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II. Teil | APuZ 51/1956 | bpb.de

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APuZ 51/1956 Die Geschichte von Joel Brand II. Teil

II. Teil

1h der bisherigen Darstellung der Ereignisse stützten wir uns ausschließlich auf die Erinnerungen Joel Brands. Die Dinge, die in den folgenden Kapiteln dieses Buches behandelt werden, hat Joel Brand persönlich nicht mehr miterlebt. Seine Aussagen genügten nicht, um sie ersdtöpfend wiederzugeben. Wir waren genötigt, andere Dokumente aus dieser Zeit heranzuziehen: in erster Linie den Bericht Dr. Israel Kastners, das Tagebuch des gefallenen Otto Komoly, die Aufzeichnungen von Herr v. Freudiger und von Ingenieur Andrej Biss, die Erinnerungen von Hansi Brand, Perez Re. vesz, Schulern Offenbach und in beschränktem Ausmaß die Aussagen des Standartenführers Kurt Becher, des Mannes, der in der letzten Phase des Krieges, im Auftrage Himmlers die Verhandlungen über den Loskauf der ungarischen Juden führte. Um der Einheitlichkeit der Darstellung willen behielt ich die Ichform bei, obwohl die Aussagen dieses Kapitels nidit allein Joel Brand zum Urheber haben. Alex Weißberg

Das Entsetzen geht weiter

Das große Morden hatte in den Randgebieten Ungarns, in Karpatorußland und im Norden Siebenbürgens begonnen. Am 13. Mai 1944 war die Überführung der 320 000 Juden dieser Gebiete in Gettos abgeschlossen. Einige Tage darauf begann die allgemeine Deportierung. Die Deutschen fühlten, daß sie keine Zeit mehr hatten. Ein Prozeß, der in den polnischen Kleinstädten einige Monate gebraucht hatte, lief hier mit der Geschwindigkeit eines Filmstreifens ab. Die Einwohner der Gettos wurden in Waggons gepfercht. Fast hundert Menschen kamen in einen Viehwagen. Sie erhielten zwei Eimer pro Wagen. Einen für Wasser und einen für die Verrichtung der Notdurft. Dann wurden die Waggons plombiert. Es gab keinen Widerstand gegen die Deportierung. Die Gettos waren oft auf offenem Felde, in verlassenen Ziegel-fabriken, manchmal an einer Nebenlinie der Eisenbahn angelegt. Die Lebensbedingungen in diesen improvisierten Sammelpunkten waren so unerträglich, daß die Menschen nur darauf warteten, endlich herauszukommen. Die ungarischen Gendarmen folterten unzählige Leute, um deren versteckte Habseligkeiten zu finden. Als die Waggons kamen, atmeten deshalb die meisten auf. -Sie waren überzeugt, die Reise gehe in irgendeine Kleinstadt des ungarischen Mutterlandes. Die Deutschen selbst ließen derlei Gerüchte verbreiten. Unsere Waada bemühte sich, aufzuklären, zu warnen, zur Flucht und zum Widerstand aufzufordern.

Es war alles vergeblich. Die Leute glaubten uns nidit, weil sie uns nicht glauben wollten. Jedes Lebewesen verdrängt die Vorstellung des nahenden Untergangs aus seinem Bewußtsein. Die Boten der Waada, Hanna Ganz, Saje Rathsprecher, Hansi Brand, Fritz Knoll, Menachem Klein, Ingenieur Kirschner und viele andere, fanden in diesen Städtchen nur taube Ohren. Nach Munkcs hatten wir einen Deutschen, einen Ingenieur der LG. Farben geschickt. Er erfüllte seine Aufgabe gewissenhaft. Und dort lebte der erste Widerstand auf. Die Deutschen erstickten ihn in Gewehrsalven. Die jungen waffenfähigen Männer fehlten uns. Sie waren im Arbeitsdienst.

Alle Erfahrungen der Deutschen bei der Vernichtung der drei bis vier Millionen polnischer Juden wurden angewandt. Zuerst die Plakate, die die Leute aufforderten, ihre Heimstätten zu verlassen und sich an irgendwelche Sammelpunkte zu begeben. Damit zerschnitt man die Wurzel des Widerstandes. In ihren heimatlichen Städten hätten die Juden noch viele Möglichkeiten gefunden, sich zu wehren. Die ungarische und die deutsche Polizei wäre zu schwach gewesen, um Tausende isolierter Juden aufzusuchen und zu verschleppen. Mit der Drohung der Todesstrafe zwang man die eingeschüchterten Menschen, sich an den Deportationspunkten zu stellen. Der Widerstand hätte beim ersten Versuch der Deutschen, die jüdische Bevölkerung von der nichtjüdischen zu trennen, beginnen müssen. Aber wer ist bereit, sich in Todesgefahr zu begeben, nur weil man von ihm verlangt, sich beim Judenrat registrieren zu lassen oder einen Judenstern an die Brust zu heften? Daß dieser erste Schritt zwangsläufig den Beginn des Weges in die Gaskammern von Auschwitz bedeutete, wußten nur wenige, und die anderen glaubten es nicht. Man hätte den Deutschen eine unsichtbare Mauer entgegenstellen müssen. Sie hätten jeden einzelnen Juden in der grauen Masse der ungarischen Bevölkerung suchen müssen. Aber trotz der schrecklichen Erfahrung der polnischen Juden weigerten sich die Massen, in Ungarn einen Weg zu gehen, der sofortige Not und Entsagung bedeutete, um kommende Gefahren abzuwenden. Es ist nicht jedermanns Sache, die Illegalität — und die schwerste Illegalität, die man sich denken kann — auf sich zu nehmen, bevor ihn die unmittelbare Gefahr dazu zwingt. Und in diesem Moment ist es bereits zu spät.

Zwölftausend Menschen verließen täglich in überfüllten Zügen die ungarische Provinz. Viele gingen in den Waggons zugrunde, bevor sie Auschwitz erreichten. Dort wurden die Transporte größtenteils direkt in die Gaskammern gelenkt. Die Gefangenen von Auschwitz packte das Grauen, als sie zusehen mußten, wie die teuflische Maschine noch einmal, zum letzten Male, ungeheure Mengen lebendiger Leiber fraß.

Hansi Brand und Rezsö Kastner stürzten in höchster Panik zu Eichmann. Sie verlangten sofortige Einstellung der Deportationen. Er lehnte schroff ab.

„Es liegt an euch und euren Leuten in Konstantinopel, schnell fertig-zumachen. Ihr dürft mich nicht für blöd halten. Wenn ich die Deportationen einstelle, läßt man sich im Ausland überhaupt nicht mehr auf Verhandlungen ein.“

Am gleichen Tage telegrafierte Kastner nach Istanbul:

„Deportationen werden fortgesetzt.“

Das Pogrom in den Randgebieten trieb viele Leute zur Flucht nach Rumänien. Eine Gruppe von achtzehn polnischen und slowakischen Flüchtlingen wurde beim Versuch, die rumänische Grenze zu überschreiten, von der ungarischen Gendarmerie verhaftet und nach Budapest gebracht. Man folterte diese jungen Chaluzim, um herauszubringen, wer ihnen Geld und falsche Dokumente besorgt hatte. Die Mehrzahl schwieg. Ein einziger ertrug die Marter nicht und verriet den Namen der Druckerei. Der Drucker, ein Ungar, wurde verhaftet. Er verriet alles und nannte seine Auftraggeber.

Am Tag darauf, es war Samstag, der 27. Mai, erschienen drei Detektive der ungarischen Geheimpolizei im illegalen Büro der Waada in Budapest, Semsely Andor utea 15. Sie beschlagnahmten das ausländische Geld und viele Geheimdokumente der Waada und verhafteten meine Frau, Rezsö Kastner und seine Frau, Schulern Offenbach und dessen Frau.

Als erste wurde meine Frau verhört und mit dem Buchdrucker konfrontiert. Sie erkannte den Mann kaum wieder. Die Prügel hatten ihn unkenntlich gemacht. Er gab an, von Hansi Brand den Auftrag zum Drude der illegalen Dokumente erhalten zu haben. Meiste Frau entschloß sich, alles auf sich zu nehmen, um die anderen zu entlasten. Aber damit war es nicht getan. Die Polizei hatte irgendwelche vagen Gerüchte über meine Reise nach Istanbul aufgefangen. Sie wollte wissen, mit welchem Auftrag die Deutschen mich entsandt hatten. Hier schwieg meine Frau trotz der furchtbarsten Foltern. Sie glaubte, das „Reichsgeheimnis" müsse gewahrt bleiben, sonst würde meine Mission scheitern. Die Polizisten gaben ihr die Bastonade, so daß sie sich wochenlang nicht bewegen konnte.

Am Tage darauf wurde die SS alarmiert. Eichmann intervenierte bei der ungarischen Polizei und verlangte die Überführung sämtlicher Ge-fangenen in deutsche Hände. Bei der Gestapo ließ man unsere Leute nach einer Stunde frei.

Was hatte sich abgespielt? Krumey und Klages hatten sofort beim Chef der ungarischen Geheimpolizei, Hain, vorgesprochen. Hain legte die gefälschten Dokumente auf den Tisch. Einige trugen den Kopf der deutschen Gesandtschaft. Er lehnte die Freilassung der Gefangenen ab.

Aber die Deutschen fürchteten, ein längeres Verweilen der Verhafteten im ungarischen Untersuchungsgefängnis würde das „Reichsgeheimnis" enthüllen. Das mußte ihnen sehr peinlich sein. Der höchste politische Beamte der Deutschen in Budapest, Gesandter Wesemeyser, suchte den ungarischen Ministerpräsidenten Sztöjay auf. Sztöjay gab Hain den telefonischen Befehl, unsere Leute sofort den Deutschen zu übergeben.

Am 3. Juni traf mein Telegramm über das Istanbuler Interimsabkommen in Budapest ein. Kastner ging sofort zu Eichmann und verlangte die Einstellung der Deportierungen. Eichmann lehnte brüsk ab. „Ich denke nicht daran. Im Gegenteil, ich werde sie mit Volldampf fortsetzen.

Telegrawwe kann jeder schicken. Brand muß zurück und den Text des Abkommens mitbringen."

Eichmann verlangte immer ungeduldiger meine Rückkehr aus Istanbul. Kastner telegrafierte, man möge mich mit Gewalt zur Rückkehr zwingen, falls mir der Mut dazu fehle. Die Leute in Budapest wußten damals nicht, was in Aleppo geschehen war. Eichmann wartete auf den Text des Interimsabkommens. Er sagte zu Kastner:

„Wenn Brand in drei Tagen nicht zurüdekehrt, dann lasse ich die Mühlen in Auschwitz wieder laufen."

Die Waada trat zusammen. Sie beschloß, in Budapest selbst eine Million Dollar aufzubringen, um eine Interimslösung finanzieren zu können, bevor das Istanbuler Interimsabkommen eintreffe. Kastner ging zu Eichmann und verlangte von ihm, von den für die Deportationszüge bestimmten Menschen hunderttausend im Lande, zurückzubehalten, um sie bereit zu haben, wenn die Alliierten sein Angebot annähmen. Diese hunderttausend brauche er doch, um sofort den „Vorschuß“ bezahlen zu können. Sie sollten nach Unterzeichnung des Abkommens an die spanische Grenze gehen. Die Waada sei bereit, erklärte Kastner, sofort fünf Millionen Schweizer Franken als Vorleistung aufzubringen.

Eichmann: „Woher wollen Sie das Geld und die Valuten nehmen?"

Kastner: „Es kommt in erster Linie aus dem Ausland. Es ist ein Vorschuß.“

Eichmann versprach, sich die Sache zu überlegen.

Am 14. Juni rief Eichmann Kastner wieder zu sich.

„Ich nehme den Vorschlag an. Aber von hunderttausend kann keine Rede sein. Ich bin bereit, ein Dutzend Deportationszüge mit, sagen wir, dreißigtausend ungarischen Juden nach Österreich zu bringen und sie dort auf Eis zu legen. Aber diese dreißigtausend können wir nicht aus den Karpaten oder Siebenbürgen nehmen. Die dortigen Juden sind ethnisch wertvoller und zeugungsfähiger. Ich habe kein Interesse daran, diese am Leben zu erhalten.'Die dreißigtausend nehmen wir aus dem ungarischen Mutterland. Das Geld aber, die fünf Millionen Franken, müssen Sie mir sofort auf den Tisch legen.“

Man begann zu handeln. Es kam zu einem Abkommen, demzufolge fünfzehntausend Juden aus der Provinz und fünfzehntausend aus Budapest nach Österreich gebracht werden sollten.

Auf Grund dieses Abkommens brachten einige Tage später sechs Züge etwa 18 OOO Menschen, in erster Linie aus Debrecen, Szeged, Szolnok und Balassagyarmath nach Österreich. Diese Leute überlebten in Sonderlagern, vor allem in Straßhoff, den Krieg. Die fünf Millionen Franken, die die Waada dafür zahlen sollte, bekamen die Deutschen niemals. Das Geld wurde zwar von den Budapester Juden in Form von Juwelen, Gold und Devisen aufgebracht und dem Schatzmeister der SS, Obersturmbannführer Becher, übergeben. Aber es wurde einem allgemeinen Konto der jüdischen „Leistungen“ gutgeschrieben.

Die für Budapest unerklärliche Verzögerung meiner Rückkehr wurde schließlich zu einer ernsten Gefahr. Eichmann, der im geheimen ein Feind jeglichen Abkommens mit den Juden und nur durch seine Vorgesetzten in der SS gezwungen worden war, sein Angebot zu stellen, frohlockte. Er hatte die Hände frei. Das Tempo der Deportationen überschlug sich. Die grauenhafte Maschine des Massenmordens lief auf Hochtouren. Während ich mich in Konstantinopel mit einer Gruppe, die die Probleme nicht begriff, quälte und später in Aleppo und Kairo zu tauben Ohren sprach, feierte das Organisationstalent der Deutschen in der Vernichtung meines Volkes seinen höchsten Triumph. Niemals gingen so viele Menschen in einer so kurzen Zeit den Weg in den Tod wie in den ungarischen Provinzstädten in diesen Junitagen des Jahres 1944. Meine Genossen von der Budapester Waada sandten entsetzte Hilferufe nach Konstantinopel. Endlich entschloß sich die dortige Delegation, etwas zu tun. Sie erklärte, Brand sei für die Verhandlungen mit den Alliierten unabkömmlich, an seiner Stelle werde Menachem Bader nach Budapest fahren. Sie verlangten ein Visum für ihn. Eichmann schickte das Visum an die deutsche Botschaft in Konstantinopel. Aber plötzlich machte Menachem Bader, der Finanzexperte der Konstantinopler Delegation, Ausflüchte. Er lehnte es ab, die deutsche Botschaft zu betreten. Eichmann, der den anderen SS-Führern beweisen wollte, daß die jüdischen Versprechungen leerer Bluff seien, gab der deutschen Botschaft Anweisung, Menachem Bader aufsuchen zu lassen. Ein Botschaftsrat rief Bader an und verabredete mit ihm ein Rendezvous an einem neutralen Ort. Sie trafen sich in einer deutschen Buchhandlung.

„Herr Menachem Bader, wenn ich nicht irre? Wir haben Auftrag erhalten, Ihnen ein Visum auszustellen. Wir haben überdies für Ihre Reise einen Platz in unserem Kurierflugzeug belegt.“ „Es tut mir leid, ich kann nicht fahren. Ich bin palästinensischer Bürger, die englischen Behörden verweigern mir die Ausreiseerlaubnis.“

„Wir könnten Ihnen einen deutschen Reichspaß geben, aber nach alldem, was vorgefallen ist, kann ich es durchaus begreiflich finden, daß Sie es ablehnen.“ „Das kommt für mich absolut nicht in Frage."

„Es gäbe einen Ausweg. Vielleicht können Sie Dokumente eines neutralen Landes bekommen.“

Aber all das führte zu nichts. Einige Tage darauf erhielt Bader zwei Telegramme, gezeichnet von Mosche Shertok und Ben Gurion, durch die ihm als palästinensischem Bürger die Reise verboten wurde. Man werde die Verhandlungen an einen neutralen Ort verlegen. Die Konstantinopler fühlten, daß die Absage der Reise Baders die katastrophale Situation in Budapest noch verschärfen würde. Jetzt entschlossen sie sich, das Interimsabkommen, das sie nach meiner Abreise und Verhaftung über einen Monat lang zurückgehalten hatten, endlich mit der diplomatischen Post eines neutralen Staates nach Budapest zu schicken. Diese tragische Verzögerung hatte einigen hunderttausend Menschen das Leben gekostet.

Am 7. Juli traf das Interimsabkommen in Budapest ein.

Kastner und meine Frau liefen sofort ins Hauptquartier der SS. Becher erklärte:

„Himmler wird annehmen. Ich fahre nach Berlin, um es durchzusetzen.“ Eichmann befahl Kastner: „Schicken Sie sofort ein Telegramm nach Konstantinopel: , Wir sind verhandlungsbereit, nominiert Delegierte.'“

Das Eintreffen des Interimsabkommens hatte die gefährliche Reaktion der Deutschen auf die Absage Baders aufgefangen.

Auf das Telegramm Kastners nach Konstantinopel antwortete der Chef der dortigen Delegation der SodtHutk, Chaim Barlasz. Er schlug eine Zusammenkunft der jüdischen Delegierten mit den Nazis in Portugal vor. Von Seiten der Juden würden Joe Schwarz, der Direktor des Joint, und Eliahu Dobkin, Mitglied der zionistischen Exekutive, erscheinen. Die Deutschen akzeptierten.

Himmler beauftragte Becher mit der Führung der Verhandlungen. Kastner soll ihn nach Lissabon begleiten. Alles scheint gut zu stehen. Die Deportationen werden eingestellt. Unsere Leute in Budapest atmen auf. Da trifft uns ein Dolchstoß von hinten: Das englische Radio bringt am 19. Juli 1944 eine Erklärung der englischen Regierung, in der das Eichmannsche Angebot als schamlose Erpressung abgelehnt wird. Unsere Leute befürchten das Schlimmste. Aber am nächsten Tag, dem 20. Juli 1944, explodiert im Führerhauptquartier die Höllenmaschine des Grafen Stauffenberg. Dieser Schock macht die Naziführer gefügiger. Becher in erster Linie sieht das nahe Ende der deutschen Machtstellung kommen und ist bereit, seine Konsequenzen daraus zu ziehen. Meine Verhaftung wird in Budapest bekannt.

Unsere Leute in Budapest bereiten gerade das Material für die Zusammenkunft in Portugal vor, da trifft sie ein neuer Schlag. Im letzten Augenblick sagen Joe Schwarz und Eliahu Dobkin ab. Sie haben als alliierte Staatsbürger von ihren Regierungen Verhandlungsverbot erhalten. Zum Glück trifft sich diese Absage mit der Bechers. Becher hatte nach der Meldung von meiner Verhaftung Angst bekommen, in alliiertes Gebiet zu reisen. Er schlägt deshalb vor, die Verhandlungen auf französisches Gebiet zu verlegen und Biarritz als Treffpunkt zu wählen. Aber die rasche Veränderung der militärischen Situation nach der Invasion der Alliierten in Frankreich macht die Reise des SS-Führers dorthin unmöglich. Man einigt sich schließlich darauf, einander in der Schweiz zu treffen, und die Juden wählen den ungeeignetsten Mann, den man sich denken kann, den Vertreter des Joint in der Schweiz, Sally Mayer, zu ihrem Delegierten.

Verhandlungen an der Schweizer Grenze

Die Ereignisse in Budapest überstürzten sich. Täglich änderte sich die Kriegslage, täglich tauchten neue Gefahren auf. Historisch war das Schicksal der Deutschen besiegelt, aber der untergehende Apparat des deutschen Faschismus, der an allen Fronten und im Mutterland fast wehrlos die vernichtenden Schläge der alliierten Armeen über sich ergehen lassen mußte, war noch immer stark genug, um im Zusammenbrechen die letzten Reste unseres Volkes zu begraben. Als der Schock des 20. Juli vorüber war, begann Eichmann von neuem den Kampf gegen die ungarische Regierung, um die Deportierungen in der Hauptstadt beginnen zu können. In Bratislava gelang es ihm, nach dem Ausbruch des Partisanenaufstandes die Vernichtung der slowakischen Juden zu vollenden.

In dieser Situation boten die Verhandlungen zwischen der SS und den Delegierten der jüdischen Weltorganisationen die einzige schwache Hoffnung. Es klingt absurd und ist doch wahr: Die Deutschen verbrauchten trotz ihrer verzweifelten militärischen Lage einen großen Teil ihrer Energie und ihrer Hilfsmittel, um den Krieg gegen die Juden zu Ende zu führen. Es klingt noch absurder und ist ebenso wahr, daß sie bereit waren, komplizierte Verhandlungen zu führen, um ein kleines Geschäft zu machen und sich den Rest der Juden abkaufen zu lassen. Wenn man aber die Handlungen der Deutschen in dieser Zeit aufmerksam verfolgt und wenn man heute mit den überlebenden SS-Führern darüber spricht und die Dokumente prüft, dann gibt es keine andere Deutung; jede noch so sorgfältige Analyse zeigt immer wieder dasselbe: Sie waren bereit — oder, um genauer zu sein: Himmler war bereit, die Juden zu verkaufen, und zwar zu einem nicht sehr hohen Preis. Die Alliierten hätten sie kaufen können. Der Kaufpreis wäre militärisch ohne jede Bedeutung gewesen. Er hätte das Leben der deutschen Kriegsmaschine um keinen Tag, um keine Stunde verlängert.

Wenn die Führer der westlichen Demokratien damals andere Sorgen hatten, als um das Leben der letzten Juden zu bangen, dann gilt diese Ausrede doch nicht für die Führer des jüdischen Volkes. Es gab keine Aufgabe, die dringender war als diese. Niemand konnte einen anderen Weg zeigen, als Verhandlungen mit den Räubern, um diese zu bewegen, ihre Beute herauszugeben. Und doch dauerte es über drei Monate, bevor die ersten Unterhändler sich trafen. Am 19. Mai kam ich in Konstantinopel an. Am 21. August traf Sally Mayer auf der Rheinbrücke von Sankt Margareten den Vertreter des Reichsführers SS Himmler, Standartenführer Becher.

Schon die Organisation dieses Treffens war charakteristisch. Monatelang hatte man diese Frage diskutiert. Man hätte sich darauf vorbereiten können. In einer Angelegenheit, die das Leben von Hunderttausenden unmittelbar anging, hätte man erwarten dürfen, daß die SodtHuth jeden Schritt des Unterhändlers genau vorher überlegt und ihm sehr vollständige Direktiven gegeben hätte. Wie sah aber die Wirklichkeit aus?

Kastner hatte Becher dahingehend informiert, alles stehe bereit, um ein Abkommen zu unterzeichnen. Als jedoch Becher in die Schweiz fahren wollte, um Sally Mayer zu treffen, hatten ihm die jüdischen Gegenspieler kein Einreisevisum besorgt. Die beiden Delegierten, Sally Mayer und Kurt Becher, mußten einander in der Mitte der Brücke treffen. Becher wollte die Unterredung ins Schweizer Zollhäuschen verlegen, aber die Schweizer erlaubten ihm nicht, den Grenzstrich zu übertreten. Da lud er Sally Mayer in das deutsche Zollamt ein. Sally Mayer lehnte es aber ab, auch nur zehn Schritte in das deutsche Reichsgebiet zu tun.

Die Partner mußten stehend miteinander verhandeln.

Sehr bald war der Verhandlungsbereich abgesteckt. Becher: „Ich bin Beauftragter des Reichsführers der SS. Ich habe Vollmacht, ein Abkommen mit Ihnen zu paraphieren, das in Rechtskraft tritt im Augenblick, da der Reichsführer SS es bestätigt. Sind Sie bereit, die deutschen Forderungen, die Herr Joel Brand Ihnen überbracht hat, zu erfüllen?“

Sally Mayer: „Ich bin hier nicht der Vertreter des Joint, sondern der Präsident einer Schweizer jüdischen Hilfsorganisation. Ich weiß nichts von Ihren Forderungen und von den Offerten, die Herr Joel Brand überbracht haben soll. Ich bin aber bereit, mich mit den zuständigen Instanzen in Verbindung zu setzen . .. Was die Deportierung der Juden Budapests angeht, so wäre das an und für sich kein Sdilantassel, nur müßten die Deutschen endlich einmal mit der verdammten Vergasung aufhören."

Becher: „Ich werde dem Herrn Reichsführer Vorschlägen, die Vergasungen einstellen zu lassen. Unseren guten Willen in dieser Angelegenheit haben wir dadurch bekundet, daß wir eine Gruppe von 318 Juden aus Bergen-Belsen in die Schweiz fahren ließen. Der Rest dieses Budapester Transportes wird ebenfalls in kurzer Zeit das Reichsgebiet verlassen. Ich will aber hören, was Sie als Gegenleistung anbieten.“

Sally Mayer: „Können Sie nicht etwas mit Geld anfangen?"

Becher: „Nein, wir brauchen Waren.“

Sally Mayer versuchte aber, dem Vertreter der SS ins Gewissen zu reden. Schließlich erklärte er:

„Ich habe keinerlei Vollmachten, Warenlieferungen zuzusagen. Ich muß mich mit den zuständigen Instanzen in Verbindung setzen.“

Becher war wütend. Er machte Kastner, der ihn begleitete, die schwersten Vorwürfe.

„Sie haben drei Monate Zeit gehabt, diese Konferenz vorzubereiten.

Sie lochen mich da an die Grenze, und ich muß stehend im Regen verhandeln.

Und da hält man mir humanitäre Reden, so als ob ich persönlich all das veranlaßt hätte, was mir, wie Sie wissen, ebensowenig paßt wie Ihnen. Ich gebe Ihnen eine Woche Zeit, um die Sache in Ordnung zu bringen. Aber dann erwarte ich konkrete Vorschläge . .

In dieser Woche ereigneten sich große Dinge. Rumänien kapitulierte.

Die ungarische Regierung hatte schon vorher den Deutschen eine Note geschieht, in der der Abzug des Judenkommandos verlangt worden war.

Am 25. August um 8 Uhr abends bestellte Wisliceny Kastner telefonisch zu sich.

„Sie haben gewonnen, Herr Kastner, der Stab zieht ab."

Himmler hatte die Demarche der ungarischen Regierung berücksichtigen wollen, um in diesem kritischen Moment nicht den Absprung Ungarns von der Achse zu riskieren. Er befahl den Rückzug des Juden-kommandos, beließ aber die Gestapo in Budapest.

Das Judenkommando räumte seine Büros am Schwabenberg. Eichmann aber zog sich auf ein Landgut in der Provinz zurück. Er wartete auf seine Stunde. Hinter den Kulissen arbeitete bereits Wesemeyer, um das Horthy-Regime zu stürzen und den Vertreter der Pfeilkreuzler, Szälasy, an die Macht zu bringen.

Die Nachricht vom Abzug des Judenkommandos verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Juden der Hauptstadt. Alle atmeten auf.

Die zweite Besprechung an der Schweizer Grenze

Am 1. September reisten Kastner und Dr. Billitz, ein getaufter Jude, Direktor des Manfred-Weiß-Konzerns, wieder an die Schweizer Grenze. Standartenführer Becher hatte es abgelehnt, ein zweites Mal auf der Grenzbrücke zu verhandeln. Von Schweizer Seite kam Sally Meyer in Begleitung seines Rechtsanwalts Dr. Wyler. Er konnte aber wieder keinerlei konkrete Vorschläge machen. Dr. Wyler erklärte:

„Wir können Ihnen nichts Positives sagen. Wir sind nur von den amerikanischen Behörden beauftragt, nicht nein zu sagen.“

Becher hatte seinen Adjutanten, Hauptsturmführer Grüson, mit an die Brücke geschickt. Dieser wandte sich an Sally Meyer:

„Herr Mayer, wenn Sie schon nichts Konkretes bieten können, dann geben Sie doch zumindest ein Versprechen, auf das sich mein Chef, Herr Becher, berufen kann. Sonst wird es ihm unmöglich sein, sich beim Reichsführer für die Juden einzusetzen, und die Deportationen werden weitergehen. Versprechen Sie doch wenigstens, es sind doch nur Worte. Bis zur Erfüllung werden Sie ja noch Zeit haben, und inzwischen kann sich so viel ereignen."

„Ein Schweizer Bürger verspricht nur, was er halten kann“, sagte Sally Mayer.

Becher fuhr auf, als ihm sein Adjutant diesen Bericht brachte.

„Es tut mir leid, meine Herren, aber ich kann mich nicht wehr für die Juden einsetzen, als es Herr Sally Mayer zu tun gewillt ist.“

Billitz und Kastner versuchten, Becher zu besänftigen. Becher stellte seine Bedingungen.

„Es gibt nichts . mehr zu verhandeln. Ich werde in Budapest auf eine eindeutige, positive oder negative Antwort Sally Mayers warten. Bis zum Eintreffen eines diesbezüglichen Telegramms habe ich nichts zu tun. Sollte die Antwort positiv ausfallen, dann verlange ich ein Schweizer Einreisevisum, um mich mit den Vertretern der Juden an einen Tisch setzen zu können. Ich werde kein drittes Mal mich auf leere Versprechungen einlassen.“

Die Veränderung der Kriegslage wirkte sehr stark auf die Haltung Bechers. Ein Jahr zuvor hätte er sich wahrscheinlich eine solche Behandlung überhaupt nicht gefallen lassen. Jetzt aber war er am Zustande-kommen eines Abkommens aus zwei Gründen interessiert.

Schließlich war er Offizier der SS. Es war ihm also unzweifelhaft wichtig, durch einen günstigen Abschluß, der das Leben von Hunderttausenden von Juden rettete, sich selbst nach einem verlorenen Krieg eine gute Position zu schaffen. Andererseits hatte er Himmler gegenüber gewisse Versprechungen gemacht, die Verhandlungen würden letzten Endes erfolgreich ausgehen, Lastautos und andere kriegswichtige Waren geliefert werden. Es mußte ihm also peinlich sein, zugeben zu müssen, daß Eichmann recht hatte und alles nur ein jüdischer Bluff gewesen sei. In dieser Zwangslage unternahm er in der Folge alles, um die Verbindungen nicht abreißen zu lassen. Seine Untergebenen behaupten sogar, er habe seinen Kopf riskiert, indem er wissentlich den Reichsführer falsch informierte, nur um Zeit zu gewinnen und einen Rückfall in die Deportierungen zu vermeiden. Wieweit dies richtig ist, dürfte schwer festzustellen sein.

In diese Zeit fällt der Aufstand der slowakischen Partisanen. Viele Juden ergreifen jetzt die Waffen gegen die Unterdrücker. Eichmann verlangt sofort die Erlaubnis, die gesamte jüdische Bevölkerung der Slowakei zu liquidieren. Kastner wendet sich an Becher. Becher aber lehnt es ab, bei Himmler zu intervenieren.

„Ich habe an der Schweizer Grenze buchstäblich nichts erreicht. Ich kann jetzt nicht zu Himmler. Fahren Sie mit meinem Adjutanten nach Preßburg und versuchen Sie, ob Sie an Ort und Stelle etwas erreichen können.“

Nach dem Eintreffen Kastners in Bratislava beschließt die dortige Waada, im eigenen Rahmen Geld und Waren aufzubringen und Becher anzubieten als Gegenleistung für die Einstellung der Deportationen. Becher erklärt, den Preßburger Vorschlag nur dann akzeptieren zu können, wenn Sally Mayers langerwartetes Telegramm eintrifft. Aber Sally Mayer telegrafiert nicht rechtzeitig und nicht positiv genug. Die slowakischen Juden gehen zugrunde.

Am 28. September kam es zu einer dritten Grenzbesprechung, die ebenfalls erfolglos verlief. Sally Mayer ärgerte sich darüber, daß man ihn „in diese verdammte slowakische Angelegenheit hineinziehen wolle“.

Er lasse sich nicht erpressen. Schließlich versprach er Becher Geld.

Das politische Klima in Budapest hatte sich geändert. Horthy hatte den Premierminister Sztöjay, der dauernd zwischen den Deutschen und den Ungarn schwankte, entlassen und die Regierung dem liberalen General Lakatos übergeben. Lakatos bereitete den Übergang ins Lager der Alliierten vor. Horthy und er benahmen sich ähnlich wie die Verschwörer des 20. Juli in Deutschland. Ohne jede konspirative Vorsicht und ohne jede Verschwörerphantasie wollten sie die Deutschen aus Ungarn herausmanövrieren. Horthy empfing auf der Budapester Burg Delegationen der linken Parteien und besprach mit ihnen die Bildung einer demokratischen Konzentrationsregierung. Lakatos schickte den Generalleutnant Faragö, den Kommandanten der ungarischen Gendarmerie, der früher Militärattache in Moskau gewesen war, an die Front, um den Russen ein Kapitulationsangebot zu überreichen. Alle diese Schritte kannte man in den Budapester Kaffeehäusern. Die Deutschen, die durch den Absprung Bulgariens und Rumäniens gewarnt waren, hatten Zeit, Gegenmaßnahmen zu treffen.

In diesen Wochen änderte sich auch die Stellung der Juden in sehr merkwürdiger Weise. Ingenieur Komoly residierte fast in den ungarischen Ministerien. Ungarische Staatssekretäre konsultierten ihn über die Aussichten der bevorstehenden Waffenstreckung. Kastner wurde aufgefordert, in Begleitung eines ungarischen Kommunisten, der Russisch sprach, als Parlamentär mit der weißen Fahne durch die Frontlinie zu den Russen zu gehen. Es kam nicht dazu. Die Verbindungen der Waada zu den ungarischen Widerstandsbewegungen wurden verstärkt. Die Waada versorgte diese Gruppen mit Geld, falschen Dokumenten, illegalen Wohnungen, ja sogar mit Waffen und Munition. Die Chaluziw bereiteten sich auf die Möglichkeit eines bewaffneten Aufstandes vor.

Mit einemmal waren unsere Leute in Ungarn hoffähig geworden. Der Reichsverweser empfing den Präsidenten des jüdischen Gemeindeverbandes, Hofrat Samu Stern, in einer Audienz auf der Burg. Ingenieur Komoly verhandelte stundenlang mit dem jungen Horthy.

Horthy hatte beabsichtigt, ungarische Truppen aus der Provinz nach Budapest zu ziehen und dann eine Kapitulationserklärung zu verlesen.

Die Deutschen waren über seinen Plan informiert. Sie organisierten eine Provokation, um Horthy zum vorzeitigen Losschlagen zu veranlassen.

Deutsche Agenten lockten den Sohn des Reichsverwesers in eine Falle.

Er sollte angebliche Delegierte Titos treffen. Aber es erschienen Gestapo-Offiziere am Ort des Rendezvous. Es kam zu einem Kugelwechsel.

SS-Hauptsturmführer Klages wurde durch einen Bauchschuß getötet.

Aber Nikolaus v. Horthy junior wurde verhaftet.

Dieser Zwischenfall löst die vorzeitige Reaktion des Reichsverwesers aus. Am Sonntag, dem 15. Oktober, um 11 Uhr vormittags verliest, er im ungarischen Radio die Proklamation der Waffenstreckung. Er erklärt bei dieser Gelegenheit, die ungarische Nation habe nur auf das Geheiß der Deutschen die Judenverfolgungen mitgemacht. Um 13 Uhr kommt der Gegenschlag. Deutsche Truppen besetzen alle wichtigen Punkte der Hauptstadt. Sie nehmen den Reichsverweser gefangen. Im ungarischen Radio wird verkündet, die Pfeilkreuzler unter der Führung Ferenc Szlasys hätten die Regierung übernommen.

Die Regierung des Pöbels unter Leitung Szälasys war überhaupt nicht imstande, irgendeine Ordnung aufrechtzuerhalten. Entfesselte Trupps der Pfeilkreuzler mordeten und plünderten auf eigene Rechnung, wo sie nur konnten. Die Juden der Hauptstadt waren die ersten Opfer.

Zwei Tage nach dem Umsturz kehrte Eichmann in die Hauptstadt zurück.

Er befahl Kastner in sein Büro. „Nun sehen Sie, da bin ich wieder.

Sie haben sicher schon geglaubt, daß sich die Geschichte Rumäniens und Bulgariens wiederholen wird. Sie haben anscheinend vergessen, daß Ungarn im Trümmerschatten des Reiches liegt, und unsere Hände sind lang genug, um noch die Budapester Juden zu erreichen .. . Nun passen Sie mal auf. Diese Regierung arbeitet nach unseren Befehlen. Ich werde unverzüglich mit Minister Kovarcz den Kontakt aufnehmen. Die Budapester Juden werden abtransportiert, und zwar diesmal zu Fuß. Wir brauchen unsere Transportmittel jetzt für andere Zwecke .. . Oder paßt Ihnen das vielleicht nicht? Sie haben Angst, gelt? Kommen Sie dann aber ja nicht mehr mit Ihrem amerikanischen Märchen. Jetzt wird hier gearbeitet, stramm und hurtig, gelt!“ Eichmann hatte wieder die Ober-hand. Kastner wandte sich in Panik an Becher. Der aber lehnte es ab, sich gegen den neuen Kurs zu exponieren.

„Ich kann nichts machen. Ihre Freunde waren nicht einmal imstande, mir ein Schweizer Einreisevisum zu verschaffen. Wie soll ich dann glauben, daß die Auslandsverhandlungen zu etwas führen werden.“

Kastner und Billitz jagten ein Telegramm nach dem andern in die Schweiz. Endlich, am 25. Oktober, wurde das Einreisevisum für Becher erteilt.

Am 29. Oktober trafen Kastner und Billitz bei Sally Mayer in St. Gallen ein. Am 2. November kam Becher. Er erklärte Kastner, daß die „Räder rollen“.

Sally Mayer war für die Verhandlungen ungeeignet. Völlig weltfremd, reizte er nur die deutschen Delegierten durch seine humanitären Deklamationen, die von diesem Forum nicht sehr am Platze waren. Man kam nicht weiter, bis ein Mann eingriff, der ein anderes Format hatte. Der Amerikaner Roswell McClelland, der Vertreter des von Roosevelt geschaffenen War Refugees Board.

McClelland war ein junger, nüchterner Diplomat von hoher Bildung, ein Quäker und Humanist, der aber Geschäfte sachlich behandeln konnte. Er stellte es sich nicht zur Aufgabe, den Vertretern eines Mord-regimes Moral zu predigen, sondern wollte etwas tun, um das Schicksal des unglücklichen Volkes, mit dem er sympathisierte, zu wenden.

„Ich bin nicht gekommen, um Ihnen meine Meinung zu sagen über ein Regime, das den kalten Mord zur Staatsraison erhoben hat“, sagte er zu Becher. „Ich möchte helfen. Ich bin bereit, zuzustimmen, daß zu diesem Zweck 20 Millionen Franken in der Schweiz deponiert werden. Der Joint wird das Geld beschaffen. Sie brauchen Waren. Sie können aber nicht erwarten, daß der Joint Ihnen diese Waren verschaffen wird. Das Deutsche Reich soll diese Einkäufe allein besorgen. Ich behalte mir das Recht vor, diese Wareneinkäufe sowie die Gegenleistungen von deutscher Seite zu kontrollieren. Die Ausfuhrgenehmigung ist allerdings eine Angelegenheit der Schweizer Regierung. Unter Umständen wäre ich jedoch bereit, beim Bundesrat in dieser Sache zu intervenieren.“

Es kam jetzt die Rede auf die deutsche Gegenleistung. Früher hatten die Delegierten der Waada und des Joint ein ganzes Dutzend Einzel-forderungen gestellt. McClelland schob das mit einer souveränen Geste beiseite. Er verlangte von den Deutschen eine einzige Sache, die Achtung des menschlichen Lebens, den Schutz aller Zivilpersonen ohne Rücksicht auf ihre Rasse oder Religion.

Becher war, wie Kastner erzählt, vom Auftreten des Amerikaners tief beeindruckt. Er sah wohl zum erstenmal den Vertreter einer Menschen-art, die es versteht, Freiheit und Durchschlagskraft zu verbinden. Becher erklärte, er werde dem Reichsführer SS die Forderungen McClellands unterbreiten. Er sei gewiß, sie würden berücksichtigt werden. Er befahl seinem Begleiter Kettlitz, in der Schweiz zu bleiben, um die Wareneinkäufe zu beginnen.

Als Sally Mayer Becher ein Telegramm von Cordell Hull, dem Außenminister der Vereinigten Staaten, zeigte, das dem Joint die Überweisung von 5 Millionen Dollar für diese Zwecke erlaubte, war dieser restlos glücklich. Jetzt konnte er seinem Reichsführer die langerwartete Erfolgsmeldung schicken. In seinem Telegramm betonte er, er habe mit einem „Sonderbeauftragten Roosevelts“ den persönlichen Kontakt ausgenommen. Es blieb Sally Mayer vorbehalten, am nächsten Tag die Stimmung zu verderben. Kettlitz wandte sich an ihn: „Wann kommen Sie also mit dem Koffer, Herr Mayer?“

„Mit welchem Koffer?“

„Mit dem Geld natürlich!“

„Was glauben Sie eigentlich? Man wirft uns die Millionen nach?" Dabei schlug er mit der Faust auf den Tisch.

Einige Sekunden wurde es still, schreibt Kastner. Dann sagte der blaß gewordene Becher:

„Herr Mayer scheint die Nerven verloren zu haben.“

Es wurde nicht weiterverhandelt.

Auf deutschen Boden zurückgekehrt, nahm Becher sofort Kastner den Reisepaß weg.

Der,, Himi er-Befehl”

Während Becher in den folgenden Wochen sich bemühte, Himmler zur Annahme der Forderung McClellands zu bewegen, raste Eichmann in Budapest. Es begann die ärgste Zeit für die Juden der Hauptstadt. Am 8. November setzten wieder die Deportationen ein. Diesmal zu Fuß. Auf der Straße von Budapest nach Wien bewegten sich unter Bewachung von Soldaten und Pfeilkreuzlern Zehntausende von Menschen, in der Mehrheit Frauen. Wer zurückblieb, wurde niedergeschossen. Die Leute übernachteten unter freiem Himmel. Nach einigen Marschstunden warfen die erschöpften Menschen ihr letztes Gepäck weg. Nach wenigen Tagen spielten sich grauenvolle Szenen im Zuge dieser wandelnden Leichen ab. Zwei SS-Offiziere, der Generaloberst der Waffen-SS Jüttner und der Kommandant von Auschwitz, SS-Obersturmbannführer Höß, fuhren von Wien nach Budapest und wurden so Zeugen des Eichmannsehen Fußmarsches. Sie waren so entsetzt, daß sogar der Henker von Auschwitz Becher seine Empörung mitteilte. Höß kam soeben vom Hauptquartier Himmlers, wo sich gerade, nach der Meldung Bechers über die Zusammenkunft mit McClelland, die neue Orientierung des Reichsführers durchgesetzt hatte. Jüttner erteilte dem Judenkommando in Budapest am 17. November kurzerhand den Befehl, die Fußmärsche sofort einzustellen.

Die auf der Straße Befindlichen wurden zurückgeschickt. Das Ende des Fußmarsches war der erste Erfolg der Schweizer Verhandlungen. Aber am Tage darauf, am 18. November 1944, traf aus der Schweiz ein Telegramm Kettlitz’ an Becher ein, das alles wieder gefährdete.

Geld noclt nidtt erhalten. Stets neue Einwände. Bin überzeugt, daß auch nicht beabsichtigt oder nicht möglich, da Gesamtvolumen nicht vorhanden.

Becher brauste auf. In der ersten Wut wollte er sofort zu Himmler fahren und jede Verantwortung ablehnen. Aber es gab für ihn kein Zurück mehr. Er hatte die Garantie für den günstigen Ausgang der Verhandlungen übernommen und fürchtete ihren Zusammenbruch noch mehr als Kastner. Er ließ sich gern davon überzeugen, daß nur finanztechnische Gründe Schuld an der Verzögerung trügen.

Eichmann war sein Gegenspieler. Die Reinigung der deutschen Einflußgebiete von den Juden war ein Ziel, das diesem Besessenen fast mehr am Herzen lag als der militärische Sieg im zweiten Weltkrieg.

Eichmann wünschte anfangs ebenso wie Becher den Abschluß eines Vertrages, der ihm die Möglichkeit gegeben hätte, mit einem Schlag eine Million Juden loszuwerden und dafür auch noch kriegswichtige Waren zu erhalten. Nach meinem Ausbleiben aber mußte er erkennen, daß das eine Illusion war. Jetzt wandte er sich wieder dem Massenmorden zu, als einzigem Mittel, den deutschen Raum judenrein zu machen. Er war laufend über die Situation in der Schweiz durch seine eigenen Spitzel im Ausland informiert. Am 21. November befiehlt er die Wiederaufnahme des Fußmarsches. Kastner verdoppelt seine Energie. Er bestürmt Becher, sofort zu Himmler zu fahren. Die Situation an den Fronten läßt den nahen Zusammenbruch des deutschen Widerstands erwarten. Becher kümmert sich nicht mehr um die Aussichten des Handelns in der Schweiz. Er fährt nach Berlin und hat einige sehr stürmische Auseinandersetzungen mit den; Reichsführer SS. Aber er kommt zum Ziel. Am 2 5. November gibt Himmler den entscheidenden Befehl. Er ordnet die sofortige Einstellung der Judenvernichtung und die Sprengung der Gaskammern an. Er macht wörtlich die Kommandanten der Konzentrationslager persönlich dafür verantwortlich, daß das jüdische Leben von nun an respektiert werde. Dieser Himmler-Befehl, dessen Authentizität nicht bestritten wird, ist der Höhepunkt einer Entwicklung, die begonnen-hatte, als Gisi Fleischmann, die Heldin von Bratislava, von Dieter von Wisliceny, dem höheren SS-Führer in der Slowakei, zum erstenmal 25 OOO slowakische Juden loskaufte. Der Himmler-Befehl bestätigte die Richtigkeit unserer politischen Linie. Wir waren weder den Weg der polnischen Judenräte gegangen, die um kleiner Erleichterungen willen das große Ziel aus den Augen verloren und schließlich gezwungen waren, ihre Brüder an den Feind zu verraten. Wir hatten auch nicht das heldenhafte Beispiel der Aufständischen von Warschau nachgeahmt. Diese waren fast bis zum letzten Mann gefallen, um der Welt zu zeigen, daß auch Juden kämpfen können. Wir hatten uns eine bescheidenere Aufgabe gestellt: Wir wollten die letzten Reste unseres Volkes am Leben erhalten. Es gelang uns nicht ganz. Die Widerstände im eigenen Lager waren ebenso schwer zu überwinden wie der Vernichtungswille jener Gruppen des deutschen Faschismus, die nichts anderes wollten als den Völkermord. Daß der Himmler-Befehl nicht das automatische Resultat der veränderten Kriegslage war, konnte man am besten daraus erkennen, daß er bis zuletzt von denjenigen Kreisen der deutschen SS bekämpft wurde, die die Hitlersche Linie der totalen Vernichtung bis zu Ende führen wollten. Becher überbrachte selbst Kaltenbrunner, dem Befehlshaber sämtlicher Konzentrationslager, die Entscheidung des Reichsführers. Kaltenbrunner schäumt vor Wut. Er und seine Gefolgsleute, Eichmann und Müller, versuchen in der Folge mit allen Mitteln, den Befehl des Reichs-führers zu sabotieren. Sie haben damit teilweise Erfolg, weil sie darauf hinweisen können, daß die Zusagen unserer Delegierten in der Schweiz nie gehalten wurden. Ich weiß nicht, ob Sally Mayer bewußt und absichtlich das Zustandekommen eines Vertrages sabotierte, um einige Millionen zu ersparen, ob seine Haltung ihm von oben diktiert wurde, ob er selber hoffte, es werde jetzt schon ohne Gegenleistung gehen, oder ob es bloße Ungeschicklichkeit war. Was immer seine Beweggründe sein mochten, seine Handlungen waren geeignet, den Erfolg der Verhandlungen zu vereiteln. Am 27. November, also zwei Tage nach dem Himmler-Befehl, telegrafiert Kettlitz wieder an Becher: Konnte Sally Mayer seit zehn Tagen nicht mehr sprechen. Verleugnet sich am Telefon. Aufenthalt in der Schweiz zwecklos. Bitte um Abberufung. Dieses Telegramm brachte Becher in panischen Schrecken. Er hatte nach seiner Unterredung mit McClelland Himmler gegenüber die jüdischen Lieferungen garantiert. Er fürchtete jetzt für.seinen Kopf. Eichmann triumphierte. In der Konferenz, an der Kastner teilnahm, ergriff er als erster das Wort.

„Ja, ich habe das alles kommen sehen. Ich habe Becher unzählige Male gewarnt, er solle sich nicht an der Nase hcrumführen lassen. Ich kann Ihnen, Kastner, jetzt nur eines sagen. Bringen Sie diese Sache in der Schweiz binnen 48 Stunden in Ordnung. Falls ich innerhalb dieser Frist keine positive Antwort habe, werde ich das ganze jüdische Dreckpack von Budapest umlegen lassen.“

Becher, der jetzt um einen hohen Einsatz spielte, wagte es nicht, Himmler die Wahrheit zu sagen. Er beschloß, Kastner nochmals in die Schweiz zu schicken, und gab ihm seinen Adjutanten Hauptsturmführer Krell mit. Jedoch stellte er jetzt selber ein Ultimatum. Er verlangte bis zum 2. Dezember eine telegrafische Meldung, daß der Betrag von 20 Millionen eingegangen sei.

Kastner kam mit Krell Ende November in die Schweiz. Dort war alles in höchster Verwirrung. Stettinius hatte die seinerzeitige Erlaubnis des Staatssekretärs Cordell Hull, 20 Millionen Schweizer Franken für diese Aktion zur Verfügung zu stellen, rückgängig gemacht und jeden Kontakt mit den Nazis verboten. Kastner beschwor Sally Mayer, etwas zu tun, um die Katastrophe abzuwenden. Sally Mayer hatte nur vier Millionen zu seiner eigenen Verfügung. Die Adjutanten Bechers, Krell und Kettlitz, wollten Becher schon telegrafieren, wie die Sache stehe. Doch da überzeugten Dr. Billitz und Kastner sie, daß nach dem Erlaß des Himmler-Befehls es nun Becher den Kopf kosten könnte, wenn es sich herausstelle, alles sei Bluff gewesen. Es sei ihre Pflicht, ihrem Chef zu helfen, Zeit zu gewinnen. „Sollen wir deshalb unsern eigenen Kopf riskieren, indem wir falsche Telegramme abschicken? fragte Krell.

Die beiden SS-Offiziere überlegten lange und entschlossen sich dazu, es doch zu tun. Das Deutsche Reich stand vor dem Zusammenbruch, das fühlten die beiden. Sie hatten mit Becher die Aufgabe übernommen, diese Verhandlungen zu einem guten Ende zu führen, und waren jetzt schon selbst am Erfolg interessiert.

Die weiteren Verhandlungen in der Schweiz sind ein Schulbeispiel für die Zerrissenheit unserer politischen Vertreter. Es schalteten sich orthodoxe und revisionistische Gruppen ein und wollten unabhängig von. Sally Mayer über den Schweizer Bundesrat Musy mit Himmler verhandeln. Die Versprechungen, die man den Deutschen machte, wurden nie gehalten. Die 20 Millionen wurden Becher ebensowenig zur Verfügung gestellt wie die 5 Millionen. Das einzige, was Becher erreichte, war, daß man einige Bestellungen, die er in der Schweiz gemacht hatte, honorierte. Nur ein kleiner Teil dieser Waren gelangte wirklich nach Deutschland.

Vielleicht hätte man unter anderen Umständen die Geschicklichkeit der Joint-Vertreter rühmen können und ihre Fähigkeit, sparsam mit dem jüdischen Gelde umzugehen. Aber damals handelte es sich um Menschenleben. Jede Verzögerung hatte den qualvollsten Tod für Tausende zur Folge. Die slowakischen Juden gingen den Weg in den Abgrund, weil selbst Becher sich nicht mehr exponieren wollte, um sie zu retten. Ein großer Teil der Budapester Juden wurde gerettet, weil die Waada diese Verhandlungen begonnen hatte. Während Kastner in der Schweiz verhandelte, schloß die Rote Armee den Belagerungsring um Budapest. Kastner wollte noch in letzter Stunde die ungarische Hauptstadt erreichen. Er versäumte den Anschluß. In der sicheren Schweiz zu bleiben in den Tagen, da die letzten Reste seines Volkes in höchster Gefahr schwebten, erlaubte dem ehrgeizigen Mann weder sein Temperament noch sein Gewissen. Er konnte in diesem Augenblick bereits völlig auf die Unterstützung Bechers rechnen. Er beschloß deshalb, nach Deutschland zurückzukehren und Becher dazu zu bewegen, die noch im deutschen Reichsgebiet verbliebenen Juden vor der Vernichtung zu bewahren.

In Budapest übernahm ein Komitee, an dessen Spitze Ingenieur Andrej Biss stand, die Fortsetzung seiner Arbeit. Anfangs interessiert, jüdische Menschenleben gegen kriegswichtige Waren zu verkaufen, verstrickten sich Becher und seine Leute immer mehr in diese Aktion. Becher machte sie zu seiner eigenen Angelegenheit. Und obwohl mit der Zeit der Wirtschaftsstab der SS die Hoffnung aufgeben mußte, irgendwelche ernsthaften Gegenleistungen aus dem Lager der Alliierten zu erhalten, verfolgte Becher die Sache weiter. Es kam der Augenblick, wo es ihm gar nicht mehr um die „Gegenleistungen“ der Juden ging.

Er wollte mit seinem Namen die Rettung der versprengten Reste dieses Volkes verknüpfen. In den letzten Monaten des zusammenbrechenden Krieges gelingt es ihm, alles bei Himmler durchzusetzen. Himmler überträgt ihm die Kontrolle der Konzentrationslager. Becher erwirkt einen Befehl Himmlers an sämtliche Kommandanten der Konzentrationslager, die Lager kampflos den Alliierten zu übergeben. Hier handelt es sich schon nicht mehr um Juden allein. Die politischen Gefangenen aller Nationen Europas sehen in diesem Augenblick mit gemischten Gefühlen dem Kriegsende entgegen. Es verbreiten sich Gerüchte, die Deutschen hätten beschlossen, keine Zeugen ihrer Verbrechen am Leben zu lassen. Diese Gerüchte haben ihre ernsten Gründe. Ein Teil der SS vertritt diese Auffassung. An ihrer Spitze stehen die unmittelbaren Vorgesetzten Eichmanns, Kaltenbrunner und Müller. Becher, von Kastner ständig angetrieben, fährt von einem Konzentrationslager zum anderen, um den Befehl Himmlers durchzuführen. Er übergibt das Konzentrationslager Bergen-Belsen den Engländern, sogar gegen den Willen der militärischen Befehlsstellen. Dann wendet er sich nach Mauthausen. Dort bereitet der Kommandant einen Massenmord vor. Dreitausend Juden will er auf alte Donaukähne laden und diese dann versenken. Die Schächte der nahegelegenen Bergwerke hat er vermint. Die Gefangenen sollen hineingetrieben werden — es handelt sich nicht um Juden allein —, dann will er die Eingänge sprengen. Es kommt zu einem erregten Auftritt zwischen ihm und Becher. Der Kommandant erklärt, Kaltenbrunner habe den Abschnitt Süd übernommen, Himmler habe ihm nichts mehr zu befehlen. Becher setzt bei Kaltenbrunner durch, daß die Juden geschont werden. Daraufhin will der Kommandant politische Gefangene anderer Nationen auf die Donaukähne laden. Auch das verhindert Becher in letzter Minute. Aber er hat keine Zeit mehr, die Durchführung des Himmler-Befehls auch in anderen Konzentrationslagern zu prüfen. Er schickt Kastner mit Krumey nach Theresienstadt und in andere Lager, um dort die kampflose Übergabe der Gefangenen an die vordringenden Russen zu sichern.

Bechers letzte Tat in dieser Sadie entbehrt nicht einer gewissen Komik. Am 15. April sagt Becher zu Kastner:

„Ich werde in Mauthausen Ihren Dr. Schweiger befreien und bringe ihn Ihnen mit. Das soll mein persönliches Geschenk an Sie sein."

Dr. Mosche Schweiger war am Tage des Einmarsches der Deutschen in Budapest verhaftet worden. Sämtliche Interventionen der Waada scheiterten. Die Nazis brachten ihn nach Mauthausen. Dort saß er bis zum Ende des Krieges, wurde aber, weil die Leute der Waada sich dauernd für ihn verwendeten, glimpflich behandelt. Am 20. April 1945 trifft Becher in Mauth April sagt Becher zu Kastner:

„Ich werde in Mauthausen Ihren Dr. Schweiger befreien und bringe ihn Ihnen mit. Das soll mein persönliches Geschenk an Sie sein."

Dr. Mosche Schweiger war am Tage des Einmarsches der Deutschen in Budapest verhaftet worden. Sämtliche Interventionen der Waada scheiterten. Die Nazis brachten ihn nach Mauthausen. Dort saß er bis zum Ende des Krieges, wurde aber, weil die Leute der Waada sich dauernd für ihn verwendeten, glimpflich behandelt. Am 20. April 1945 trifft Becher in Mauthausen ein und befiehlt dem Kommandanten, Schweiger holen zu lassen. Schweiger ist überzeugt, das sei das Ende, und er werde wie viele andere in den letzten Tagen durch eine Petroleumspritze liquidiert werden. Er verabschiedet sich von seinen Freunden, den ungarischen Politikern, mit denen er die Baracke teilt. Im Büro des Kommandanten steht er stramm vor dem Standartenführer.

„Herr Schweiger, wenn ich nicht irre. Nehmen Sie bitte Platz, Herr Doktor. Mein Name ist Kurt Becher. Ich hoffe, Sie haben von mir gehört.“

Schweiger hat nie etwas von Becher gehört. Er wagt es nicht, sich hinzusetzen. Er glaubt, die SS-Leute wollen vor der Hinrichtung noch ihren Scherz mit ihm treiben. Becher nimmt wieder das Wort.

„Sie werden binnen kurzem befreit werden, Herr Doktor. Bis zu diesem Zeitpunkt erhalten Sie ein Separatzimmer mit besonderer Verpflegung. Sie brauchen hier niemanden mehr zu grüßen. Sie dürfen rauchen und können sich frei im Lager bewegen. Sie brauchen zu keinem Appell mehr anzutreten.“

Schweiger ist etwas benommen und will sich entfernen. Becher ruft ihn zurück.

„Herr Doktor, Ihre Garderobe ist in den langen Jahren etwas abgetragen. Ich würde Ihnen raten, sich einen neuen Anzug machen zu lassen.“

Der Lagerschneider nimmt ihm Maß. Als der Anzug fertig ist, sitzt ein Knopf schlecht, was dem Schneider einen heftigen Tadel seitens des Kommandanten einträgt.

Am 4. Mai kommt Becher und holt Schweiger im Auto ab. Becher hat noch auf einem Donauschiff zu tun, auf dem das Hauptquartier der SS untergebracht ist. Er läßt den armen Schweiger für einen Augenblick auf dem Deck allein stehen. Ein SS-Mann, der die Wache hat, bemerkt den Zivilisten.

„Wer sind Sie und was machen Sie hier?"

Schweiger fährt zusammen, legt die Hande stramm an die Hosennaht und erstattet Meldung:

Der Soldat will sich auf ihn stürzen. Da erscheint Becher.

„Wie benimmst Du Dich zu Gästen! Da läßt Du einen in der Kälte stehen. Besorg sofort heißen Kaffee!“

Verdutzt zieht der Soldat ab.

Dann geht es weiter im Personenwagen Bechers bis Weißenbach bei Bad Ischl. Becher requiriert in einem Jagdschloß ein Zimmer für Dr. Schweiger. Sie wohnen dort einige Tage zusammen, bis die amerikanischen Truppen in Ischl eintreffen. An diesem Tage sagt Becher zu Schweiger in Gegenwart eines jüdischen Zeugen:

„Ich werde wahrscheinlich in den nächsten Tagen verhaftet werden. Ich muß Rechenschaft ablegen für all das, was geschehen ist, aber ich glaube, daß ich die Prüfung bestehen werde. Vorher aber will ich noch etwas erledigen, was mir am Herzen liegt. Hier in diesen sechs Kassetten liegen Wertgegenstände, die den Budapester Juden gehören. Sie wurden meinem Stab überbracht als Gegenleistung für die Entlassung von 1 700 Leuten aus Bergen-Belsen in die Schweiz. Nehmen Sie diese Kostbarkeiten, besprechen Sie die Sache mit Dr. Kastner und Herrn Sally Mayer und geben Sie sie den Spendern zurück, wenn diese noch leben, sonst der Jewish Agency und dem Joint.“ 14)

Man öffnet die Kassetten und schüttet ihren glänzenden Inhalt vor den erstaunten Augen Dr. Schweigers und des andern auf den Tisch. Dann wird alles wieder eingepackt. Am nächsten Tage soll Inventur gemacht werden. Aber am nächsten Tag ist Becher bereits von den Amerikanern verhaftet.

Schweiger bleibt noch im Schloß und ist verzweifelt. Es sind unruhige Zeiten. Er fürchtet sich, sein Zimmer zu verlassen. Man könnte ihm die Millionenwerte stehlen.

Er schreibt Briefe an die Sodinuth in Israel, an Offiziere der jüdischen Brigade in Italien und andere, man möge kommen und ihm helfen. Man solle dieses Vermögen abholen. Man antwortet ihm nicht.

In Tel Aviv bemerkte ich unter den einlaufenden Materialien auch diese Meldung Schweigers. Es tagte gerade eine Sondersitzung der Exekutive. Ich stürzte in den Sitzungssaal:

„Wißt Ihr noch, was Ihr tut? Wie könnt Ihr solche Briefe unbeantwortet lassen! Mosche Schweiger ist kein Kind. Wenn er das schreibt, ist es wahr. Es handelt sich um das Vermögen des jüdischen Volkes. Und Ihr tut nichts.“

Schließlich wurde Dr. Nahum Goldmann beauftragt, in Europa die Angelegenheit zu prüfen und die Werte sicherzustellen.

Dr. Schweiger hielt es nicht länger aus. Amerikanische jüdische Soldaten zeigten ihm den Weg zum Counter Intelligence Corps (CIC). Dort arbeitete ein Genosse von der Poale Zion aus Polen. Schweiger meldete ihm die ganze Sache. Die Agenten des CIC kamen noch in derselben Nacht und übernahmen, wieder ohne Inventur, den Inhalt der sechs Kassetten. Sie gaben aber ein Empfangsprotokoll.

Es verging lange Zeit, bevor die jüdischen Autoritäten reagierten. Man intervenierte in Washington. Schließlich bekam man etwas zurück. Aber es war nur ein kleiner Teil der Wertgegenstände, die man seinerzeit bei den Budapester Juden gesammelt hatte 15).

Die Rettung ür Budapest

Gegen Ende November 1944 ordnete die Regierung der Pfeilkreuzler die Überführung der Budapester Juden in ein Getto an. In der ungarischen Hauptstadt hatte sich eine groteske Situation entwickelt. Einige neutrale Staaten, in erster Linie die Schweiz und Schweden, gaben vielen Budapester Juden Schutzpässe, um sie dem Zugriff der Deutschen und der Ungarn zu entziehen. Anfangs hatten diese Dokumente eine gewisse Bedeutung. Die ungarische Regierung bestätigte selbst eine beschränkte Anzahl von ihnen. Diese Regierung des Pöbels war von keinem neutralen Lande anerkannt worden. Als nun Schwedische und Schweizer Diplomaten beim Außenminister vor-stellig wurden, um sich für die Juden einzusetzen, hoffte dieser dadurch de facto diplomatische Beziehungen mit den Neutralen herstellen zu können. Er war bereit, dafür Konzessionen zu machen, stieß aber damit auf den eisernen Widerstand des ungarischen Innenministers Kovarcz, der die Mehrheit des Kabinetts beherrschte und dessen Radau-Antisemitismus die ärgsten SS-Mörder in den Schatten stellte. Die Zahl der offiziellen Schutzpässe stieg auf über 15 000. Die Dokumentenabteilung der Waada fälschte Zehntausende dazu und verteilte sie an die Verfolgten. Schließlich besaß fast jeder zweite Jude in Budapest den Schutzpaß einer neutralen Macht. Aber diese Dokumente verloren jede Wirksamkeit. Mordkommandos der Pfeilkreuzler durchzogen die Straßen und schleppten jeden Juden oder jeden, der so aussah, zum Donauufer, um ihn dort zu erschießen. In allen Teilen der Stadt fand man an jedem Morgen Leichen auf den Gehsteigen. Die ausländischen Diplomaten wetteiferten in dieser Zeit in ihren Bemühungen, den Juden zu helfen. Aber Kovarcz kümmerte sich nicht um die Zusicherungen seines Außenministers oder sogar um die Anordnungen des eigenen Ministerpräsidenten. Seine Banden beherrschten die Straßen.

Keinerlei Dokumente machten auf sie Eindruck. Sie wichen nur den Waffen der Deutschen.

In dieser Atmosphäre des Terrors haben ein Schwede und ein Schweizer sich um unser Volk dauernde Verdienste erworben: der Vertreter des Schwedischen Roten Kreuzes, Raoul Wallenberg, und der Schweizer Konsul Charles Lutz.

Am 7. Dezember erhielt Hofrat Samuel Stern eine alarmierende Nachricht. Er lebte in den letzten Wochen versteckt bei dem Redakteur einer Pfeilkreuzlerzeitung. Dieser antisemitische Journalist stürzte in Panik zu ihm und informierte ihn über den Verlauf einer Sitzung des ungarischen Kabinetts, die am Vortag stattgefunden hatte. Minister Kovarcz hatte die sofortige Ermordung sämtlicher Juden im Getto vorgeschlagen.

Premierminister Szälasy sprach sich dagegen aus. Er fürchtete die Rache der einziehenden Russen. Kovarcz wies dagegen darauf hin, daß man bei der Übergabe der Stadt keine Zeugen zurücklassen dürfe. Jeder Jude sei als Rächer der arischen Bevölkerung gefährlich. Die Mehrheit stimmte Kovarcz zu. Das Kabinett beschloß die Exekution aller Budapester Juden. Samuel Stern verständigte die führenden Leute.

In der Schweizer Gesandtschaft traten zusammen: der Präsident der fortschrittlichen jüdischen Gemeinde von Budapest (etwa SO Prozent repräsentierend), Hofrat Samuel Stern; Dr. Karl Wilhelm und Ludwig Stodder vom Judenrat; die Waada war durch Otto Komoly und Ingenieur Biss vertreten. Auch Mosche Kraus vom Palästina-Amt war im Hause.

Stern eröffnete:

„Wir sind am Ende unserer Mittel. Die Ungarn beeinflussen zu wollen, ist hoffnungslos. Da hilft kein Geld mehr und keine diplomatische Intervention. Auch Szälasy kann nicht helfen, selbst wenn er wollte.

Die Pfeilkreuzler kümmern sich nicht um seine Anordnungen. Die einzige Rettung ist eine Intervention der Deutschen bei Kovarcz.“

Er wandte sich an Komoly und Biss;

„Ihr allein könnt noch einen Versuch machen. Aber es ist keine Zeit zu verlieren. Jetzt müßt Ihr zeigen, was Eure Verbindungen wert sind. Ich selbst habe keine Hoffnung mehr.“

Ingenieur Biss machte sich auf den gefährlichen Weg durch die Stadt. Er fand Becher in denkbar schlechter Laune. Als Biss bei ihm eintrat und ihn um Intervention bei den Ungarn bat, fuhr er auf:

„Was glauben Sie eigentlich, Herr Biss? Was wollen Sie mir zumuten? Ich habe dutzendemal meinen Kopf hingchalten für Euch. Ich habe alles auf mich genommen. Ihr habt mich beschwindelt und betrogen! Wie stehe ich jetzt vor Eichmann da? Die Transporte gehen in die Schweiz, die Gegenleistungen bekommen wir nicht. Sally Mayer hat uns bisher weder Geld noch Waren geliefert. Er läßt sich vor Kettlitz verleugnen, und ich soll hier nicht nur unsere Versprechungen halten, sondern auch noch Ihre Leute gegen die Lingam schützen!"

„Herr Obersturmbannführer! Die Sache ist kompliziert. Wenn die Ungarn den letzten Rest der Budapester Juden niedermachen, dann werden die Allierten die Deutschen dafür verantwortlich machen. Es wird kein Mensch da unterscheiden. Herr Obersturmbannführer! Sie wissen doch ebensogut wie ich, wie der Krieg steht. Es hat keinen Sinn mehr, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Sie haben jetzt die Gelegenheit, etwas für uns zu tun.“

„Aber, Herr Biss, ich bin doch nicht allein. Jeder Schritt hier wird von anderen beobachtet. Wenn Sie mir wenigstens die 30 Lastwagen aus der Slowakei geliefert hätten, könnte ich mich auf etwas berufen. Ich muß doch gedeckt sein.“

„Aber die 30 Lastwagen und die Fässer stehen Ihnen doch zur Verfügung. Wir haben sie bei Steger bestellt.“

„Ich weiß nichts davon. Bringen Sie den Steger her. Er soll es bestätigen.“ Alois Steger, ein Deutschböhme, der in Bratislava lebte, hatte uns schon oft geholfen. Als im Ausland die Erlaubnis der Alliierten für die Lieferung von Lastautos nicht durchzusetzen war, beschlossen wir, in der Slowakei welche zu kaufen. Die Slowakei wurde von den Deutschen bis zum Schluß sanfter behandelt. Sie requirierten dort nichts. Steger hatte irgendwie 30 Lastwagen aufgetrieben und verlangte von uns dafür 750 000 Schweizer Franken. Die Schweizer hatten uns das Geld in einer Schweizer Bank angewiesen. Das wurde aber später rückgängig gemacht, und wir konnten Steger nicht einmal eine Anzahlung geben.

Biss warf sich in ein Auto, um das Geld aufzubringen. Die Kasse der Waada war erschöpft. Er kratzte bei Privatleuten 187 000 Schweizer Franken zusammen und brachte sie Steger. Der hatte ursprünglich 375 000 verlangt. Jetzt aber begnügte er sich mit dieser Anzahlung gegen das Versprechen, den Rest irgendeinmal in der Schweiz zu bekommen. Mit Biss fuhr er sofort zu Becher.

Unterdessen hatte Dr. Billitz, mit dem Becher private und fast freundschaftliche Beziehungen unterhielt, den Obersturmbannführer bearbeitet.

Als Biss mit Steger kam, war Bechers Ärger schon verflogen. Steger bestätigte die Abmachung und versprach unverzügliche Lieferung. Becher erhob sich und sagte zu Biss:

„Idi kann Ihnen noch nichts versprechen. Aber ich werde mein möglichstes tun.“

Beim Verlassen des Hauses trat Dr. Billitz auf Biss zu und informierte ihn über Verhandlungen Bechers mit dem höheren SS-Führer von Budapest, General der Polizei Winkelmann. Beide hatten an Himmler nach Berlin telefoniert. Mit Zustimmung Himmlers befahl Winkel-mann den ungarischen Innenminister Kovarcz zu sich; am nächsten Tag informierte Dr. Billitz die Waada-Führer über den Verlauf der Intervention.

„Die Sache ist in Ordnung. Winkelmann hat Kovarcz ausdrücklich erklärt, das Getto müsse geschützt werden. Alle Ausschreitungen seien zu bekämpfen. Keinerlei wilde Aktionen. Deutsches Reichsinteresse!“

Der pfeilkreuzlerische Innenminister gab den Abteilungen der ungarischen Polizei, die das Getto bewachten, besondere und sehr scharfe Befehle. Alle Pfeilkreuzlerbanden, die den Versuch machten, das Getto zu überfallen, seien zu entwaffnen. Die ungarischen Polizisten hielten sich strikt an den Befehl des Ministers. Sie fürchteten sich damals schon sehr vor dem Einmarsch der Russen und waren froh, daß sie sich durch ihre Haltung ein Alibi verschaffen konnten und dabei auch noch durch ihren Minister gedeckt waren. Der deutsche Befehl, das Getto zu schützen, hatte aber einen Pferdefuß. Gleichzeitig wurden nämlich alle Juden außerhalb des Gettos auf den Straßen von Budapest für vogelfrei erklärt. Das führte zu verstärkten Exzessen auf den Straßen von Budapest und zu einem organisierten Überfall auf das Lager in der Kolumbusgasse. Dieses Lager stand anfangs unter deutschem Kommando. Den Ungarn gegenüber sah es aus, als ob dort Leute für die Deportierung gesammelt würden. Nach dem Horthy-Befehl, der die Deportationen verbot, und nach dem Abzug des Judenkommandos Eichmanns in den letzten Tagen vor dem Szälasy-Putsch hatte das Lager in der Kolumbus ucta seinen rechtlichen Status verloren. Die Waada hielt aber das Lager aufrecht; Tausende von Flüchtlingen, die man sonst nirgends hätte unterbringen können, hatten dort Obdach gefunden. Man zog eine rot-weiße Fahne auf und erklärte das Lager zu einem Rote-Kreuz-Lager. Mit der Zersetzung der ungarischen Armee kamen immer mehr junge Leute, die aus den Bataillonen des Arbeitsdienstes desertierten, in das Lager. Im Lager selbst entwickelte sich eine Haganah-Stimmung. Die Jungen warteten auf den Einzug der Russen und bereiteten ein geheimes Waffenlager vor. In der Nachbarschaft befand sich eine Kaserne der Levente-Jugendorganisation. Die Instruktoren dieser Gruppen waren ungarische Offiziere, die in diesen Tagen bereits mit England sympathisierten und auf den Zusammenbruch der Deutschen warteten. Sie stellten Kontakt mit den jungen Leuten im Lager her und versteckten sogar deren Waffen. In der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember umstellten starke Gruppen von Pfeilkreuzlern und Polizei das Lager in der Kolumbusgasse, um es auszuheben. An der Spitze des Lagers stand Miklos Moskowitz, ein mutiger Mann. Er konnte nicht feststellen, ob es sich um einen unorganisierten Überfall oder eine geplante Deportierung handelte. Da gab er den Befehl, Widerstand zu leisten. Es kam zu einer Schießerei. Zwei Pfeilkreuzler fielen. Die Vergeltung war furchtbar. Maklos Moskowitz, der Lagerarzt Dr. Raffael und sein Sohn und noch ein Dutzend andere wurden abgeführt und erschossen. Alle übrigen wurden auf ein freies Feld geführt und dort bis zur Deportierung stehengelassen.

Ingenieur Biss und meine Frau eilten zum SD. Klages, der früher immer geholfen hatte, war tot. Sein Nachfolger hatte weder die Absicht noch die Fähigkeit, etwas zu unternehmen. Am nächsten Tag kam Eichmann. Biss wandte sich an ihn:

„Herr Obersturmbannführer! Sie brechen die Abmachungen! Die Aktion ist im Rollen. Kastner telegrafiert, daß das Geld in der Schweiz hinterlegt ist. Die Züge aus Bergen-Belsen sind unterwegs nach der Schweiz. Die Deportation von Tausenden von Leuten in diesem Augenblick wird alles zerstören. Sie tragen die Verantwortung. Ihr Reichsführer wird über diese Zwischenfälle hier informiert werden.“

„Aber was fällt Ihnen ein, Herr Biss. Wir halten unsere Abmachungen. Aber hier bei Euch ist eine Schweinerei los. Im Lager hat man Waffen gefunden und eine Menge waffenfähiger Männer. Zu welchem Zweck habt Ihr die da konzentriert? Die Front ist nahe. Habt Ihr etwa mit denen etwas vor? Sie werden doch nicht von mir verlangen, daß ich solche Leute in einer Stadt lasse, die verteidigt werden soll.“

Man verhandelte lange. Schließlich kam man zu einer kaum befriedigenden Abmachung. Die waffenfähigen Männer und Frauen mußten Budapest verlassen, aber in Eisenbahnwagen. Die andern kamen ins Getto. Die Männer aus der Kolumbus utea wurden nach Bergen-Belsen gebracht. Sie sollten mit den nächsten Transporten in die Schweiz. Die Frauen blieben unterwegs stecken und erreichten in mühevollen Fuß-märschen die österreichische Grenze. Sie überlebten den Krieg. Die Waada übernahm in dieser Zeit alle Funktionen des aufgelösten Juden-rats und viele andere dazu. Ihre Tätigkeit wurde von da an völlig illegal. Man bereitete sich auf die nahende Belagerung vor. Die Leute der Waada kauften Lebensmittel auf dem Schwarzen Markt an, um die geschützten Häuser und das Getto zu versorgen.

In der zweiten Hälfte Dezember schloß die Rote Armee den Ring um Budapest. Vor ihrem Abzug versuchten die SS-Leute, die Mitglieder der Waada mit sich zu schleppen. Es gelang ihnen nicht. Meine Frau wurde an allen Orten, an denen sie sich aufzuhalten pflegte, von der Gestapo gesucht. Aber sie ließ sich nicht finden. Wenige Stunden, ehe die Deutschen Budapest verließen, telefonierten sie noch einmal:

„Hier ist der SD. Wir wollen Frau Brand sprechen. Wir brauchen sie dringend. Sie soll sofort zu uns heraufkommen.“

Meine Frau, die selbst am Telefon war, antwortete: „Es tut mir leid, auch ich suche Frau Brand. Wenn ich sie finde, schicke ich sie gleich hinauf."

Aber Ingenieur Otto Komoly, der Präsident der zionistischen Landes-organisation, der am meisten geachtete unter den Führern der Waada, war bei der Befreiung nicht mehr unter seinen Kameraden. Am 1. Januar 1945 haben ihn ungarische Pfeilkreuzler verschleppt. Nie wieder hörten wir von ihm.

Die Kämpfe um die Hauptstadt zogen sich hin. Am 13. Januar 1945 hatten die Russen Pest von den Deutschen gesäubert und erreichten das Getto-Tor. Einen Monat später wurde Buda befreit.

Damit endet die illegale Arbeit der Waada. Ihre Führer tauchten aus dem Untergrund auf und bemühten sich, noch unter der russischen Besetzung den Heimkehrern aus den deutschen Konzentrationslagern Hilfe zu leisten. Dann wandten sie sich neuen Aufgaben zu.

Nach der Staatsgründung finden wir die meisten in Israel. Der Schrekken jener Zeit verblaßte. Die friedliche Arbeit am Aufbau des Landes verdrängte die Erinnerung an die Tage von Budapest.

Ich allein konnte nicht vergessen.

Anhang Diese Aktennotiz übergab die Waada der Budapester SS-Führung; sie wurde Verrechnungs-und Verhandlungsgrundlage:

Budapest, den 22. Juli 1944 Aktennotiz Bezugnehmend auf die heutige Besprechung mit Herrn Hauptsturmführer Grüson fixieren wir unsere Ansuchen in folgenden Punkten mit den darauf folgenden Motiven: 1. Wir bitten um dringendste Weiterleitung des kompletten Zuges, der aus den begünstigten Lagern in Budapest am 30. Juni abgefertigt wurde, bis an die spanische Grenze. Die Insassen dieses Zuges befinden sich derzeit in Bergen-Belsen bei Hannover, und es ist außerordentlich wichtig, daß sämtliche — gleichzeitig mit der Ankunft Ihres und unseres Vertreters — in das Ausland gelangen. Dadurch werden die psychologischen Vorbedingungen für einen raschen und günstigen Abschluß der Verhandlungen gegeben sein.

II. Wir bitten um Festsetzung des Termins für die Reise nach Lissabon, damit wir unsere Freunde in Lissabon, Madrid und Konstantinopel, deren Telegramme wir gestern und heute präsentiert haben, verständigen können. Gleichzeitig bitten wir um Ihre Hilfe bei Erlangung der nötigen Pässe und Visa für unseren Vertreter bei diesen Verhandlungen.

III. Wir möchten, wenn möglich, Herrn Dr. Kastner R. als unseren Vertreter nach Lissabon schicken, doch brauchen wir Ihre tatkräftige Mithilfe, um ihn ausfindig zu machen, weil er vor ca. drei Tagen durch Elemente, die den Abschluß unserer Abmachungen scheinbar stören oder vereiteln wollen, gewaltsam entführt worden ist und wir einstweilen noch nichts von seinem Aufenthaltsort wissen. Selbstverständlich darf das Verschwinden Dr. Kastners den Gang der Verhandlungen nicht einen Tag aufhalten, so daß wir im Notfall uns vorbehalten, an seiner Stelle andere Vertreter zu nominieren.

IV. Als wichtigste Vorbedingung für einen günstigen Abschluß in Lissabon erachten wir, wie wir dies schon öfters erwähnt haben, die einstweilige Einstellung der Judendeportationen aus Ungarn, bis — nach erfolgter Einigung — anstatt Deportation eine durch unsere Mitarbeit geregelte Auswanderung, der letzten jüdischen Reste aus Ungarn einsetzt.

V. Wir erwähnen hier als allererste und selbstverständliche Bitte unser immer wiederholtes, inständiges Drängen, die bereits aus Lingam deportierten Juden vor einer weiteren Vernichtung ihrer einzelnen Elemente oder gar ihrer Substanz zu bewahren, da einerseits die arbeitsfähigen Personen einen realen Wert auch für die deutsche Wirtschaft darstellen, andererseits die arbeitsunfähigen als erste im Rahmen unserer abzuschließenden Abmachungen ausgetauscht werden sollen. Somit repräsentieren diese: Kinder unter zwölf Jahren, Greise und arbeitsunfähige Mütter, selbst wenn sie noch kurze Zeit gewisse unproduktive Ausgaben bedeuten, einen latenten wirtschaftlichen Wert, der in aller-kürzester Zeit realisierbar wird. Übrigens sind wir bereit, in noch verstärkterem Maße als bisher, die Verköstigung dieser deportierten Juden mit in Ungarn aufgekauften Lebensmitteln zu erleichtern und auch sonst für ihre Bedürfnisse aufzukommen. Im Zusammenhang mit diesem Punkt erwähnen wir nochmals, daß bei unseren letzten Verhandlungen mit den Herren Obersturmbannführer Becher und Eichmann nicht nur ein wirtschaftlicher Wert dieser Vereinbarung festgestellt wurde. Der durch uns zu liefernde Gegenwert und vor allem die Lastkraftwagen bedeuten nämlich Ersparnis an deutschem Blut. Sie erreichen also durch uns als Gegenwert für jüdische, selbst arbeitsunfähige Personen indirekt eine Ersparnis an deutschen Lebenswerten. Eine Vergeudung der jüdischen Materie, die sich derzeit in Ihren Händen deportiert befindet, sei es aus ideologischen oder scheinbar Sparsamkeitsgründen, wäre — glauben wir — unter den oben angeführten Umständen ein Fehlgriff und ein Schaden an Ihrer eigenen Volkssubstanz. Die Motive zu den oben angeführten fünf Punkten führen wir wie folgt an:

Ad I.: Der erste Sonderzug, der sozusagen den Auftakt für eine groß-angelegte politisch-wirtschaftliche Transaktion darstellt, wurde auf Grund unserer Präliminarverhandlungen und nach Genehmigung durch Ihre höheren Behörden abgefertigt. Um uns kommerziell auszudrücken, handelt es sich hier um eine Mustersendung, die Sie als Verkäufer eines größeren Postens zunächst an den Abnehmer gelangen lassen.

Die Zahl von etwa 1600 Menschen, bei einer Gesamtquantität von etwa 600 000 bis 700 000 fällt jedenfalls kaum anders, denn als kleines Muster ins Gewicht. Prinzipiell soll der Gesamtgegenwert in Rohmaterialien, Waren und vor allem in Lastkraftwagen geliefert werden.

Trotz der außerordentlich schwierigen militärisch-politischen Hindernisse, die sich vor allem auf angelsächsischer Seite gegen diesen Plan erheben, ist es unseren Freunden im Ausland gelungen, eine prinzipielle Zustimmung der Gegenseite zu erreichen. Dies auf Grund der von unserem Abgesandten Brand gegebenen Informationen. Den Beweis bilden hierzu die Ihnen vorgelegten kategorischen Telegramme. Bezüglich der in Dollars oder Ware ausgedrückten Quote pro Kopf, die für die Auswanderer zu zahlen wäre, hatten wir mit Ihnen noch nichts Definitives verabredet. Selbst Ihre Vorschläge waren in dieser Hinsicht sehr divergierend. Während einerseits Herr Obersturmbannführer Eichmann bei einer Gelegenheit hundert jüdische Menschenleben als Gegenwert für einen Lastkraftwagen erwähnte, wurde andererseits als Maximum der — allerdings selbst die Leistungsfähigkeit unserer alles aufopfernden Freunde übersteigende — Preis von 1000 bis 1200 Dollar pro Kopf erwähnt. Aus den uns zukommenden Nachrichten ersehen wir, daß in Lissabon preislich etwa 300 bis 400 Dollar pro Kopf zu erreichen wären. Wir wiederholen, daß in erster Linie die arbeitsunfähigen Kinder unter zwölf Jahren sowie die arbeitsunfähigen Mütter und Greise ausgetauscht würden, während die übrigen in Deutschland Arbeit leisten könnten, bis auch an sie die Reihe kommt.

Ohne also bezüglich der Kopfquote eine endgültige Abmachung zu treffen, war bei Abgang des ersten Zuges vereinbart, daß wir aus eigenen Kräften Ihnen eine Gegenleistung, zunächst in Rohmaterialien, Geld und sonstigen Werten erlegen, die pro Kopf etwa Ihre höchsten — im Laufe der Verhandlungen erwähnten — Ansprüche deckt. Doch sollte dann dieser A-conto-Erlag im Laufe der Liquidierung der Gesamt-transaktion auf Basis der in Lissabon zu vereinbarenden Kopfquote verrechnet werden.

Nun haben wir bis heute in Devisen, Gold, Brillanten und ungarischem Geld etwa 1 000 000 Dollar erlegt. Der Gegenwert der bereits gelieferten oder nachweislich im Anrollen befindlichen Waren beträgt laut mitgeteilter Liste etwa 800 000 Dollar. Insgesamt also etwa 1 900 000 Dollar bereits bezahlt oder im Anrollen. Mehrere Millionen Pengö, die J. Brand schon früher erlegt hat, sind in dieser Rechnung noch nicht mit inbegriffen und werden erst nach Rückkehr von J. Brand mit Ihnen verrechnet werden.

Wir haben bei Abgang des ersten Zuges unseren Freunden im Ausland berichtet, daß der erste Zug noch vor Ankunft unserer und Ihrer Delegierten in Lissabon bereits ins Ausland gelangen wird, da ja, laut obiger Aufstellung, selbst auf Basis einer unmöglichen Forderung von 1200 Dollar pro Kopf, der Gegenwert für etwa 1600 Menschen aus unseren eigenen Kräften aufgebracht worden ist. Dieser Betrag soll dann allerdings im Rahmen der großen Transaktion die Deckung für drei-bis viermal soviel Menschen darstellen, zunächst aber soll er, bis zum Zustandekommen einer kompletten Vereinbarung in Lissabon, die Sicherstellung für den Gegenwert des ersten Transportes bilden. Wir haben dies also auf Grund der von Ihnen gemachten Zusicherungen und im Sinne der Zustimmung Ihrer höheren Behörden ins Ausland gemeldet.

Nun, da der Zug weg ist und unsere Leistungen im Gange, wird uns mitgeteilt, daß der Transport zunächst bei Hannover festgehalten wird und eine Weiterleitung nach Spanien erst nach erfolgten Vereinbarungen in Lissabon und nach Beginn der Lkw-Lieferungen beginnen kann. Diese neue Fassung Ihrer Ansprüche würde ein Zustandekommen der ganzen Abmachung in Lissabon ungünstig beeinflussen oder überhaupt in Frage stellen. Der moralische Kredit unserer Meldungen über mit Urnen getroffene Abmachungen, der schon verschiedentlich gefährdet wurde, könnte überhaupt zunichte gehen.

Wir sind schon einige Male — mehr oder minder begründet — bei unseren ausländischen Freunden als Utopisten genannt worden, da verschiedene unserer Meldungen bezüglich Einstellung der Judendeportationen aus Ungarn, weiterhin Schonung und Erhaltung der bereits Deportierten bis zum Zustandekommen unserer Austauschtransaktionen, sich sehr bald als Fehlinformation erwiesen haben. Nun haben wir auf Grund Ihrer Zusicherungen und von Ihrer höheren Behörde eingeholten Bewilligung mit materiellen und wirtschaftlichen Leistungen begonnen und erwarten hierauf Ihren großzügigen Gegenzug, der in der versprochenen Weiterleitung des ersten Transportes nach Spanien bestehen soll.

Nicht nur wir, sondern auch unsere ausländischen Freunde, die in dieser Transaktion Ihre Partner werden sollen, erwarten dies als eine Selbstverständlichkeit. Ein Fehlschlagen unserer diesbezüglichen Hoffnungen aber würde aus psychologischen Gründen ein Zustandekommen der Abmachung verhindern und eine Erschließung der uns für diese Transaktion notwendigen Kreditquellen zur Unmöglichkeit machen. Wir kämpfen heute gegen einen gewissen Skeptizismus unserer eigenen Freunde und Kreditgeber im Auslande und verlieren gleich den ersten Gang dieses Kampfes um ihr Vertrauen, wenn sich unsere Berichte über Weiterleitung der Mustersendung, trotz unserer Leistungen, nicht bewahrheiten.

Es wird uns eingewendet, daß die noch nicht erfolgte Rüdekehr von J. Brand die Weiterleitung des Zuges aus Hannover in ungünstigem Sinne beeinflusse. Wir haben schon des öfteren bewiesen, daß dies durch Paß-und Visumschwierigkeiten verursacht worden ist und daß weder J. Brand noch wir hierbei die Schuld tragen. Doch war bei Absendung des ersten Transportes die Frage der Rückkehr von J. Brand — auch sonst ausgeschaltet worden. Keineswegs wurde uns bei Beginn die schon damals überfällig war — laut gemeinsamen Übereinkommen unserer materiellen Leistungen seine dringende Rückkehr als conditio sine qua non für die Weiterleitung des ersten Transportes genannt.

Nicht unerwähnt wollen wir lassen, daß wir alle, also die Gesamtjudenschaft Ungarns — teils schon nach Deutschland deportiert, teils noch in Ungarn befindlich — in Ihrer Gewalt verbleiben und demnach Geiseln für die Einhaltung von unsererseits übernommenen Verpflichtungen bilden. Die Ablieferung des ersten Transportes von etwa 1600 Menschen ins Ausland beeinflußt die Zahl der verbleibenden 600 000 bis 800 000 unwesentlich, kann aber andererseits den Erfolg der ganzen Transaktion ermöglichen. Die Nichtweiterleitung dieses Transportes -hingegen könne hierfür einen Haupthindernisgrund bilden.

Ad II.: Wie aus den erwähnten Telegrammen hervorgeht, befinden sich unsere Freunde Schwartz und Dobkin ab heute in Lissabon und kann ein Zusammentreffen zu sofortigen Abmachungen führen. Wir müssen diese Gelegenheit baldigst ausnützen, da wir sonst später zuviel Zeitverlust haben könnten, um die entscheidenden Faktoren neuerdings zusammenzubekommen. gez.: Dipl. -Ing. Andreas Biss

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ingenieur Biss, mit dem ich darüber sprach, war anderer Meinung. Er sagte mir: „Das ist wahrscheinlich ein Selbstbetrug. Ich war dabei, als die Deutschen in Budapest die Bestände ausgenommen und bewertet haben. Die Juwelen waren zumeist nicht viel wert. Aber wir bestimmten Hauptsturmführer Grüson, der die Bestandsaufnahme leitete und der helfen wollte, viel höhere Werte einzusetzen, damit wir mehr Leute mit dem Bergen-Belsener Zug ins Ausland bringen könnten. Wenn man jetzt diese Dinge genau prüft, kommt map höchstens auf den halben Wert.“ Es ist also denkbar, daß sich die Differenz, die sich beim Auffinden der Wertsachen in den USA ergab, ganz oder teilweise so erklärt.

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