Die Kulturpolitik des Stalinismus
Die Kulturpolitik, die das stalinistische Regime verfolgte, kann man nur verstehen, wenn man sich das Wesen des Totalitarismus klar macht:
Die Stärke des totalitären Staates besteht darin, daß er ein geschlossenes gesellschaftliches System schafft, eine Art Aquarium, in dem sich die Menschen wie Goldfische bewegen. Alles in diesem Lebensraum ist so organisiert, als wäre das Aquarium die Welt an sich. Alle Äußerungen des Lebens, Zeitungen, Bücher, Kunst, Wissenschaft, scheinen die eine und ausschließliche Doktrin der Partei zu bestätigen. Selbst Politik und Wirtschaft folgen scheinbar exakt den Gesetzen, die die Partei postuliert hat, denn der totale Staat hat ja die Macht, alle Vorgänge, wenn auch nicht immer zu bestimmen, so doch auf alle Fälle in seinem Sinne zu interpretieren. Man stelle sich einen Menschen vor, der innerlich fest überzeugt ist, daß die herrschende Meinung falsch ist. Sein ganzer Lebenskreis aber: die Nachrichten und Kommentare in Presse und Funk, die Transparente auf den Straßen, die Geschichtsbücher und Kunstwerke, sogar die unter Spitzelfurcht lebenden Freunde und Bekannten sind unermüdlich damit beschäftigt, teils hämmernd, teils mit den spitzfindigsten Argumenten die Ansicht der Partei zu untermauern. Eines Tages unterliegt auch der Widerstrebendste der Allgewalt des Absurden und beginnt, an der Glaubwürdigkeit des eigenen gesunden Menschenverstandes zu zweifeln. Es geht ihm wie einem ins Irrenhaus gesperrten Normalen, der unter lauter Verrückten langsam selbst verrückt wird.
Für den totalen Staat ist es eine Kardinalfrage, daß es ihm gelingt, den Horizont der Menschen lückenlos mit Mythen zu umstellen. Deshalb muß er einen Eisernen Vorhang niederlassen, der die Bewohner seines Landes von der Außenwelt abschließt. Deshalb muß er die Freizeit, das Privatleben, den Kunstgenuß des einzelnen Menschen regulieren, damit sich kein Kämmerlein findet, in das man sich vor dem allumfassenden atmosphärischen Druck flüchten kann. Es ist dabei gar nicht so wichtig, nach welchen Prinzipien, nach welcher Ideologie diese Ausrichtung des gesellschaftlichen Lebens vor sich geht. Bolschewismus und Nationalsozialismus sind von geradezu diametral entgegengesetzten Plattformen dazu gekommen, ein verblüffend ähnliches Machtsystem zu entwickeln. Es ist z. B. durchaus sekundär, ob man das menschliche Liebesleben im Sinne der nationalsozialistischen Lebensborn-Zuchtanstalten oder der muffigen stalinistischen Prüderie ordnet — wichtig ist vor allem, daß die Macht des Staates in die intimsten Bereiche des menschlichen Daseins eindringt. Wenn alle Diktaturen im allgemeinen einige bestimmte Lebensformen bevorzugen, z. B.den Chauvinismus, die naturalistische Kunst usw., so bedeutet das nur, daß diese Elemente vom Standpunkt einer Staatsmacht aus am brauchbarsten sind. Ihre Geltung ist aber nicht absolut; beispielsweise störte es die Stalinisten wenig, im Rahmen einer ansonsten konsequent naturalistischen und inhaltsbetonten Kunst das durch und durch formalistische Klassische Ballett an Stelle des Ausdruckstanzes zu pflegen, weil ihnen in diesem Falle die traditionsfördernde Funktion wichtiger erschien als eine mögliche direkte propagandistische Aussage. Es gibt in der Geschichte jedes totalitären Staates zahlreiche Beispiele, wie die Beeinflussungsformen aus Zweckmäßigkeitsgründen gewechselt wurden: vom Pazifismus zum Militarismus, vom Atheismus zur Staatskirche und umgekehrt. Ausschlaggebend ist, daß das System als solches weiter reibungslos ineinhalb muß er einen eisernen Vorhang niederlassen, der die Bewohner andergreift, daß es in sich stimmt bzw. stimmend gemacht wird.
Man kann also die Kultur des Stalinismus nicht als Ausdruck einer Weltanschauung, als geistiges oder ästhetisches Phänomen begreifen, sondern in erster Linie als psychologisches Terror-und Massenbeeinflussungsinstrument, als Komponente des gesellschaftlichen Zwangs-systems wie der Partei-und Staatsapparat, die Geheimpolizei, die Propaganda usw. auch. Stalin hat diese Funktion sehr treffend beschrieben, indem er die Schriftsteller „Ingenieure der menschlichen Seele nannte. Darum hat der Sozialistische Realismus auch viel mehr Ähnlichkeit mit der Pseudokunst der Nationalsozialisten als mit der kommunistischen Kunst der zwanziger Jahre, von der er genealogisch abstammt. Darum gleichen die stalinistischen Kampagnen gegen „Objektivismus und „Kosmopolitismus“ in der Wissenschaft aufs Haar denjenigen der Nationalsozialisten gegen die „intellektuelle Dekomposition , gegen die „jüdische Physik“ usw. Nun hat aber ein derart konstruiertes System eine entscheidende Schwäche. Es ist einfach nicht möglich, die Menschen restlos vom Dasein an sich, von der eigentlichen Realität zu isolieren. Eine Orwell-sehe Welt, das klassische Modell einer vollkommen totalitären Gesellschaft, ist in der Wirklichkeit nicht produzierbar, weil die menschliche Seele keine Tabula rasa bietet. Selbst wenn der Eiserne Vorhang undurchdringlich wäre, wenn die Erinnerung an die menschliche Kultur-geschichte gänzlich ausgelöscht werden könnte — Voraussetzungen, die nie eintreten —, selbst dann würde das Leben selbst immer wieder elementar Menschlichkeiten erzeugen, die das System sprengen. Die Diktatur kann eine Frau zwingen, sich von ihrem Mann, der im Schauprozeß verurteilt wurde, loszusagen, aber sie wird niemals erreichen, daß diese Frau das als natürlich hinnimmt. Die Diktatur kann vorschreiben, daß eine platte, illustrative Musik gefördert wird, sie hat aber keine Macht darüber, daß ein wirklich musikalischer Mensch, sei er ein noch so guter Genosse, diese Parteimusik auch liebt. Man kann vielleicht die Archive unter Verschluß nehmen und korrigieren, niemals aber die Erinnerungen der Menschen an die verschiedensten Zickzack-Wendungen der Parteilinie hinwegwischen. Ein totalitäres Regime muß ununterbrochen mit den existenziellen Daseinsweisen der Menschheit, die eben mehr als beliebig auswechselbare Klassenmythen sind, in Konflikt geraten. Der Grundwiderspruch jeder totalitären Gesellschaft ist der zwischen dem System und der unendlich komplizierten Welt an sich, die der geschickteste Dialektiker nicht auf einen Nenner bringen kann.
Dieser Widerspruch bewirkt, daß das Regime wohl die Wahrheit und Menschlichkeit aus der Kunst verbannen und durch Propagandafloskeln ersetzen kann, daß ihm aber im gleichen Augenblick die Kunst als solche unter den Händen zerbricht. Gerade die Überzeugungskraft der Kunst, die die Stalinisten zu ihrer Okkupation reizte, ist im Sozialistischen Realismus ausgelöscht. Das Regime ist wohl in der Lage, wissenschaftliche Erkenntnisse zu bestimmen und zu zensurieren, aber diese Vergewaltigung der Wissenschaft rächt sich eines Tages durch die Stagnation, von Wirtschaft und Technik. Das Regime kann schöpferische Persönlichkeiten, die der Wahrheit die Ehre geben, töten oder in den Konzentrationslagern zugrunde gehen lassen, doch die Folge ist nicht eine Dienstbarkeit des Geistes, sondern ein verheerender Mangel an Initiative und Begabung. Es liegt auf der Hand, daß ein solches System auf die Dauer nicht lebensfähig sein kann; der Totalitarismus stellt im Ablauf der Menschheitsgeschichte eine Perversion dar und trägt den Keim des Verfalls in sich.
Beweggründe und Triebkräfte des Neuen Kurses
Der Totalitarismus als eine abnorme Gesellschaftsformation ist nur denkbar unter abnormen historischen Verhältnissen. Er pflegt das Produkt einer Krise zu sein, eines nationalen Notstandes, mit dem die Demokratie nicht fertigzuwerden verstanden hat. So kam der Nationalsozialismus 193 3 in Deutschland in der Folge der katastrophalen Wirtschaftskrise zur Macht, der Bolschewismus 1917 in Rußland in der Folge der Zerrüttung des Landes nach dem ersten Weltkrieg. Der Totalitarismus versetzt die Gesellschaft in einen permanenten Kriegs-und Belagerungszustand und macht so Gewaltanstrengungen möglich, die mit konstitutionellen Mitteln schwer zu vollbringen sind.
Tritt eine Normalisierung der Verhältnisse ein, so gerät das totalitäre Regime notwendig in Widerspruch zu den politischen, ökonomischen und sozialen Anforderungen, die an die Staatsmacht gestellt werden. Die primitiven und brutalen Methoden des Totalitarismus erweisen sich nicht mehr als stimulierend, sondern als hemmend und schädlich für die gesellschaftliche Entwicklung. Nun liegt es aber in der Natur der Sache, daß die Repräsentanten des totalitären Machtapparates nicht von sich aus zu der Einsicht kommen, daß ihre Position überholt ist. Sie denken nicht daran, freiwillig abzutreten, sondern versuchen mit allen Mitteln, ihre Herrschaft zu verewigen. Ein ständiger Trubel von immer neuen Planzielen, Massenaktionen, Säuberungen, Aggressionen soll nicht nur jede potentielle Opposition im Keim ersticken, sondern auch dem Volke suggerieren, daß die Aufrechterhaltung des Belagerungszustandes notwendig und zweckmäßig sei. Es bedarf einer überlegenen innen-oder außenpolitischen Kraft, daß die Diktatur zum Nachgeben gezwungen wird.
Zur Ablösung bzw. Aufweichung eines totalitären Regimes sind also m. E. zwei Faktoren von entscheidender Bedeutung:
1. Die totalitäre Praxis muß zur gesellschaftlichen Entwicklung in einem Widerspruch geraten sein, der sich nicht mehr durch bloße Modifikation der Direktiven, sondern nur durch eine Lockerung der Diktatur beheben läßt.
2. Es muß eine soziale Kraft auftreten, die imstande ist, die zeitgemäßen Erfordernisse gegen das Beharrungsinteresse des totalitären Machtapparats durchzusetzen.
Die Wirksamkeit dieser beiden Faktoren wollen wir am sowjetischen Exempel untersuchen, wobei wir unserem Thema gemäß den kulturpolitischen Aspekt des Vorgangs in den Vordergrund rücken.
Der Stalinismus hatte die Sowjetunion vor allem auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet in eine Sackgasse manövriert. Die mit Bravour vorgetragene imperialistische Expansion war zum Stehen gekommen (Fehlschlag der Berliner Blockade und des Koreaüberfalls, der kommunistischen Aktionen in Frankreich, Italien und Griechenland, Abfall Jugoslawiens) und hatte den Zusammenschluß der freien Welt zu einer Verteidigungsgemeinschaft bewirkt. Die Sowjetunion sah sich außenpolitisch in eine gefährliche Isolierung gedrängt. Wirtschaftlich war die „ursprüngliche Akkumulation" des Staatskapitals abgeschlossen, das bis 1917 rückständige und halbbarbarische Rußland war zur zweiten Industriemacht der Erde hochgepeitscht worden. Die Schäden, die die Staatswirtschaft im zweiten Weltkrieg davongetragen hatte, waren beseitigt. Nun standen die Umstellung auf Friedenswirtschaft und die ausreichende Versorgung der Bevölkerung zur Debatte — Aufgaben, denen sich der Stalinismus weder geneigt noch gewachsen zeigte. Die Hypertrophie der Rüstung als Folge des immerwährenden Kalten Krieges, die Mobilmachung von Millionen wertvoller Arbeitskräfte für die Armee, das unrentabel gewordene System der Zwangsarbeit, die Drosselung jeglicher persönlichen Initiative, die Abschließung vom Ausland — all diese Charakteristika der stalinistischen Wirtschaftspolitik standen einer wirtschaftlichen Konsolidierung im Wege.
Auch im kulturellen Sektor führte die totalitäre Praxis zunehmend zu Unzuträglichkeiten. Wir bringen ein paar Beispiele aus Kunst und Wissenschaft: „Die Familie", ein charakteristisches, weitverbreitetes und hoch-geschätztes Theaterstück, mit dem Stalinpreis erster Klasse ausgezeichnet, schildert in der Art eines Passionsspiels, als biographischer Bilderbogen ohne jede dramatische Spannung die Jugend Wladimir Iljitsch Uljanows, genannt Lenin. Es wird ein rührendes Bild vom Familienleben der Uljanows gemalt, ihre schon immer fortschrittliche Gesinnung wird demonstriert (von Lenins adliger Abkunft ist natürlich nicht die Rede). Die Mutter ist eine aufrechte, unbeugsame Matrone, die mit Stolz und Heldenmut den politischen Weg ihrer Kinder begleitet. Der halbwüchsige Wladimir Iljitsch ist nicht nur ein liebevoller Sohn, ein musterhafter Schüler, sondern weiß auch schon von Kindesbeinen an, daß individuelle Rebellionen, wie sein älterer Bruder sie betreibt, zu nichts führen und allein die kommunistische Weltrevolution dem Proletariat zum Sieg verhelfen wird. Kaum der Schulbank entwachsen, erweist er sich als patriarchalischer Lehrer der Arbeiter. Das Stück schließt mit dem unerläßlichen Anachronismus, daß der blutjunge Lenin den Genossen Stalin im Kaukasus grüßen läßt.
Eine derart primitive didaktische Darbietung kann natürlich nur solange ihren Zweck erfüllen, als das intellektuelle Niveau des Publikums sehr niedrig ist. Sind die Zuschauer erst soweit gereift, daß sie gewisse Ansprüche an die historische Glaubwürdigkeit und künstlerische Durch-gestaltung stellen, werden sie Machwerke dieses Schlages ablehnen. Sie werden von den auf so simple Weise vorgetragenen Ideen nicht über-zeugt, sondern abgestoßen werden. Eine Qualifizierung der Kunst ist jedoch nur möglich, wenn die Einmischung der Partei in die schöpferischen Fragen aufhört.
Auf dem Gebiete der Moral hatten sich Heuchelei und Prüderie breit gemacht. Aktdarstellungen in der Kunst waren verpönt, Skulpturen mußten zumindest mit einem Badeanzug bekleidet sein, Kußszenen kamen in Filmen und Theaterstücken nicht vor. Die literarischen Gestalten sprachen grundsätzlich nicht über Liebe, sondern nur über die Produktionsarbeit. Eine drakonische Ehegesetzgebung behinderte Scheidungen; illegitime Liebesbeziehungen wurden in der Partei und im Betrieb Maßregelungen unterworfen. Die „Sowjetmenschen" erschienen als ein Idealbild makelloser Reinheit. Der Chefideologe der Partei, Shdanow, erklärte:
Die Stalinisten haben ein modernes technisches Projekt wie die Moskauer Untergrundbahn im Stile einer Bankiersvilla der Gründerzeit ausgestattet. Auf den Stationen der Metro findet man Marmorsäulen, Stuckverzierungen, Gipsfiguren, Kronleuchter und dergleichen mehr. Die zahllosen Delegationen, die tagtäglich aus allen Winkeln des Landes in die Metropole strömen, sollten durch den verschwenderischen Prunk dieser staatlichen Einrichtungen beeindruckt werden. In dem Maße aber, wie das allgemeine Bildungsniveau sich hebt, kommen die Besucher aus dem naiven Staunen heraus und empfinden den „Fassadenputz''als deplaciert, geschmacklos und bedrückend. Das bedeutet, daß man den ganzen architektonischen Repräsentationsaufwand als eine höchst unnütze und unsinnige Verschleuderung öffentlicher Gelder ansehen kann. „Wo findet man ein solches Land und ein solches Volk wie bei uns! Wo findet man Menschen mit solchen großartigen Eigenschaften, wie sie unser Sowjetvolk im Großen Vaterländischen Krieg gezeigt hat und wie sie unser Volk täglich beim Übergang zur friedlichen Entwicklung und zum Wiederaufbau der Wirtschaft und Kultur in der Arbeit zeigt! Von Tag zu Tag steigt unser Volk höher und höher ..."
In Wirklichkeit bedingte die sowjetische Gesellschaftsordnung einen zunehmenden Sittenverfall. Durch die übliche Verschickung der Bürger in entlegene Arbeitsrayons zerriß man eheliche Bindungen. Die rücksichtslose Ausbeutung der Frau in der Produktion, die staatliche Kindererziehung zerstörten die Familien. Selbst in Friedenszeiten herrschte eine unvorstellbare Wohnungsnot. Während der niedrige Lebensstandard der Massen Prostitution und Verbrechen förderte, kam es in der Privilegiertenschicht, besonders bei der Moskauer jeunesse dore, zu Gelagen und Ausschweifungen. Die Relativierung der Moral („Was dem Kommunismus nützt, ist gut, was ihm schadet, ist schädlich"), die Bekämpfung der Religion untergruben die sittlichen Normen.
Die Folge dieses Auseinanderklaffens von moralisierender Ideologie und amoralische Realität war eine Weltfremdheit und Unzulänglichkeit der pädagogischen,, fürsorgerischen und hygienischen Maßnahmen, wodurch die unterirdische Verbreitung von Laster und Verbrechen in erschreckendem Maße gefördert wurde. Andererseits wuchs die Empörung der Bevölkerung über die fruchtlose und unzumutbare Einmischung des Staates in das Privatleben seiner Bürger.
Durch eine brutale Parteiaktion ist die sowjetische Biologie auf eine offizielle Linie ausgerichtet worden. Der große russsche Genetiker Wawilow ging im Zwangsarbeitslager zugrunde. An seiner Stelle machte ein Parteiagronom Lyssenko von sich reden, der zum Diktator der russischen Biologie avancierte, obwohl jeder ernsthafte Wissenschaftler ihn von vornherein als Hochstapler durchschaute. Wodurch gewann dieser Mann die Gunst der Parteiführung? Es waren praktische und ideologische Gründe maßgebend. Die sowjetische Landwirtschaft bedurfte dringend der Stützung und Intensivierung: da waren die hergebrachten und behelfsmäßigen Methoden der Pflanzenzüchtung, wie Lyssenko sie vertrat, dem Staate wichtiger als eine systematische genetische Wissenschaft, zumal der Parteibiologe wahre Wunderdinge zu vollbringen versprach, mit denen gewissenhafte Forscher natürlich nicht aufwarten konnten. Außerdem basierte Lyssenko auf konservativen russischen Traditionen und verwarf — sei es aus Unkenntnis, sei es aus Ignoranz — die Errungenschaften der modernen internationalen Genetik, wodurch er dem Nationalismus Stalins schmeichelte.
„In Wirklichkeit“, so faßte Prof. Dobszansky, New York, das Ergebnis des sowjetbiologischen Experiments zusammen, „hat Lyssenko der sowjetischen Landwirtschaft großen und dauernden Schaden zugefügt, dessen Umfang zukünftige Statistiker einschätzen mögen. Er hat die Anstrengungen einer ganzen Generation von Pflanzen-und Tierzüchtern zerstört oder lächerlich gemacht und hat eine andere Generation mit Altweibergesckidtten anstatt mit moderner wissenschaftlicher Bildung erzogen.“
Die Stellung, die der Stalinismus zur modernen Physik einnahm, wird aus einer Äußerung des ungarischen Parteiphilosophen Fogarasi vor der Budapester Akademie der Wissenschaften ersichtlich: „Lenins und Stalins Anleitungen folgend, haben wir auf die Rolle hingewiesen, die der physikalische Idealismus der Gegenwart im Kampf der Parteien, im Klassenkampf des Kriegs-und Friedens-lagers spielt. Bohr, Fleisenberg, Born, de Broglie, Dirac, Pauli, Weizsäcker, Jordan, March: sie alle behaupten, daß aus den Ergebnissen der neuen Physik neue erkenntnis-theoretische Schlußfolgerungen, die die Unrichtigkeit des Materialismus und die Richtigkeit des Idealismus beweisen, zu ziehen sind. Wir haben nachgewiesen, daß ihre Schlüsse Trugschlüsse, ihre Beweise Sdteinbeweise sind, die auf logischen Fehlern bzw. pseudologischen Kniffen, auf trügerischen Sophismen beruhen. Gleichwie der physikalische Idealismus eine ideologische Waffe für den Imperialismus, für die Reaktion bedeutet, ist auch die materialistische Kritik des physikalisdten Idealismus eine ideologisdte Waffe in der Hand der Anhänger des Friedens, des Fortsdiritts, des Sozialismus. Sie knüpft unsere Verbindungen mit der an der Spitze sdtreitenden sowjetisd-ten Wissenschaft enger und trägt zur Liquidierung des Fideismus, zur Befestigung des Sieges des dialektischen Materialismus bei.“
Während also der Stalinismus die praktischen Resultate der modernen Physik akzeptierte, verwarf er aus ideologischen Gründen ihre Erkenntnistheorie. Das bedeutete, daß im Ostblock wohl eine technische Ausnutzung der modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse möglich war, z. B. zum Bau von Atombomben, daß aber eine eigene und schöpferische Weiterentwicklung der Grundlagenforschung durch ideologische Barrieren verbaut wurde. Von Gedankenaustausch und Zusammenarbeit mit der internationalen physikalischen Wissenschaft konnte angesichts der ideologischen Verklausulierungen und politischen Beschimpfungen nicht mehr die Rede sein. Diese Umstände bewirkten, daß die sowjetische Physik unweigerlich in den Nachtrab der Weltwissenschaft geraten mußte.
Es ist nicht wahr, daß die Partei — worunter man doch die Hierarchie der Sekretäre verstehen muß — von sich aus die verderblichen Folgen ihrer Kulturpolitik erkannte. Zwar hätten es auch die Funktionäre ganz gern gesehen, wenn die Kunst überzeugender, die Wissenschaft erfolgreicher gewesen wäre, aber im Interesse ihrer Machtstellung hüteten sie sich, der schöpferischen Freiheit Konzessionen zu machen. Die Partei verstärkte statt dessen fortwährend den Druck auf die Intelligenz: noch 1949 wurden zahlreiche sowjetische Intellektuelle, vornehmlich jüdischer Herkunft, in die Konzentrationslager verbannt; noch 1950— 1952 fand die brutale Ausrichtung des Kulturlebens in der Sowjetzone statt. Die Einführung des Neuen Kurses war das Ergebnis erbitterter und blutiger Machtkämpfe, die teils unterirdisch, teils in aller Öffentlichkeit geführt wurden. Im Verlauf dieser Kämpfe wurden die Politbüromitglieder Wosnessenski und Berija liquidiert, Shdanow und Stalin starben unter geheimnisvollen, bis heute ungeklärten Umständen.
Will man sich einer historischen Analogie bedienen, so könnte man sagen, daß der „Thermidor“ der russischen Revolution auf die Tagesordnung gesetzt wurde, die LImwandlung der terroristischen Jakobiner-diktatur in ein bürgerliches Direktorium, eine „kollektive Führung . Die liberale Fraktion in der Parteiführung, die der totalitären Diktatur des Parteiapparats und der Geheimpolizei zu Leibe ging, stützte sich auf eine neue führende Gesellschaftsschicht im Sowjetleben, die Sowjet-Bourgeoisie, wenn wir sie einmal so nennen wollen. Aus den administrativen, wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Managern des Landes hat sich eine neue Oberschicht von 18 Millionen Menschen konstituiert. Nur ein Teil dieser Manager gehört der Partei an, und auch diejenigen, die Parteigenossen sind, fühlen sich primär nicht als Politiker, sondern als Beamte, Offiziere, Wirtschaftsführer, Techniker, Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler. Im Unterschied zu den hauptamtlichen Funktionären und Ideologen sind sie nicht mit machtpolitischen, sondern realpolitischen Funktionen betraut. Daraus ergibt sich eine Divergenz ihrer Gesichtspunkte, ihrer Interessen und Bedürfnisse gegenüber denen der „Apparatschiks“. Die neuen Herren sind des permanenten Terrors, des revolutionären Asketismus, der klösterlichen Abgeschiedenheit müde und suchen Anschluß an die Weltkultur. Sie wollen leben und genießen, also wünschen sie, statt der allgegenwärtigen penetranten Propaganda echte Kunst zu konsumieren. Sie sind an der eigenen Prosperität und der des Landes interessiert, folglich verurteilen sie die stalinistischen Zwangsmaßnahmen, die Wirtschaft und Forschung lähmen. Sie wollen Ruhe und Sicherheit und fürchten politische Abenteuer.
Andererseits leuchtet ein, daß diese sowjetische Oberschicht vor allen gesellschaftlichen Veränderungen, allen kulturellen Bewegungen zurückschrecken wird, die an die Fundamente ihres Staates rühren, denn damit würde sie ja den Ast absägen helfen, auf dem sie selber sitzt. Der von dieser Klasse vorangetriebenen Liberalisierung sind demnach Grenzen gesetzt. Daß man das eine nicht ohne das andere haben kann, ein kulturvolles Leben nicht ohne die Freiheit, erklärt die zahlreichen Widersprüche und Schwankungen in der kommunistischen Kulturpolitik der letzten Jahre.
Die ideologische Vorbereitung der Kursänderung
In den mannigfaltigen ideologischen Diskussionen, die schon zu Stalins Lebzeiten einsetzten, wurde die theoretische Plattform des Bolschewismus so überarbeitet, daß sie den Neuen Kurs ermöglichte. Charakteristisch ist, daß sich die Diskussionen im Laufe der Entwicklung von entlegenen und praktisch unbedeutenden Spezialgebieten zu den Zentren der Wirtschaft und Politik verlagerten. Diese Tendenz der systematischen Diskussionsverschiebung erklärt sich m. E. daraus, daß das Politbüro, nachdem es unter den Einfluß der Liberalen geraten war, nach einem wohlüberlegten Plan vorging. Wie die Philosophie des dialektischen Materialismus lehrt, stehen alle Erscheinungen der Welt im Zusammenhang und wirken aufeinander ein. Zumindest für die totalitäre Gesellschaft trifft diese Darstellung auch zu. Man kann also durch einen Eingriff auf einem beliebigen, ganz abseitigen Gebiet des gesellschaftlichen Lebens Reaktionen in den zentralen Bereichen der Politik und Wirtschaft auslösen. Ein solches Verfahren ist für den Totalitarismus denkbar zweckmäßig: Man kann auf lange Sicht eine Kursänderung einleiten, ohne dem Ausland Einblick zu gewähren und die eigene Bevölkerung zu beunruhigen, man kann den schwerfälligen Funktionärsapparat langsam an die neuen Methoden und Gesichtspunkte gewöhnen, ja, man kann, wenn sich unerwünschte Ergebnisse zeigen, das ganze Unternehmen wieder abblasen, ohne daß jemand viel davon gemerkt hat. Da nun aber das Wesen der Kursänderung darin bestand, das totalitäre System überhaupt zu lockern, war es unausbleiblich, daß die Führung mit der Zeit die Kontrolle über die Entwicklung verlor, die sie eingeleitet hatte. Der Neue Kurs breitete sich nach den Gesetzen einer Kettenreaktion immer verzweigter und immer schneller aus, bis er schließlich in mächtigen Explosionen der ganzen Welt vor Augen trat.
Als Auftakt der ideologischen Diskussion kann man Stalins Briefe zu Fragen der Sprachwissenschaft (1951) ansehen. Die politische Einschätzung dieser Auslassungen, die man gewiß nicht als persönliche Äußerung des Diktators, sondern als Deklaratior des Politbüros zu betrachten hat, ist umstritten. Aus der Tatsache, daß Stalin an einer Stelle seiner Arbeit die Behauptung aufstellt, bei einer Sprachverschmelzung entstehe nicht eine Synthese, sondern die Assimilation der einen Sprache durch die andere, folgerten manche westlichen Experten, die Publikation sollte, indem sie das Primat des Russischen festlegt, den Nationalismus forcieren. Nach dieser Deutung wäre die Arbeit ein Element der alten Politik gewesen. Aber das ganze linguistische Problem spielt im Zusammenhang der Stalinschen Ausführungen nur eine untergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt steht eine neue Formulierung der kommunistischen Auffassung von der Gesellschaft. Stalin schreibt: „Ist es richtig, daß die Sprache ein Überbau über der'Basis ist? Nein, das ist nicht richtig. Die Basis ist die ökonomische Struktur der Gesellschaft in einer bestimmten Etappe ihrer Entwicklung. Der Überbau — das sind die politischen, juristischen, religösen, künstlerischen und philosophischen Ansichten der Gesellschaft und die ihnen entsprechenden politischen, juristischen und sonstigen Institutionen. Jede Basis hat ihren ihr entsprechenden Überbau, ihre politi schen, juristischen und sonstigen Ansichten und die ihnen entsprechenden Institutionen; die kapitalistische Basis hat ihren Überbau, die sozialistische den ihren . . ,
Die Sprache wird nicht durch diese oder jene Basis, durch eine alte oder neue Basis innerhalb einer gegebenen Gesellschaft hervorgebracht, sondern durch den Verlauf der Geschichte der Gesellschaft und der Geschichte der Basen im Laufe von Jahrhunderten. Daher besteht die dienende Rolle der Spraclte als eines Mittels zur Verständigung der Menschen nicht darin, daß sie einer einzelnen Klasse zum Schaden der anderen Klassen dient, sondern darin, daß sie der ganzen Gesellschaft, allen Klassen der Gesellscltaft in gleiclter Weise dient ..."
Diese Darstellung war vom Standpunkt des Stalinismus aus umwälzend. Denn damit wurde erstmals ein gesellschaftliches Phänomen, eben die Sprache und ihre Wissenschaft, aus dem totalitären Gefüge, dem kommunistischen „Überbau“, gelöst und für ideologiefrei, außerhalb des Klassenkampfes befindlich, erklärt. Die Linguistik war der ideologischen Zange entzogen. Das bedeutete für sich genommen noch nicht viel, aber es konnte nicht ohne Folgen bleiben, daß ein Baustein, sei er auch noch so unbedeutend, aus dem sorgsam in sich gefügten und verstrebten Gebäude des Totalitarismus herausgebrochen worden war;
der Defekt mußte eine Erschütterung der Grundmauern nach sich ziehen. In den nun folgenden Diskussionen wurden denn auch nach und nach die formale Logik, die Mathematik, die technischen und Naturwissenschaften aus dem ideologischen Überbau herausgenommen. Selbst für die Gesellschaftswissenschaften wurde eine gewisse geschichtliche Nachfolge anerkannt, was Tatsachenvermittlung, Teilschlußfolgerungen und einzelne Traditionen angeht.
Bei der Einordnung der Kunst standen sich zwei Parteien gegenüber. Die einen meinten in alter Weise, die Kunst gehöre selbstverständlich zum Überbau, sie stelle eine Waffe des Klassenkampfes dar. Die anderen bemühten sich, diese These vorsichtig einzuschränken. Sie wiesen darauf hin, daß die Kunst doch mehr als bloße Klassenideologie sein müsse, denn wie könnten sonst Kunstwerke der Vergangenheit, die von längst untergegangenen Klassen geschaffen wurden, ihren Wert behalten. Im Endergebnis wurde ein vermittelnder Standpunkt eingenommen: Die Kunst sei zwar Ideologie und habe politische Funktionen, sie sei aber sorgfältig von anderen Formen der Ideologie wie Philosophie, Propaganda usw. zu unterscheiden. Die Kunst bediene sich einer besonderen Ausdrucksweise, die man beachten müsse, wolle man sie nicht ihrer Wirkung berauben. Damit war das Signal zu einer Revision der sowjetischen Kunstpolitik gegeben.
Im April 1952 stellte die „Prawda“, das Zentralorgan der KPdSU, in einem Leitartikel fest, daß das Niveau der sowjetischen Dramatik einen nie dagewesenen Tiefstand erreicht habe. In der vergangenen Spielzeit hätten die Zuschauer im Repertoire der berühmten Moskauer Theater nicht ein einziges charakteristisches und bedeutendes Sowjetstück gefunden. „Aus der großen Zahl der von den sowjetischen Dratnatikern geschriebenen Stücke eignen sich nur wenige zur Aufführung. Das krasse Mißverhältnis zwischen Quantität und Qualität der vorhandenen Dramen ist ein Zeichen dafür, daß viele Dramatiker in falsdter Richtung arbeiten.“
Die sowjetischen Schriftsteller, so schrieb die „Prawda", schienen sich vor der Wahrheit zu fürchten. Der Grund für den völlig unbefriedigenden Stand des dramatischen Schaffens sei in den Tendenzen der Konfliktlosigkeit, der Schönfärberei und des Schematismus zu suchen.
Die Theorie der „Konfliktlosigkeit“ war einige Zeit vorher von mehreren Schriftstellern aufgestellt worden. Sie vertraten den Standpunkt, daß die Grundlage des traditionellen Dramas, der Konflikt zwischen dem Positiven und dem Negativen, für das Sowjetdrama nicht mehr in Frage käme, denn in der sowjetischen Gesellschaft sei doch alles eitel Sonnenschein. Es gäbe nur noch einen einzigen Konflikt, den zwischen dem Guten und dem Nochbesseren. Zwischen Sowjetmenschen, so wurde gesagt, könne es keine ernsthaften Gegensätze geben, sondern nur noch Mißverständnisse. Diese Theorie war das logische Produkt der Kulturpolitik von Shdanow, der in Reden und Beschlüssen jede wahrheitsgetreue, kritische Darstellung der sowjetischen Realität als „Verleumdung des Sowjetlebens und der Sowjetmenschen“ verdammt hatte.
In der Praxis der sowjetischen Dramatik war die Tendenz der Konfliktlosigkeit und Schönfärberei bis zum Extrem getrieben worden. Man sah nur noch, wie ein Kritiker bissig sagte, „gute, sehr gute und ausgezeichnet gute Personen“ auf der Bühne. Ein Stück bezog z. B.seine ganze Handlung aus einem Streit zweier Stachanow-Arbeiter über die technologischen Einzelheiten bei der weiteren Rationalisierung des Schnellschmiedens, ein anderes behandelte die Zwietracht eines fortschrittlichen Liebespaares, das sich nicht über die beste Methode des Kartoffelhäufelns einigen kann usw. Der russische Volksmund fand für diese rosarote Darstellung der Sowjetwirklichkeit den treffenden Ausdruck „Lackierowka“. Kein Mensch wagte mehr, an sowjetische Personen und Vorgänge kritisch heranzugehen — einige Dramatiker gaben lieber die schon bezogenen Vorschüsse an das Theater der Satire zurück, als daß sie ihrer vertraglichen Verpflichtung zum Schreiben einer sowjetischen Komödie nachgekommen wären. Gegen diese Zustände leitete die „Prawda“ eine Kampagne ein.
Die sowjetische Kunstdiskussion fand ihren Höhepunkt in der Rede Malenkows auf dem XIX. Parteitag der KPdSLI im Oktober 1952. Der neue Sprecher der Parteiführung räumte mit den eingebürgerten Schablonen und Schemata, mit der künstlichen Gleichmacherei, auf:
„Unsere Maler, Schriftsteller und Künstler müssen bei ihrer schöpferischen Arbeit zur Schaffung künstlerischer Gestalten immer daran denken, daß typisch nickt nur das ist, was man am häufigsten antrifft, sondern das, was am vollständigsten und prägnantesten das Wesen einer gegebenen sozialen Kraft zum Ausdrud^ bringt. Bewußte Überbetonung und Zuspitzung einer Gestalt schließt das Typische nicht aus, sondern offenbart und unterstreicht es vollständiger.“
Gegen die Kulturpolitik seines Vorgängers und Antipoden Shdanow gewandt, erklärte Malenkow:
„Die Sowjetmenschen dulden nichts, was farblos, ideenlos und falsdt ist, sie stellen hohe Anforderungen an das Sdtaffen unserer Schriftsteller und bildenden Künstler. Unsere Schriftsteller und Künstler müssen in ihren Werken die Laster, Mängel und krankhaften Erscheinungen, die es in der Gesellschaft nodt gibt, geißeln und in positiven künstlerischen Gestalten Menschen von neuem Typus — in der ganzen Großartigkeit ihrer Mensdienwürde — darstellen und dazu beitragen, in den Mensdten unserer Gesellsdraft Charaktere, Fertigkeiten und Gewohnheiten heranzubilden, die frei sind von den durdi den Kapitalismus erzeugten Lastern. Was wir brauchen, sind sowjetische Gogols und Schtschedrins, die mit der Flamme der Satire alles Negative, Vermoderte, Überlebte, alles das, was die Vorwärts-bewegung hemmt, aus dem Leben ausbrennen.“
Ebenfalls im Jahre 1952 erschien eine parteiamtliche Publikation über Ökonomische Probleme, von Stalin signiert, aber auch in diesem Falle offensichtlich eine Manifestation des Politbüros. Wir können auf die wirtschaftspolitische Bedeutung dieser Schrift nicht eingehen; eine Analyse der Wandlungen in der kommunistischen Wirtschaftspolitik von Wosnessenski bis zu Malenkow und später Chruschtschow würde eine Darstellung von nicht geringerem Umfang als die vorliegende erfordern. Wir wollen die Aufmerksamkeit nur auf einen ideologischen Aspekt in der Arbeit über Ökonomische Probleme lenken. Da heißt es gleich zu Anfang:
„Manche Genossen verneinen den objektiven Charakter der Gesetze der Wissensdtaft, insbesondere der Gesetze der politischen Ökonomie im Sozialismus. Sie verneinen, daß die Gesetze der politischen Ökonomie die Gesetzmäßigkeiten von Prozessen widerspiegeln, die sich unabhängig vom Willen der Menschen vollziehen. Sie sind der Meinung, in Anbetracht der besonderen Rolle, die die Geschichte dem Sowjetstaat zugewiesen hat, könnten der Sowjetstaat, seine Führer die bestehenden Gesetze der politischen Ökonomie aufheben, könnten sie neue Gesetze , aufstellen , neue Gesetze . schaffen. Diese Genossen irren sich gründlich . . .
Die Menschen können Gesetze entdecken, sie erkennen, und, auf sie gestützt, sie im Interesse der Gesellschaft ausnutzen, den zerstörenden Wirkungen mancher Gesetze eine andere Richtung geben, ihren Wirkungsbereich einschränken, anderen Gesetzen, die zum Durchbruch drängen, freie Bahn verschaffen, aber sie können sie nicht umstoßen oder neue ökonomische Gesetze schaffen ..."
Hier wird sogar im Falle einer ausgesprochenen Gesellschaftswissenschaft, der Politökonomie, das Primat der Realität gegenüber der Politik wiederhergestellt. Das war ein Schlag der Managerschicht gegen die Parteibürokratie. Die Korrektur sollte von außerordentlicher Tragweite sein, denn sie bot den Theoretikern des Neuen Kurses Gelegenheit, das Unfehlbarkeitsdogma der Parteiführung in Frage zu stellen. Wenn die Parteiführung sich gegen die realen Gesetzmäßigkeiten stellt, hat selbst sie unrecht.
Zwischen Tauwetter und Eisgang
LInter der Ägide Malenkows entfaltete sich in den Jahren 195 3/54 in der Kunst ein kritischer Realismus neuen Typs. Kulturminister dieser Periode war der Philosoph Alexandrow, der einige Jahre zuvor von Shdanow wegen „Objektivismus, Liebedienerei vor den alten Philosophen und zahlosen Vegetariertums" vernichtend abgekanzelt worden war.
In der Literatur erschienen der Roman „Jahreszeiten“ von Vera Panowa und die Novelle „Tauwetter“ von Ehrenburg. Beide Werke gaben eine äußerst kritische Darstellung vom Leben der Sowjetintelligenz. Aus der Erzählung Ehrenburgs, deren Titel der ganzen literarischen Strömung den Namen gab, bringen wir ein Zitat:
„Raffael würde heutzutage im Verband bildender Künstler nicht zugelassen. Alles wird verpfuscht, nichts bleibt davon ausgenommen; eine Runkelrübe — verzeihen Sie — ist heute mehr wert als Kunst, aber von niemandem wird eine Runkelrübe groß geschrieben.
Einmal unterhielt sielt Sokolowski mit Puchow über italienische Malerei. Puchow lächelte: , Früher habe ich weiße Hühner gemalt, heute aber stelle ich eine lebensfrohe Bürgerin dar, die eine Schokoladenreklame in der Hand hält, natürlich die teuerste. Es ist außerordentlich wichtig, alle möglichen Sortimente von Konfekt zu berücksichtigen. Sie dagegen wollen, daß ich mir über Goya Gedanken mache . . . ’
Für Ideen zahlt man nicht, mit Ideen kann man sich nur das Genick brechen. In Büchern ist eine Ideologie am Platze. Sie existiert -und das hat seine Ordnung. Ideen aber haben nur Verrückte ... j Abgedruckt in der Zeitschrift „Teatr" und aufgeführt gleich von einem halben Dutzend Bühnen, erschien das Schauspiel „Gäste“ von Sorin, das mitten ins Herz der sowjetischen Gesellschaft zielt. Im Mittelpunkt des Stücks steht Peter Kirpitschow, ein hoher Funktionär der Justizverwaltung. Er ist der Sohn eines alten bolschewistischen Revolutionärs, selber aber korrupt, arrogant und skrupellos. Am Schluß rechnet der Vater mit ihm ab:
„Wir . . . hatten ein schweres Leben. Saßen in den Gefängnissen, kämpften an der Front, machten die Revolution und festigten sie dann; idt wurde, wie man zu sagen pflegt, ein großer Mann. Was hatte sich in meinem Leben geändert? Nichts, die Arbeit mehrte sich.
Alle Güter des Lebens fielen dir zu .. . Das Land wurde stärker und das Volk reicher. Da traten neben dem unermüdlichen, fleißigen Arbeiter unbemerkt, ganz allmählich, auch solche Leute wie du auf den Plan, vollgefressene, hochmütige Beamtenbonzen, die den Kontakt mit den Menschen verloren haben."
Bedeutsam ist die Erklärung, die der alte Kämpfer für die Entartung des Regimes gibt:
„Ich arbeitete Seite an Seite mit den großen Werktätigen unseres Landes und wußte nicht, wie die Macht schmeckt, während du von Kindheit an Geschmack daran fandest, und sie hat dich vergiftet."
Seine Lieblingstochter Barbara pflichtet ihm kategorisch und viel-sagend bei: „Es gibt ein kurzes Wort — Macht!“
In dem Schauspiel werden durchgehend zwei einander feindliche Gruppen gegenübergestellt: auf der einen Seite Peter Kirpitschow und die Funktionäre des Machtapparates, die hohen Bürokraten und Bonzen, auf der anderen Seite die Menschen aus dem Volke, die unter dem Regime zu leiden haben, Intellektuelle und einfache Leute.
In Korneitschuks Stück „Die Flügel" traten zum erstenmal Opfer des stalinistischen Terrors auf die Bühne. Romodan, ein Parteisekretär, kommt in einen Ort, in dem seine Frau Anna als Ärztin arbeitet. Sie leben getrennt, seit Anna nach dem Kriege zusammen mit Hunderttausenden anderer sowjetischer Bürger, die mit den Deutschen in Kontakt gekommen waren, verhaftet wurde. Die Tatsache des Terrors, der Konzentrationslager, der Denunziationen, der Verfolgung Unschuldiger wird offen ausgesprochen, wenn auch auf die „Bande Berija“, die ehemalige Leitung der Geheimpolizei, geschoben. Zu den stärksten Stellen des Stücks gehört eine Szene zwischen den Eheleuten, in der die Frau dem Manne verwirft, daß er sie damals, als sie ungerecht verfolgt wurde, schnöde verlassen und verraten habe. In dem Gespräch der Ehepartner wird die teuflische Tragik des Lebens unter der Diktatur bis in die düstersten Tiefen durchleuchtet.
In dem Stück „Drei fuhren ins Neuland" von Pogodin wurde der Mythos von der enthusiastischen Neulandbesiedlung in Sibirien aufs Korn genommen. Letawin, der Held des Stücks, meldet sich zu der Aktion, „weil ihm hier alles zuwider ist“ und ihn ein Mädchen versetzte, der Rowdy Rakitkin, um sich dem Zugriff der Polizei zu entziehen, das Mädchen Ira, weil es sich im Leben nicht zurecht findet und einsam fühlt. Nicht viel heroischer sind die Motive der anderen Neulandfahrer: eine Näherin spekuliert darauf, unterwegs einen „interessanten Mensehen“ heiraten zu können, eine Stenotypistin hatte Pech mit ihrer Ehe und „setzte sich von diesem Alpdruck ins Neuland ab“, einen Schüler der 10. Klasse hatte man aus der Schule geworfen und eine Dorflehrerin kam „mit einem Traum von einem übernatürlichen Heroismus ins Neuland, weil sie dachte, das Leben sei so etwas Ähnliches wie ein Farbfilm“. Das neue Leben, dem diese Menschen im jungfräulichen Sibirien begegnen, erweist sich als triste, barbarisch, roh und zermürbend — als das Gegenteil jener begeisterten und strahlenden Legenden, die von der Parteipropaganda verbreitet werden: „Hier gibt es gar kein Neuland, hier gibt es nur Schnee, immer wieder Schnee, Wölfe und Stürme.“ Und auch in Pogodins Stück wird am Rande jenes furchtbare Trauma beschworen, das die Sowjetgesellschaft jahrzehntelang aus ihrem Bewußtsein zu verdrängen gesucht hat: das Grauen der Zwangsarbeit.
Die Welle der kritischen Literatur erreichte nur mit großer Verspätung und Abschwächung die Sowjetzone. Der koloniale Status der Zone und die außerordentlich schwache Stellung des Regimes ließen es den Sowjets und noch mehr ihren Kollaborateuren in der SED geraten erscheinen, sehr behutsam vorzugehen. Die deutschen Kommunisten, die fortwährend das Schlagwort von der „Aneignung sowjetischer Erfahrungen" auf den Lippen führten, unterschlugen die neuen sowjetischen Tendenzen, weil die Menschen in Mitteldeutschland dafür „noch nicht reif genug" seien. Sowjetische Artikel, die den neuen Kurs propagierten, wurden unterdrückt oder tendenziös gekürzt, der Abdruck von Satiren sowjetischer Schriftsteller, die im Sinne der neuen Linie die Mißstände der Sowjetgesellschaft anprangerten, wurde untersagt. Es bedurfte des Volksaufstandes vom 17. Juni 195 3 und der anschließenden Rebellion der Intellektuellen, daß wenigstens in einem begrenzten Ausmaß auch im Kulturleben der Zone ein Tauwetter einsetzte.
Wenige Tage nach dem Volksaufstand startete im Ostberliner Deutschen Theater das satirische Lustspiel „Shakespeare dringend gesucht“.
Als sich der junge Dramaturg des Theaters, Dr. Kipphardt, mit diesem Stüde seine Sorgen über den stalinistischen Kulturbetrieb vom Herzen schrieb, war an eine öffentliche Aufführung gar nicht zu denken gewesen (noch im Text nannte er die Idee, in der Zone eine Satire herauszubringen, „die schönste wahnhafte Illusion des zwanzigsten Jahrhunderts“). In den aufgewühlten Tagen nach dem 17. Juni kam das Stück zur rechten Zeit. Da wurden all die Gestalten und Erscheinungen, die dem östlichen Kulturleben ihren gespenstisch-grotesken Charakter verleihen, nach Kräften verspottet. An zwei Stellen wurde das Spiel durch minutenlangen Szenenbeifall unterbrochen: Als eine „Abgesandte aus Berlin“ (vergleichbar dem reitenden Boten des Königs am Ende der klassischen französischen Komödien) zu einem lokalen Kulturgewaltigen kommt, einem ehemaligen Milchprüfer, der sich durch die Austreibung aller Talente „um den künstlerischen Nachwuchs verdient gemacht“ hat, und dessen Suada mit den Worten unterbricht: „Ich weiß nidtt, ob man einen Fachmann wie Sie auf die Dauer der Mildtwirtschaft entziehen kann ..." Und bei dem Ausspruch: „Wir braudten Menschen, die bei ihrer Arbeit das Gesidtt den Massen und nidtt den vorgesetzten Dienststellen zuwenden!" Kipphardts in glücklicher Stunde zur Welt gekommenes Stück ging im Triumphzug über die Bühnen der Zone und wurde von Tausenden und aber Tausenden von Menschen bejubelt, die vom internen Theaterbetrieb keine Ahnung hatten — alle verstanden, worum es ging.
In demselben Theater wurde einige Zeit später ein weiteres Schauspiel aufgeführt, das durch seinen ungeschminkten Realismus verblüffte, „Die Dorfstraße" von Matusche. Einem augenkranken deutschen Offizier ist die Netzhaut eines polnischen Mädchens eingesetzt worden, das darauf erblindet ist. Dieser Offizier ist nun aber kein faschistischer Unmensch, was das Urteil leicht gemacht hätte, sondern rettet in den letzten Tagen des Krieges polnische Frauen vor dem Tode. Das Mädchen drückt ihm schließlich die Hand. Aber unglücklich bleibt es doch. Den notleidenden Flüchtlingen bringt die Bodenreform Land. Aber auch die Enteigneten haben gegen den Nationalsozialismus gestanden, sind zum Teil anständige Menschen, während gerade die Flüchtlinge antisowjetisch eingestellt sind. Ein Mädchen hat ein Verhältnis mit einem polnischen Grenzsoldaten. Ist es eine „Grenzhure“, wie seine deutschen Landsleute sagen, oder vertritt es die Völkerfreundschaft? Im Gegensatz zu den früheren sowjetzonalen Stücken, in denen die Verhältnisse stets ganz glatt, unzweideutig und schöngefärbt gezeichnet waren, hat Ma-tusche alles kraß und zugespitzt, in aller Offenheit und Widersprüchlichkeit vor Augen gestellt. Allerdings war diesem Stück nicht mehr die Breitenwirkung wie der Komödie Kipphardts beschieden, denn inzwischen hatte Moskau selbst die Liberalisierung zurückgepfiffen.
Der neue Kurs war — auf politischem, wirtschaftlichem wie kulturellem Gebiet — seinen Initiatoren im Kreml über den Kopf, gewachsen. Überall im Volke äußerte sich der Drang nach Freiheit. Die Menschen waren mit ein paar Konzessionen nicht zufrieden und stießen an vielen Stellen über die Grenzen hinaus, die die Partei-Ideologen in ihren Diskussionen abgesteckt hatten. Die Aufstände in der Sowjetzone und in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern, die Massenstreiks in der Tschechoslowakei rührten an die Grundfesten des Sowjetstaates. Auch die Literatur hatte sich nicht damit begnügt, die Schwächen und Mängel der bürokratischen Apparate zu kritisieren, sondern hatte die kommuni-stische Klassengesellschaft überhaupt in Frage gestellt. Es lag im Interesse der gesamten Oberschicht, einschließlich der Technokratie und der Armee, die Verhältnisse zu stabilisieren. Die Liberalisierung wurde gestoppt, die Autorität der Partei restauriert, schließlich der liberale Malenkow durch den Parteiboß Chruschtschow gestürzt.
Das Kulturleben wurde 1954/55 wieder im alten Sinne und mit den alten Methoden ausgerichtet. Der Kulturminister Alexandrow sowie die Chefredakteure der Zeitschriften „Nowy Mir“ und „Oktjabr“, in denen die kühnsten Artikel und literarischen Arbeiten erschienen waren, wurden ihrer Stellungen enthoben. Das Parteiorgan „Prawda“ verurteilte die Werke von Ehrenburg und Panowa. In einer außerordentlichen Sitzung des Kulturministeriums der UdSSR wurde über Sorins Schauspiel „Gäste“ der Stab gebrochen. Es habe den Zustand des sowjetischen Apparats verzerrt dargestellt, unter dem Deckmantel der Kritik an Heuchlern und Beamtenseelen die ganze Sowjetgesellschaft, die fortschrittlichste der Welt, grundlos verdächtigt und daher nichts mit sowjetischer Literatur gemein. In dem Beschluß wurden namentlich alle Personen und Instanzen angeführt und gerügt, die das Stück befürwortet oder zumindest nicht unterdrückt hatten, einige prominente Schriftsteller, die Kritiker verschiedener Zeitungen und Zeitschriften, die Zensurbeamten des Ministeriums und die Bühnen, die es gespielt hatten. Im gleichen Atemzug mit Sorins „Gästen" wurde die gesamte neue gesellschaftskritische Dramatik verboten: „Auch ein Funktionär“ von Gorodezki, „Der Untergang Pompejews" von Wirta, „Der Erbprinz" von Mariengof, „Wann wir schön sind“ von Panfjorow, „Anständige Menschen" von Surow und andere — durchweg Stücke, die den Funktionärsapparat, die Sowjetbourgeoisie oder die Moskauer jeunesse doree angriffen. Besonders aggressiv war die Attacke der Parteizeitungen gegen Pogodins „Drei fuhren ins Neuland“, da sich der Stoß des Stücks ja gegen die Lieblingsidee Chruschtschows, die Neulandbesiedlung, gerichtet hatte.
Korneitschuks „Flügel“ entgingen der Parteifeme, weil darin die Kritik auf die inzwischen zerschlagene Berija-Fraktion spezifiziert worden war.
Es sollte sich jedoch bald zeigen, daß trotz der zeitweiligen Reaktion der Zersetzungsprozeß im totalitären System weiterging. Der liberale „Thermidorianer" -Flügel in der Parteiführung war zwar durch die unliebsamen Erschütterungen des inneren Gefüges und der Machtstellung des Sowjetreiches zum Rückzug gezwungen worden, dachte aber gar nicht daran, die alte Zwangsjacke wieder anzuziehen. Und politische Notwendigkeiten auf allen Gebieten zwangen auch die nun wieder tonangebenden Radikalen zu einem sukzessiven Abbau der stalinistischen Maßnahmen. Chruschtschow selbst ging der Zuckerbäcker-Architektur zu Leibe. Er erklärte Anfang 195 5 auf einer Baukonferenz in Moskau:
„Einige Architekten verzieren die Gebäude gern mit Turmaufsätzen, wodurch diese kirchenähnlich wirken. Ich will nicht über den Geschmad^ streiten, aber für Wohnhäuser ist solches Aussehen nidit erforderlich. Ein modernes Wohnhaus darf durdt die architektonisdte Gestaltung nicht in eine Kirdte oder ein Museum verwandelt werden.
Das schafft keinerlei Bequemlichkeit für die Bewohner des Hauses und erhöht die clnterhaltskosten."
Diese Äußerung des obersten sowjetischen Parteiführers noch nach Ende des Neuen Kurses paßte der SED, die die Liberalisierung nur widerstrebend und als letzte mitgemacht und als erste liquidiert hatte, wenig ins Konzept. Ulbricht, der sich als Experte für Baukunst fühlte, bemerkte sofort:
„Die Kritik der Moskauer Baukonferenz an den Hodthäusern kann man nidit schematisch auf unsere Verhältnisse übertragen, denn bei uns gibt es in diesem Sinne gar keine Hodihäuser. Wir müssen berücksichtigen, daß in Deutsdiland die Frage der vertikalen Dominanten im Stadtbild ein wesentlicher Bestandteil des Städtebaus ist . .
Natürlich nutzte diese Ausrede der SED wenig, denn schon bald danach mußte sie sich doch auf die sowjetische Linie umstellen; auch in der Zone wurde die Prunkarchitektur verurteilt.
Die Direktiven des XX. Parteitages
a) In Literatur und Kunst Die politische Linie, die im Februar 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU in Moskau festgelegt wurde, kann man als das Ergebnis eines Übereinkommens, eines Kompromisses zwischen dem Parteiapparat (Chruschtschow) und den Repräsentanten der Managerschicht (Mikojan, Malenkow) sowie der Armee (Shukow) ansehen. Das Wesen des Kompromisses besteht m. E. darin, daß an Stelle der beiden Alternativen: Totalitarismus und Demokratie ein Mittelweg gesucht wird, der die stalinistische Arteriosklerose kuriert, ohne den Bestand der Sowjetmacht zu gefährden. Einen solchen Mittelweg glauben die Männer des bolschewistischen Parteipräsidiums in der sogenannten Leninistischen Renaissance gefunden zu haben.
Zur Vorbereitung des Parteitags erschien in der Moskauer partei-theoretischen Zeitschrift „Kommunist“ ein redaktioneller Artikel, der die Kunstpolitik der kollektiven Diktatur festlegte. In dem autoritativen Artikel wird die neue Linie nach zwei Seiten abgegrenzt. Einmal gegen den Shdanowismus, die stalinistische Kulturpolitik:
„Eine Grundbedingung für die Entwicklung einer von hohen Ideen getragenen, wahrhaft künstlerischen Literatur und Kunst ist der unversöhnliche Kampf gegen Einförmigkeit und Gleichmacherei im künstlerischen Schaffen. Nur eine prägnante, ausdrucksvolle Kunst kamt den ästhetisdien Ansprüchen der Sowjetmenschen genügen und ihre aktive erzieherisdie Funktion erfüllen. Die Aufgabe der sowjetischen Schriftsteller und Künstler besteht darin, sich den ganzen Reidttum auf dem Gebiete der künstlerischen Meistersdraft, den die Menschheit angesammelt hat, anzueignen und diesen Reichtum durdt neue schöpferische Entdeckungen kühn zu mehren. Der sozialistische Realismus zieht in dieser Hinsicht keinerlei Grenzen. Er setzt Mannigfaltigkeit der Stile und Formen des künstlerischen Schaffens, aber audi Mannigfaltigkeit der Typisierungsmethoden voraus.“
Andererseits wendet sich der Artikel gegen den in der Liberalisierungsphase aufgekommenen Kritischen Realismus, dabei gegen Malenkows Forderung nach einer satirisch zugespitzten Darstellung der gesellschaftlichen Mängel polemisierend:
„Eine weitere große Gefahr, die mit der scholastisch ausgelegten Forderung nach Überbetonung verbunden ist, besteht darin, daß sie zur hypertrophierten Darstellung negativer Ersdieinungen unserer Wirklichkeit hinlenkt, eine Art der Darstellung, die zur Entstellung und zur Simplifizierung der Wirklidikeit führt. Bekanntlidt trat diese falsche Tendenz besonders deutlich in einer Reihe von Artikeln der Zeitschrift , Nowy Mir'oder in Bühnenstüdten wie , Gäste'von L. Sorin und , Der Untergang Pompejews'von N. Wirta zutage. Die sowjetische Öffentlichkeit und die Presse haben diese Werke entschieden abgelehnt.“
Der Gedankengang, der die sowjetische Führung zu dieser Kursfestsetzung bewegte, scheint einleuchtend. Man ist sich darüber im klaren, daß Stalin und Shdanow mit ihrer engstirnigen Kulturpolitik die in den zwanziger Jahren blühende Sowjetkunst zerstört haben. Dem kulturellen Leben in der Sowjetunion und dem internationalen Ansehen des Bolschewismus wurde dadurch unermeßlicher Schaden zugefügt. Wenn man nun die kleinlichen Schikanen und ständigen Eingriffe in den schöpferischen Prozeß der Künstler unterläßt — so geht die Überlegung —, müßte man doch die große Kunst der sowjetischen Frühzeit wieder-erwecken können. Sollen die Schriftsteller und Künstler ruhig experimentieren und formalen Extravaganzen nachgehen, wenn sie nur zu Ruhm und Ehre des kommunistischen Regimes schaffen. Mit dem Zugeständnis der formalen Freizügigkeit kommt man zugleich den Ansprüchen der Managerschicht entgegen, deren Lebensstil und Geschmack ja das asketische Ideal der alten Berufsrevolutionäre weit hinter sich gelassen hat. So hat man denn im Zuge einer Restauration der Revolutionskunst die Satiren Majakowskis, um deretwillen der Dichter vor fünfundzwanzig Jahren in den Tod gehetzt wurde, wiederaufgeführt, den großen Theaterregisseur Meyerhold und andere von Stalin ermordete Künstler rehabilitiert, die Werke Picassos ausgestellt und erstmals einen Artikel veröffentlicht, der das solange als „formalistisch" verschrieene Epische Theater Brechts rühmte.
So weit, so gut. Aber die Rechnung des Politbüros hat einige Fehler. Der erste: Es ist unmöglich, die Leninsche Epoche zu restaurieren. Die Kunst jener Phase bezog ihre Überzeugungskraft und Ausdrucksgewalt aus dem Pathos der damals noch ungebrochenen revolutionären Illusionen.
Sie stellte die Qualen und Widersprüche der Zeit mit schonungsloser und unerbittlicher Aufrichtigkeit dar und legitimierte sie aus einem inbrünstigen Glauben an das Herannahen einer besseren Weltordnung.
Stalin und Shdanow haben diese Kunst, die dem Weltbolschewismus propagandistisch doch so nützlich war, nicht aus Mutwillen oder bloßem Banausentum zerstört. Sie spürten mit mehr Instinkt als Verstand, daß die kompromißlose revolutionäre Aussage sich in dem Augenblick gegen den Bolschewismus selbst wenden mußte, als sich dessen heroische Ideale zur stalinistischen Realität materialisierten. Lind alles das, was die revolutionäre Kunst der zwanziger Jahre für den Stalinismus unannehmbar machte — ihre unbestechliche Wahrheitsliebe, ihre Anprangerung allen Übels und ihr leidenschaftlicher Wille zur Veränderung, zur Verbesserung der Welt —, trennt sie auch von dem nach-stalinistischen Sowjetregime. Das kurze Experiment mit dem Kritischen Realismus unter Malenkow hat gezeigt, daß jede Kunstäußerung, die der Wahrheit die Ehre gibt, an den Grundfesten der kommunistischen Gesellschaftsordnung rüttelt. Nicht zufällig richtete sich die schärfste Kritik der Partei gegen einen Artikel des jungen Publizisten Pomeranzew in „Nowy Mir", in dem die Aufrichtigkeit das wichtigste Kriterium eines Kunstwerkes genannt worden war.
Zweitens: Man kann den Schriftstellern und Künstlern nicht in formaler Hinsicht schöpferische Freiheit zubilligen, die inhaltliche Tendenz aber vorschreiben. Als Nachfahren von Hegel und Marx sollten die Sowjetführer eigentlich wissen, daß man Form und Inhalt nicht voneinander trennen kann, beide zusammen ergeben die Aussage, auf die es ankommt. Der Kampf gegen den „Formalismus", den die Stalinisten führten, ging ja niemals nur um Formfragen. Das Regime hat das formalistische Klassische Ballett genau so okkupiert wie die naturalistische Malerei; sie wurden beide in gleicher Weise zu Instrumenten der Massenbeeinflussung transformiert, wobei sie beide bei aller äußeren artistischen Perfektion das Wesen des Künstlerischen verloren: die schöpferische Aussage. Ein echter Künstler, der von dem Drang des Sagen-Wollens erfüllt ist, wird, wenn er die formalen Grenzen der Kunst erweitert, zugleich auch neue Ideen und Gehalte hervorbringen.
Die Erlaubnis zum Experiment birgt also für das Regime nicht wenig Explosivkraft in sich.
Schließlich: Was bei der vorgeschriebenen Linie — wenn sie durchgehalten wird — bestenfalls herauskommen könnte, ist ein Phänomen, das Lenin einmal als „die beiden Kulturen einer Klassengesellschaft“
beschrieben hat. Einerseits vielleicht eine brillante und kultivierte, aber ideell belanglose Kunstproduktion, die, wie es so schön heißt, „sich den ganzen Reichtum auf dem Gebiet der künstlerischen Meisterschaft, den die Menschheit angesammelt hat, aneignet“ — ein Kunstbetrieb zur Freude und zum Glanze der saturierten Sowjetbourgeoisie. Man konnte solche Art von Kunst übrigens schon unter Stalin in der Moskauer Großen Oper bewundern; die Tatsache, daß nun vielleicht auch der Impressionismus und der Expressionismus epigonal ausgeschlachtet werden dürfen, wird an dem Charakter des Bildes nicht viel ändern. Andererseits wird es eine Kunst geben, die die Wahrheit über die kommunistische Gesellschaft zu sagen versucht und die Meinung des Volkes ausdrückt — sie will man nach wie vor in die Katakomben treiben.
b) In den Wissenschaften Auch im Bereich der Wissenschaften geht die'Politik, die nach dem XX. Parteitag eingeschlagen wurde, auf den Versuch hinaus, einen Kompromiß zwischen schöpferischer Freiheit und der Integrität der Parteiherrschaft zu finden. Die neue Linie ist einem Redaktionsartikel der Moskauer Parteizeitschrift „Partinaja Shisn“ zu entnehmen. Da wird die Praxis, die der Stalinismus der Wissenschaft gegenüber anzuwenden pflegte, in mancher Hinsicht korrigiert. Erstens:
„Die Parteiorganisationen dürfen nicht dulden, daß wissenschaftliche Auseinandersetzungen Mit unwissenschaftlichen Mitteln gelöst werden: also etwa nicht durch die Diskussion, das Experiutent, die Praxis usw., sondern durch administrativen Drud^. Die Abrechnung mit den Andersdenkenden, ihre Ausstoßung aus der Wissensclraft und Diffamierung, alles dies stellt dem Wesen der Sache nad^ eine Förderung der Prinzipienlosigkeit und des Kastengeistes dar.“
Zweitens:
„Man stößt unter den wissenschaftlichen Arbeitern sowohl auf solche, die oberflächlich, als auch auf solche, die den Fakten und Erscheinungen gegenüber völlig verantwortungslos sind. Sie gehen nidht von den Tatsad^en aus, sondern passen die Fakten ihren eigenen 'Voraussetzungen an. Die Willkür im Umgang mit dokumentarischen Quellen, das Herausrupfen von Zitaten und Fakten sind ebenfalls eine durchaus nicht seltene Erscheinung. Anstatt durch ein peinlich genaues Studium des Materials zu diesen oder jenen Schlußfolgerungen zu gelangen, beschreiten einige wissenschaftliche Arbeiter den entgegengesetzten Weg: Sie machen das dokumentarische Material einem bereits vorher umrissenen Schema gefügig.“
Doch wird andererseits ausdrücklich und sehr energisch die VormachtStellung der Partei-Ideologie betont:
„Prinzipientreue des sowjetischen wissenschaftlichen Arbeiters heißt vor allen Dingen Ergebenheit gegenüber der marxistisch-leninistischen Lehre und unermüdlicher Kampf gegen die bourgeoise Ideologie. Die Freiheit der Behandlung wissenschaftlicher Probleme ist keinesfalls gleidibedeutend mit einer Freiheit zur Predigt der bourgeoisen Ideologie, mit einer Freiheit zur Vertretung antimarxistischer Ansichten in dieser oder jener Wissenschaft. Der wahren Prinzipientreue des wissenschaftlichen Arbeiters liegt die kommunistische Parteilichkeit zugrunde, die sich aus der wissenschaftlichen Objektivität organisch ergibt.“
Die Wissenschaft soll also Magd der Parteipolitik bleiben, aber ihr soll so viel Freizügigkeit und Eigengesetzlichkeit zugestanden werden, daß sie ihrer dienenden Rolle mit mehr Erfolg als bisher gerecht zu werden vermag. Dabei gehen die Parteitheoretiker von der utopischen Annahme aus, daß die Wissenschaft mit dem wahren, von der stalinistischen Verzerrung gereinigten Kommunismus harmonisieren müsse, weil ihrer Meinung nach beide, die Wissenschaft wie der Kommunismus, mit den Entwicklungstendenzen der Geschichte übereinstimmten. Die paradox erscheinende Identität von wissenschaftlicher Objektivität und kommunistischer Parteilichkeit leiten die Parteitheoretiker aus dem Dogma ab, nach dem der Kommunismus das „letzte Wort des wissenschaftlichen Denkens“ darstellt. Wie die Dinge in Wirklichkeit liegen, wollen wir an einigen Beispielen aus wissenschaftlichen Fachgebieten untersuchen.
In der Geschichtswissenschaft wurde der Glorienschein Stalins zerstört. So wurden ihm die angemaßten Verdienste als größter Feldherr aller Zeiten abgesprochen. Er habe, so heißt es nun mit Recht, z. B. keinen hervorragenden Anteil am Sieg der Sowjetmacht im russischen Bürgerkrieg gehabt. Was aber postuliert man statt dessen?
„In Wirklichkeit war W. I. Lenin, der sich als glänzender Theoretiker des wissenschaftlichen Kommunismus, als genialer Führer der Werktätigen sowie als Scltöpfer der Kommunistischen Partei und des Sowjetstaates auswies, während jener Zeit ein großer Stratege, der Organisator einer Armee neuen Typs — der Sowjetarmee. Er leistete einen unschätzbaren Beitrag zur Entwicklung des Kriegswesens, zur Organisierung der Verteidigung des ersten sozialistischen Staates der Welt gegen äußere und innere Feinde.“
Diese Darstellung ist von der objektiven Wahrheit nicht viel weniger weit entfernt als die stalinistische Version. Lenin war Politiker, ein genialer Politiker zweifellos, aber von militärischen Angelegenheiten verstand er wenig und hat weder bei der Oktoberrevolution noch im Bürgerkrieg die Operationen geleitet. Das war die Aufgabe Trotzkis, der während der Revolution das militärrevolutionäre Komitee und während des Bürgerkrieges das Kriegskommissariat leitete. Da aber die der-zeitige Parteiführung im Kreml vor einer Rehabilitierung Trotzkis zurückschreckt, sieht sie sich gezwungen, an die Stelle der Stalin-Legende nicht die Wahrheit, sondern einen Lenin-Mythos zu setzen.
Die wichtigste Folge der Umorientierung von Stalin auf Lenin ist die Verlagerung des bolschewistischen Interesses vom russischen Imperialismus auf die Weltrevolution. Dadurch sind in der historischen Wissenschaft einige Korrekturen möglich geworden. Während Stalin z. B. unter Anwendung horrender Geschichtsklitterungen auf einer slawischen Urzeugung des russischen Reiches beharrte, räumt man jetzt den Normannen und Byzanz wieder einen gewissen Einfluß auf die russische Staats-gründung ein. Doch diese Korrekturen werden sehr allmählich und vorsichtig vorgenommen und reichen für eine ernsthafte Objektivierung der Geschichtsschreibung noch lange nicht aus. So hat man wohl die Verdienste der ukrainischen und transkaukasischen Bolschewisten um die Revolution, die von Stalin aus persönlichen und nationalistischen Gründen bestritten worden waren, wieder anerkannt, aber über die Rolle der nichtbolschewistischen Kräfte in der Ukraine und im Kaukasus wird nach wie vor die Unwahrheit verbreitet.
In der Politökonomie kritisierte man die Art, wie unter dem Stalinismus die Wirtschaft der westlichen Welt behandelt wurde:
„Viele Wissenschaftler nehmen der Wirtschaftlage des Kapitalismus der Gegenwart gegenüber eine dogmatische und simplifizierende Haltung ein. Dies findet in einer unbegründeten Ablehnung oder in einem Verschweigen der Leistungen seinen Ausdrucl^, die in den kapitalistischen Ländern im Rahmen der Entwicklung der Produktion, der Wissenschaft und der Technik erzielt wurden. Sie tritt ferner zutage in einer Ignorierung der Unterschiede in der Lage der Arbeiterklasse und des Bauerntums der verschienen kapitalistischen Länder sowie in der Lage der einzelnen Schichten und Zwischenschichten des Proletariats in jedem Lande.“
Die Diskrepanz zwischen der bisher üblichen kommunistischen Propaganda über den Westen und der tatsächlichen Prosperität der westlichen Wirtschaft ist so augenfällig geworden, daß den Moskauer Theoretikern eine Überprüfung der taktischen Linie unerläßlich erscheint. Das bedeutet aber nicht, daß den Politökonomen nun angeraten wird, der Wahrheit nachzugehen, sie sollen nur die kommunistischen Thesen hinfort durch stichhaltigere Argumente untermauern:
„Den Wirtschaftlern ist die Aufgabe gestellt, die Prozesse zu erforschen, die die Vertiefung der allgemeinen Krise des Kapitalismus charakterisieren . . . Die Aufgabe besteht darin, diesen Untersuchungen ein gebührendes theoretisdtes Niveau zu sichern und dem Dogmatismus und der Simplifizierung zu entsagen.“
Die scharfe theoretische Unterscheidung zwischen Gesellschafts-und Naturwissenschaften, wie sie bei der ideologischen Vorbereitung des Neuen Kurses herausgearbeitet worden ist, hat die Lage der naturwissenschaftlichen Forscher und technischen Spezialisten günstiger gestaltet als die ihrer auf geisteswissenschaftlichem Gebiet tätigen Kollegen. Die Naturwissenschaft soll dem Kommunismus nicht ideologisch, sondern materiell dienen, nicht durch Mythenbildung, sondern durch technische Leistungen. Die fachliche Qualifikation wird wieder vor die politische Gesinnung gesetzt. So wurde auf dem XX. Parteitag wiederholt die Forderung erhoben, daß sich die Parteifunktionäre, die sich mit Fragen der Wirtschaft bzw.der Wissenschaft befassen, selbst eine fachliche Bildung aneignen sollen. Die Einmischung der Ideologen in die Naturwissenschaft wurde zurückgepfiffen:
„Einige Mitarbeiter des Philosophischen Instituts nahmen zu philosophischen Fragen der modernen Naturwissenschaft eine verkehrte Haltung ein . , . betrachteten z. B. die Relativitätstheorie von einem nihilistischen Standpunkt aus, verwarfen ihre wertvollen physikalischen Ergebnisse mit dem Hinweis, sie widersprächen dem dialektischen Materialismus. Statt die gewaltigen wissenschaftlichen Entdeckungen der Vergangenheit, wie beispielsweise die von den Klassikern des Marxismus hochgeschätzte Entwiddungstheorie Darwins, möglichst umfassend auszunutzen, konfrontierten einige wissenschaftlidte Mitarbeiter die Mitschurinschen Ideen in der Biologie mit dem Darwinismus als einem , platten Evolutionismus'; sie entwerteten den Darwinismus als eine . bürgerliche Theorie'und überantworteten ihn auf diese Weise den Sozial-Darwinisten, Rassisten, Eugenetikern und Neomalthusianern.“
Die „neue Arttheorie" Lyssenkos und die „neue Zellentheorie" der Lepeschinskaja, zwei berüchtigte pseudowissenschaftliche Lehren, die unter dem Stalinismus hochgekommen waren und die Sowjetbiologie in nicht geringe Verwirrung gestürzt hatten, wurden nunmehr parteiamtlich verurteilt. Einige große russische Wissenschaftler, Mitglieder der Akademie, die Stalin hatte maßregeln lassen, so der Physiologe Orbeli und der — inzwischen im KZ umgekommene — Genetiker Wawilow, wurden in allen Ehren rehabilitiert.
Die Isolierung der Sowjetwissenschaft gegenüber dem Westen wurde aufgehoben. Chruschtschow selbst erklärte:
„Wir müssen daher die Wirtsdtaft des Kapitalismus aufmerksam beobadtten, dürfen die Leninsdte These über die Fäulnis des Imperrialismus nicht simplifiziert verstehen und müssen alles das studieren, was Wissensdiaft und Tedtnik in den Ländern des Kapitalismus an besonders Wertvollem aufzuweisen haben, um die Errungenschaften des tedmisdien Fortsdiritts in der Welt im Interesse des Sozialismus auszuwerten.“
Zusammenfassend kann man sagen, daß wohl die Geistes-bzw. Gesellschaftswissenschaften ähnlich der Kunst weiter dem ideologischen Zwang ausgesetzt bleiben — wenn auch in modifizierter und vielleicht gemäßigter Form —, daß jedoch im Bereich der Naturwissenschaften und der Technik alle Anstalten getroffen werden, die eine freie Entwicklung möglich machen sollen. Lim für den Wettkampf der großen Industrie-mächte im Zeitalter der Atomwirtschaft, Elektronik und Automation gerüstet zu sein, sah sich die sowjetische Führung gezwungen, im naturwissenschaftlich-technischen Bereich die totalitären Barrieren weitgehend beiseite zu räumen. Das bedeutet, daß die Sowjetwissenschaft ein sehr gefährlicher Konkurrent des Westens werden kann, zumal ja die Diktatur in viel großzügigerer Weise als die Demokratie Gelder für Forschungszwecke bereitzustellen vermag. Die Freisetzung der Naturwissenschaft hat allerdings für das bolschewistische Regime auch eine Kehrseite: die schöpferische Tätigkeit, geistige Souveränität und Persönlichkeitsdurchbildüng der Intelligenz wird, wenn sie sich tatsächlich ungehindert entfalten kann, ein Kristallisationskern der Opposition werden. Ist erst ein Kopernikus aufgetreten, wird der Giordano Bruno nicht lange auf sich warten lassen.
c) In Erziehung und Moral Einige Beispiele sollen erläutern, wie sich die sogenannte „Leninistische Renaissance“ im pädagogischen Sektor auswirkt.
Der Stalinismus hatte die reformpädagogischen Bestrebungen, die in den zwanziger Jahren in der Sowjetunion wirksam waren, verworfen und sich zur herkömmlichen Lernschule bekannt, deren Methode des geistigen Drills und des Einpaukens dem totalitären System entgegenkam. Die Sowjetschule war die rückständigste in Europa. In den letzten Jahren konnte man nun beobachten, wie sich die Sowjetpädagogik allmählich wieder dem reformerischen Prinzip der Arbeitsschule zuwandte, freilich in eigentümlicher Deformierung. Man spricht von einer „Polytechnisierung“
der Schule.
In der Praxis sieht das so aus: Die Lehrer der naturkundlichen Fächer wie Biologie, Physik, Chemie, Mathematik dürfen ihr Fachgebiet nicht mehr als wissenschaftliche Disziplin, sondern nur als Voraussetzung und Hinführung zum Produktionsprozeß betrachten. In den Schulstunden, die dem eigentlichen polytechnischen Unterricht vorbehalten sind, werden die Schüler — auch die Oberschüler — mit der Produktion selbst bekannt gemacht. Sie haben zu lernen, wie man mit Maschinen umgeht, sie müssen bohren, hämmern, fräsen, feilen, sie werden in die Arbeitsgänge der Landwirtschaft eingeführt, kurz, sie werden mit Arbeiten beschäftigt, die normalerweise einen Lehrling angehen. Der polytechnische LInterricht wird ergänzt durch betriebstechnische Praktiken der Schüler in Fabriken und auf Kolchosen und durch außerschulische technische Zirkel. Welches Ausmaß der praktischen Unterweisung zugedacht ist, geht aus einer sowjetischen Richtlinie für einen idealen Tages-Lehrplan hervor:
„Es ist ... zu regeln, daß nicht mehr als vier Stunden auf den Unterricht, nicht weniger als zwei Stunden auf die produktive Arbeit und eine bis anderthalb Stunde auf die Leibeserziehung und den Sport entfallen.“
Es ist offensichtlich, daß diese Methode mit der Idee der Arbeitsschule nur in Äußerlichkeiten übereinstimmt. Denn die Arbeitsschule will die Kinder zu praktischer Tätigkeit anhalten, um die Aneignung des Wissens zu fördern und zu vertiefen und um die Universalität der Persönlichkeit zu entwickeln. Die polytechnische Schule hingegen setzt sich die Aufgabe, im Schnellverfahren künftige Ingenieure, Techniker und Spezialarbeiter heranzuziehen. Dabei wird die technische Ausbildung auf Kosten der universalen Bildung betrieben. Die allgemeinbildenden Schulen müssen einen Teil des Pensums übernehmen, der von Rechts wegen den Berufs-und Fachschulen zufällt.
Durch das polytechnische Verfahren sucht sich die Sowjetunion einen Vorsprung in der Heranbildung von Kadern für die Aufgaben des Atomzeitalters zu sichern. Schon im Jahre 195 5 warteten die sowjetischen Technischen Hochschulen mit 60 000 Absolventen auf, während die entsprechenden Institute in den LISA nur 22 300, in England 3 000, in der Bundesrepublik 5 200 technische Spezialkräfte hervorbrachten. Dieses Zahlenverhältnis verschiebt sich zusehends zu Gunsten der Sowjetunion, die weit mehr Investitionsmittel und Stipendien für das Hochschulstudium ausschüttet als der Westen. Als Ziel des laufenden Fünfjahrplans ist vorgesehen, daß die gesamte schulpflichtige Jugend der Sowjetunion die „Mittelschule“ — das ist die sowjetische Oberschule, die mit dem sowjetischen Abitur abschließt — absolvieren soll.
Dieses imposante und den Westen alarmierende Programm forcierter Volksbildung verliert freilich einiges von seinem Glanz, wenn man es etwas näher betrachtet. Es ist kaum anzunehmen, daß das Planziel einer allgemeinen höheren Schulbildung in absehbarer Zeit erreicht wird, denn bisher ist es den Sowjets noch nicht einmal gelungen, das Analphabetentum zu beseitigen, geschweige denn den Besuch der siebenjährigen sogenannten „Unvollständigen Mittelschule“ für alle Kinder zu gewährleisten.
Auch umfaßt die vollständige „Mittelschule“ nur zehn Klassen:
infolge der Politisierung und Polytechnisierung des Unterrichts steht sie, was die Vermittlung von Bildungsgut angeht, weit hinter unseren höheren Schulen zurück. Geistige Kapazitäten kann man nicht heranzüchten wie Kaninchen; die technische Spezialisierung muß durch eine Persönlichkeitsbildung ergänzt werden, wenn sie wirklich fruchtbar werden soll. Souveränität und Initiative, Eigenschaften, die für wissenschaftlich-technische Kräfte von Rang unerläßlich sind, können nur im Zuge eines Bildungsweges entwickelt werden, der auf Vermittlung geistiger Werte und weiter Horizonte aufgebaut ist. Die Sowjetunion hat einen Schritt getan, um ihr Bildungssystem den Anforderungen der Zeit anzupassen, indem sie von der totalitären Politschule zur technisch-naturwissenschaftlichen Schule übergegangen ist. Will sie im Wettkampf des Geistes bestehen, wird sie über kurz oder lang den zweiten Schritt tun müssen, den Schritt zur universalen humanistischen Schule, die die physische und praktische Ausbildung der Kinder mit der geistigen vereint.
Das aber wird dann nicht nur eine Verlangsamung der Ausbildungsdynamik mit sich bringen, sondern vor allem eine echte Förderung des allgemeinen geistigen Niveaus, womit das Regime des Ungeistes Voraussetzungen seines eigenen Unterganges schafft.
Eine andere Errungenschaft der neuen pädagogischen Politik, die — wiederum äußerlich — an Leninsche Zeiten, an die Methode der Kollektiverziehung Makarenkos, erinnert, stellt das Projekt der Internatschulen dar. Chruschtschow, der von der Idee offenbar persönlich angetan ist, erklärte:
„Es wäre zweckmäßig, Internatsdiulen (über diese Benennung ließe sich nodt diskutieren) zu erriditen und sie außerhalb der Stadtzentren auf gesunde Carten-und Waldbezirke zu verteilen. In solche Internat-schulen sollten Kinder nur auf eigenen Wunsch der Eltern ausgenommen werden. Hier würden sie ständig leben und könnten sich an Feiertagen, in den Ferien und während der Freizeit mit ihren Eltern treffen . . . Die ungeheure Bedeutung einer solchen pädagogischen Einrichtung kann man kaum hodi genug veransddagen. Hierfür sollte an Mitteln und Anstrengungen nidtt gespart werden, denn sie machen sich hundertfach bezahlt.“
Es ist vorgesehen, daß die geschlossene, internatsmäßige Staatserziehung „von der Geburt bis zur Reife" einmal alle sowjetischen Kinder erfassen soll. Das Projekt macht auf den ersten Blick den Eindruck einer beängstigenden Hypertrophie des totalitären Systems, wie sie der visionären Phantasie Orwells hätte entsprungen sein können: eine Kasernierung der gesamten Jugend des Landes, um sie dem Einfluß des Elternhauses zu entziehen und unbehindert dem bolschewistischen Prägestock zu unterwerfen. Sicher ist die Begeisterung Chruschtschows für die Internatschulen auf diesen verlockenden Gedanken zurückzuführen; die Partei sieht eine Chance, um ihren mit Abbau des Zwanges dahinschwindenden Einfluß ideologisch zu festigen. In der sowjetischenj Bevölkerung und Lehrerschaft hat das Projekt denn auch schon eine Welle des Protestes ausgelöst.
Zum Glück ist an eine totale Verwirklichung des Internatsystems überhaupt nicht zu denken. Die Regierung mußte ausdrücklich die Freiwilligkeit des Beitritts zusichern (was allerdings jederzeit widerrufen werden kann), vor allem aber ist es vollkommen ausgeschlossen, die enormen Mittel für den Aufbau des Mammutunternehmens aufzubringen.
So werden die Internatschulen, wie aus den neuesten Veröffentlichungen hervorgeht, wohl nur Bildungsanstalten einer Elite werden.
In dieser Hinsicht gibt es zwei Möglichkeiten: entweder werden sie zu „Kaderschmieden“ der Staatsmacht entwickelt (analog zu Kadettenanstalten, Adolf-Hitler-Schulen usw.) oder zu exklusiven Erziehungsstätten für den Nachwuchs der Oberschicht (analog zu den englischen public schools). Welche Richtung das sowjetische Internatschulsystem einschlagen wird, ist noch nicht abzusehen; es hängt davon ab, wie der Machtkampf um die Führung im Staate ausgeht, welche der beiden rivalisierenden Kräfte, Parteiapparat oder Oberschicht, sich der Schulen bemächtigen wird.
Auf dem Gebiete der öffentlichen Moral wurde eine Anzahl von Maßnahmen getroffen, um die Schere zwischen puritanischer Ideologie und der faktischen Zerrüttung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu schließen:
1. Milderung des „Klassenkampfes“ und des Terrors: Säuberung in der Geheimpolizei, Ansätze zu einer Strafrechtsreform, Umgestaltung im System der Zwangsarbeit, begrenzte Amnestie.
2. Ausbau der sozialen Einrichtungen und Liberalisierung der bisher drakonischen Arbeitsgesetzgebung, die für eigenmächtigen Arbeitsplatzwechsel, unentschuldigtes Fehlen, Ausschußarbeit u. ä. Freiheitsstrafen vorsah.
3. Ankündigung einer Arbeitszeitsenkung (7-Stunden-Tag) und eines Wohnungsbauprogramms.
4. Eine gewisse Lockerung des Verbots für Sowjetbürger, Kontakte mit Ausländern und dem Ausland zu unterhalten. Demobilisierung von Streitkräften.
5. Legalisierung der Abtreibung (1920 unter Lenin erlaubt, 1936 unter Stalin verboten), wodurch die Regierung die katastrophalen Folgen illegitimer Beziehungen und illegitimer Eingriffe unter Kontrolle zu bekommen hofft. Wiedereinführung der Koedukation in den Schulen.
6. Auffrischung des Vergnügungslebens (Unterhaltungsliteratur, Liebesthematik, Jazz). Kampagne für ein „frohes Jugendleben“ im Komsomol, dem kommunistischen Jugendverband.
7. Öffentliche und schonungslose Presseattacken gegen das „Hooligan“ -(Halbstarken-) LInwesen, den „Alkoholismus“ und die Ausschweifungen in Kreisen der Sowjetbourgeoisie.
Das alles sind energische Schritte zu einer Normalisierung der Verhältnisse, die — konsequent weitergeführt — das Antlitz der Sowjetgesellschaft verändern könnten. Allerdings muß man sich vor übertriebenem Optimismus hüten, denn viele löbliche Vorhaben sind bisher aus dem Stadium der Versprechungen noch nicht herausgekommen. Es scheint sich schlecht mit der allgemeinen Tendenz zur Liberalisierung zusammenzureimen, daß die antireligiöse Propaganda unter den Nachfolgern Stalins eher verstärkt als abgeschwächt worden ist. Wir zitieren aus einem neueren sowjetischen Zeitungsartikel:
„Für die richtige, wissenschaftliche Erkenntnis der Natur sowie der Gesellschaft bildete die Religion, die ein lügenhaftes, entstelltes Weltbild vermittelt, das Bewußtsein der Menschen dadurch verdunkelt und ihre schöpferisclte Aktivität fesselt, stets ein Hindernis. Seit vielen Jahrhunderten behauptet die Religion hartnäckig, daß die Welt von Gott geschaffen wurde und sich nach seinem Willen entwidzelt. . .
Heute treten die Verteidiger der Religion und des Idealismus, da sie nicht imstande sind, die großen Errungenschaften der modernen Wissenschaft, die immer tiefer in die Geheimnisse der Natur eindringt, zu verschweigen, für eine Aussöhnung zwischen Wissenschaft und Religion ein. Indessen hat die Relegion mit der Wissenschaft nichts gemeinsam. Die Argumente der Religion in Bezug auf die Unerkennbarkeit der Welt sind von Anfang bis zum Ende eine Lüge. Der marxistische philosophische Materialismus vermittelt das allein riclrtige Weltbild . . .
Die kommunistische Erziehung der Werktätigen sowie der Kampf gegen die Überbleibsel des Kapitalismus im Bewußtsein der Sowjetmenschen, wozu audr die Überwindung der religiösen Vorurteile gehört, gewinnen unter den heutigen Bedingungen besondere Bedeutung.
In der sozialistischen Gesellschaft, in der die sozialen Wurzeln der Religion gesprengt sind, ersclrließt die systematische und planmäßige Propaganda des wissenschaftlichen Wissens den Massen die große Kraft der führenden Wissenschaft, stattet sie mit den richtigen Vorstellungen über die Entwicl^lung der Natur und der Gesellschaft aus und bietet die Hilfe, das kulturelle und politische Niveau der Werktätigen, der Erbauer des Kommunismus zu heben."
Man versteht die Wiederbelebung der atheistischen Propaganda, wenn man sich die Folgen vergegenwärtigt, die der Abbau des Stalinismus für das kirchliche Leben im Ostblock mit sich gebracht hat. Der offene Terror gegen die Kirche und die Gläubigen hat nachgelassen. In den Volksdemokratien wurde die Verfolgung und Einkerkerung verschiedener hoher geistlicher Würdenträger aufgehoben. Es könnte schließlich sein, daß selbst die russisch-orthodoxe Kirche, die innerhalb des intakten totalitären Systems ein gefügiges Werkzeug der Diktatur war, sich einmal auf ihre religiöse Verantwortung besinnt, dann aber stellt sie, als ein immer noch mächtiger Staat im Staate, eine außerordentliche Gefahr für das Regime dar, das doch sonst keinerlei parteifremde Organisationsformen duldet. Wie stark die Ausstrahlung der Religion selbst in der Sowjetunion nach vierzig Jahren des Kirchenkampfes noch ist, geht aus den beredten Klagen der Sowjetpresse über häufige Rückfälle der Bevölkerung in den „Aberglauben“ hervor. Interessant ist, daß die religiösen Tendenzen vor allem in den Reihen der Jugend, der Komsomolzen, auftreten — offensichtlich ein spontaner Protest der jungen Menschen gegen die materialistische Verödung ihres Lebens.
Überblickt man das gesamte Feld der Erziehung und Moral, wie es sich heute in der Sowjetgesellschaft darbietet, so muß man feststellen, daß die Entwicklung hier besonders widersprüchlich verläuft. Anpassung an die realen Gegebenheiten, Besinnung auf Lenins revolutionäre Politik, Versuch der auf dem Rückzug befindlichen Partei, neue Verteidigungsstellungen zu gewinnen — all diese Tendenzen verschmelzen und ergeben ein Übergangsstadium, das noch alle Möglichkeiten offenläßt.
Die Entwicklung in der Sowjetzone
Die Sowjetzone steht, was den Prozeß der Liberalisierung angeht, auf politischem wie kulturellem Gebiet weit hinter den meisten Volksdemokratien und der Sowjetunion selbst zurück. Der Stellvertreter des Kulturministers, Abusch, äußerte sich dazu im SED-Zentralorgan, »Neues Deutschland“:
„In der Diskussion nach dem XX. Parteitag der KPdSLl und der 3. Parteikonferenz der SED, die auch in unseren kunsttheoretischen Anschauungen manche dogmatische Erstarrung oder Liberreste von ihnen zu lösen beginnt, haben einige Künstler auf die Diskussion über diese Fragen in diesem oder jenem volksdemokratischen Land verwiesen und sich gewundert, daß sie bei uns sich teilweise anders entwickelt. Das hat seine guten Gründe: Wir haben eine andere nationale Situation in der DDR, im gespaltenen Deutschland — und wir haben auch eine andere Entwicklung in unserer Literatur und Kunst. Eine Gleichförmigkeit in der Diskussion wäre eine neue Art von Schematismus.“
Betrachten wir den ersten Grund für die Rückständigkeit der DDR, den Abusch anführt: „eine andere nationale Situation in der DDR, im gespaltenen Deutschland“.
Die Sowjetzone umfaßt nur einen Teil Deutschlands und steht einem demokratischen Staatswesen auf deutschem Boden, der Bundesrepublik, unmittelbar gegenüber. Unter diesen Umständen erscheint nicht ein liberaler resp, nationaler Kommunismus, ein „Neoleninismus" oder „Titoismus", der doch nur relative Verbesserungen bringen kann, als Alternative zum Stalinismus, sondern die Ausdehnung der im Westen schon etablierten demokratischen Verhältnisse auf das ganze Land, die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit. Einem gemäßigten und autonomen kommunistischen Regime würde im Rahmen der Zone die Existenzbasis fehlen, denn der Kommunismus in welcher Form auch immer hält sich in Deutschland nur unter dem Druck der sowjetischen Truppen und der sowjetischen Geheimpolizei. Eine Milderung des Zwangssystems, die in anderen kommunistischen Ländern als bloße Evolution der politischen Verhältnisse in Erscheinung treten kann — wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten —, würde in Mitteldeutschland sehr schnell auf eine Liquidation des kommunistischen Regimes überhaupt hinauslaufen. Den Sowjets und ihren deutschen Kollaborateuren in der SED dröhnt noch das Echo der Bevölkerung auf ihren letzten liberalen Akt, die Proklamation des Neuen Kurses, in den Ohren: der Aufstand vom 17. Juni 195 3. Das ist die „andere nationale Situation in der DDR“, die den kommunistischen Machthabern in Mitteldeutsch-land den Abbau des Stalinismus so schwierig macht.
Nun führt Abusch noch einen weiteren Grund für die kulturpolitische Stagnation in der Zone an: „eine andere Entwicklung in unserer Literatur und Kunst“. Was versteht er darunter?
„Bei uns ist seit dem Sommer 1953 — mit Unterstützung von Partei und Regierung — ein beharrlicher, wenn auch nicht immer konsequent durdtgehaltener Kampf gegen Einengungen und Vulgarisierungen, gegen Verarmung in den Themen und den Formen in der Literatur und Kunst geführt worden. Bei uns haben die Kultur-schaffenden bereits im Jahre 1953 eine monatelange, leidenschaftliche Diskussion geführt gegen administrative Eingriffe in die schöpferischen Fragen der Kunst, die während der Periode der Staatlichen Kunstkommission geschahen. Heute, den geschichtlichen Zusammenhang überblickend, wissen wir, daß unsere Auseinandersetzungen zu jener Zeit zutiefst schon mit der beginnenden Überwindung des Personenkults und seiner unschöpferischen Wirkungen auch in der Kunst zusammenhing.“
An dieser Darlegung ist so viel richtig, daß in der Tat im Sommer 1953 eine monatelange, leidenschaftliche Diskussion um eine Liberalisierung des Kulturlebens geführt wurde. Diese Ansätze wurden aber nur allzu bald im Parteiterror erstickt. Wir können uns in diesem Zusammenhang nicht damit beschäftigen, die kulturpolitischen Manöver der SED in den letzten Jahren im einzelnen zu untersuchen, sondern wollen uns mit der Äußerung eines kompetenten und wahrlich unvoreingenommenen Kronzeugen begnügen. Auf der 3. Parteikonferenz der SED im Jahre 1956, also drei Jahre nach jener angeblichen kulturpolitischen Wende, die Abusch so rühmt, erklärte der kommunistische Schriftsteller und sowjetzonale Nationalpreisträger Willi Bredel unwidersprochen:
„Die schädlichen und hemntenden Folgen eines Dogmatismus als Folge eines sakrosankten Personenkults auf die Literatur und Kunst sind größer, als gemeinhin angenommen wird. Abgesehen davon, daß in vielen literarischen Werken die politischen Erfolge im wesentlichen einzelnen Persönlichkeiten zugeschrieben und damit die schöpferische Initiative und die Leistung der Werktätigen ungeredttfertigt herabgemindert wurde, hat der Dogmatismus auch dazu geführt, daß sich die Schriftsteller und Künstler nur an fertige Sachverhalte und bereits gewonnene Erkenntnisse heranmachten, sie literarisch beschrieben und illustrierten. Dabei mußten sie selbstverständlich unweigerlich ins Schlepptau der Ereignisse kommen. Längst besteht Einvernehmen darüber, daß die Kunst eine besondere Form der Erkenntnis und der Durchleuchtung der Wirklichkeit ist, daß sie sich also nicht darauf beschränken darf, bereits vorhandene Erkenntnisse zur künstlerischen Bearbeitung zu übernehmen. Das aber gerade wurde getan, und die Kunst wurde ihrer besten, ihrer schöpferischen Möglichkeiten beraubt. Dies ist nun gewiß nicht der alleinige Grund des Zurückbleibens der Kunst und der Literatur bei uns, aber doch ein bedeutender. Lebensfremdheit, Unsicherheit in politischen und künstlerischen Fragen, mangelndes handwerkliches Können, vor allem aber Lebensfremdheit haben ein übriges dazu getan.“
Wie fatal die Lage in der Zone immer noch ist, wird in der Praxis dadurch unterstrichen, daß sich die Pankower Regierung außerstande sah, im Jahre 1956 auch nur einen einzigen Nationalpreis erster Klasse zu verleihen, weder auf dem Gebiet der Literatur und Kunst noch auf dem der Wissenschaft. Eine polnische Kunstausstellung, die in Ostberlin stattfand, erregte wegen ihrer für zonale Verhältnisse ganz unerhörten Modernität Stürme der Zustimmung bei der Intelligenz und Stürme der Empörung bei den Funktionären. Das Argument von Abusch, es sei schon 195 3 eine liberale Entwicklung eingeleitet worden, entpuppt sich also als ein Vorwand, um das Festhalten an stalinistischen Methoden, das aus politischen Gründen unerläßlich scheint, zu bemänteln.
Die kulturpolitischen Reformen, die nach dem XX. Parteitag in der Zone vorgenommen wurden, sind denkbar minimal. Da gab es — analog zur sowjetischen Entwicklung — eine Rehabilitierung der Agitprop-Kunst, der kommunistischen Kunst der zwanziger Jahre. An einer solchen Rehabilitierung war Kulturminister Becher persönlich interessiert, denn der einzig wertvolle Teil seiner Dichtung, sein expressionistisches Frühwerk, was bislang wegen des Agitprop-Charakters verfemt worden.
Nun wurde in der sowjetzonalen Presse erstmals wieder von der revolutionären Zeitschrift „Linkskurve“, von den Theaterspielgruppen „Rote Raketen“, „Rote Trommler“, „Rote Blusen“, von dem ersten kommunistischen Agitationsfilm „Kuhle Wampe“ usw. usf. gesprochen. Ein Kapitel über die Agitprop-Bewegung der zwanziger Jahre, das noch im Vorjahr vom Amt für Literatur aus dem Brecht-Buch Dr. Schumachers gestrichen worden war, erschien nun auszugsweise sogar im Parteiorgan „Neues Deutschland“.
Überhaupt war Brecht der wesentliche Nutznießer dieser Renaissance.
Noch im Januar 1956 hatte er auf dem Schriftstellerkongreß erklärt:
„Die Theater der DDR gehören — betrüblicherweise, von meinem Standpunkt aus — zu den wenigen Theatern in Europa, die meine Stücke nicht aufführen . . Nach dem XX. Parteitag wurde nicht nur die Aufführung von Brecht-Stücken an verschiedenen Theatern in der Zone genehmigt, sondern auch das Verbot aufgehoben, von dem seit dem finsteren Jahre 1951 „Die Tage der Kommune“ und eine Reihe anderer Werke betroffen waren. In dem Nachruf, den die Akademie der Künste zu seinem Tode herausgab, wurde erstmals wieder „Das Verhör des Lukullus" positiv erwähnt, die Urfassung der umstrittenen Oper, die sich nach der von Brecht selbst auf Parteibefehl praktizierten Umarbeitung „Die Verurteilung des Lukullus“ nannte. Auch das alte revolutionäre Theater Piscators kam nach langer Diffamierung zu einer späten Anerkennung; es ereignete sich das Paradoxon, daß die Ost-presse, die den Regisseur jahrelang als „Renegaten“ beschimpft hatte, nun plötzlich eine Piscator-Inszenierung im Westberliner Schillertheater, die von der westlichen Presse mäßig besprochen worden war, einmütig lobte. Für die Schriftsteller und Künstler, die in Mitteldeutsch-land arbeiten, bedeutet diese ganze kulturhistorische Revision, so erfreulich sie im Interesse einer Wiederherstellung der geschichtlichen Wahrheit ist, herzlich wenig, denn eine Renaissance der kommunistischen Agitprop-Kunst ist das letzte, was nottut.
Weiterhin wurden einige administrative Maßnahmen getroffen, die man aber beim besten Willen nur als Augenauswischerei bezeichnen kann. So wurde die verhaßte Zensurstelle, das Amt für Literatur, aufgelöst — und durch eine Hauptverwaltung Literatur des Kulturministeriums ersetzt, der dieselbe Befugnis zufällt. So wurde die ständige Kontrolle der Partei über die Filmproduktion in Babelsberg abgeschafft — doch werden die nunmehr autonomen Produktionsleiter von der Hauptverwaltung Film nach Gutdünken ein-und abgesetzt und die fertigen Filme durch eine amtliche Abnahmekommission zensuriert. Das ist dasselbe Täuschungsverfahren, das man 1953/54 zur Beschwichtigung der Intellektuellen anwandte, als man die Staatliche Kunstkommission durch ein Ministerium für Kultur ersetzte.
Schließlich organisierte das Kulturministerium eine Diskussion, durch die es die Wellen der Opposition abzufangen und in das von der Partei zugerichtete Bett zu lenken hoffte. Obwohl auf der Konferenz der Literaturwissenschaftler in Ostberlin nur marxistische Theoretiker, Angehörige des privilegierten Parteiliteratentums, auftraten, wurden die Forderungen nach kultureller Freiheit, die eben die ganze Intelligenz ohne Rücksicht auf die spezielle weltanschauliche Orientierung bewegen, mit aller Deutlichkeit ausgesprochen. Der bekannte Leipziger Literatur-wissenschaftler Prof. Hans Mayer polemisierte sehr geschickt gegen das anmaßende Auftreten Ulbrichts auf dem letzten Schriftstellerkongreß im Frühjahr. Ulbricht war das peinliche Mißgeschick unterlaufen, sich damals — wenige Wochen vor der offiziellen Entstalinisierung — ausgerechnet auf das Wort Stalins zu berufen, daß die Schriftsteller Ingenieure der menschlichen Seele seien. Mayer sagte dazu:
„Wir müssen uns heute fragen: Sind Schriftsteller wirklich Ingenieure der menschlichen Seele? Nach meiner Meinung ist das eine völlig falsche Auffassung. Die menschliche Seele ist kein Gegenstand, an den man einen Ingenieur heranlassen könnte. Die Analogie von Technik und Naturwissenschaft, auf die Arbeit des Schriftstellers angewendet, zieht Verarmung nach sich. . . Hier sind meiner Ansicht nach die spezifischen Arbeitsmöglichkeiten der Wissenschaft und der Kunst verwechselt worden. Diese Verwechselung wirft die Frage auf, ob die Kunst mit der wissenschaftlichen Form der Aneignung der Wirkliclrkeit auskommt oder ob die künstlerische Aneignung eine besondere, qualitativ andere Art der wissenschaftlichen Aneignung von Wirklichkeit darstellt. Das letztere scheint mir der Fall zu sein;
ist dies richtig, so kann man die Analogie zur Wissenschaft in dieser Form nicht geben.“
Da die kommunistische Parteiideologie als „Wissenschaft“ gilt, formulierte Mayer auf diese Weise den Anspruch der Künstler, aus dem totalitären Mechanismus, aus der „Panpolitisierung“, wie er sagt, ausgeklammert zu werden. Diese Bestrebung entspricht etwa der Mokauer Tendenz nach Freiheit der Form bei Loyalität des Inhalts. Der Publizist und Philosoph Wolfgang Harich, einer der klügsten Köpfe in der Parteiintelligenz, entdeckte denn auch rasch den kompromißhaften Charakter der Formel und verschärfte den Akzent der Diskussion wesentlich:
„Ich glaube, daß wir bei der Beurteilung unserer Gegenwartsliteratur oft an falsche oder zweitrangige Probleme angeknüpft haben, z. B. an das Problem der formalen Meistersdtaft. Dieses Problem ist nicht sehr zentral. Es ist durchaus am Platze, sich auf den Primat des Inhalts zu besinnen und der Frage der ästhetischen Form eine zwar wichtige, aber doch nur abgeleitete Bedeutung beizumessen. ..
Das Schlimme ist gewesen, daß in der Gegenwartsliteratur auch inhaltlich vieles nicht gestimmt hat.“
Wie richtig diese Bemerkung die Schwäche der Mayerschen Position traf, wird ersichtlich, wenn man hört, daß der Leipziger Literaturtheoretiker in seinem Schlußwort als ein seines Erachtens positives literarisches Beispiel „Die Kommandeuse“ von Stefan Hermlin hervorhob. Diese Erzählung des namhaften kommunistischen Schriftstellers fiel aus dem Rahmen der üblichen Zonenliteratur, weil sie sich nicht naturalistischer, sondern surrealistischer Gestaltungsmethoden bedient, sie ist aber, was ihren Inhalt — die Verleumdung des 17. Juni als faschistischen Putsch — angebt, so verlogen, daß sie sogar den Protest der Parteigenossen herausforderte.
Daß das Sowjetzonenregime die Forderungen nach künstlerischer Freiheit weder in der gemäßigten, von Mayer formulierten, noch in der radikaleren, von Harich angedeuteten Form zu akzeptieren gedenkt, wurde aus dem Auftreten des Kulturministers Becher deutlich. Er versuchte, die Kritik an dem Niveau der Zonenliteratur zu bagatellisieren:
Jdi habe mir sagen lassen, daß Notre Dante nicht schon ant ersten Tag nach der Auferstehung Christi auf die Erde gefallen ist. Petrarca hat das erste Sonett geschrieben nadt einer hundertjährigen Entwicklung des Sonetts.“
Ist somit der Primitivismus der kommunistischen Kunst ein durchaus normaler und angemessener Embryonalzustand, dem bestenfalls in einigen hundert Jahren abzuhelfen ist, kann man auch getrost die bisherigen stalinistischen Methoden der Kunstdiktatur beibehalten, wofür Becher ausdrücklich plädiert:
„Da hat der Kritiker das Recht, einem Schriftsteller zu sagen; Hör auf, du quälst das Publikum, das Publikum hat solche fürchterlichen Dinge nicht verdient. Dann aber kommt der Schriftsteller und sagt:
Ich werde entmutigt. Man sollte in solchen Fällen weniger sensibel sein. Wie wurden wir denn früher entmutigt! Das war doch einfach großartig. Aber wir haben uns eben nicht entmutigen lassen.“
Becher hat gut reden, denn er schrieb seine umstrittenen Werke in der Weimarer Republik, wo sich immer noch ein Verleger fand, der sie druckte. In der Zone sind sämtliche Verlage von Rang Staatsunternehmen und unterstehen zu allem Überfluß noch einer besonderen staatlichen Zensurstelle, die Becher selbst leitet. Außerdem wurden in der Weimarer Republik Künstler nicht wegen ihrer Überzeugung getötet oder in den Tod gehetzt, wie es der Plejade der großen zeitgenössischen Dichter Rußlands unter dem Stalinismus erging: Gorki, Babel, Pilnjak, Jessenin, Majakowski, um nur die weltbekannten Namen zu nennen.
Aus Bechers zynischer Äußerung wird die Funktion seines Ministeriums, die Beschwerden der Intelligenz aufzufangen, offenbar.
Kein Wunder, daß das Interesse der Intellektuellen an derart gelenkten und aussichtslosen Diskussionen nachläßt. Die Schriftsteller und Künstler versprechen sich nach den Erfahrungen, die sie vor drei Jahren gemacht haben, nichts mehr von der Liberalisierung auf Befehl. Der Lyriker Franz Fühmann gab Bechers Organ, der Zeitschrift „Sonntag“, die ihn zu einer Stellungnahme aufforderte, eine bezeichnende Abfuhr:
„Wir haben die Misere einer künstlich entwickelten Diskussion, die von Begriffen und Formeln anstatt von Werken ausgeht, in der Vergangenheit wahrhaftig zur Genüge erleiden müssen. Sollen wir, um Gottes willen, jetzt dieselbe Geschichte mit anderen Vorzeichen wieder durchexerzieren? Ihr fragt: , Vor welche Probleme sieht sich der Schriftsteller unserer Zeit beim Suchen, Finden und Schreiben der Wahrheit gestellt?' Was soll man dazu sagen? Über die vergangenen Fehler ist genug geredet worden. Augenblicklich leben wir, scheint mir, in einer Zeit, in der das Problem der Wahrheitsfindung und des Wahrheitsschreibens ein persönliches Problem des einzelnen Schriftstellers ist. Also soll er in Gottes Namen schreiben. Oder wollen wir über die kommenden Fehler oder über die möglichen kommenden Fehler diskutieren, oder über die Notwendigkeit, dajl in Zukunft keine Fehler begangen werden sollen, oder über die Gewißheit, daj] in Zukunft doch wieder Fehler gemacht werden? Das führt doch wirklich zu nichts.“
Derweil setzten einige Wissenschaftler und Wissenschaftstheoretiker der Zone dazu an, ihre Fachgebiete von der ideologischen Bevormundung zu befreien. Während die Künstler, um sich Freizügigkeit zu sichern, mit Vorliebe ihre Sonderstellung gegenüber der Wissenschaft herausstreichen, betonen die Wissenschaftler wiederum ihre Sonderstellung gegenüber der Philosophie, welche unter kommunistischen Verhältnissen pure Parteiideologie ist. So kam Prof. Havemann von der Ostberliner Universität auf die originelle Idee, unter Berufung auf das Zitat eines „Klassikers“ die Daseinsberechtigung der Philosophie überhaupt zu bestreiten:
„Engels . . . sagt von dem modernen Materialismus, er ist , wesentlich dialektisch und braucltt keine über den anderen Wissenschaften stehende Philosophie mehr. Sobald an jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt, über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klarzuwerden, ist jede besondere Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang überflüssig.
Was von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehen bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen — die formelle Logik und die Dialektik. Alles andere geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Gescltichte.““
Ein anderer Teilnehmer der Diskussion erklärte:
„Der dialektische Materialismus erhebt bekanntlich den Anspruch, besonders nachdrücklich seit Shdanows viel berufener Diskussionsrede auf der Moskauer Philosophen-Tagung 1947, ein Werkzeug der wissenschaftlichen Forschung zu sein. Ist er das wirklich? Sind z. B.
die großen, auch weltanschaulich überaus bedeutsamen Entdeckungen der letzten Jahrzehnte, darunter die Quantentheorie, die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, die Wellenmechanik, die Ergebnisse der Kernphysik irgendwie unter Anwendung der dialektisch-materialistischen Erkenntnismethode zustande gekommen? Die Frage stellen, heißt sie verneinen! . . .
Es ist aber auch eine Tatsache, daß gerade diejenigen sowjetischen Naturwissenschaftler, die sich wohl am nachdrüddichsten auf den dialektisdien Materialismus als die unerläßliche Forsdtungsgrundlage ihrer gesamten theoretischen und experimentellen Arbeit berufen haben, teilweise zu Ergebnissen gekommen sind, von denen sid^ die Sowjetwissensdiaft heute mit aller Entschiedenheit und Schärfe distanziert, wie etwa von der . neuen Zellentheorie'Lepesdiinskajas und der , neuen Arttheorie'Lyssenkos.“
Es ist nicht uninteressant, daß gerade der sehr kritische Harich den Wissenschaftlern, die sich um die Abschaffung der Philosophie bemühten, einen ganzen Katalog von Fragen vorhielt, die die prinzipielle Existenznotwendigkeit der Philosophie belegen. Er setzte den Hebel gegen den Doktrinarismus tiefer an:
„. . . gibt es eine Hierardtie der philosophischen und wissenschaftlidten Probleme derart, daß nicht jeder beliebige Irrtum auf jedem beliebigen Gebiet für die fundamentalen Interessen der Arbeiterklasse, ihrer Partei und ihres Staates gleichermaßen belangvoll ist.
Um es konkret zu sagen, ist durdi idealistisdie Abweichungen eines marxistischen Psydwlogen oder durch eine unzulängliche Einsdiätzung der reaktionären und progressiven Seiten Spinozas bisher noch keine revolutionäre Partei dazu verleitet worden, eine falsdte Strategie und Taktik auszuarbeiten.“
Diese Auffassung Harichs macht Schluß mit dem unfruchtbaren Gegeneinander-Ausspielen von Kunst und Wissenschaft, Wissenschaft und Philosophie und fordert statt dessen, alle geistigen Phänomene, die nicht unmittelbar etwas mit der Politik zu tun haben, von der Partei-Zensur zu befreien. Damit würde der Totalitätsanspruch des Kommunismus zwar noch nicht aufgehoben, aber doch wesentlich gelockert werden. Die Partei schob dem sofort einen Riegel vor. Die Stellungnahme des Parteiorgans „Neues Deutschland , von einem seiner Chefredakteure verfaßt, durfte man als eine Willensäußerung der SED auffassen, vorläufig nirgendwo im Kulturleben eine entschiedene Liberalisierung zuzulassen:
ist es mit der wissenschaftlidten Weltansdtauung des Marxismus (der ein Ganzes bildet) kaum vereinbar, unwissensdtaftlidten Auffassungen auf bestimmten Gebieten in liberaler Weise einen Freibrief auszustellen, sie als läßliche . wenig belangvolle'Irrtümer hinzunehmen. Es wäre der wissenschaftlichen Klärung von Problemen audt kaum gedient, wenn unsere Wissenschaftler und Ideologen der vom Genossen Harich vertretenen Anschauung huldigen würden, nach der . eine begründete, von Einseitigkeit freie Entscheidung darüber, ob jemand geirrt hat, mit Sidterheit nur aus der Perspektive des liödiSthöhereH ErkenntHisstadiuM$gefällt werden kann'. Es ist kein . übersteigerter ideologischer Purismus, wenn wir weder bereit sind, unwissenschaftlichen idealistischen Auffassungen Tür und Tor zu öffnen mit der Begründung, es gehe um angebliche wenig belangvolle Gebiete, etwa , nur um Literatur, Philosophie oder Kunst noch unsere lebende Generation für so wenig denkfähig halten, daß sie nicht selbst entscheiden könnte, wo die Wahrheit liegt, sondern diese Entsdteidung erst , dem nädisthöheren Erkenntnisstadium'der Geschichte überlassen müßte."
Nach der ungarischen Revolution wurde die Diskussion unter den sowjetzonalen Intellektuellen von der SED rigoros unterbunden. Dr. Wolfgang Harich, Dozent an der Humboldt-Universität und Chefredakteur der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“, Walter Janka, Leiter des Aufbau-Verlages, des literarisch führenden Verlages der Zone, und eine Reihe anderer Intellektueller wurden als „Staatsfeinde" verhaftet. Die bekannten Leipziger Professoren Hans Mayer und Ernst Bloch mußten Verfolgungen über sich ergehen lassen. Bei den Mitarbeitern der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“ und der Akademie der Künste in Ostberlin stellte der Staatssicherheitsdienst Verhöre an. Die Zeitschriften „Sonntag“, „Aufbau", „Wochenpost", , Eulenspiegel" wurden von Ulbricht selbst gemaßregelt und unter verschärfte Parteikontrolle gestellt. Den Schlußstrich zog im „Neuen Deutschland“ der Minister für Staatssicherheit, Wollweber:
„Es ist selbstverständlidi, daß in der DDR keine .freie Diskussion'
geduldet werden kann und darf, die zur Einsdimuggelung fremder antisozialistischer Ideologien führt. Darin bestehen gerade die Pläne und Absichten der Aufweichtaktiker in den politischen Zentralen des westlichen Auslandes . . ."
Der Aufstand der Intellektuellen
An den revolutionären Oktoberereignissen in den Volksdemokratien zerbrach die Konzeption einer „Leninistischen Renaissance". Es zeigte sich, daß es einen Mittelweg zwischen Diktatur und Demokratie auf weite Sicht nicht gibt. Ging schon Gomulkas „Wunder an der Weichsel“ über die Intentionen des XX. Parteitags hinaus, so trat in Ungarn die Demokratisierung weit über die von den Moskauer Ideologen so sorgsam gehüteten neoleninistischen Ufer. Angesichts des katastrophalen Deichbruchs, in dessen Folge weite Teile des Sowjetimperiums weg-geschwemmt zu werden drohten, kehrte der Kreml zu den handfesten Methoden des Stalinismus zurück. Diese Reaktion erfaßte auch die Kulturpolitk, zumal ja die gefürchtete demokratische Revolution, der „Frühling im Oktober“, nicht zuletzt aus dem geistigen Leben heraus geboren worden war.
Vor allem drei intellektuelle Bewegungen waren es, die die bolschewistische Führung mit einer panischen Angst vor der Macht des Geistes erfüllten:
1. Die Revolte der Intellektuellen in Polen.
2. Das Auftreten des Budapester Petöfi-Kreises.
3. Die Unruhen an den mitteldeutschen Universitäten und Hochschulen. In der polnischen Presse und im polnischen Kulturleben traten seit dem Jahre 195 5 fortgesetzt und in ständig zunehmendem Maße oppositionelle Tendenzen ans Licht, die auf eine energische Demokratisierung drängten. Bereits im August 195 5 erschien Adam Wazyks berühmtes „Gedicht für Erwachsene", das in den Worten gipfelt:
Wir appellieren!
Auf dieser Erde und im Namen von Menschen die von der Arbeit erschöpft sind — Wir appellieren!
Für Schlösser, die in die Tür passen, für Zimmer mit Fenstern, für Wände, die nidtt der Schwamm frißt.
Für die Ächtung des Papierkrieges, für Rüdtsicht auf die Zeit der Menschen, für einen Heimweg ohne Fährnis, für eine Untersdteidung zwischen Worten und Taten.
Dafür appellieren wir hier auf dieser Erde — und lassen nidit mit uns würfeln um etwas, wofür Millionen kämpfend ihr Leben gaben!
Wir appellieren!
Für strahlende Wahrheit für die Ernte der Freiheit, und für flammende Vernunft, ja, für eine flammende Vernunft!.. .
Das Heft der Zeitschrift „Nowa Kultura", in dem das Gedicht erschien, war binnen kürzester Zeit ausverkauft; für ein Exemplar wurde im Schwarzhandel das Zwanzigfache des regulären Preises geboten. Das Zentralorgan der Kommunistischen Partei raffte sich zwar nach einem Monat zu einer Verurteilung des Gedichtes auf, konnte aber weitere Publikationen ähnlichen Charakters nicht verhindern. Immer mehr Intellektuelle, Schriftsteller und Journalisten, darunter viele Kommunisten, immer mehr Zeitungen und Zeitschriften, an der Spitze die Studentenzeitschrift „Poprostu", die nach dem Oktoberumsturz für ihre tapfere Haltung mit einem Staatspreis ausgezeichnet wurde, griffen in die Auseinandersetzung ein. Im Frühjahr 1956 hieß es in einer Sendung von Radio Moskau: „Die ganze Nation nimmt jetzt an einer umfassenden und vollkommen aufrichtigen Diskussion über das Leben in Polen, die Irrtümer der Vergangenheit und die Aufgaben der Zukunft teil.. ."
Die heikelsten Probleme, insbesondere hinsichtlich der Beziehungen zur Sowjetunion, wurden angerührt. Die Stalinisten machten einige Ansätze, die Diskussion unter ihre Kontrolle zu bekommen, aber das gelang nicht einmal, als der Posener Aufstand die Flammenzeichen der Revolution an den polnischen Himmel malte. „Wir müssen uns im klaren sein“, erklärte auf einer Sitzung des Kulturrats der Schriftsteller Bienkowski, der spätere Unterrichtsminister, „daß wir Zeugen von Ersdieinungen sind, die man als eine Revolution von gewaltigem Ausmaß bezeidmen muß ... Ich fürdtte allerdings, daß sich Mensdten finden werden, die die Revolution wieder hinter Gitter sperren möchten. Aber wir Intellektuellen müssen auf die Barrikaden gehen und die Revolution verteidigen.“ Die polnischen Intellektuellen formulierten die Losung vom „menschlichen Sozialismus", in deren Namen Gomulka auf dem historischen Oktober-Plenum des polnischen Zentralkomitees die Macht ergriff.
Die Schriftsteller Ungarns, unter ihnen der bedeutende Romancier Tibor Dery und der auch in Deutschland bekannte Dramatiker Julius Hay, organisierten Ende 195 5 einen offenen Widerstand gegen die Parteidiktatur. Wir können das Auftreten der Schriftsteller auf ihrer damaligen Tagung nur aus den Artikeln rekonstruieren, die anschließend gegen die Revolte in der Parteipresse veröffentlicht wurden. Da hieß es:
„In der Sitzung des Sdtriftstellerverbandes haben gewisse Schriftsteller über die Lage der Arbeiter und Bauern und ihren Lebensstandard bourgeoise Verleumdungen vorgebradit. Unter dem Vorwand der Kritik haben sie eine feindselige Haltung gegen leitende Mitglieder und Funktionäre der Partei und der Regierung eingenommen. Sie leugneten die Notwendigkeit einer Lenkung der Literatur durch die Partei . . .
Die Schriftsteller weigern sich einfach, die Argumente der Partei-autoritäten anzuerkennen. Es bleibt untragbar, wenn Literaten unter dem Vorwand, die Bürokratie in Partei und Kultur zu bekämpfen, die Berechtigung der gesamten Parteipolitik in Frage stellen und sich zu der Ansicht bekennen: . Ich glaube nur das, was ich selbst mit meinen fünf Sinnen wahrnehme. Nieder mit der Rechtfertigung durch den historischen Materialismus, lang lebe die Rechtfertigung durch Ethik und Moralt'u Das Zentralkomitee forderte nachdrücklich die Unterwerfung der Schriftsteller und schloß Dery und andere aus der Partei aus. Die Schriftsteller widersetzten sich jedoch dem Parteibeschluß und wählten die Rebellen erneut in den Vorstand. Im März 195 6 begründeten sie in Budapest den inzwischen berühmt gewordenen Petöfi-Klub. Der Klub, der als ein Forum der Intellektuellen gedacht war, führte seinen Namen nach dem größten Dichter der Nation, Sandor Petöfi, der 1849 — 26jährig — im Freiheitskampf gegen die russischen Truppen fiel. Im Klub scharten sich die frondierenden Intellektuellen um den damals diffamierten ehemaligen Ministerpräsidenten Imre Nagy, um den greisen Literaturkritiker Georg Lukacs und um die Witwe des von Stalin ermordeten Nationalkommunisten Laszlo Rayk. Höhepunkt im Wirken des Petöfi-Kreises war der denkwürdige Mittwoch im Juni, der eigentliche Vorabend der ungarischen Oktoberrevolution. An diesem Abend erhob Tibor Dery die historische, folgenschwere Forderung nach einer „neuen Revolution". Nicht 1945 habe die Befreiung Ungarns stattgefunden, rief Dery unter dem Beifall der anwesenden Intellektuellen und Arbeiter aus, sie beginne vielmehr erst jetzt. Die Lawine, die an diesem Mittwoch im Petöfi-Klub ins Rollen kam, war vom Regime nicht mehr aufzuhalten; über den Sturz des stalinistischen Satrapen Rakosi, die gespenstische Exhumierung der ermordeten Titoisten, die von Hunderttausenden noch einmal zu Grabe getragen wurden, die Studentendemonstrationen vom 23. Oktober 1956, an deren Spitze die Intellektuellen des Petöfi-Kreises marschierten, führte die Entwicklung in gerader Linie zum Volksaufstand.
Nach der sowjetischen Intervention wurde Georg Lukacs zusammen mit Imre Nagy und Julia Rayk nach Rumänien deportiert; die Schriftsteller Julius Hay, Zoltan Zelk und Tibor Tardos wurden verhaftet; Tibor Dery wurde in Hausarrest genommen; die Verbände der Schriftsteller und Journalisten wurden aufgelöst.
Die Unruhe unter den mitteldeutschen Studenten begann mit der Diskussion um das sogenannte Gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium.
So trat beispielsweise auf einem Kongreß junger Künstler, der im Juni 1956 stattfand, eine Musikstudentin auf und erklärte, man möge sie in Zukunft mit dem Unterricht in Politökonomie verschonen, es sei für ihre Ausbildung gewiß nützlicher, wenn sie diese Stunden zum Eiben an ihren Instrument verwende. Solche und ähnliche Ansichten wurden überall in sowjetzonalen Hochschulkreisen laut.
Natürlich vertraten die Studenten der Zone schon immer diese negative Meinung über das Politstudium, aber erst die Unsicherheit, die die kommunistischen Hochschulfunktionäre im Zuge der Entstalinisierung ergriff, erlaubte es, über diese Frage offen zu diskutieren.
Zu dem umstrittenen, politisch orientierten Pflichtstudium, das den gesamten Bildungsweg jedes sowjetzonalen Studenten begleitet, kann man folgende Disziplinen rechnen: Grundlagen des Marxismus-Leninismus, Politische Ökonomie, dialektischer und historischer Materialismus sowie Unterricht in Russischer Sprache und Literatur und Wehrsport.
Über das quantitative Ausmaß dieses politischen „Studium generale“
geben einige Zahlen Auskunft: Nach dem Studienplan für Rechtswissenschaften entfielen von 3459 Unterrichtsstunden, die insgesamt für ein vierjähriges Studium vorgesehen waren, 1041 auf den politischen Part (einschließlich Pflichtsport). Bei den Historikern kamen auf insgesamt 4064 Stunden 15 59 politische, bei den Philosophen auf insgesamt 445 5 Stunden 1406 politische. Man kann also sagen, daß das Politstudium annähernd ein Drittel vom Umfang des Gesamtstudiums ausgemacht hat. Nach den neuen Studienplänen, die unter den Auspizien des XX. Parteitags festgelegt wurden, ist das Ausmaß des Grundstudiums insofern etwas reduziert worden, als die Zahl der obligatorischen Studienveranstaltungen überhaupt auf ein erträgliches Maß begrenzt wurde.
Begreiflicherweise ist das Gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium den Studenten verhaßt, als Instrument der Gesinnungsknebelung und Gesinnungsschnüffelei ebenso wie als unsinnige und unproduktive Vergeudung kostbarer Studienzeit. Selbst bei einigen kommunistischen Funktionären, vor allem aber den Fachdozenten, dämmerten mit der Zeit Zweifel an der Nützlichkeit des Politunterrichts, denn die fachliche Qualifikation des wissenschaftlichen Nachwuchses in der Zone wurde durch die Überbelastung des Studiums mit politischem Ballast erheblich beeinträchtigt. Dennoch gab das Staatssekretariat für Hochschulwesen, hinter dem das Zentralkomitee der SED steht, nicht nach. Unter dem Eindruck der Ereignisse in Polen und Ungarn machte sich die Empörung der Studenten schließlich in offenen Demonstrationen Luft. Vor allem an der Humboldt-Universität Ostberlin, der Karl-Marx-Universität Leipzig, der Martin-Luther Universität Halle, der Technischen Hochschule Dresden, aber auch in anderen Städten, kam es zu Protestkundgebungen und illegalen Flugblattaktionen. Die Studenten forderten:
Abschaffung des obligatorischen Russisch-Unterrichts und des Gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudiums.
Gründung eines Fachverbandes der Studentenschaft, der von der Staatsjugendorganisation FDJ unabhängig ist; Einrichtung von frei gewählten Studentenräten, denen ein Mitbestimmungsrecht an den Universitäten und Hochschulen zuzusichern ist.
Lückenlose Berichterstattung über die Vorgänge in Polen und Ungarn.
Die SED sah sich genötigt, hohe Funktionäre, Mitglieder ihres Politbüros und des Zentralrats der FDJ, zu den einzelnen Universitäten zu entsenden, wo sie durch Beschwichtigungen und Drohungen auf die Studenten einzuwirken versuchten. Ulbricht selbst nahm in der „Volkskammer“ zu den Vorgängen Stellung. Das Staatssekretariat für Hochschulwesen beeilte sich, auf Vorschlag des Zentralrats der FDJ einige — freilich belanglose — Zugeständnisse zu machen, so die Hinzuziehung einer zweiten Fremdsprache außer dem Russischen zum Staatsexamen, die Möglichkeit einer fakultativen Aneignung dieser Sprachen, die Ersetzung der Zwischenprüfungen in den Gesellschaftswissenschaften durch Seminarscheine u. ä. Die Unruhen hielten jedoch bis Jahresende an und schwelen unterirdisch weiter.
Eine zusammenfassende Einschätzung der gesamten Bewegung unter den Intellektuellen, wie sie sich den Stalinisten darbietet, gab das Mitglied des SED-Politbüros, Kurt Hager:
„ . . . Von reaktionären und verwirrten Elementen im Petöfi-Kreis wurde seit Monaten die gesamte Politik der Partei der Werktätigen und der Regierung der ungarischen Volksrepublik in den Schmutz gezogen und als fehlerhaft bezeichnet. Die Jugend, die noch wenig Erfahrung im Klassenkampf besitzt, wurde durch unklare und prahlerische Reden verwirrt. Nationalistische und antisowjetische Stimmungen wurden entfacht. Mitglieder des Petöfi-Kreises schürten unablässig durch demagogische Artikel das Mißtrauen gegenüber den leitenden Funktionären der Partei und Regierung . . .
Auch in Polen gibt es bei Teilen der Intelligenz das Bestreben, die bisherigen Errungenschaften des sozialistischen Aufbaus zu leugnen und nur die Fehler der Vergangenheit zu sehen. Gegner der Zusammenarbeit der sozialistischen Völker und der Freundschaft mit der Sowjetunion, der Einheit der Arbeiterklasse und des wissenschaftlichen Sozialismus haben in verschiedenen Zeitschriften der Intelligenz eine Plattform gefunden . . .
Ist es ein Zufall, daß Dr. Harich und seine feindliche Gruppe mit bestimmten Vertretern des Petöfi-Kreises Verbindungen unterhielt?
Kann man es als einen Zufall ansehen, daß auch bei uns verschiedentlich der Versuch unternommen wurde, eine negative, zersetzende Kritik an Partei und Regierung zu entwickeln und besonders an Universitäten und Hochschulen Forderungen aufzustellen, die auf eine , Liberalisierung“, auf die Einführung einer westlichen bürgerlich-kapitalistischen Demokratie und letzten Endes auf die Restaurierung des Kapitalismus hinauslaufen? . . .
So wurde durch kleinbürgerliche Prinzipienlosigkeit und Heulmeierei der geistige Nährbodett bereitet, der es Ende Oktober den von langer Hand auf diesen Tag vorbereiteten konterrevolutionären Kräften gestattete, sich die Unzufriedenheit der Volksmassen zunutze zu machen und zu Aktionen gegen die volksdemokratische Ordnung überzugehen." Es ist vom Standpunkt der Stalinisten aus nur zu verständlich, daß sie den Geist, der einige Flügelschläge wagte, rasch wieder in den Käfig sperren möchten. In der Sowjetunion, an deren Universitäten es ebenfalls zu Demonstrationen gekommen ist, werden in bewährter Manier Kampagnen geführt gegen den „Formalismus",'der sich seit dem XX. Parteitag ausgebreitet hat, gegen den Impressionismus in der Malerei und gegen das gerade erst rehabilitierte Revolutionstheater der zwanziger Jahre, gegen die „zu weit gegangenen“ Philosophen und Historiker. Der Roman „Nicht vom Brot allein“ von Dudinzew, dessen anklägerische Sittenschilderung die studentische Jugend und Schriftsteller-kreise aufrührte, wurde verworfen. Aber gerade in der Diskussion um den Roman von Dudinzew zeigte sich, daß die sowjetischen Intellektuellen offenbar nicht bereit sind, die mühsam errungenen Fortschritte widerstandslos aufzugeben. So sagte der bekannte Schriftsteller Paustowski: • „Das Gewissen des Schriftstellers Muß in vo IIcm Einklang mit deM Gewissen seines Volkes sein. Dudinzew hat jeneiit Unbefriedigtsein
Ausdruck verliehen, das in uns allen lebt: die Beunruhigung über das Moralische Antlitz des Sowjetutenschen und unserer Kultur..,'"
Es wird dem Kreml schwerfallen, diese Unruhe des Geistes und des Gewissens jemals wieder zum Schweigen zu bringen, zumal die Chinesen, der andere Pol des kommunistischen Lagers, um der wachsenden Verödung ihres geistigen Lebens zu begegnen, einen Feldzug zur Liberalisierung des Kulturlebens eröffneten: „Alle Blumen sollen blühen und alle Lehren miteinander wetteifern.“
Anmerkung:
Jürgen Rühle, geb. 1924 in Berlin; Studium der Philosophie,'Germanistik und Kunstwissenschaft in Berlin, war nach seiner Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft im Jahre 1949 Feuilleton-Redakteur der „Berliner Zeitung" und Theaterkritiker des „Sonntag“ in Ostberlin; diffamierende Angriffe der SED-Zeitungen gegen seine Theaterkritik veranlaßten ihn, im Frühjahr 1955 seine Stellung in der sowjetzonalen Presse aufzugeben; sein Buch „Das gefesselte Theater — Vom Revolutionstheater zum Sozialistischen Realismus" erscheint demnächst beim Verlag Kiepenheuer & Witsch.