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Die Erben Stalins | APuZ 4/1957 | bpb.de

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APuZ 4/1957 Das Selbstverständnis des gegenwärtigen Zeitalters Die Erben Stalins

Die Erben Stalins

G. F. HUDSON

Der folgende Aufsatz von G. F. Hudson wurde mit Genehmigung des Verlages der englischen Zeitschrift „THE TWENTIETH CENTURY" (August 1956) entnommen.

Im Jahre 1937 suchte Stalin nach einer geeigneten Persönlichkeit, die die Verwaltung der Ukraine übernehmen könnte. Es war damals sehr schwierig für ihn, den richtigen Mann für diesen Posten zu finden, handelte es sich hier doch um das am dichtesten bevölkerte Gebiet der nichtrussischen Mitgliedrepubliken der Sowjetunion, das sozusagen im „Sturmzentrum“ der durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft hervorgerufenen Krise gestanden hatte und ständig von nationalistischen Tendenzen verseucht war, die selbst die härtesten Unterdrückungsmaßnahmen nicht hatten ausmerzen können. Auf die Ukraine richtete daher der Kreml-Herrscher sein ganz besonderes Augenmerk. Die Kontrolle dort mußte unter allen LImständen in zuverlässigen Händen ruhen. Die Männer, die bis dahin die wichtigsten Ämter in der Ukraine verwalteten, hatten die in sie von Stalin gesetzten Erwartungen nicht erfüllt: zu Anfang des Jahres 1936 lag die Leitung der Ukrainischen Angelegenheiten in den Händen von Kossior als 1. Sekretär der Ukrainischen KP, Postyshew als 2. Sekretär und Lubtschenko als Ministerpräsident. Mit der Intensivierung der großen Säuberungen im Sommer 1937 kam das Unheil auch über die Führer in Kiew. Lubtschenko mußte als erster daran glauben. Sein Nachfolger als Ministerpräsident, Bondarenko, blieb nur zwei Monate im Amt, bevor auch er liqudiert wurde. Er wurde ersetzt durch Chubar, einem Mitglied des Politbüros, der etwas länger aushielt, aber im Frühjahr 1938 ebenfalls den Weg in die Erschießungskeller antreten mußte. Ähnliche Säuberungen vollzogen sich in allen Abteilungen der Kiewer Regierung. Überall lieferte das KP-Sekretariat der NKWD die Dossiers und Denunzianten.

Das war bei Säuberungen in den Reihen der Partei durchaus Usus. Aber auch die Leiter des KP-Sekretariats wurden schließlich für „zu leicht“, befunden. Zuerst verschwand Postyshew, der ein Kandidat des Politbüros war; danach trat Kossior, ein Vollmitglied des Politbüros, den Weg ins Gefängnis, zu Verhören und schließlich zur Hinrichtung an.

Nach diesen Ereignissen war nun die Schlüsselstellung des 1. Sekretärs der Ukrainischen KP — des sozusagen wichtigsten „Vizekönigs“ außerhalb des Moskauer Zentral-Apparates — verwaist. Es war unbedingt notwendig, daß diese Stellung mit einem Mann besetzt wurde, dessen Loyalität und bedingungslose Unterwerfung Stalin gegenüber nicht in Zweifel gezogen werden konnten. Glücklicherweise war Stalin nun 1937 in der Lage, einen Mann seines vollsten Vertrauens zu ernennen. Es ist auf Grund russischer Quellen behauptet worden, daß Nikita Chruschtschow der Säuberungs-Kommission angehört hatte, die für die Beseitigung von Kossior verantwortlich gewesen war. Ob dies nun der Wahrheit entspricht oder nicht, — auf jeden Fall zog Chruschtschow sozusagen die Schuhe des Toten an und tat sich sofort hervor durch die Überschwenglichkeit seiner Ergebenheit Stalin gegenüber. Er erklärte öffentlich, er würde alle Verräter und Feinde des Volkes bis zum letzten Mann ausrotten lassen und sich so benehmen wie einst Taras Bulba, der Kosakenheld, der seinen eigenen Sohn getötet hatte, weil dieser sich in ein pol-nisches Mädchen verliebt hatte und dann zu den Polen übergegangen war. Chruschtschow hatte in den Jahren nach 1937 keine Gelegenheit, seinen eigenen Sohn hinrichten zu lassen; aber während die große Säuberung auf vollen Touren lief, stand er niemandem nach in seinem Übereifer, anderer Leute Söhne umzubringen und die Nester der die Likraine nach wie vor heimsuchenden Trotzkisten, Bucharinisten, Borotbisten, Spione, Saboteure, Abweicher, Verräter und Banditen auszurotten. Bald danach wurde jedoch die große Säuberung abgeblasen. Beria folgte Jeschow in der Leitung der Geheimen Staatspolizei. Der Massenterror ließ nach. Stalin war nun der Ansicht, daß die Partei genügend gereinigt worden sei. Chruschtschow gehörte zu den Überlebenden dieser Zeit und wurde nun als Vollmitglied des Politbüros sowie als 1. Sekretär der Ukrainischen KP einer der wichtigsten Persönlichkeiten in der Sowjetunion.

Die „Ärzteverschwörung"

Vierzehn Jahre vergingen. Anfang 195 3 befanden sich in der Umgebung Stalins nach wie vor im wesentlichen die Männer, die am Ende der großen Säuberung an der Spitze der Partei belassen worden waren. Es gab jedoch Anzeichen dafür, daß sie nicht mehr Stalins volles Vertrauen genossen. Die damalige Situation läßt sich in Chruschtschows eigenen Worten auf der Geheimsitzung des 20. Parteitages der KPdSU beschreiben, als er seine Erinnerungen wie folgt zum besten gab: „Stalin plante ganz offensichtlich die Ausrottung der alten Politbüro-Mitglieder. Er hatte oft erklärt, daß die Mitglieder des Politbüros ersetzt werden müßten. Mit seinem nach dem 19. Parteitag vorgebrachten Vorschlag hinsichtlich der Wahl von 25 Personen in das Präsidium des Zentral-komitees beabsichtigte er die Beseitigung der alten Politbüro-Mitglieder und die Neuaufnahme von weniger erfahrenen Leuten, die ihn dann auf die verschiedenste Weise verherrlichen sollten. Wir dürfen von der Vermutung ausgehen, daß Stalin mit diesem Schachzug im Grunde die spätere Vernichtung der alten Politbüro-Mitglieder im Auge hatte und so die schamlosen Maßnahmen vertuschen wollte, die Gegenstand unserer heutigen Erörterung sind.“

Von einer „Vernichtung der alten Politbüro-Mitglieder“ redete zur Zeit von Stalins Tod noch niemand. (Chruschtschow erwähnte in seiner Rede als Objekte der Stalinschen Mißgunst mit Namen nur Molotow und Mikojan; klar ist aber, daß er selber auch bei dem Schlagwort von der „Vernichtung der alten Politbüro-Mitglieder“

gemeint war.) Unmittelbar vor Stalins Tod wurde nun aber die Weltöffentlichkeit darüber informiert, daß eine Verschwörung hervorragender russischer Ärzte aufgedeckt worden sei, die die Ermordung einiger wichtiger Persönlichkeiten des sowjetischen Regimes auf dem Wege einer absichtlich falschen ärztlichen Behandlung zum Ziele gehabt und diese Methode bei den kürzlich verstorbenen Führern Schdanow und Tscherbakow bereits erfolgreich angewandt habe. In seiner Rede vor dem 20. Parteitag kommentierte Chruschtschow nun diese ÄrzteVerschwörung mit folgenden Worten: „Rufen wir uns die Affäre mit der Ärzte Verschwörung ins Gedächtnis zurück (Spannung im Saal). Tatsächlich gab es gar keine solche Affäre, wenn man von der Erklärung der Ärztin Timaschuk absieht, die wahrscheinlich unter dem Einfluß oder Befehl irgendeines Dritten — sie war schließlich eine inoffizielle Mitarbeiterin der Staatssicherheitsorgane — an Stalin einen Brief richtete, in dem sie die Behauptung aufstellte, die Ärzte wendeten falsche Behandlungsmethoden an. Ein solcher Brief genügte für Stalin, um sofort zu dem Schluß zu gelangen, daß es in der Sowjetunion Ärzte-Verschwörer gab. Daraufhin erließ er den Befehl, eine Gruppe von hervorragenden sowjetischen Spezialisten zu verhaften. .. Hier anwesend auf dem Parteitag ist als Delegierter der frühere Minister für Staats-sicherheit, Genosse Ignatiew. Ihm erklärte Stalin kurz und bündig: , Wenn du von diesen Leuten nicht Geständnisse erhältst, so wirst du einen Kopf kürzer gemacht.'(Tumult im Saal.)

Als wir nach Stalins Tod diesen „Fall“ untersuchten, stellten wir fest, daß er von Anfang bis Ende erfunden worden war.“

In dieser Darstellung von Chruschtschow verdienen drei Punkte eine nähere Betrachtung. Erstens: Obwohl die Aufdeckung der ÄrzteVerschwörung mit dem Zeitpunkt zusammenfiel, in dem Stalin nach Chruschtschows Angaben die Liquidierung der alten Politbüromitglieder plante, bringt der Redner die beiden Episoden nicht miteinander in einen Kausalzusammenhang, sondern behauptet lediglich, daß Stalin nach dem Empfang eines die Ärzte denunzierenden Briefes töricht genug war, an eine weitverzweigte Ärzte-Verschwörung in der Sowjetunion zu glauben, und die ganze Apparatur der Geständniserpressung in Gang brachte, ohne es dabei auf irgendjemanden außer den Ärzten abgesehen zu haben.

Zweitens: Chruschtschow bleibt eine Erklärung für die Tatsache schuldig, daß Ignatiew, der, wie er zugab, auf Stalins Befehl von den Ärzten durch die Anwendung von Torturen Geständnisse erpreßt hatte, auf dem Parteitag als Delegierter anwesend war, während Abakumow und andere, die Voznesensky und Kusnezow in der soge-nannten „Leningrader Affäre“ genau dasselbe angetan hatten, inzwischen „ihren Lohn erhalten hatten“, das heißt, erschossen worden waren. Zum dritten schließlich: — und das ist eigentlich das Rätselhafteste — erwähnt Chruschtschow in diesem ganzen Zusammenhang mit keiner Silbe den für jeden russischen Kommunisten ganz eindeutigen Präzedenzfall der ÄrzteVerschwörung des Jahres 1953: die Verurteilung nämlich der beiden Ärzte in dem Rykow-Bucharin-Schauprozeß des Jahres 1938 wegen Mordes an Menschinsky, Kuibyschew und Maxim Gorki. Diese Morde sollte ja damals auch durch eine absichtlich falsche medizinische Behandlung — auf Befehl des „Antistalinschen Blocks der Rechten und Trotzkisten" — herbeigeführt worden sein.

Damals handelte es sich bei der Rolle, die die Ärzte in der angeblichen Trotzkistisch-Bucharinistischen Verschwörung gespielt haben sollten, nicht um eine Reihe von Hauptakteuren, sondern lediglich von untergeordneten Helfershelfern. Man beschuldigte die beiden Ärzte nicht etwa, mit ausländischer Hilfe den Sturz der Regierung und die eigene Machtergreifung geplant zu haben — wie man das bei den Führern der früheren politischen Opposition getan hatte —; man beschuldigte sie nicht einmal der Zugehörigkeit zu einer konspirativen politischen Organisation. Nein: sie stan-den auf Grund ihrer eigenen Geständnisse damals lediglich unter der Anklage, als ganz gewöhnliche, unpolitische Berufsärzte unter dem Druck des damaligen, in geheimer Verbindung mit den „Trotzkistisch-Bucharinistischen Spaltern“ stehenden Leiters der NKWD, Jagoda, in den Mord einiger ihrer Patienten eingewilligt zu haben.

Die Erzählung Dr. Lewins

Dr. Lewin erzählte damals dem Gerichtshof, daß Jagoda mit der Vernichtung seiner ganzen Familie gedroht habe, wenn er ihm nicht zu Willen wäre: „Er erklärte immer wieder, daß meine Weigerung, diese Sache durchzuführen, den Ruin für mich und meine ganze Familie nach sich ziehen würde. Ich kam zu dem Schluß, daß es für mich keinen Ausweg gab, daß ich mich Jagoda zu beugen hatte. Wenn Sie die Dinge rückschauend betrachten und heute auf das Jahr 1932 zurückblicken, wenn Sie sich klarmachen, wie allmächtig Jagoda mir, der ich nicht der Partei angehörte, erscheinen mußte, dann war es natürlich sehr schwer für mich, seinen Drohungen und Befehlen auszuweichen.“

(Protokoll der Gerichtsverhandlungen über den Anti-Sowjetblock der Rechten und Trotzkisten.

Seite 518.)

Durch dieses Geständnis vernichtete Dr. Lewin nicht nur sich selber (er wurde selbstverständlich zum Tode verurteilt), sondern häufte auch weitere Verbrechen auf die Köpfe der führenden politischen Angeklagten in diesem Prozeß, das heißt, auf Rykow, Bucharin und Jagoda. Schließlich schlug Dr. Lewin damit auch laut und vernehmlich einen weiteren Nagel in den politischen Sarg des verbannten Trotzki. Natürlich war Stalin nicht hinter Dr. Lewin her; dem Diktator im Kreml kam es gar nicht darauf an, ob der Mann tot oder lebendig war. Die Jagd wurde nach dem großen politischen Wild veranstaltet: diese Tatsache war damals nicht nur den „Gläubigen“ klar, die wirklich der Ansicht waren, daß Stalin als der unbeirrbare Champion der kommunistischen Sache ständig durch Verschwörungen bedroht wurde, sondern genau so auch den Zynikern, die vermuteten, daß Stalin alle diese Dinge erfand, um potentionelle Rivalen bei der Ausübung seiner Macht zu vernichten. Auf jeden Fall konnten die unpolitischen Ärzte, die des politischen Mordes schuldig geworden waren, nur die angeblichen oder tatsächlichen Werkzeuge der konspirierenden Politiker sein.

Als daher Anfang 1953 eine neue ÄrzteVerschwörung bekannt gegeben wurde, überlegte sich jeder in Erinnerung an 1938, wer diesmal für die damals von Trotzki, Bucharin, Jagoda und anderen berühmten Angehörigen der teuflischen „Spalter-Gruppe der Rechten und Trotzkisten“ übernommene Rolle auserkoren sei. Die besten ausländischen Kenner des sowjetischen Spieles sagten damals eine neue große Säuberung voraus, während Hunderttausende von ergebenen Kommunisten in der Sowjetunion gläubig auf die baldige Demaskierung der bösen Anstifter der Ärzte-Verschwörung warteten. Sie wußten ja — und das war schließlich seit zwanzig Jahren ein unumstößlicher Glaubenssatz gewesen — daß die alles überragenden Parteiführer dauernd durch Verschwörungen der Volksfeinde sogar innerhalb des Politbüros selber bedroht waren.

Hegten nun aber diese bösen Anstifter damals nicht gleich den Verdacht, daß sich das Netz um sie zu schließen begann? Wenn wir Chruschtschows Bericht Glauben schenken sollen, so machte sich die alte Politbüro-Garde keine Illusionen über das ihnen von Stalin zugedachte Schicksal. Darüber hinaus ist es gut möglich, daß sie damals ganz besonders gewarnt worden waren. Die Tatsache nämlich, daß Ignatiew dem 20. Parteitag als Delegierter beiwohnte, anstatt wie Abakumow in seinem Grabe zu ruhen, deutet darauf hin, daß er denjenigen, die nach Stalins Tod die Macht übernahmen, vielleicht irgendeinen guten Dienst erwies. Sollte die alte Politbüro-Garde damals gewarnt worden sein, so bedeutete das allerdings für sie noch keine Sicherheit. Stalin hielt schließlich die ganze Macht des Staates in seinen Händen. Die von ihm als neue Opfer Auserkorenen konnten nicht ruhig sein, solange er noch am Leben war. Welch glücklicher Umstand also, daß Stalin unmittelbar darauf starb!

Der Tod Stalins kann nicht Gegenstand der historischen Forschung sein. Es gibt darüber keinerlei Beweise außer denen, die der Welt amtlich durch seine Erben bekannt gegeben wurden. Es ist gut möglich, wenn auch kaum anzunehmen, daß er eines völlig natürlichen Todes starb. Die freudige Erregung bei dem Gedanken daran, daß er demnächst Molotow, Chruschtschow und Beria mit Kugeln durchbohren lassen würde, mag wohl bei einem Mann in seinem Alter genügt haben, um einen Schlaganfall herbeizuführen. Ob Stalin nun aus diesem Leben auf die Weise schied, die uns seine Nachfolger als glaubwürdig hinzustellen suchen, oder ob alles ganz anders war, — auf jeden Fall mußte das Datum seines Todes einer Generation von Parteimitgliedern verdächtig erscheinen, die mit Hilfe einer „Diät“ aufgezogen worden war, die aus Moskauer Schauprozessen und ständig geforderter revolutionärer Wachsamkeit bestand. Es war doch wirklich seltsam, daß der große Mann gerade zu dem Zeitpunkt starb, als eine weitverzweigte Verschwörung gegen Partei und Staat teilweise aufgedeckt worden war. Was aber noch seltsamer erscheinen mußte war die Tatsache, daß sich die Nachfolger Stalins — die neue Kollektivführung — sofort daran machten, die Anklagen gegen die Ärzte aufzuheben und in aller Öffentlichkeit zu erklären, daß der ganze Fall von der Geheimen Staatspolizei erfunden worden war, und man von den Angeklagten falsche Geständnisse erpreßt hätte.

Man hat gemeinhin angenommen, daß die Revision der ganzen Farce der Ärzte-Verschwörung durch die neuen Machthaber ausschließlich mit einem Streben nach Gerechtigkeit zu erklären sei und somit die erste Manifestation einer Entschlossenheit darstelle, den bösen Praktiken des toten Meisters ein Ende zu bereiten. Träfe diese Annahme wirklich zu, so verdienten die neuen Männer größtes Lob dafür, daß sie so plötzlich diesen scheinbaren Eifer nach Rechtschaffenheit entwickelten, nachdem sie so viele Jahre hindurch die Vernichtung unschuldigen Lebens geduldet, oder sogar selber aktiv gefördert hatten. Man muß jedoch nicht über Gebühr zynisch sein, um die These zu wagen, daß ihnen ihre eigene Sicherheit auch sehr wesentlich am Herzen gelegen haben mag.

Selbst wenn man den ganzen „Fall“ ohne einen neuen öffentlichen Prozeß erledigt hätte, so wäre man um die Bekanntgabe eines revidierten Urteiles in irgendeiner Form nicht herumgekommen; solange die Geständnisse der Ärzte nicht als falsch entlarvt waren, hätten sie unter LImständen später von Anführern eines „coup d’tat" gegen die neue Führung als Waffe verwendet werden können. Es mußte daher im Interesse dieser Führung liegen, die ganze Affäre durch die Erklärung aus der Welt zu schaffen, daß an ihr überhaupt nichts Wahres gewesen sei. Es ist gut möglich, daß Beria bei dieser Entscheidung die führende Rolle spielte; denn die frühere Verlautbarung zur Zeit Stalins, daß der Fall die Nachlässigkeit der Sicherheitsorgane an den Tag gebracht habe, war allgemein als Eingeständnis der Beteiligung Berias an der Verschwörung ausgelegt worden.

Dadurch, daß die Ärzteverschwörung aus der Welt geschafft worden war, ließ sich jedoch das ganze Problem keineswegs endgültig lösen. Das Eingeständnis einer Erpressung falscher Geständnisse durch die NKWD in einem Fall von solcher Bedeutung mußte notgedrungen dazu führen, daß zum ersten Male ernstliche Zweifel aufkamen in bezug auf die lange Liste der früheren Staatsprozesse, bei denen die Schuld der Angeklagten ausschließlich auf Grund von eigenen Geständnissen, ja unter Umständen sogar nur auf Grund der offiziellen Bekanntgabe dieser Geständnisse fixiert worden war. Diejenigen nun, die in der Stalin-Ära nicht zu den hundertprozentig Gläubigen gehört hatten, fühlten sich durch die amtliche Eröffnung, daß ein „Fall“

auf solche Weise von der Polizei erfunden werden konnte, in ihrem schon früher gehegten Verdacht bestärkt, daß die Opfer der Säuberungen nicht immer der ihnen zur Last gelegten, ungeheuren Verbrechen schuldig gewesen waren;

wenn die NKWD in dem einen Fall so vorgegangen war, schien es dann wahrscheinlich, daß sie es früher noch nie getan hatte? Bei den „stahlharten" Kadern, die — wie das von allen guten Parteimitgliedern verlangt wurde — immer alles geglaubt und immer gehorcht hatten, wirkte sich die Logik der ganzen Angelegenheit jedoch in der genau entgegengesetzten Richtung aus: diese Gruppe zog nunmehr auf Grund der als Fälschung entlarvten Aktion der Sicherheitspolizei nicht etwa auch die Echtheit der früheren Aktionen in Zweifel. Vielmehr führte die angenommene Echtheit der Anklagen in den früheren Ärztefällen — bei denen keine politische Autorität nachträglich eine Revision des Urteils vorgenommen hatte — zu der mehr oder weniger zwingenden Annahme, daß auch in der Ärzteverschwörung des Jahres 19 5 3 die Organe der Staatssicherheit ihre Pflicht getan hatten, und daß die Anklagen lediglich im Interesse derjenigen rückgängig gemacht worden waren, die etwas zu verbergen hatten. Schließlich bürgte die Autorität Stalins selber für die Echtheit der Aufdeckung und Bekanntgabe einer Verschwörung; Stalin war dann ganz plötzlich gestorben, und sofort erklärten seine Nachfolger, daß die ganze Verschwörung erfunden gewesen sei. Es bedurfte keines übermäßig mißtrauischen Hirnes, um zu dem Schluß zu gelangen, daß es mit Stalins Tod nicht seine volle Richtigkeit hatte. (Man muß dabei bedenken, daß die Mitglieder der herrschenden Partei seit Jahrzehnten in einer revolutionären Wachsamkeit trainiert, das heißt dazu erzogen worden waren, praktisch hinter jeder Mauer oder Wand nach einem Verschwörer Ausschau zu halten.) Es war natürlich ziemlich gefährlich, solche Gedanken laut auszusprechen, da die Erben Stalins nunmehr im Besitz der ganzen Macht im Staat waren. In einer totalitären Gesellschaft können geheime Gedanken sich jedoch wie Ströme unter der Erdoberfläche verbreiten und dann solange überhaupt nicht zu Tage treten, bis sie durch irgendeinen Anlaß nach oben gespült werden, Die jüngsten Ereignisse deuten darauf hin, daß sich so etwas ähnliches in bezug auf die inoffiziellen Spekulationen in der KPdSU über den Sturz des „großen Führers der Völker“, des „weisesten aller Menschen" und des „größten Genius aller Zeiten“ zugetragen hat, von dem dreißig Jahre lang geführt zu werden man das große Glück gehabt hatte.

Ein Mythos wird gestürzt

Die Erben Stalins hatten zunächst erst einmal den Vorteil, daß sie am Leben, er jedoch tot war. Er konnte ihnen nichts mehr anhaben, das heißt, so wenigstens dachte man es sich. Zweifellos waren sich die Erben des warnenden Spruches voll bewußt: „Gesegnet ist, wer im Streit die Gerechtigkeit auf seiner Seite hat — dreimal gesegnet jedoch der, der als erster zuschlagen kann.“ Der Stalin-Mythos blieb jedoch nach dem Tode des Meisters bestehen. Obwohl die offizielle Begeisterung bei den Stalin-Gedächtnisfeiern leicht abnahm — ein Faktum, das ausländischen Korrespondenten nicht entging — fand beinahe drei Jahre lang keinerlei Angriff auf diesen Mythos statt; dann kam am 20.

Parteitag plötzlich Chruschtschows Abrechnung, die offensichtlich nicht nur die geschichtliche Größe Stalins schmälern, sondern ihn gleichzeitig auch zum Gegenstand des Abscheus und der Verachtung machen sollte. Jeder, der heute die Bedeutung der Chruschtschow-Rede abzuschätzen versucht, muß sich die fundamentale Frage vorlegen, warum dies alles so spät kam.

Wenn es sich im Jahre 1956 als notwendig erwies, das Idol zu stürzen, warum nicht schon 1954 oder 195 5? Lind wenn Stalins Erben drei Jahre lang erfolgreich neben dem Kult ihres früheren Meisters „ko-existieren" konnten, durch welche Ereignisse wurden sie dann anläßlich des 20. Parteitages zu einer so virulenten Absage an diesen Mythos bewogen?

Die Plötzlichkeit, mit der die Revision der bisherigen Parteidoktrin in bezug auf Stalin vorgenommen wurde, kommt einem erst dann voll zum Bewußtsein, wenn man bedenkt, daß dem toten Meister noch zwei bis drei Monate vor der Eröffnung des Parteitages höchste Ehrerbietung gezollt wurde. Eine Studienveröffentlichung der Akademie der Wissenschaften vom Winter 195 5/56 über den „Großen Vaterländischen Krieg“ glorifizierte Stalin noch in dem traditionellen Stil. Ein Artikel eines gewissen Kosalopow in der „Literaturnaja Gazeta“ vom 22. Dezember 195 5 ging sogar noch so weit, bei Stalin jede innere Beziehung zu der Idee des „Personenkultes“ zu leugnen, ja den toten Diktator geradezu als den entschiedensten Gegner dieses Kultes herauszustellen. Im einzelnen hieß es in diesem Artikel, Stalin habe das Manuskript für ein Buch mit dem Titel „Geschichten aus Stalins Jugend“ abgelehnt, weil darin seiner Person „unverdientes Lob“ gezollt worden sei. Stalin soll — dieser Quelle zufolge — dem Veröffentlichet in spe erklärt haben:

„Der entscheidende Gesichtspunkt ist der, daß dieses Buch die Tendenz hat, in den Köpfen der Kinder — und der Bevölkerung der Sowjetunion ganz allgemein — den Personenkult zu festigen. Der Führerkult, der den Helden gegenüber den Massen herausstreicht, ist nicht eine bolschewistische, sondern eine Sozialrevolutionäre Doktrin. Die Sozialrevolutionäre glaubten, daß ein Volk von seinen Helden geformt wird, während die Bolschewisten glauben, daß es das Volk ist, das die Helden formt. Dieses Buch ist Wasser auf die Mühlen der Sozialrevolutionäre; es wird daher unserer bolschewistischen Sache schaden. Mein Rat geht dahin: verbrennt (t es.

Es ist wirklich kaum anzunehmen, daß die Spitzen der Partei die weitere Verbreitung solcher Art von Propaganda in Publikationen erlaubt hätten, die der strengsten inoffiziellen Kontrolle unterliegen, wenn ein Generalangriff auf das Stalinbild in der auf dem 20. Parteitag dann von Chruschtschow tatsächlich vorgetragenen Form schon vor Ende des Jahres 19 5 5 eine beschlossene Sache gewesen wäre. Selbst wenn man aber zugesteht, daß die neue Führung in keiner Weise den Boden für einen Angriff auf Stalin durch einen veränderten Ton in den Verlautbarungen in Büchern und Zeitschriften bereiten wollte, dann fehlt immer noch die Erklärung dafür, daß man die Führer der nicht-sowjetischen KPs nicht einmal bei der Eröffnung des Parteitages über den beabsichtigten, ungeheuer bedeutungsvollen Schritt unterrichtete, geschweige denn, sie vorher konsultierte. Tog-liatti hat erklärt, er hätte keine Ahnung davon gehabt, daß man Stalin „verurteilen“ würde. Chu-The, der Rangzweite der Würdenträger der KP Chinas ging in seiner Ansprache als Genosse-Delegierter auf dem Parteitag in seinen Hinweisen auf den toten Diktator ganz offensichtlich noch von dem Glauben aus, daß bei seinen sowjetischen Gastgebern höchste Lobpreisungen Stalins nach wie vor erwünscht seien. Selbst wenn man der Unhöflichkeit und Taktlosigkeit auf Seiten der Führung der KPdSU soweit wie nur irgend möglich Rechnung trägt, ist es doch höchst ungewöhnlich, daß man ausländische Kommunisten von der Bedeutung eines Togliatti oder Chu-Teh über die beabsichtigte Maßnahme nicht vorher in Kenntnis setzte. Dafür gibt es nur eine Erklärung: daß nämlich die Entscheidung, die zu Chruschtschows Rede auf der Geheimsitzung führte, nicht älteren Datums war, sondern tatsächlich erst kurz vor zwölf, wenn nicht vielleicht sogar erst im Laufe des Parteitages selber gefällt wurde.

Die Frage des Persönlichkeitskultes

Es bestand keinerlei Veranlassung dafür, Stalin als ein Scheusal nur deshalb hinzustellen, weil man den Persönlichkeitskult überwinden wollte. Chruschtschow erklärte ja, daß das Zentralkomitee der Partei die Weitergabe der von ihm bekanntzugebenden Informationen an den Parteitag beschlossen habe, weil „die letzten praktischen Auswirkungen des Persönlichkeitskultes bis jetzt noch nicht von allen verstanden worden sind“. Für jeden Lebenden konnte jedoch die einzige praktische Auswirkung eines Persönlichkeitskultes nur darin bestehen, daß nunmehr die Macht und der Ruhm von Chruschtschow selber vermehrt werden würden.

Schließlich war er ja zur Zeit des 20. Partei-tages der einzige, der überhaupt in der Lage war, eine autokratische Macht über die KPdSU auszuüben. Ein Studium seiner Rede vor dem Parteitag läßt es als sehr unglaubhaft erscheinen, daß er seine Zuhörer lediglich davor warnen wollte, ihn selber mit zu viel Autorität auszustatten. Stalin weilte schon seit drei Jahren nicht mehr unter den Lebenden; ihm konnte daher auch nicht mehr selber irgendein noch bestehender Kult seiner Persönlichkeit zugute kommen; er war genau so tot wie Lenin, dessen Einbalsamierung auf dem Roten Platz die erste und entscheidendste Manifestation einer Tendenz zur Vergötterung im sowjetischen Regime gewesen war. Wenn es auf der anderen Seite Chruschtschow nur um die praktischen Auswirkungen des Personenkultes zu Lebzeiten Sta-lins zu tun war, was könnte dann diesen sehr pragmatisch veranlagten Politiker dazu bewogen haben, sich so ergiebig und ausführlich mit einer Geschichtsperiode zu befassen, die ein für allemal zu Ende gegangen war? Wenn unschuldige Menschen getötet worden waren, so konnten sie jetzt durch nichts mehr wieder zum Leben erweckt werden. Dann war es doch sicherlich besser, ihre Verurteilungen in den Augen der Nachwelt als rechtens bestehen zu lassen, zumal da sie ja seiner Zeit von den höchsten Organen des sowjetischen Parteistaates bestätigt worden waren. Seit Jahren schon hatten die Anti-Kommunisten schwere Anschuldigungen gegen die Herrschaft Stalins erhoben. Das war dann jedesmal von den guten Kommunisten und Mitläufern der kommunistischen Sache in der ganzen Welt als üble Verleumdung und Lüge hingestellt worden. Zu was konnte es nutzen, daß man nun die Dossiers erneut unter die Lupe nahm und der ganzen Welt erklärte, die Kommunisten hätten die ganzen Jahre hindurch eine unwürdige Sache verteidigt, ihre Feinde dagegen recht gehabt? Wenn man es aber schon als notwendig erachtete, gewisse, nach kommunistischen Maßstäben schuldlos hingerichtete Parteiführer zu rehabilitieren, so war es doch nur zu leicht, die Schuld dafür Beria zuzuschieben, der in der Retrospektive jetzt amtlich als ein imperialistischer Agent und „Feind unserer Partei“ galt.

„Stalinismus"

Die Demaskierung Stalins war auch in keiner Weise etwa deshalb nötig, weil man mit einer Ideologie des „Stalinismus“ aufräumen wollte, die sich für die Politik seiner Erben als hinderlich erwies. Diese Erben waren ja schon als Kollektivführung drei Jahre lang an der Macht und hatten die ganze Zeit nach ihrem Gutdünken schalten und walten können, ohne daß sie irgendeine Opposition herausgefordert hätten, die man als spezifisch stalinistisch bezeichnen konnte. Im wesentlichen hatten sie selber Stalins Politik weiter betrieben. Das mußten sie ja schon tun, wenn sie dazu entschlossen waren, die Diktatur der KP aufrechtzuerhalten, den sogenannten „Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus“ weiterzufühlen, die von Stalin den Satelliten-Staaten aufgezwungene Herrschaft zu erhalten und schließlich auch die Wiedervereinigung Deutschlands auf der Basis der politischen Freiheit zu verhindern. Es hatte natürlich Veränderungen gegeben; diese waren jedoch am auffallendsten in der Zeit unmittelbar nach Stalins Tod gewesen und seitdem sogar eher wieder rückgängig gemacht worden. Der wichtigste Aspekt des „Neuen Kurses“ auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik — die unter Malenkow eingeleitete Verlagerung des Schwergewichtes hin zu den Verbrauchsgütern — war wieder fallengelassen worden, da vor allem Chruschtschow für eine Rückkehr zum Vorrang der Schwerindustrie eingetreten war. Der Polizeiterror hatte tatsächlich abgenommen. Das galt ebenso für die größten Spannungsmomente der Stalin-Ära schlechthin. Obwohl nicht nur die Bevölkerung ganz allgemein, sondern auch die Parteimitglieder die bescheidene Besserung auf dem Sektor der persönlichen Freiheit und Sicherheit begrüßt hatten und dadurch der neuen Führung ein beachtliches Maß an Popularität zuteil geworden war, stand diese Entwicklung jedoch keineswegs zwangsläufig im Widerspruch zum „Stalinismus“, oder trug etwa zu einer Zertrümmerung des Stalin-Mythos bei.

Das Ausmaß der Unterdrückung war in der Ära der Stalin-Herrschaft immer sehr schwankend gewesen. Stalins Bewunderer konnten durchaus das Argument ins Feld führen, daß die Härten dieses „heroischen Zeitalters“ unvermeidlich gewesen waren (da ja jede Opposition gegen den Sozialismus unterdrückt und die Niederlage des Faschismus sichergestellt werden mußte), und daß die neue Generation gerade deshalb ein leichteres Leben genießen konnte, weil der „Mann von Stahl“ in der Vernichtung der Gegner des Regimes so unversöhnlich gewesen war. Vom Gesichtspunkt der kommunistischen Lehre über die Anpassung der Methoden und der Taktik an eine sich verändernde Lage gab der Mythos von Stalin als dem großen Führer des sowjetischen Volkes und des Weltkommunismus in den grimmigen dreißiger und vierziger Jahren den Bossen des Jahres 1956 keinerlei Veranlassung, auf einen Kurs zurückzugreifen, von dem man heute annahm, daß er bereits 1936 oder 1946 den Interessen der Partei besser gedient hätte. Mit anderen Worten: Chruschtschow hatte für alle irgendwie von ihm ins Auge gefaßten Reformen freie Fahrt, ohne daß er vor dem Gespenst eines Stalin Angst zu haben brauchte.

Dieses Gespenst war für Chruschtschow nur gefährlich in einem einzigen Gewände: in dem Gewand nämlich eines Ermordeten, mindestens aber eines Mannes, dessen Ermordung man annehmen konnte. Nur bei einer Gelegenheit stand nun aber überhaupt zu erwarten, daß ein solcher Glaube an einen Mord sichtbar werden könnte: bei einer Zusammenkunft nämlich von Delegierten aus der ganzen Sowjetunion aus Anlaß eines Parteitages. Ein Parteitag ist für die kommunistische Führung immer der kritische Moment; dann muß die normalerweise bestehende, bürokratische Kontrolle von Seiten der Spitze schamvoll mit der Theorie eines demokratischen Zentralismus in Einklang gebracht werden. Selbst wenn die Delegierten vielleicht ganz individuell auf ihre Unterstützung für die sich bereits an der Macht befindliche Clique hin ausgesucht worden sind, so kommen sie doch nach Moskau als Vertreter der Partei in ihrer Gesamtheit. Sie treffen dann andere Delegierte aus allen Teilen der Sowjetunion, sprechen mit ihnen und befinden sich dadurch nicht in ihrer üblichen Rolle der bloßen Empfänger von Informationen und Instruktionen der zentralen Apparatur. Zusammen gewinnen sie vielleicht mindestens außerhalb der formalen Sitzungen des Parteitages ein wenig mehr an Mut als das bei jedem isoliert der Fall wäre. Auch sprechen sie vielleicht ein wenig dem Alkohol zu und werden dadurch ganz wie Chruschtschow selber dazu veranlaßt, Dinge zu sagen, die sie nüchtern nicht aussprechen würden. Der 20. Parteitag war nun der erste seit dem Tode Stalins. Die öffentlichen Sitzungen waren ein wahres Muster an Disziplin. Von den 89 Delegierten, die Reden hielten, waren bis auf sechs alle Mitglieder der höheren Parteiorgane. Ein Kommentator des polnischen Rundfunks schilderte jedoch unmittelbar nach der Beendigung des Parteitages ganz andere Eindrücke. Er sprach davon, daß „alle Delegierten“ die Probleme ihres Gebietes diskutiert und ihre Vorgesetzten kritisiert hätten. Wir erhalten hier Einblick in einen Parteitag, auf dem es hinter den Kulissen turbulent zuging — mag er sich nach außen auch noch so geschlossen gegeben haben. Die Klagen der kleinen örtlichen Parteigrößen, die hier aus den Provinzen beisammen waren, betrafen zweifellos unwesentlichere Dinge der örtlichen Verwaltung. In einer Atmosphäre der Massen-Aussprache und Gereiztheit konnte jedoch sehr wohl der Gedanke laut werden, daß die Männer an der Spitze nicht besser als Hamlet's Onkel seien. Sollte dies Chruschtschow berichtet worden sein, so hätte er damit tatsächlich allen Grund gehabt für den von ihm dann plötzlich eingeschlagenen Kurs, das heißt, für die Zer-trümmerung des Stalin-Mythos durch einen Großangriff auf den Ruf des toten Diktators. Dieser Großangriff war dann darauf angelegt, keinen anderen Schluß als den zuzulassen, daß die Männer in der Umgebung Stalins den Diktator eigentlich hätten töten sollen. Es gibt keinen direkten Beweis dafür, daß sich die Dinge tatsächlich genau so abspielten. Es läßt sich aber keine andere These aufstellen, die hinreichend erklären würde, warum Chruschtschow ganz plötzlich und ohne jede Warnung selbst an die Führer der anderen kommunistischen Parteien, den Mann von einem Helden in ein Scheusal verwandelte, der den Sowjetstaat dreißig Jahre lang regiert und den Kommunismus für eine ganze Generation sowohl von Anhängern wie von Gegnern dieser Sache verkörpert hatte.

Ein hoher Preis

Was auch immer das Motiv für Chruschtschow’s „coup de thtre" gewesen sein mag: auf jeden Fall mußte dafür ein Preis gezahltwerden. Chruschtschow selber hat vielleicht im Augenblick seines Erfolges — als den Delegierten bei ihrem Sturz von einem „siebenten Himmel“ schwindelte — nicht ganz ermessen, wie hoch dieser Preis sein würde. Es war keine Kleinigkeit, den Mythos des Mannes zu zerstören, der für ungezählte, verschworene Kommunisten der Mittelpunkt ihres Glaubens und der Anker ihrer Treue gegenüber der kommunistischen Sache gewesen war. Die Verurteilung Stalins kam der Feststellung gleich, daß sich die angeblich unfehlbare Partei dreißig Jahre lang auf dem falschen Wege befunden hatte, und zwar gerade in den Jahren, in denen Rußland sich das Stadium des Sozialismus erkämpft, eine große moderne Industrie geschaffen, Hitler besiegt und den Kommunismus über ganz Osteuropa ausgebreitet hatte. Von einer Rückkehr zum Leninismus zu reden war auch ganz zwecklos, da durch einen Rückgriff aef das Jahr 1923 der Zeiger der Geschichte in einer Weise zurückgedrängt wurde, die die Marxisten am wenigsten rechtfertigen konnten. In all den Jahren der Härten und der Spannungen seit Lenins Tod hatten sich die. Kommunisten den heftigsten Schwankungen der Parteilinie nur in dem Glauben daran anpassen können, daß ein würdiger Nachfolger Lenins im Kreml regierte und die Bewegung aus einer unfehlbaren Schau ihrer Bestimmung leitete. Diese Kommunisten hatten sogar das Umschalten von einem Anti-Faschismus zu dem NS-Sowjet-Pakt mitmachen können, weil sie sich auf das übermenschliche Gehirn jenes Mannes verlassen hatten. Jetzt nachträglich bot alles ein Bild des Ruins und der Entweihung. Die Altäre wurden von denen zerstört, die sie eigentlich hätten hüten sollen, während die Anbeter in den Augen der LIngläubigen lächerlich gemacht wurden. Hier handelte es sich ja nicht um eine der üblichen Schwenkungen des Partei-Kurses, sondern vielmehr um einen Schlag, der die Wurzeln des Glaubens treffen mußte. Zu behaupten, daß die Partei nunmehr auf Grund der Selbstkritik und des Eingeständnisses vergangener Fehler gestärkt dastand, war ja ganz gut und schön. Hier handelte es sich aber doch um mehr als Fehler; und das Eingeständnis derselben durch Männer, die weiterhin an der Macht blieben, bedeutete schließlich, daß man die völlige Entwertung einer ganzen geschichtlichen Epoche zugab. Das alles mochten vielleicht die Zyniker, Ohren-bläser und Karriere-Jäger schlucken; die wahren Gläubigen wurden jedoch durch diese Enthüllungen niedergeschmettert. Ihre Desillusionierung mochte keine unmittelbaren, wichtigen Auswirkungen zeitigen. Auf lange Sicht hin mußten sich diese jedoch einstellen.

Konsequenzen

Es gab aber doch einen Unterschied zwischen den Konsequenzen inner-und außerhalb der Sowjetunion. In Rußland war das Regime schon so lange an der Macht und so gestärkt, daß es Krisen und Skandale von sehr ernstem Ausmaß auffangen konnte. Das russische Volk war so auf sich angewiesen und so völlig von der Außenwelt abgeschnitten, daß es sich kaum darüber im klaren sein konnte, was die übrige Welt über die schmutzige Wäsche sagen würde, die Chruschtschow hier in aller Öffentlichkeit ausbreitete. Darüber hinaus wurde in einem Lande, in dem beinahe seit Jahrzehnten jeder sein Leben durch eine völlige Unterwerfung unter die Autorität von oben zu retten gesucht hatte, ganz selbstverständlich die Entschuldigung akzeptiert, daß die Männer in der Umgebung Stalins dessen Greueltaten stillschweigend hingenommen hatten aus Furcht, bei einem Protest selber liquidiert zu werden. Die Kommunisten im Ausland befanden sich jedoch in einer ganz anderen Lage. In den Volksdemokratien herrschten die Kommunisten über Staaten, in denen ihre Macht noch nicht lange genug etabliert war, um eine bedingungslose Unterwerfung sicherzustellen. Die kommunistischen Führer wurden daher durch die Diskreditierung des Mannes in ernste Verlegenheit gebracht, der der eigentliche Initiator der Revolutionen in ihrem Lande gewesen war.

Diejenigen kommunistischen Führer aber, die die Bannerträger ihrer Sache im Westen waren, mußten nun den Spott all derer über sich ergehen lassen, gegen die sie seit vielen Jahren Stalins Namen verteidigt hatten. Darüber hinaus konnten sich die kommunistischen Führer in allen diesen Ländern sowohl inner-wie außerhalb des Eisernen Vorhanges nicht der Verantwortung für die Dinge etwa mit der Entschuldigung entziehen, daß sie direkt unter dem Druck der Stalinschen Polizei gestanden hätten. Ihnen hatte ja die Kritik durchaus freigestanden. Wenn sie aber durch die Bank weg Stalin gelobt und verherrlicht hatten, so bedeutete das nunmehr doch einfach, daß sie entweder vorsätzliche Betrüger oder aber unwissende Tölpel gewesen waren.

Togliatti stieß als Führer der größten kommunistischen Partei in Westeuropa genau in dieses Horn des Dilemmas, als er der Zeitschrift „Nuovi Argumenti“ ein Interview gab. Er erklärte zunächst, er sei über die Ereignisse in der Sowjetunion nicht orientiert gewesen — eine Behauptung, die in Anbetracht seines langen Aufenthaltes in Moskau zu einer Zeit, als Stalins Terror seinen Höhepunkt erreicht hatte, nicht sehr überzeugend wirken konnte. Togliatti stellte die Echtheit der Enthüllungen von Chruschtschow keineswegs in Abrede, warf dem sowjetischen KP-Chef jedoch vor, daß er seiner Verurteilung nicht eine Schilderung der Meriten Stalins gegenübergestellt habe. Darüber hinaus brachte er die sich ohnehin anbietende These vor, daß schließlich Stalins Mitarbeiter ihren Teil der Verantwortung für die eingetretenen Entartungen mitübernehmen müßten. In diesem Interview gab Togliatti zweifellos seiner eigenen, persönlichen Mißbilligung über die Art und Weise Ausdruck, in der Chruschtschow die ganze Angelegenheit behandelt hatte. Darüber hinaus zeigte er sich natürlich auch verärgert, daß man ihn selber völlig im Dunkeln über die Dinge gelassen hatte. Durch seinen in aller Öffentlichkeit ausgesprochenen Tadel der Machthaber in der Sowjetunion stärkte Togliatti wahrscheinlich seine Position innerhalb der italienischen KP, wenn auch seine nicht-kommunistischen Gegner dadurch einen unmittelbaren Vorteil davontrugen; denn ein rein passives Einschwenken auf den neuen sowjetischen Kurs wäre wohl in diesem Augenblick über das hinausgegangen, was die italienischen Kommunisten ertragen konnten. Das Gefühl der Schmach über eine Mitverantwortung für die in Rußland jetzt als ungeheuere Tyrannei enthüllten Zustände mußte dadurch wettgemacht werden, daß man für die KP Italiens eine neue, unabhängige Linie in Anspruch nahm. Was daher die große Masse der italienischen Kommunisten betrifft, so hat Chruschtschow erreicht, daß die Sowjetunion nicht mehr wie früher ein bewunderns-und nachahmenswertes, sondern ein in Verruf geratenes Beispiel darstellt, mit dem man sich nicht allzusehr zu assoziieren wünscht.

In seiner Ansprache vor dem Zentral-Komitee der KP Italiens erklärte Togliatti am 24. 6., daß die sowjetischen Erfahrungen „keine Direktiven dar-stellen können für die Lösung aller Probleme, die vielleicht auf uns zukommen“, und daß die beste Marschroute wohl die sei: „Volle Autonomie für die einzelnen kommunistischen Bewegungen und Parteien, zweiseitige Beziehungen untereinander zur Herstellung eines gegenseitigen Verständnisses und der Voraussetzungen für die Einheit der kommunistischen, ja der ganzen fortschrittlichen Bewegung der Arbeiterklasse.“ Zweifellos nahm Togliatti eine solche Haltung in seinen Besprechungen mit Tito ein, bevor dieser seine Reise in die Sowjetunion antrat.

Tito bedurfte in diesem Punkt keineswegs einer Bekehrung. Neue Volksfront-Taktiken stehen ganz offensichtlich auf der Tagesordnung in Europa. Je weiter sich die kommunistischen Parteien im Westen von Moskau losgemacht zu haben scheinen, um so besser sind ihre Chancen, die Sozialisten und andere Parteien der Linken in Koalitionen hinüberzuziehen, die immer noch den besten Weg zu einer eigenen Machtergreifung darstellen. Auf der anderen Seite muß man sich jedoch ins Gedächtnis zurückrufen, daß gerade die Thesen von der Volksfront-Taktik und der Machtergreifung „mit parlamentarischen Mitteln“ (wofür die Nachkriegs-Koalitionen in Polen und der Tschechoslowakei als Beispiele zitiert wurden) — zu den wichtigsten gehörten, die auf den öffentlichen Sitzungen des 20. Parteitages vorgetragen wurden. Diese Richtung der kommunistischen Politik im Westen mag zwar verstärkt worden sein durch ein Abrücken von einem sowjetischen Regime, das sich selber in Verruf gebracht hat; keineswegs aber steht diese Richtung in einem Widerspruch zu dem gegenwärtigen sowjetischen Kurs in Bezug auf die im Ausland einzuschlagende Taktik. Es kann daher gut sein, daß die Führer der sowjetischen und westlichen KP'n trotz der durch die unerwartete Demolierung des Stalin-Mythos hervorgerufenen Verstimmung und Verwirrung bald auf einer neuen Basis wieder zusammenfinden, bei der die Autorität Moskaus vielleicht beachtlich abgeschwächt, die aggressive Macht des internationalen Kommunismus jedoch eher gestärkt sein wird, da sich die Möglichkeiten für eine Volksfront-Taktik sehr erheblich verbessert haben. Die „volle Autonomie“ der westlichen KP wird zweifellos nicht bedeuten, daß sich diese Parteien in der Praxis den Idealen der liberalen Demokratie in irgendeiner Form weiter nähern, als dies etwa in den Volksfront-Jahren 1934 bis 1939 der Fall war. Es ist schlechterdings undenkbar, daß ein Mann wie Togliatti, der über Stalin ganz genau Bescheid wußte, und für den auch Chruschtschow’s Rede nichts Neues bieten konnte, einfach deshalb aufhören sollte, ein totalitär eingestellter Politiker zu sein, weil man ein Skelett zu unpassender Zeit aus seinem Schubfach hervorgeholt und zur öffentlichen Besichtigung ausgestellt hat.

Das Ausmaß des möglichen Erfolges der kommunistischen Volksfront-Taktik wird davon abhängen, inwieweit es den Kommunisten gelingt, die soizalistische und linksorientierte öffentliche Meinung in Westeuropa zu überezugen, daß sich die Kommunisten wirklich gebessert haben, und daß sogar die Sowjetunion und die Volksdemokratien einen Prozeß der echten „Liberalisierung“ durchmachen. Die weitverbreitete Annahme, daß das Vorgehen gegen Stalin nur den Teilaspekt einer großen, gerade von den wichtigsten Komplizen der früheren Tyrannei eingeleiteten Bewegung der „moralischen Reform" in Rußland war, diese Annahme kommt der Schaffung eines „Klimas" der öffentlichen Meinung sehr entgegen, in dem sich das „Trojanische Pferd“ durchaus in die westliche Festung hereinbringen ließe. Niemals ist es jedoch so nötig gewesen wie heute, daß die Demokratien auf ihren Prinzipien beharren und auf keinen Fall den eigentlichen Charakter des Kommunismus übersehen, ob dieser sich nun in Lenin-, Stalin-oder Chruschtschow-Versionen darbietet. In Moskau hat man jetzt zugegeben, daß der totalitäre Ein-Partei-Staat genau die von den liberalen Kritikern immer vorausgesagten Früchte getragen hat. Es stellt sich eben nun die Frage, inwieweit man die Lektion gelernt hat, und in welchem Ausmaß die Völker des Westens in den kommenden Jahren erneut der Faszination einer Doktrin erliegen, die solche Auswirkungen zeitigt. Der Kommunismus heute ist wie ein Vertrauens-Schwindler, der plötzlich zugibt, daß er sein Opfer eigentlich schon seit Jahren an der Nase herumgeführt hat, und der dennoch ganz gelassen den Vorschlag macht, Vergangenes vergangen sein zu lassen und es mit ihm nochmals ein wenig zu versuchen.

Wer einmal „hereingefallen“ ist, sollte jedoch ein zweites Mal doppelt vorsichtig sein.

Anmerkung:

Dr. Dr. h. c. Theodor Litt, ordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik, Universität Bonn, geb. 27. Dezember 1880 in Düsseldorf. Korr. Mitgl. Akad. Wiss. Berlin und Wien, ord. Mitglied Akad. Wiss. Leipzig.

G. F. Hudson, Mitglied des Redaktionsstabes „The Economist", London.

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