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Frankreichs Ziele in den kommenden 50 Jahren | APuZ 9/1957 | bpb.de

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APuZ 9/1957 Die unabdingbare Solidarität des Westens - Paul-henri spaak Frankreichs Ziele in den kommenden 50 Jahren Nördlich des Khyber

Frankreichs Ziele in den kommenden 50 Jahren

Europas, in den letzten Monaten große Fortschritte gemacht hat. Die USA sollten sich darüber freuen; denn die Dritte Kraft ist kein Versuch, Europa zu neutralisieren und gleiche Distanz zu Amerika wie zu Rußland zu halten. Im Gegenteil: sie drückt den Willen Europas aus, für die USA nicht länger ein Bleiklotz zu sein, den man mit sich schleppt, sondern ein echter Verbündeter, der seine Rolle spielt und seinen Anteil bei der Lösung von Schwierigkeiten leistet.

So steht es also. Eher schlecht — wir dürfen uns da nichts vormachen. Aber ich will nicht übermäßig schwarz sehen. Ich glaube nicht an einen dritten Weltkrieg, ich fürchte nur (und das bekenne ich), es könnte sich eine immer verworrenere Lage entwickeln, in der die westliche Welt nichts zu gewinnen hätte.

Über uns schwebt offenbar eine Art Fatalität. Wir wissen, was zu tun wäre. Wir können es sogar einigermaßen klar ausdrücken. Aber wir kommen nie dazu — aus diesem oder jenem Grunde — unseren Willen auch unbeirrt in die Tat umzusetzen.

Es war richtig, die LINO zu gründen. Es war richtig, die NATO zu schaffen. Wir haben recht, von einem Vereinten Europa zu träumen. Aber sobald wir uns einmal zu einer Politik entschließen und die entsprechenden Institutionen schaffen, bringen wir es nicht mehr fertig, sie auch wirksam funktionieren zu lassen. Sie verlieren nach und nach ihre Kraft und Ausstrahlung, und ihr Verfall vergrößert unsere Enttäuschung.

Wo ist die Handvoll Männer mit klarem Kopf und entschlossenem Willen, die der Westen so dringend braucht, um mit so einfachen Mitteln so unermeßliche Werte zu retten?

Eine hochgestellte Persönlichkeit, die aus Gründen, die wir respektieren, anonym zu bleiben wünscht, hat für die französische Zeitschrift REALITES (Dezember 1956) nachfolgenden Artikel geschrieben, den wir mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen.

In diesem Aufsatz will ich versuchen das zu tun, was jeder einzelne der vielen Außenminister hätte tun sollen, aber keiner getan hat: In großen Zügen die Politik zu umreißen, die Frankreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgen soll, seine eigentliche Bestimmung aufzuzeigen und eine Bilanz der gegenwärtigen Umwälzungen und der in allen Teilen der Welt spürbaren tiefgreifenden Bewegungen zu geben.

Denn Politik bedeutet: Sich seiner Persönlichkeit bewußt zu werden und sie innerhalb einer Kollektivität, die sich selbst im Stadium der Entwicklung befindet, zu behaupten, nach Erkenntnis der Entwicklungstendenzen Verhaltensgrundsätze festzulegen und schließlich im Sinne der gegebenen Grundtendenzen die Fragen zu lösen, die jeden Tag neu gestellt werden — und die nicht vorauszusehen sind.

Die Ursache des Katzenjammers

Frankreich hat eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft. Heute interessiert uns nur die Zukunft. Die Minister aber handeln, als ob Frankreich nur eine Vergangenheit habe. Das ist die Ursache unseres Katzenjammers. Jedoch sollte man ihnen nicht zu viele Vorwürfe machen. Denn um sich der Zukunft zuwenden zu können, muß man seines eigenen Gleichgewichtes sicher sein. Eine Politik setzt Kontinuität voraus. Sie setzt auch eine weitgehende grundsätzliche Übereinstimmung voraus. Frankreich ist heute zu klein, wie ich noch an anderer Stelle zeigen werde, um eine InnenPolitik zu haben. Frankreich, eine kleine Nation mit 1, 5 °/o der Erdbevölkerung, sollte angesichts der heutigen Verhältnisse wie eine Stadtverwaltung geleitet werden: Nach dem Grundprinzip der höchsten Wirksamkeit.

Wen kümmert die politische Färbung des Bürgermeisters wirklich, wenn die Stadt blüht, die Wege gut gehalten sind, wenn es keine Bettler gibt, die Fußballmannschaft den Neid der anderen Gemeinden erregt, wenn den Steuern angemessene Dienstleistungen gegenüberstehen, wenn sich die neuen Gebäude harmonisch in das Stadtbild einfügen, wenn die öffentlichen Anlagen voller Blumen sind, wenn es keine Kriminalität gibt und die alten Leute einen gesicherten Lebensabend haben? Wen kümmert heute die Innenpolitik der Schweiz, Schwedens oder selbst der Vereinigten Staaten? Man weiß, daß diese Länder gut geleitet werden, daß es einen gesunden Wettbewerb zwischen Meinungen, die über die Methoden zwar geteilter aber im wesentlichen einer Ansicht sind, und zwischen Gruppen gibt, von denen jede beweisen will, daß sie wirkungskräftiger ist als die vorangegangene.

Das Stadium der inneren Kämpfe, bei denen es um die Vorstellung geht, die sich eine Nation von seiner Bestimmung macht, ist für alle Länder, die einen gewissen Grad wirtschaftlicher Entwicklung erreicht haben, vorbei. Sie steuern auf ein gemischtes System hin, das weder kapitalistisch noch marxistisch ist und individuelle Freiheit mit koordinierter Entwicklung der Hilfsquellen verbindet. Wenn dieses Phänomen von stabilen Verhältnissen im Lande begleitet wird, wie das überall der Fall ist, ausgenommen bei uns, dann ist das Problem gelöst, und die Nation kann sich ungehindert ihren internationalen Belangen zuwenden. Der erste Grundsatz der Außenpolitik Frankreichs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte also paradoxerweise unter dem Motto stehen: Im eigenen Hause Ordnung schaffen, die Kontinuität der Exekutive sichern.

Streben nach E folg und Glück

Das zweite Axiom scheint sich von selbst zu verstehen, aber unsere Staatsmänner scheinen es merkwürdigerweise fast immer zu vergessen: Hauptziel eines modernen Staates und Aufgabe seiner leitenden Männer ist es, dafür zu sorgen, daß sich die Staatsbürger dem Streben nach Erfolg und Glück widmen können. Kriterium Nr. 1 für eine erfolgreiche Außenpolitik ist das Maß, in welchem sich das Land auf friedliche Weise bereichert.

Es gibt, wie wir sehen werden, noch andere Kriterien, und sowohl Staaten wie auch Einzelpersonen können bei einer rein materialistischen Lebenseinstellung die Erfahrung machen, daß Entscheidungen, die im Augenblick nützlich erscheinen, sich auf die Dauer ins Gegenteil verkehren.

Es gilt deshalb nicht weniger, daß ein verantwortlicher Minister bei jeder Entscheidung dieses Gebot in goldenen Lettern vor Augen haben sollte. Leider wird seine Entscheidung in den meisten Fällen durch ganz andere Erwägungen beeinflußt.

Die Vereinten Nationen

Wir wenden uns nunmehr der Außenwelt zu, die einer sich gerade emportürmenden Bergkette gleicht. In jede einzelne der sich formenden Gebirgsfalten sollte die politische Linie Frankreichs eingezeichnet sein oder eingeschrieben werden. Diese Falten tragen Namen wie: Die strategischen Konsequenzen der Kernwaffen; die Notwendigkeit, immer mehr Tat-kraft zu entfalten; das fehlende, innere soziale Gleichgewicht der Menschenmassen; die Verschiebung der traditionellen Mächteblöcke; und endlich das Aufkommen neuer Kräfte, der so-genannten Bandung-Staaten.

Der erste Punkt ist klar, aber unsere Suez-Politik hat bewiesen, daß man sich in Frankreich dessen noch nicht bewußt war.

Für eine große Nation ist es sinnlos geworden, Zuflucht zur Gewalt zu nehmen, ausgenommen im Falle einer legitimen Verteidigung, weil die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten, die bei einem allgemeinen Krieg am meisten zu verlieren hätten, den Ausbruch eines Krieges mit allen Mitteln verhindern oder seine Ausdehnung vermeiden wollen. Der Besitz der Atombombe macht die beiden großen Staaten zu Komplizen. Diese Bindung erweist sich als stärker als ihre gegensätzlichen Regierungsformen und ihre Rivalität um die Gunst der Anhänger. Man muß sich also anderer Mittel bedienen, um seine nationalen Ziele zu erreichen. Bis jetzt hatte die französische Meinung nichts als Spott und Verachtung für die einzige internationale Instanz, die Organisation der Vereinten Nationen, deren Namen schon dem gesunden Menschenverstand zu widersprechen scheint. Die französische Meinung stellte fest, daß der Sicherheitsrat durch das Veto gelähmt, die Generalversammlung ohnmächtig und Frankreich öfter als üblich aufs Armesünderstühlchen gesetzt worden ist.

Die Auffassung bestand nicht zu unrecht. Sie hatte sogar recht. Aber die führenden Männer hätten sich Gedanken machen sollen, als sie sahen, daß sich die Sowjetunion, obgleich ständig in der Minderheit, an ihren Sitz klammert;

daß die Vereinigten Staaten, die sich anderen Ländern gegenüber vorwiegend realistisch verhalten, den größten Teil der Ausgaben der Vereinten Nationen bestreiten; daß das kommunistische China sein Verhalten modifiziert in der Hoffnung, in die Vereinten Nationen ausgenommen zu werden; daß die kleinen Länder vor ihrer Tür Schlange stehen und alle Mächte ihr bestes an Diplomatie leisten und an Propagandamitteln aufbieten, um ihre Positionen bei den Vereinten Nationen durch ständiges lobby-ing, das nun einmal mit jeder Einflußnahme auf eine Versammlung untrennbar verbunden ist, zu verteidigen.

Wir alle, und Frankreich vor allen anderen, wissen, daß der Nationalismus in der internationalen Gesellschaft, wie die Freiheit in der nationalen Gesellschaft, entweder zu Anarchie und allgemeiner Auflösung oder zu Rechtsvorschriften und einer Polizei, die für ihre Respektierung zu sorgen hat, führt. Wir können alle eine wirksamere Organisation gebrauchen. Aber es ist töricht, sich gegen eine Instanz zu sträuben, die wir nicht umgehen können und welche die unumgängliche Durchgangsstelle aller unserer internationalen Angelegenheiten ist, ob wir es nun wollen oder nicht.

Statt noch weiter zu schmollen, sollten wir im Gegenteil Vorschläge unterbreiten, um diese Instanz wirksamer zu gestalten, denn wir ver-fügen zur Einwirkung auf die internationale Meinung über eine ganze Reihe von Atouts, die wir bisher nicht einmal versucht haben auszuspielen. Und da sich Frankreich die Heranbildung junger Nationen zur Unabhängigkeit als Aufgabe gestellt hat, und diese Nationen aufgefordert worden sind, den Vereinten Nationen beizutreten, vollzieht sich eine Art ständiger Neuschöpfung französischen Landes, französischen Geistes und französischer Sprache, die unserer Stimme ein Echo sein können, wenn wir nur keine neuen Fehler mehr begehen.

Europa ist unerlässlich

Wir haben schon erwähnt, daß es die ursprüngliche Aufgabe der Führer eines Landes ist, sicherzustellen, daß die Bevölkerung den Lebensstandard des begünstigtsten Landes erreicht und aufrechterhält. Man weiß heute, daß sich Frankreich im Interesse der in den kommenden Jahren notwendigen Steigerung seiner Energie und Anschlusses an den Technisierungsprozeß, dessen Wachstum geometrisch verläuft, mit den Ländern zusammentun muß, welche die gleichen Sorgen, die gleichen Institutionen, die gleichen Lebensinteressen, die gleiche Kultur haben und unter gleichen geographischen Bedingungen leben.

Dieses Europa, für das Frankreich Ende der vierziger Jahre nicht ohne Mut und Weitblick die Initiative ergriffen und dessen Verwirklichung durch seine LInschlüssigkeit — angesichts des unglückseligen militärischen Charakters seiner ersten Manifestationen — jäh verhindert worden ist, dieses Europa, das fühlt man mehr und mehr, ist unerläßlich. Euratom und Gemeinsamer Markt sind Grunderkenntnisse, die jetzt schnell in die Tat umgesetzt werden müssen. Eine neue politisch-wirtschaftliche Konstellation wäre das größte Phänomen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihre Folgen sind vorauszusehen: Sie würde die Tendenz zur internationalen Anarchie, die heute so bedrohlich ist, ins Gegenteil verkehren.

Angesichts der großen Menschenmassen, der amerikanischen Menschenmasse, der chinesischen Menschenmasse, der sowjetischen Menschenmasse, der arabischen Menschenmasse, der süd-asiatischen Menschenmasse, würde eine europäische Union mit ihrer unvergleichlich hoch entwickelten Technik, Intelligenz, klaren Beurteilung der Dinge, Erfahrung, Zivilisation und Dynamik die düsteren Aussichten mit einem Schlage verändern. Unter einer Bedingung, daß Frankreich führt anstatt die Gunst der Umstände nur zu erdulden. Man hat gesagt: Frankreich ist der Kopf, Deutschland Herz und Muskel. Die ganze Politik Frankreichs sollte auf die Verwirklichung der Vereinigten Staaten Europas gerichtet sein, weil seine Stärke, seine Ausstrahlung, sein Glück, sein Gedeihen davon abhängen. Noch ein junger Kontinent hinsichtlich seiner enormen Entwicklungsmöglichkeiten bei wohl-überlegten Investierungen würde ein wirtschaftlich blühendes Europa, in dem Menschen und Waren frei zirkulieren können, eine derartige Anziehungskraft ausüben, daß zur Zusammenarbeit und dann zur Beteiligung an einem Vereinten Europa nicht nur England bereit wäre, sondern sich nach und nach auch andere Nationen und Gebiete anschließen würden.

Vielleicht haben unsere Staatsmänner in dieser Sache noch den klarsten Blick gehabt. In dieser Angelegenheit kann ihnen keine Kurzsichtigkeit, sondern nur Schwerfälligkeit vorgeworfen werden. Eine übermäßige Apathie kann leider die gleichen Gefahren heraufbeschwören, denn durchaus geneigte Partner können abspringen und eine günstige Konjunktur kann fast zehn Jahre anhalten und dann vorbei sein. Deutschland hat unter schwierigen Bedingungen ein fast unwahrscheinliches Maß an Einsicht und Weisheit bewiesen. Man darf das Schicksal nicht allzusehr herausfordern.

Die Französische Union

Läßt sich aus unserem Interesse für Europa auf mangelndes Interesse für die sogenannte Französischer Union schließen? Die Ereignisse haben bewiesen, inwieweit die Entscheidung von der Einsicht beeinflußt worden ist. Wir verzetteln unsere Kräfte nicht, wenn wir uns mit Europa befassen; wir vervielfältigen sie im Gegenteil und können uns dann besser unseren anderen Aufgaben widmen. Aber es gibt eine gewisse Rangordnung. Wir müssen zuerst uns selbst so mächtig und wirtschaftlich so stark machen, daß wir, wie die Vereinigten Staaten, eine Kraft sind, die nicht übergangen werden kann. Wir werden dann über einen Überschuß an Energie und Kapital verfügen, die wir heute nicht einsetzen können, ohne nicht unsere Quellen zum Versiegen zu bringen. Die Mutter kräftigt ihre eigene Gesundheit, damit auch das ungeborene Kind davon „profitiert“. Es ist widersinnig und unmöglich, unsere eigene Substanz anzugreifen, um davon den Lebensstandard der unterentwickelten Länder zu heben.

Bleiben noch die Bindungen, die wir, nach all dem, was wir dabei investiert haben, nicht jäh abbrechen können, ohne uns nicht unnötigerweise die Länder zu Feinden zu machen, die nichts anderes als eine gegenseitige friedliche Durchdringung erstreben. Aber wir sollten die Art unserer Bindungen ändern. Niemals wieder sollten wir in die törichte Lage geraten, gehaßt zu werden und mit Geld und Blut die Positionen verteidigen zu müssen, die, gemessen an den entscheidenden Zielen, für uns nebensächlieh, für die betroffene Bevölkerung aber lebenswichtig sind. Müßten wir tatsächlich zwischen der absurden Lage, in die wir uns haben drängen lassen, und der Preisgabe unserer Positionen wählen, dann hätten wir uns für letzteres zu entscheiden. Gewiß würden daraus schwere Nachteile für eine Anzahl Personen erwachsen, welche die Nation entschädigen könnte und müßte. Es besteht jedoch keine Notwendigkeit, daß es deshalb auch zu einem tragischen Dilemma kommen müßte. Denn die Erfahrung lehrt, daß den Völkern, die unter unserem Protektorat gelebt haben, riesige Gefahren aus einem jähen Bruch erwachsen. Da sie zu einer Selbstregierung noch nicht fähig sind, würden sie sich in Abhängigkeiten stürzen, vor denen sie sich im Grunde fürchten. Es ist daher unsere Aufgabe, mit Hilfe unserer europäischen Partner besondere Beziehungen mit diesen Ländern herzustellen. Hierzu sind die beiden Kardinaltugenden, gesunder Menschenverstand und Ideenreichtum, notwendig. Wenn unsere Politiker es daran fehlen ließen, so haben unsere Verwaltungsbeamten davon um so mehr, und Lösungen entsprechend dem Lande und dem Grad seiner Entwicklung gibt es im Überfluß.

Allen aber liegen die gleichen Prinzipien zugrunde: Zu allererst Schluß mit den falschen Schlagworten wie „Frankreich ist nichts ohne seine afrikanischen Gebiete." Das hat vielleicht zu gewissen Zeiten Gültigkeit besessen. Heute ziehen wir sie wie eine Last hinter uns her.

Die Lösung dieser schwierigen Probleme kann nur gefunden werden, wenn man sich auf die schon erwähnten Grundprinzipien besinnt und sich folgende Fragen vorlegt: Wenn unsere Investitionen in Frankreich produktiver angelegt sind als in Afrika, sollen wir dann unsere Substanz opfern, um den Lebensstandard der Eingeborenen zu heben? Ist es nicht sinnvoller und angemessener, sie für die eigene Entwicklung selbst verantwortlich zu machen, indem man ihnen politische Verantwortlichkeit gewährt? Gibt es denn in Anbetracht der Tatsache, daß sie unsere Hilfe und Vermittlung dringend benötigen, kein Mittel, die politische Eigenverantwortlichkeit mit der Wahrung der Positionen der Franzosen, die in diesen Gebieten leben und sie zu Recht als ihr Vaterland betrachten, zu verneinen? Können Personen, die ihre Zelte abbrechen wollen, nicht von der Gemeinschaft entschädigt werden? Kann die Nutzbarmachung der Sahara z. B. nicht von Frankreich der Gesamtheit der afrikanischen Völker mit europäischer Beteiligung als große Aufgabe vorgeschlagen werden? Hat diese großzügige und projektenreiche Politik nicht die gleiche Spannweite wie die der großen Erbauer des Empire, Lyautes, zum Beispiel?

Die großen Gefahren der Gegenwart

Gleichgültig, ob Frankreich alleinsteht, ob es Anführer einer Gemeinschaft afrikanischer Staaten oder Mitglied einer europäischen Union ist, es kann keinen ausschließlich egoistischen Standpunkt einnehmen. Daß Frankreich zuerst seine unmittelbaren Interessen kundtut, ist gut und auch notwendig. Es werden dadurch dramatische Irrtümer vermieden wie der Verlust von lOOOOO Mann, 2000 Milliarden Franken und zehn Jahren im Kampf um Indochina. Aber man kann auch seine Interessen verraten, wenn man nur an sich denkt und sich um die übrige Welt, mit der man solidarisch ist, nicht kümmert. Die große Revolution auf internationaler Ebene, die vor unseren Augen abrollt, ist ein Phänomen, das auf nationaler Ebene in etwa mit der Französischen Revolution vergleichbar ist. Frankreich ist Meister auf dem Gebiet. Un-organisierte Menschenmassen gleich den Hörigen unserer feudalen Gesellschaft finden den Weg zur Persönlichkeit, zum Recht und zu den Bedürfnissen. Intelligent und ungeheuer zahlreich fordern sie nicht nur einen Platz an der Sonne, sondern auch Gleichheit, Achtung und das Ende der Privilegien.

Die klassenlose Gesellschaft, die Länder wie Amerika oder England und innerhalb einer europäischen Union vielleicht morgen auch Frankreich auf nationaler Ebene zu verwirklichen im Begriff sind, nimmt jedoch auf internationaler Ebene das Aussehen einer Gesellschaft an, in der die Besitzenden, die alles und immer noch mehr haben, und die anderen, die nichts haben und die eine ständig wachsende Kluft von den Besitzenden trennt, nebeneinander existieren. Einige Länder, wie China und einst Rußland, entwickeln sich aus eigener Kraft, andere wissen oder können es nicht. In dem einen wie in dem anderen Falle lastet eine schwere Bedrohung auf der internationalen Gesellschaft. Getrieben von Elend oder Neid versuchen die jungen unterentwickelten Nationen, ihren minderen Status vor allem durch Betonung ihres jungen Nationalismus zu kompensieren, um den Reichen zu trotzen. Schlimmer noch, sie können sich mit Hilfe von Maßnahmen mit übermenschlicher Härte und Strenge wappnen, die Isolierung und ein totalitäres Regime zur Folge haben, das zu unvermeidlichen Umwälzungen führen muß.

Hier liegt eine der großen Gefahren der Gegenwart, denn die Chancen für einen dauerhaften Frieden, zu dem die Menschheit wegen der Kernwaffen „verdammt" ist, setzen voraus, daß sich die führenden Persönlichkeiten aller Länder in der humanen Wertung tragbarer Risiken einig sind. Wird diese Wertung irgendwo, aber besonders in einem Land geschmälert, das unter Minderwertigkeitskomplexen leidet und die Industrieausrüstungen, die es von einem totalitären Regime erhalten hat, für einen Aktivposten hält, dann liegt das Schicksal der Welt in den Händen einer ganz kleinen Minderheit von Fanatikern.

Frankreich allein ist nicht in der Lage, diese Art Bedrohung abzuwenden, sondern es handelt sich hier um ein Anliegen aller, und Frankreich, das weiterhin geistig Außergewöhnliches bieten kann, hat die Pflicht, seine Fähigkeit des Maßhaltens, seine Urteilskraft und Humanität voll zu entfalten, um politische Maßnahmen zu fördern, die verhindern, daß sich die Bedrohung verdichtet. Es hat schon die Bildung von Investitionsfonds vorgeschlagen, wozu noch technisches und menschliches Kapital kommen muß, die den unterentwickelten Ländern nicht von einer bestimmten Nation zur Verfügung gestellt werden sollen, weil diese Form der Hilfeleistung bekanntlich zu den wohlbekannten Ressentiments gegen die Wohltäter führt, sondern von der Gesamtheit selbst.

Mit anderen Worten, wie Mildtätigkeit und Wohltäterschaft durch staatliche Hilfe ersetzt worden sind, so dürfte es die Pflicht aller Nationen sein, entsprechend ihren Möglichkeiten der Menschheit zu helfen, einen wenn auch nicht in allen Punkten denselben, so doch wenigstens vom Standpunkt der allgemeinen Entwicklung und sinkenden Disparität angeglichenen Lebensstandard zu erreichen. Auf Länderebene leben wir in einer Epoche, in der ein Rockefeller Milliarden verdiente, während woanders Arbeitslosigkeit und Elend an der Tagesordnung waren. Die gleiche Entwicklung, welche die Vereinigten Staaten zu einem Lande macht, wo jeder reich aber fast niemand Milliardär ist, drängt sich früher oder später auch der Gesamtheit der Nationen auf, sollen revolutionäre Situationen vermieden werden.

Frankreichs eigentliche Mission Weit entfernt von der Vorstellung, daß Frankreich eine alte Dame ist, die mit anderen alten Damen danach trachten muß, sich so lange wie möglich in einer Welt zu erhalten, in der sie sich nicht mehr wohlfühlt und ihre Privilegien keine Gültigkeit haben, glauben wir im Gegenteil, daß Frankreich eine völlige Erneuerung der Staatenkonstellation anregen und im Verein mit seinen Partnern den Vereinigten Staaten ebenbürtig werden und seine eigentliche Mission, die Betonung der menschlichen Seite der Entwicklung, erfüllen kann.

Es erregt vielleicht Verwunderung, daß bei dieser Deutung der französischen Außenpolitik so wenig vom Bündnis mit den Wststaaten und vom Kommunismus die Rede ist.

Nach meiner Ansicht sind bei Behandlung dieser beiden eng miteinander verflochtenen Fragen zwei Epochen zu unterscheiden:

Bei der ersten handelt es sich um die Gegenwart und somit um die Verlängerung der Periode des Kalten Krieges, die mit der Person eines Mannes verbunden ist: Stalin. Der Atlantikpakt hat den Kommunismus in Europa großartig im Zaume gehalten, und wir verdanken es ihm allein, daß wir noch leben. Solange Europa noch nicht steht, muß sein Aufbau Angelpunkt der französischen Politik blei-

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