soll kürzlich zu einer Dame aus dem Westen die Bemerkung gemacht haben, daß vermutlich weder sie noch ihre Tochter kommunistisch sein werden, aber bestimmt ihre Enkelin. Ein anderer sowjetischer Führer, ich glaube Mikojan war es, soll behauptet haben, daß die ganze westliche West in 100 Jahren kommunistisch sein würde. Aber auch wir könnten Spekulationen darüber anstellen, wie Rußland in hundert Jahren aussehen könnte, und ich vermute, daß die sowjetischen Führer an unseren Spekulationen keinen Gefallen finden würden, aber ich bezweifele, daß sie heftig zu zittern anfangen, wenn sie hinter diese „entsetzlichen" Gedanken kommen.

Zusätzlich zu ihren irregeleiteten Ideen über eine zwangsläufige Entwicklung haben die sowjetischen Führer auch ein besonderes Anliegen, und zwar das Streben nach nationaler Macht. Sie haben die Regierungsverantwortung für einen großen Staat geerbt — eine der größten traditionellen Einheiten in der gegenwärtigen internationalen Familie — mit seinen Bewohnern, seiner Geschichte, seinen Traditionen, seinen Bestrebungen, seinen Vorurteilen und Rivalitäten. Gleich anderen, die ein Anliegen haben, möchten sie Freunde gewinnen und Menschen beeinflussen. Sie versuchen es besser und nicht schlechter zu machen. Sie möchten ihr eigenes Prestige und Glück vermehren, die Gefahren vermindern, ihre Sicherheit erhöhen, ihre Macht vergrößern.

Da die Behauptung der Staaten im internationalen Leben wie jedes andere Geschäft ein Konkurrenzkampf ist, können Vorteile oft nur zum Nachteil eines Konkurrenten erreicht werden.

Nun haben die sowjetischen Führer niemals verheimlicht, daß sie sich für unsere Konkurrenten halten, und ich für meinen Teil bezweifele, daß wir sie dies vergessen lassen würden, selbst wenn sie dazu bereit wären. Außerdem sind sie harte Kämpfer, und sie reißen alles an sich, was ihnen über den Weg läuft.

Wenn 30 oder 40 Prozent der französischen Wähler belieben, der sowjetischen Propaganda zu glauben und der sowjetischen politischen Linie zu folgen, werden die sowjetischen Führer sie bestimmt nicht zurückweisen und ihnen nicht raten, alles zu vergessen und nunmehr gute Franzosen zu sein. Wenn große Teile Asiens die wildesten Vorurteile gegen Amerika hegen und in dem Glauben schwelgen, daß das sowjetische Experiment der Schlüssel zur schnellen wirtschaftlichen Entwicklung ist, wird niemand in Moskau sich beeilen, sie von ihren Illusionen zu befreien. Und wenn die nationalistischen Führer des Mittleren Ostens nach Moskau kommen und um einen militärischen Beistand bitten, der attraktive Möglichkeiten zur Ausdehnung des russischen Einflusses in diesem Gebiet bietet, wird dieses Vorhaben von russischer Seite bestimmt nicht in brutaler Weise entmutigt werden.

Die Sache ist natürlich ernst, denn Rußland ist unser Konkurrent und in vieler Hinsicht der stärkste der Weltmächte. Aber nach meiner Ansicht ist die derzeitige Situation kein Beweis für eine neue oder besondere Aggressivität von sowjetischer Seite — von einer Aggressivität, die Menschen hier an dem Versuch einer Lösung des Problems ohne Krieg verzweifeln lassen oder sie zu panikartigen und extremen Lösungen treiben sollte. Denn das sowjetische Vorgehen ähnelt nur zu sehr der Art und Weise, wie andere Großmächte sich verhalten haben und noch verhalten. Die Unterschiede sind relativ. Aber abgesehen davon: die sich den sowjetischen Führern bietenden Möglichkeiten — die Lücken —, aus denen sie Vorteile ziehen, haben wir nur zu oft selbst verschuldet oder könnten wir selbst schließen und ihnen verwehren, wenn wir nur entsprechende Maßnahmen ergreifen würden.

Womit haben wir uns auseinanderzusetzen?

Inwiefern und auf welche Weise ist die sowjetische Politik als eine Bedrohung für uns anzusehen? Womit haben wir uns auseinander-zusetzen? In den Hauptpunkten werden wir nach meiner Ansicht übereinstimmen. Wir sehen uns natürlich der Friedenskampagne gegenüber (die beiläufig lange vor Stalins Tod ihren Anfang nahm), der Werbung um die Neutralen, den Handels-nicht Hilfsangeboten, der Behauptung, an wirtschaftlicher Entwicklung aufrichtig interessiert zu sein und zu wissen, wie sie zu betreiben ist, der erbarmungslosen Ausbeutung der Kolonialfrage, der gleich rücksichtslosen Ausbeutung des Farbigenproblems und letzten Endes dem schnellen und wirkungsvollen Ausbau des militärischen Industriepotentials der Sowjetunion.

Ich wiederhole noch einmal, das sind die Dinge, die uns auf russischer Seite gegenüberstehen. Lind wir müssen uns fragen, ob es auch nur ein Problem gibt, dem wir nicht den Weg gewiesen haben.

Haben wir der Friedenskampagne nicht dadurch Angriffsflächen geboten, daß wir in den letzten Jahren die Weltprobleme fast ausschließlich unter militärischen Gesichtspunkten betrachteten — wir uns hartnäckig mit einem Krieg befaßten, der kommen konnte oder auch nicht — wir uns so ausschließlich auf einen eventuellen Krieg konzentrierten, daß wir mit leeren Händen und ohne Ideen dastehen mußten, wenn es nicht zu einem Kriege kam?

Haben wir uns nicht die neutrale Welt entfremdet durch unsere Ich-Bezogenheit, unseren Mangel an Verständnis für das Neutralitätsprinzip, unsere Forderung, jeder solle Stellung beziehen und entweder unserer oder der gegnerischen Seite zugezählt werden; durch unsere schlechtberatenen Bemühungen, alle Arten von Ländern in Militärpakten zusammenzupferchen — deren Konsequenzen den betreffenden Völkern weitgehend unerwünscht sein und denen die Notwendigkeit des Beitritts unverständlich bleiben mußte?

Haben wir nicht den sowjetischen Führern zu ihrem Schlagwort „Handel nicht Hilfe“ verhelfen durch unsere übertriebenen Bemühungen, den Ost-West-Handel zu ersticken — unser unnachgiebiges Festhalten an allen diesen Überbleibseln des Protektionismus, die so großen psychologischen Schaden anrichten und so geringen praktischen Nutzen aufweisen — durch unsere Zölle und Subsidien, unsere Gesetze „Kauft Amerikanisches“?

Haben wir den Sowjets nicht in die Hand gespielt durch Überbetoung der militärischen zum Schaden der wirtschaftlichen Hilfe und die unglückselige Manier, unsere Wirtschaftshilfe beharrlich als Manöver im Kalten Krieg zu bezeichnen — als Art Geschenk und Bestechung und nicht als Ausdruck eines aufrichtigen Interesses an der wirtschaftlichen Entwicklung an sich? Bis auf den heutigen Tag bezeichnen unsere Regierungsvertreter auch weiterhin verschiedene Punkte unseres Hilfsprogramms als „Gegenzüge“ zur sowjetischen Politik. Wann werden wir gelernt haben, daß wir die Konsequenz besitzen müssen, Dinge um ihrer selbst willen zu tun und nicht für sonstige Zwecke, wenn wir Erfolg haben wollen? Wenn nach unserer Überzeugung die wirtschaftliche Entwicklung in diesem oder jenem Teil der Welt eine gute Sache und wert der amerikanischen Unterstützung ist, dann sollten wir sie aus diesem Grund unterstützen und nicht warten, bis uns die Furcht vor den Russen dazu treibt. Und wenn wir nicht der Überzeugung sind, dann sollten wir uns nicht zu Dingen zwingen lassen, an die wir nicht glauben.

Vergiftung der Weltmeinung

Ferner beuten die Russen die Kolonialfrage aus — ja, und sie beuten sie sehr skrupellos und ungerecht aus. Wir können jedoch kaum behaupten, daß sich die westliche Welt schon mit den damit zusammenhängenden Fragen erschöpfend befaßt hat. Große Dummheiten werden weiterhin im Namen der kolonialen und quasi-kolonialen Mächte gemacht, nicht von uns natürlich, aber von unseren Verbündeten. Und ich frage mich, ob die vielen Regierungsvertreter, die wir Amerikaner in den ehemaligen Kolonialgebieten unterhalten, schon gelernt haben, sich dort so zu verhalten, daß sie nicht bei hundert kleinen Gelegenheiten die Empfindlichkeiten verletzen, die den Anti-Kolonialismus nähren.

Nicht anders das Farbigenproblem. Wir alle kennen die häßlichen Verdrehungen und Übertreibungen, mit denen die Kommunisten in der ganzen Welt über den Stand der Rassenfrage in unserem Lande hausieren gehen. Ich möchte nicht der entsetzlichen Unverantwortlichkeit das Wort reden, mit der Menschen versuchen, andere Menschen durch solche Mittel irrezuführen. Aber können wir leugnen, daß wir weiterhin nicht wenig Öl in dieses Feuer gießen? Ich möchte weder den Eindruck erwecken, als glaubte ich, das Problem sei in Amerika leicht und schnell zu lösen, noch besagen, daß ich die Gefühle der feindlichen Parteien auf die leichte Schulter nehme.

Was glauben wir wohl, welche Wirkung direkte Berichte aus diesem Lande auf hunderte Millionen Farbiger in anderen Ländern über das haben, was sich hier auf dem Gebiete der Rassenbeziehungen abspielt? Was glauben wir wohl, welche Wirkung von dem Pressephoto ausgeht, auf dem Authurine Lucys Wagen vom Mob umgeben und mit einem Mann zu sehen ist, der'auf dem Wagendach herumtrampelt und offensichtlich versucht, mit den Absätzen durchzubrechen — und das alles wird der Welt als Beispiel gezeigt, wie es einem farbigen Mädchen ergeht, das sich um eine bessere Erziehung in unserem Lande bemüht? Dieser eine Photograph ist für die Kommunisten wertvoller als alle Lügen, die sie in 10 Jahren erfinden kön-nen. Wer vergiftet hier die Brunnen der Weltmeinung? Die Russen oder wir selbst? Zweifellos beide — wir aus Gedankenlosigkeit, sie mit Absicht; aber wir tragen auch unseren Teil dazu bei.

Schließlich müssen wir uns mit der Behauptung befassen, daß das militärische Industriepotential der Sowjets schneller wächst als das unsrige. Diese Behauptung enthält einige Übertreibungen, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Ich bezweifele, daß die Russen uns ganz so schnell einholen wie manche glauben. Ich habe den Verdacht, daß sie sich größeren Schwierigkeiten gegenübersehen als im allgemeinen vermutet wird. Aber ich bin bereit, mich im großen und ganzen dem Urteil der Wirtschaftsexperten anzuschließen, daß ihre Kapazität, einen Krieg zu führen, in mancherlei Beziehung unsere eigene zu übertreffen beginnt und in der nächsten Zeit vermutlich weiterhin schneller als unsere wachsen wird.

Ich muß noch einmal betonen, daß wir selbst bei dieser Diskrepanz ein ausschlaggebender Faktor sind. Unser Land hat die Mittel, jeder Zeit doppelt so viel Militärpotential zu produzieren wie die Russen, wenn wir wirklich wollen. Und wir haben es auch in der Hand, das Gefälle im Ausbildungswesen, auf Grund dessen sie uns auf wissenschaftlichen und technischem Gebiet zu überholen scheinen, im Laufe der nächsten Jahre zu überwinden, wenn wir wirklich wollen.

Selbstverschuldete Handicaps

Diese Diskrepanz liegt zum Teil an uns selbst. Unsere eigenen Gewohnheiten und Voreingenommenheiten, von denen wir uns nicht trennen können, benachteiligen uns im Rennen. Unser Land ist teuer. Wir sind es zufrieden und wollen es nicht anders haben. Unsere bewaffneten Streitkräfte sind daher eine teure Einrichtung. Und werden es auch bleiben. Man könnte sagen, daß wir uns selbst durch hohe Preise aus dem Rennen um die militärische Vorherrschaft ausgebootet haben.

Der Mangel an Technikern und die Schwächen unseres Ausbildungswesens sind ein Zeichen unserer Abneigung gegen jede Art Reglementierung und typisch für die Faktoren, die die Ursache für die Senkung des Ausbildungsniveaus im allgemeinen in diesem Lande sind. Ich werde hier weder diese Schwächen geißeln noch für eine Verbesserung plädieren. Ich stelle nur fest, daß sie noch vorhanden und für unseren Konkurrenzkampf mit den Russen wichtig sind, und wir für diese Diskrepanzen und Niederlagen nicht gänzlich die sowjetische Aggressivität verantwortlich machen können, da sie teilweise vom Mangel an eigener Leistung herrühren.

Die sowjetische Herausforderung an unsere Welt enthält zwei Komponente, und zwar die sowjetische Stärke und unsere eigenen Schwächen und Mängel, ob wir es nun wahrhaben wollen oder nicht. Ich möchte betonen, daß keiner dieser Mängel oder Schwächen nicht schon lange vor Stalins Tode bestanden und Beachtung gefordert hat. Auch ohne die sehr relative Schlauheit Chruschtschows und Bulganins hätten wir begreifen sollen, daß uns die Sympathien der Weltmeinung bei einer weitgehend militärischen Einstellung zum Kalten Krieg verloren gehen würden, daß kleinlicher Protektionismus unsinnig ist, die Rassenfrage in unserem Lande unserer intensiven und beherzten Aufmerksamkeit bedarf; und unsere Beziehungen zu den unterentwickelten Ländern ein großes Problem für uns sind.

Aus diesen Gründen finde ich nicht, daß die Ereignisse der vergangenen drei oder vier Jahre in Rußland sehr viel an den Faktoren geändert haben, die die amerikanische Außenpolitik bestimmen. Sie akzentuieren nur die bereits an uns gestellten Forderungen und machen sie dringlicher und lassen uns weniger Zeit und vielleicht auch weniger Raum, die Dinge zu tun, die wir längst hätten tun sollen.

Und welche Dinge sind dies?

1. Wir sollten auf alle Fälle militärisch stark und wachsam bleiben. Wir sollten dabei nicht an einen Sieg denken, denn im Zeitalter der Atomwaffe gibt es bestimmt keinen. Wir soll-

Fussnoten

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