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Polen auf eigenem Weg | APuZ 24/1957 | bpb.de

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APuZ 24/1957 Polen auf eigenem Weg

Polen auf eigenem Weg

ALFRED BURMEISTER

Die Wahlen vom 20. Januar

Voller Spannung blickte die Welt nach Polen als dort am 20. Januar dieses Jahres die Wahlen zum Parlament, dem polnischen Sejm, stattfanden. Es waren die ersten beinahe freien Wahlen in einem zum Ostblock gehörenden Land. Alle großen Blätter und die wichtigsten Presseagenturen hatten ihre Korrespondenten nach Warschau entsandt und amerikanische Wochenschauen surrten in den Wahllokalen, in die die polnische Bevölkerung strömte, ohne daß sie von Wahlschleppern dazu veranlaßt, von Sicherheitsbeamten bedroht oder von Parteiaktivisten überwacht worden wäre. Die Freiwilligkeit der Stimmabgabe bei diesen polnischen Wahlen stand außer Zweifel. Alle ausländischen Zeugen bestätigen das übereinstimmend.

Umso sensationeller war der Wahlausgang: die erste beinahe freie Wahl in einem kommunistischen Land brachte der kommunistischen Führung einen überwältigenden Sieg. Ohne daß irgend ein Druck auf sie ausgeübt worden wäre, hatten sich 94 Prozent der Wahlberechtigten in Polen an den Wahlen vom 20. Januar beteiligt, 98 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf die Kandidaten der „Front der Nationalen Einheit“ und der neue erste Sekretär der kommunistischen „Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei“, Wladyslow Gomulka, hatte in seinem Wahlbezirk sogar 99, 8 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen können.

Am nächsten Tag drückte man sowohl in Moskau wie in Washington seine Freude darüber aus. Hier und da mit etwas gemischten Gefühlen. Der Sieg Gomulkas war ein Sieg gegen Moskau — aber es war dennoch ein kommunistischer Sieg. Erst die Entwicklung, die ihm folgen würde, konnte zeigen, wer mehr Grund zur Freude über ihn haben konnte: der Kreml oder das polnische Volk. Der „polnische Weg“ barg alle Möglichkeiten in sich. Würden die Wähler, die der neuen Parteiführung, die es im vergangenen Jahr gewagt hatte, dem Kreml Trotz zu bieten, jetzt einen so großen Vertrauensbeweis geliefert hatten, nicht enttäuscht werden?

Was hatten die Monate, die nach dem „Polnischen Oktober“ vergangen waren und die dann den Wahlen folgten, Polen gebracht?

Man erinnert sich: der „Polnische Oktober“ oder, wie die Polen sagen, ihre „Oktoberrevolution“, fand in den Tagen zwischen dem 19. und 23. Oktober 1956 statt, als das 8. Plenum des Zentralkomitees der „Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei“ von einer spontanen Volksbewegung angetrieben, eine Reihe wichtiger Beschlüsse faßte. Damals wurde entgegen dem Willen, der eigens um diese Veränderungen zu verhindern nach Warschau geeilten sowjetischen Partei-und Staats-führer, Wladyslaw Gomulka zum ersten Parteisekretär gewählt und der sowjetische Marschall, Konstantin Rokossowski, aus der polnischen Parteiführung entfernt. Eine Reihe weiterer eingefleischter Stalinisten wurde durch Parteifreunde Gomulkas, die ebenso wie er nach 1949 im Gefängnis gesessen hatten, ersetzt und Gomulka entwickelte sein Programm des „polnischen Weges zum Sozialismus“. Nach knapp 24 Stunden Aufenthalt mußte Chruschtschow mit seiner Delegation die polnische Hauptstadt verlassen. Die dramatischen Verhandlungen mit den Polen hatten mit einem Sieg Gomulkas geendet.

Einen Monat später erhärtete Gomulka diesen Sieg, indem er diesmal bei Verhandlungen im Kreml einige wesentliche Zusicherungen Moskaus für die politische Unabhängigkeit und wirtschaftliche Entwicklung seines Heimatlandes errang. Während die Sowjets zur gleichen Zeit die Ungarn mit Panzern niederschlugen, waren sie Polen gegenüber zu Zugeständnissen gezwungen. Gomulkas neue Parteiführung behauptete sich gegenüber den sowjetischen Drohungen und den wütenden Angriffen der noch deutlicher ihr Mißfallen bekundenden Genossen aus der SED und den tschechoslowakischen sowie französischen Kommunisten. Es gelang ihr, das polnische Volk vor einem ähnlichen Schicksal, wie es das ungarische erlebt hatte, zu bewahren. Der persönliche Mut, den Gomulka im Oktober bewiesen hatte und seine taktische Klugheit, die ihn veranlaßte, sich mit der Kirche zu verbinden, deren Oberhaupt, Kardinal Wyzynski, unmittelbar nach Gomulkas Wahl zurückkehren durfte — waren dabei von ausschlaggebender Bedeutung.

Die Reaktivierung des Parlaments, die Verwandlung des bedeutungslos gewordenen Sejm, der in Polen über eine alte Tradition verfügt, in eine wirkliche Volksvertretung, war einer der Punkte des von Gomulka im Oktober verkündeten Programmes. Der polnische Sejm hatte während der letzten Jahre ebenso wie die „Volksvertretungen“ in allen kommunistischen Ländern, keinerlei Rechte, es war eine Versammlung von „Ja“ -Sagcrn, in der weder an eine Opposition, noch an eine Einmischung in die Regierungsgeschäfte zu denken war. Schon die ersten Anzeichen einer politischen Entspannung im vorigen Jahr hatten jedoch dazu geführt, daß das polnische Parlament aufzuleben begann. Gleich nach dem 20. Parteitag in Moskau, im April 1956, kam es in Warschau zu den ersten echten Diskussionen im Sejm. Scharfe Angriffe auf verschiedene Institutionen und Ministerien erfolgten ganz offensichtlich ohne vorherige Absprache und der Angriff, den z. B.der Vertreter der schlesischen Bergarbeiter gegen die Überstunden im Bergbau richtete und dagegen, daß man „Kohlen um jeden Preis“ fördere, war eine deutliche Anspielung auf die Zwangslieferung polnischer Kohle in die UdSSR. Ein Thema, das Gomulka dann im Oktober in seiner Programmrede aufgriff und bei seinen Verhandlungen in Moskau zur Sprache’brachte. Im Frühjahr 195 6 waren auch zum ersten Mal bei der Abstimmung über ein Gesetz Gegenstimmen in einem kommunistischen Parlament abgegeben worden. ,

Es war denn auch kein Zufall, daß die Beschlüsse des 8. Plenums der Partei erst durch die Tagung des Sejm, die unmittelbar nach dem Plenum stattfand, ihre volle Resonanz erhielten. Der Sejm beschloß die personellen Veränderungen, die nun nach den Veränderungen in der Parteiführung auch in der Regierung vorgenommen wurden. Eingehend diskutierten die Abgeordneten die Veränderungen im neuen Wirtschaftsplan und nahmen schließlich die neue Wahlordnung an, nach der im Januar der neue polnische Sejm gewählt worden ist. Die Rolle, die der Sejm in Polen spielt, ist ein Teil des „polnischen Weges“. Die polnische Auffassung von der Bedeutung des Parlaments unterscheidet sich sowohl von der russischen als auch von der jugoslawischen Auffassung. Hier soll der Sejm das höchste gesetzgebende Organ im Staat sein, das höchste Organ der Staatsmacht, das die Regierungstätigkeit jederzeit kontrollieren muß.

Ihn diesen Ausgaben gerecht zu werden, schlug Gomulka im Oktober vor, daß die Sitzungsperioden des Sejm weitaus öfter stattfinden und länger dauern sollten als bisher. Die Abgeordneten müßten von ihrer Berufsarbeit befreit werden und sich nur noch der Sejmarbeit widmen können. Der Ministerrat dürfte nur in den dringenden Fällen selbst Gesetze beschließen, sonst sei die Annahme von Gesetzen Sache des Sejm, während die entsprechenden Sejmkommissionen sie auszuarbeiten hätten.

Damit die Kontrolle der Regierungstätigkeit tatsächlich von der Volksvertretung ausgeübt werden kann, hat der neue Sejm beschlossen, das Ministerium für Staatskontrolle durch eine Kammer für Staatskontrolle zu ersetzen. Während das Ministerium für Staatskontrolle dem Ministerrat unterstellt war, ist die Kammer dem Sejm direkt verantwortlich. Es spielt sich also nicht mehr alles in demselben Gremium einiger weniger führender Funktionäre ab, und die Öffentlichkeit erhält mehr Einblick in die Tätigkeit ihrer Politiker.

Die Unterrichtung der Öffentlichkeit von allen wichtigen Schritten der Regierung und der Partei, war eine Forderung des Oktobers. Die offene Bekanntgabe der Beschlüsse und Entscheidungen, die „oben“ gefällt wurden, wie die offene Darlegung der schweren wirtschaftlichen Lage, in der sich das Land befindet, war einender Maßnahmen, mit denen sich Gomulka seine Popularität in Polen errang.

Offenheit und Kritik kennzeichneten auch die bald nach dem Plenum und der Herbstsession des Sejm beginnenden Wahlvorbereitungen.

Der neue Sejm sollte nicht nur neue Rechte und neue Pflichten bekommen, sondern vor allem neue Menschen. Zum ersten Mal hatten die Wähler dabei die Möglichkeit erhalten, wirklich zu wählen. Entgegen der kommunistischen Gepflogenheit und im Gegensatz zu den letzten Sejmwahlen im Jahre 1952 standen jetzt mehr Kandidaten in den Listen, als Abgeordnete gewählt werden sollten. Aus der Wahl von 72 3 Kandidaten sollten 49 5 Sejmabgeordnete bestimmt werden. Auf je 60 000 Einwohner entfiel ein Abgeordneter, darunter erstmalig seit dem Krieg auch ein Deutscher.

Die Kandidaten wurden in jedem Ort, jeder Fabrik, in Jugend-und Gewerkschaftsversammlungen aufgestellt. Die große politische Aktivität, die die Oktoberereignisse hervorgerufen hatte, führte dazu, daß in ganz Polen stürmische Versammlungen stattfanden und viele Bürger die Berufung in sich fühlten, das Land zu regieren. Rund 60 000 Kandidaten für den Sejm wurden solcherart „aufgestellt“.

Aber das „Verständigungskomitee“ der drei politischen Parteien, das dann gebildet wurde, berücksichtigte die wenigsten dieser spontan aufgestellten Anwärter und stellte seine eigene Liste auf. Diese, unter Berücksichtigung der Interessen der Parteien und der politischen Lage in der man sich befand, sorgfältig ausgearbeitete Liste wurde dann in einer ähnlichen Art wie bisher als einzige Liste, die Kandidatenliste der „Front der Nationalen Einheit“, den Wählern präsentiert.

In den Wahlversammlungen, in denen die Kandidaten sich den Wählern stellten, kam es zu scharfen Auseinandersetzungen. Es gab Angriffe gegen die „zentralen“ Kandidaten, die man nicht kenne, oder „zur Genüge kenne“ und die man lieber durch eigene Leute aus dem Ort oder aus dem Betrieb ersetzt gesehen hätte. Viele Parteifunktionäre, die von der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei aufgestellt worden waren, wurden offen angefeindet und mußten sich für ihr Verhalten in der Vergangenheit verantworten. Neben berechtigten Beschuldigungen gab es dabei auch genügend provokatorische Verunglimpfungen, die von den ihrer Ämter verlustig gegangenen Stalinisten ausgingen. Sie waren es auch, die durch geschickte Stimmungsmache, die Lage zu verwirren trachteten, denn ein Fiasko der Wahlen lag vor allem in ihrem Interesse.

Andererseits war die Stimmung in Polen tatsächlich sehr gegen die Wiederwahl jener Leute gerichtet, die auch in der Stalin-Ära in der Regierung gewesen waren. Gomulka hingegen konnte und wollte wohl auch nicht auf sie verzichten. Der Kreis seiner unmittelbaren Leidensgenossen war viel zu klein, er sah sich, wenn er die Partei erhalten wollte, gezwungen, mit den erfahrenen Parteifunktionären, auch wenn sie seine Feinde von gestern waren, zusammenzuarbeiten, um so mehr als ein nicht unerheblicher Teil von ihnen ihm sein „come back“ schließlich ermöglicht hatte. Es war nicht einfach, die Wahl einiger von ihnen durchzusetzen. Noch wenige Tage vor der Wahl schien es, als würde das Experiment nicht gelingen. Der Wahlkampf war erbittert. Es gab sowohl Stimmer., die zum Boykott der Wahlen aufriefen, wie solche, die den Wählern hartnäckig empfahlen, alle Kommunisten aus den Listen zu streichen. Beides hätte zu einer Niederlage nicht nur der entsprechenden Kandidaten geführt, sondern auch zu einer Niederlage Gomulkas. Nach der Niederlage der Kommunisten wäre der Weg für eine erneute Intervention der Sowjets in Polen offen gewesen, die eine Minderheit der Abgeordneten der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei im Sejm nicht akzeptiert hätten Angesichts dieser Gefahr entschloß sich Wladyslaw Gomulka am 13. Januar, eine Woche vor den Wahlen also, die Wähler aufzurufen, eine „Wahl ohne Streichungen“ vorzunehmen. Er beschwor sie, die Wahlscheine ohne Änderungen in die Urnen zu werfen, womit automatisch die Spitzenkandidaten der Parteien gewählt würden. Diesem Appell Gomulkas schlossen sich die Führer der beiden anderen Parteien und eine Reihe einflußreicher Persönlichkeiten aller Richtungen an. Die Gefahr,, die Polen von Rußland drohen konnte, ließ sie sich zusammentun, um die polnische „Staatsraison“ zu schützen. Als schließlich auch die Kirche die Gläubigen zur Erfüllung ihrer Staatsbürgerpflicht aufrief und die Pfarrer anwies, den Gottesdienst am Sonntag so abzuhalten, daß alle Gläubigen rechtzeitig zu den Wahlurnen kämen, war die Gefahr eines Boykotts der Wahlen aus der Welt geschafft. Der Wahlerfolg der Kommunisten in Polen war somit ausschließlich das Verdienst der persönlichen Autorität, die Wladyslaw Gomulka im Land genoß und eine Folge der LInterstützung, die ihm die Kirche gewährte. Beides basierte auf dem tiefen Patriotismus der Polen und der Erkenntnis, daß eine relative staatliche Souveränität ihrer Heimat zur Zeit nur durch diesen Mann gewährleistet werden kann.

Der Wahlausgang festigte die Machtposition Gomulkas nach innen und nach außen. Er schuf legale Voraussetzungen für die Fortführungdes Liberalisierungsprozesses in Polen und zwang die Sowjets, vorläufig Zurückhaltung zu üben. Gleichzeitig gab er Gomulka die Möglichkeit, gegen die Stalinisten in seiner Partei schärfer vorzugehen, ihre Niederlage war nun besiegelt. Wie weit jedoch wollte Gomulka selbst in dieser Liberalisierung gehen? Sicher nicht so weit, daß die Gefahr bestand, die Existenz seiner Partei zu gefährden oder ihre Machtstellung zu untergraben. Obwohl eine Reihe alter kommunistischer Funktionäre wieder in den Sejm einzog, war doch der überwiegende Teil der Abgeordneten neu. Von den 48 5 Abgeordneten wären nur 8 5 im alten Sejm gewesen.. Unter den neuen Abgeordneten gab es auffallend viele Intellektuelle, Professoren, Wissenschaftler, Journalisten und Ingenieure. 63 Abgeordnete gehörten keiner Partei an, 12 von ihnen gehörten zu dem Kreis der katholischen Intellektuellen, der sich um die katholische Wochen-zeitung „Tygodnik Powszechny“ scharte, die seit dem Oktober wieder unter der alten Redaktion in Krakau erschien. An ihrer Spitze stand der bekannte katholische Publizist Jerzy Zawieyski. Jerzy Zawieyski und Wladyslaw Gomulka erhielten in der neuen Regierung die gleichen Posten. Beide wurden zu Mitgliedern des Ministerrats gewählt, dem noch sieben andere Politiker angehörten. Eine höhere Stellung strebte Gomulka nicht an. Die Stellung des kommunistischen Parteisekretärs sollte in Polen sowieso die höchste bleiben.

AIs das Parlament am 20. Februar erstmalig zusammentrat hatten sich bereits sogenannte „Sejmklubs“ der einzelnen politischen Parteien gebildet. Es entstand ein „Kreis“ der parteilosen Abgeordneten, und auch die katholischen Intellektuellen bildeten eine eigene Fraktion; die Aufgaben dieser Sejmklubs entsprechen etwa denen unserer Bundestagsfraktionen. Formell mußte die Regierung nach den Wahlen zurücktreten. Eine neue Regierung mußte gebildet werden. Vor Beginn der Sejmtagung kursierten Gerüchte über bevorstehende neue Veränderungen in der erst im Herbst gesäuberten polnischen Regierung. Aber als Gomulka aufstand und die Wiederwahl von Ministerpräsident Cyrankiewicz vorschlug, war es klar, daß große Veränderungen nicht zu erwarten waren.

Tatsächlich machte Cyrankiewicz nur einige Vorschläge für Neubesetzungen, die vor allem mit der Zusammenlegung und Umorganisie-rung der Ministerien zusammenhingen. Die nach sowjetischem Muster in Polen geschaffenen Industrieministerien waren schon seit langem Gegenstand lebhafter Kritik in der Presse. Der große bürokratische Apparat, den sie unterhielten, stand in keinem Verhältnis zu den Aufgaben, die sie erfüllten. Eine geringere Zahl von Ministerien würde vollkommen genügen. So wurden das Ministerium für Eisenbahn-und für Transportwesen zusammengelegt, die Ministerien für Energiewirtschaft und für Kohlenbergbau vereinigten sich, die Ministerien für Hüttenwesen und das Ministerium für Maschinenindustrie und andere verwandelten sich ebenfalls in neue, mehrere Industriezweige erfassende Ministerien. An Stelle des vor einem Jahr berufenen Justizministers Frau Wasilkawaska wurde ein neuer Justizminister, Marian Rybicki, bestimmt. Edward Ochab, der Vorgänger Gomulkas auf dem Posten des Ersten Parteisekretärs, hatte noch Ende vorigen Jahres das schwierige Amt eines Landwirtschaftsministers übertragen bekommen und auch der Posten des Außenhandelsministers war damals, nach einer scharfen Kritik des Außenhandels, den Polen in den letzten Jahren betrieb, neu besetzt worden. Diese Posten wurden nun nicht mehr neu besetzt.

Eine Sensation löste jetzt nur die Tatsache aus, daß der als Stalinist bekannte Zenon Nowak weiter die Stellung eines stellvertretenden Ministerpräsidenten im Kabinett behielt. Man hatte in Warschau allgemein erwartet, daß er verschwinden würde. Aber es erhob sich kein Protest als Cyrankiewicz seinen Namen verlas. Hingegen protestierte einer der neuen Augeordneten, Professor Wojtysiak aus Breslau, sehr entschieden gegen die Wiederwahl des Ministerpräsidenten Cyrankiewicz selbst. Wojtysiak wies in einer scharfen Rede auf die Haltung Cyrankiewicz’s während der Stalin-Ära hin und erklärte, daß er gegen ihn und die von ihm vorgeschlagene Regierung stimmen würde. Neben acht Stimmenthaltungen registrierte das Ergebnis der Abstimmung dann auch eine Gegenstimme.

In einem Kommentar, den die katholische Wochenzeitschrift „Tygodnik Powszechny" zu der Sejmsession brachte, schrieb einer der führenden katholischen Publizisten und Sejm-Abgeordnete, Stefan Kisielewski zu dieser Abstimmung: „Was imdt aribetrifft, so verhalte ich Mick Ministerpräsident Cyrankiewicz gegenüber wie ein Katholik und sage mir — lieber ein Sünder, der Buße tut, als zehn Gerechte ..."

Zweimal im Jahr wird nun, nach der neuen Sejmordnung, die polnische Volksvertretung zu ihren Sessionen zusammentreten. Einberufung und Dauer der Sitzungsperiode hängt von dem Haus selbst ab. Bei besonderen Anlässen können auch außerordentliche Tagungen einberufen werden. Für die Annahme von Gesetzen wurden zwei Lesungen bestimmt — bisher mußte eine genügen. Das Recht auf die Einbringung einer Interpellation wurde jedem einzelnen Abgeordneten gewährt und es wurde ausdrücklich festgelegt, daß über solche Interpellationen Sejmdebatten eröffnet werden können, alles Dinge, die im „volksdemokratischen“ Sejm nicht selbstverständlich gewesen sind. Auch die Publikmachung der Beratungen und der Abstimmungen wurde gewährleistet. Schon die ersten Sitzungen des neuen Sejm wurden, fast vollständig durch den Warschauer Rundfunk übertragen.

Der neue Sejm wählte 19 ständige Sejmkommissionen, in denen die eigentliche Arbeit der Volksvertretung vor sich gehen wird. Die Kommission für Landwirtschaft ist mit vierzig Mitgliedern die größte, die Kommission für die Nationale Verteidigung mit elf Mitgliedern die kleinste. In diese Sejmkommissionen sind die parteilosen Abgeordneten, die Abgeordneten der Bauernpartei sowie der Demokraten zahlreich vertreten. Hingegen stellen die Mitglieder der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei, die nur über etwas mehr als die Hälfte aller Sejmabgeordneten verfügen — 23 der 30 Regierungsmitglieder. Drei Minister sind Angehörige der Vereinigten Bauernpartei, zwei der Demokratischen Partei und zwei sind parteilos.

Die polnischen Zeitungen haben schon seit einiger Zeit eine Rubrik unter dem Titel „Woran arbeitet die Regierung?“ eingeführt, regelmäßig wird nun auch in Radio und Presse über die Tätigkeit der Sejmkommissionen berichtet und überdies gibt es laufend Interwievs mit den einzelnen Ministern, Politikern und Direktoren. Man nimmt die im Oktober verkündete Publikmachung der Regierungstätigkeit ernst. Eine andere Frage ist, in wie weit die Öffentlichkeit auch wirklich auf die Dinge Einfluß nehmen kann, immerhin ist die Bekanntmachung der einzelnen Schritte, die höheren Orts unternommen werden und die Möglichkeit, in der Presse und im Radio durch Zuschriften Stellung zu nehmen, ein nicht zu unterschätzender Fortschritt auf dem Weg zu einer wirksamen Kontrolle dieser Tätigkeit durch die Öffentlichkeit. Da überdies die Presse ganz nach westlichem Muster immer öfter Rundfragen veranstaltet, Meinungsforschung auf den verschiedensten Gebieten des öffentlichen Lebens betreibt und die politische Aktivität, — wenn auch geringer als im Oktober —, doch wesentlich lebendiger ist, als in allen anderen Ländern des Ostblocks, ja vielfach sogar lebendiger als im Westen, so ist zumindest in absehbarer Zeit an ein völliges Außerachtlassen der Forderungen der Öffentlichkeit in Polen, wie zur Stalin-Zeit, nicht zu denken. Der Sejm beginnt ein lebendiges Sprachrohr des Volkes zu werden.

Die Warschauer prägten in Bezug auf ihren Sejm den Witz: „Int Oktober glich unser Land einem alten klapprigen Auto, das beinahe zu nichts mehr gut war. Jetzt, nadt einem halben ]ahr ist es zwar immer noch ein klappriges Auto, aber die Hupe ist schon repariert.“

Veränderungen i Wirtschaftsleben

Die Ursachen, die zum „polnischen Oktober“ geführt hatten, waren vor allem wirtschaftlicher Natur. Sie hatten bereits im Sommer vorigen Jahres im Posener Aufstand ihren Ausdruck gefunden. Die politische Unterdrückung Polens, die Abhängigkeit des Landes von Moskau, der Zwang zur sklavischen Nachahmung des russischen Beispiels hatten eine wirtschaftliche Fehlentwicklung des Landes zur Folge gehabt. Die Sowjetisierung war zum Hemmschuh für die Entfaltung der Produktiv-kräfte geworden und somit Schuld an der Not und dem Elend der polnischen Bevölkerung, die trotz der größten Anstrengung, die von ihr verlangt wurde, in den letzten Jahren immer schlechter leben mußte. Der Lebensstandard war in Polen im Jahr 1956 nicht nur wesentlich niedriger als etwa in der DDR, sondern selbst niedriger als in Rußland.

Der „polnische Weg“, den Gomulka in seinem Programm angekündigt hatte und den Polen nach dem Oktober einschlug, mußte eine grundlegende Wendung auf wirtschaftlichem Gebiet bringen. Indem Gomulka das Land wenigstens zum Teil von der wirtschaftlichen Abhängigkeit von der UdSSR befreite und eine gewisse Westorientierung des polnischen Außenhandels zuließ, schaffte er die Voraussetzungen für eine gesündere Entwicklung der Wirtschaft. Dadurch, daß er eine Abkehr von der stalinistischen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft ermöglichte, gewann er die Landbevölkerung für sein Programm, ohne die an einen wirtschaftlichen Aufschwung nicht zu denken war. Die Wiederzulassung der privaten Kleinbetriebe, die in der Stalinzeit vernichtet worden waren, bildete einen weiteren Schritt zur Normalisierung des Wirtschaftslebens in Polen und der jahrelang gedrosselte Privathandel, der nun wieder legitim geworden ist, sollte das Tempo dieser Normalisierung beschleunigen.

Wie in jedem kommunistischen Land, war die katastrophale Lage der Wirtschaft vor allem durch die kommunistische Agrarpolitik verursacht worden. Der polnische Bauer hatte sich der Kollektivierung zwar so hartnäckig widersetzt, daß der Prozentanteil der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, verglichen mit anderen „volksdemokratischen“ Ländern, in Polen nicht allzu hoch war — er betrug rund zwölf Prozent — aber das Gespenst der drohenden Kollektivierung hinderte die Bauern doch an der vollen Entfaltung ihrer Arbeit. Dazu kam die ständige Benachteiligung der wohlhabenden Bauern, die Schikanen gegenüber denen, die besser zu wirtschaften verstanden als die anderen, die Zwangsablieferungen, die mit aller Härte eingetriebenen Kontingente, die Unsicherheit und die Rechtlosigkeit, die auf dem Dorf herrschten. Der Privatbauer, der Erfolg hatte, wurde mit einem höheren Ablieferungssoll bestraft, er wurde als „Kulak“ verschrien, konnte verhaftet, ausgesiedelt oder enteignet werden. Bodenbesitz machte nicht glücklich, er schaffte nur Sorgen. Der Bauer schränkte daher die Boden-bearbeitung ein. Es gab eine enorme Landflucht, viele Bauern verzichteten auf ihre Äcker, gaben das Land an den Staat zurück und über-ließen es den Staatsgütern. Die wenigen Arbeitshände, die sich in den früher übervölkerten polnischen Dörfern noch rührten, konnten den wachsenden Bedürfnissen der neuen Arbeiterschaft des Landes nicht mehr genügen. Der Staat war gezwungen, immer mehr Getreide aus dem Ausland einzuführen. Mit der Zeit mußte mindestens rund eine Million Tonnen Getreide nach Polen importiert werden. Statt Getreide anzubauen oder Großvieh zu züchten, verlegten sich die Bauern auf Kleinvieh, sie hielten Hühner, produzierten Waren, die man leicht abstoßen konnte und denen man nicht viele Jahre opfern mußte. Alles war ja doch provisorisch.

Die Auflösung der Kolchosen

In seiner Programmrede im Oktober verurteilte Gomulka die Politik der Zwangskollektivisierung, er verlangte die Auflösung nichtrentabler Kolchosen und zeigte den ungeheuren Schaden auf, den die Verfolgung des privaten Bauern nach sich gezogen hatte. Zur Sanierung der gut funktionierenden individuellen Bauernwirtschaft schlug er vor, die Einzelbauern, ungeachtet der Größe ihres Besitzes, zu unterstützen, die Neusiedler von Steuern zu entlasten und die landwirtschaftlichen Maschinen der örtlichen Ausleihstationen an die Bauern zu verkaufen.

Im Verlauf der bisherigen Monate sind auf dem Boden der Genossenschaften wieder rund 200 000 private Bauernwirtschaften entstanden, allein in dem Gebiet von Breslau 40 000. Es hätten noch mehr sein können, aber die gerechte Aufteilung des Bodens stößt auf viele Schwierigkeiten. Obwohl besondere Kommissionen der Bauern geschaffen werden und alle möglichen Instanzen sich darum bemühen, die Zwistigkeiten zwischen den früheren Mitgliedern der Kolchose und den ehemaligen Kolchosefunktionären beizulegen, obwohl immer wieder von offizieller Seite dazu aufgerufen wird, die Aushändigung der Besitz-urkunden zu beschleunigen, wird der Amtsvorgang durch bürokratische Maßnahmen an Ort und Stelle verzögert. Bewußte Sabotage der früheren Nutznießer der Kolchosearbeit verhindert in vielen Fällen eine reibungslose Privatisierung. Panikstimmung, daß man sich wieder einer „Kulakenherrschaft" auf dem Dorfe ausliefere, wechselt bei den Parteimitgliedern mit rückhaltloser Begeisterung für die schnelle Wiederherstellung der gesunden Bauernwirtschaft.

Die Unterdrückung der reichen Bauern in der Vergangenheit scheint wirklich gerade ihnen am wenigsten das Rückgrat gebrochen zu haben. Ihre Wirtschaften, die scheinbar völlig darniederlagen, erholen sich von einem Tag zum anderen. Es . sind die auch früher gut wirtschaftenden Bauern, die jetzt als erste in der Lage sind, neuen Grund und Boden aufzukaufen, sich zuallererst mit Maschinen, Saatgut und Düngemitteln zu versorgen. Die Aussaat im Frühjahr 1957 erfolgte nicht nur ganz im Zeichen der Reprivatisierung der Landwirtschaft, sie erfolgte im Zeichen des wohlhabenden Bauern, auf die die neue kommunistische Führung gesetzt hat, um das Land aus der wirtschaftlichen Notlage herauszubringen. Sie tat es blutenden Herzens und von Zeit zu Zeit versuchen die kommunistischen Parteiführer sich sozusagen dafür zu entschuldigen. Um so mehr, da die sowjetischen Zeitungen trotz aller Reserve, die sie sich den Ereignissen in Polen gegenüber auferlegen, doch ab und zu Angriffe auf die „Förderung der Kulaken in Polen“ unternehmen.

Der Staat solle doch auf Getreidekäufe im Ausland verzichten und dafür lieber mehr Düngemittel und landwirtschaftliche Maschinen ein-in kommunistische Länder zu umgehen, sollte die USA überdies Getreide für die Bevölkerung produzieren, erklären schon einige Landwirte. Aber das ist noch ferne Zukunftsmusik. Höchstens in sechs oder sieben Jahren würde man so weit sein, sagte kürzlich der neue Landwirtschaftsminister Polens. Vorläufig hat Polen vorgesehen, in diesem Jahr anderthalb Millionen Tonnen Getreide aus dem Ausland einzuführen. Und zwar aus Ost und West. Während in Polen die Getreidelieferungen aus der Sowjetunion langsam der versprochenen Menge von einer Million Tonnen näherkommen, bemühte sich eine polnische Wirtschaftskommission in Washington darum, Weizen aus den USA auf Kredit zu erhalten. Lim die bestehende gesetzliche Beschränkung der Lieferungen in kommunistische Länder zu umgehen, sollte die USA überdies Getreide im Wert von ca. 2 5 Mill. Dollar auf dem Weg über die Bundesrepublik nach Polen schicken. Bereits im vorigen Jahr hat Polen 300 000 Tonnen Weizen aus Amerika über die Bundesrepublik erhalten. Das zögernde und ungenügende Eingehen Amerikas auf die polnischen Wünsche hat in Warschau, wo man eine amerikanische Anleihe von 300 Millionen Dollar erwartet hat, enttäuscht. Aber man hofft noch immer, daß die USA Wege und Mittel finden werden, um entsprechend den Worten Eisenhowers dem Land, das so entschlossen seine Rechte gegenüber der UdSSR geltend gemacht hat, wirksame Hilfe zu gewähren.

Am 7. Juni wurde nach drei Monate währenden Verhandlungen in Washington ein polnisch-amerikanischer Wirtschaftsvertrag abgeschlossen, auf Grund dessen Polen von den LISA Agrar-und andere Produkte auf Kreditbasis erhalten wird. Die Gesamtsumme, auf die er sich beläuft, beträgt 9 5 Millionen Dollar. Davon geben die LISA 30 Millionen Dollar auf langfristigen, praktisch 2 5jährigen Kredit (Die Summe muß im Laufe von 20 Jahren, beginnend mit dem Jahr 1962 zurückgezahlt werden), während der Rest in polnischer Währung vergütet wird, d. h.

von den Amerikanern in Polen verwendet werden muß, in der Art, wie es die Marshallplanhilfe für die europäischen Länder vorsah. An Waren wird Polen auf Grund dieser Kredithilfe von Amerika zunächst eine halbe Millionen Tonnen Weizen erhalten, was den diesjährigen Getreidedefizit in Polen zweifellos decken wird, weiter Baumwolle, die bisher beinahe ausschließlich von der UdSSR geliefert wurde, die nicht nur unregelmäßig eintraf, sondern sie war auch oft von sehr schlechter Qualität, was die polnische Textilindustrie stark behinderte. Schließlich liefern die LISA Maschinen und Bergbaueinrichtungen, auf deren Wichtigkeit für Polen wir schon hingewiesen haben. Die polnische Öffentlichkeit nahm die Unterzeichnung des Vertrages mit größtem Interesse zur Kenntnis. In den Pressekommentaren wurde seine wirtschaftliche und politische Bedeutung unterstrichen. Man faßte ihn als den ersten Schritt auf dem Wege zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Amerika und Polen auf. Polen beteiligt\sich nicht an der neuen antiamerikanischen Hetzkampagne der Sowjetunion und übt bemerkenswerte Zurückhaltung bei der Behandlung des Problems der amerikanischen Hilfe für seine Wirtschaft in der Presse. Auch ohne viel Worte weiß man im Land, wie sehr man auf ausländische Hilfe angewiesen ist, die für eine Überbrückung bis zum Funktionieren der umgemodelten Wirtschaftsform unumgänglich ist.

Die neue Agrarpolitik kann in diesem Jahr nicht viel mehr als die Voraussetzungen für eine bessere Leistung der polnischen Bauern schaffen. Von sich aus und allein auf sich gestellt, kann Polen die Bedürfnisse des Landes noch lange nicht wieder zur Genüge befriedigen. Der diesjährige Wirtschaftsplan sieht angesichts der Umstellung, die in der Landwirtschaft erfolgt, nur eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion um 3, 4 Prozent vor. Aber bereits im nächsten Jahr muß es weit mehr sein, denn im Verlauf der nächsten Jahre soll die polnische Landwirtschaft laut Plan um 25 Prozent ansteigen. Die Produktivität auf dem Lande ist in Polen fünfmal niedriger als in der Industrie und auch da ist sie, wie zahlreiche Aufstellungen und Vergleiche zeigen, viel zu gering.

Man ist sich klar darüber, daß dies nicht allein mit dem guten Willen der Bauern zu erreichen ist, obwohl dieser gute Wille, wie man jetzt verstanden hat, unerläßlich für eine Steigerung der landwirtschaftlichen Ertragfähigkeit ist. Nötig sind auch Maschinen und Düngemittel, sind Gebrauchsgüter und Wohnungen, sind Ställe, Saatgut und Kredite.

Die Produktion der landwirtschaftlichen Maschinen wird in Polen in der nächsten Zeit um das Doppelte gesteigert. Man berücksichtigt dabei, daß man nicht wie bisher für die Zukunft, d. h. für die großen Felder nichtexistierender Produktionsgenossenschaften, sondern für den Bedarf des Einzelbauern Maschinen herstellen muß, kleine Traktoren, Sämaschinen usw., auch landwirtschaftliches Gerät, das mit Pferdekraft betrieben werden kann. Die Fabriken für landwirtschaftliche Geräte müssen sich umstellen, neue Anlagen importieren oder im Lande herstellen. Aber all das dürfte doch heute leichter sein, als in den Jahren vor der Zwangsindustrialisierung. Man hat in Polen inzwischen technische Kader genug, man hat die notwendigen Fabriken und gewisse Erfahrungen, die dem Land früher fehlten.

Baumaterial ist eine der wichtigsten Forderungen des Dorfes. Der Staat hat jetzt auf die Ausfuhr von Zement verzichtet und ihn vor allem für die eigene Bautätigkeit freigestellt. Ziegelsteine und andere Bau-materialien werden überdies vorzugsweise von den neu entstehenden privaten Firmen hergestellt, die nun nicht mehr von Staats wegen verfolgt werden. Ihre Zahl hat sich im Verlauf der letzten Monate ver-. doppelt. Es gibt in Polen schon wieder einige tausend private Kleinunternehmen und über zehntausend private Handwerksbetriebe.

Die Bauern kaufen die landwirtschaftlichen Maschinen, die ihnen angeboten werden, sofort auf, und zwar bezahlen sie zum großen Teil in bar. Selbst dann, wenn sie auf Kredit kaufen können, der Staat hat zusätzliche Mittel für Kredite für die Bauern bestimmt, ziehen es viele vor, gegen bar zu kaufen. Dieser Barkauf bedeutet, wie die finanzielle Aktivität der Bauern selbst, schon eine gewisse Gefahr für die Wirtschaft des Landes. In ihrem Bestreben, den ihnen nun wieder zugesicherten Besitz möglichst schnell zu vergrößern, schrecken die Bauern vor nichts zurück. Während sie sich gewissen Äußerungen Gomulkas gegenüber außerordentlich hellhörig zeigten, wollen sie andere konsequent nicht zur Kenntnis nehmen. So sprach der neue Parteisekretär im Oktober vorigen Jahres von einer künftigen Abschaffung der Pflichtablieferungen. Die Bauern aber ließen sofort in der Pflichtablieferung an den Staat merklich nach. Die Planziffern für die Ablieferungen sind für das letzte Jahr durchschnittlich nur zu 70 Prozent erfüllt worden. Als ab ersten Januar die Pflichtablieferung von Milch abgeschafft wurde, war man auf dem Dorf vollends davon überzeugt, daß man sich nun auch die anderen Ablieferungen schenken könne.

So kommt es, daß die Bauern in den ersten Monaten des Jahres zwar mehr landwirtschaftliche Produkte an den Staat und an die Bevölkerung verkauft haben, als in den früheren Jahren — aber nicht im Rahmen der Pflichtablieferungen und daher für einen höheren Preis. Sie verkauften für teureres Geld auf dem freien Markt. Der Plan wurde mengenmäßig überboten, es gab um 5, 8 Tausend Tonnen mehr Fleisch, um 51 Millionen Liter Milch und um 60 Millionen Stück Eier mehr, aber die finanzielle Belastung war für den Staat ebenfalls höher.

Ein Gesetzentwurf, der jetzt dem Sejm vorgelegt wurde, sieht für dieses Jahr eine Einschränkung der Pflichtablieferungen von Getreide um 630 000 Tonnen vor. Einige Hunderttausend von Bauern, die nur kleine Felder haben, werden ganz von ihr befreit und fast die Hälfte aller Bauernwirtschaften wird bedeutend weniger abzuliefern haben als bisher. Besonders begünstigt werden dabei wieder Neusiedler und in erster Linie Neusiedler in den deutschen Gebieten. Die Preise des Getreides, das auf Grund der Pflichtlieferungen an den Staat verkauft wird, sollen um 100 Prozent erhöht werden. Die Preiserhöhung wird jedoch nicht auf die noch ausstehenden Lieferungen vom vergangenen Jahr ausgedehnt. Der Gesetzentwurf sieht auch eine Verringerung der Pflichtlieferungen von Kartoffeln an den Staat vor. Die Bauern werden die Überschüsse, die sie erzielen, ebenso an private Käufer wie an den Staat zu freien Marktpreisen verkaufen können.

Gebrauchsgüter -statt Schwerindustrie

Es gehört zu den ständigen Ängsten der neuen polnischen Staats-und Parteiführung, daß man in eine Inflation hineinrennt. Lim die Bauern in Schach zu halten, muß man genügend Waren auf den Markt bringen können, die sie für das eingenommene Geld kaufen werden. Man muß schnell liefern können, weil sie bald noch mehr Geld haben werden. Schon jetzt schalten sich dabei auf der einen Seite eine große Zahl von Zwischenhändlern, Aufkäufern von schwarz geschlachtetem Vieh ein, das nicht im Rahmen der Ablieferungen an den Staat verkauft wurde und auf der anderen Seite alle Arten von Schiebern, die mit den knappen landwirtschaftlichen Geräten Geschäfte machen, die sie in den aufgelösten Ausleihstationen von ungetreuen Funktionären erhalten haben. Wie immer in solchen Übergangszeiten, da Warenknappheit herrscht, sind die dunklen Elemente die größten Nutznießer der Veränderungen. Ein Kampf mit administrativen Mitteln gegen sie hat noch nirgendwo zu einem durchschlagenden Erfolg geführt. Entscheidend kann nur eine schnelle Erhöhung der vorhandenen Warenmenge sein. Dieser Erhöhung der Warenmenge gilt daher auch die größte Sorge der neuen Männer in Polen.

Der Fünfjahresplan der Wirtschaft, der in diesem Jahr anläuft und dessen Ziffern für das Jahr 1957 der Sejm angenommen hat, sieht ge-'genüber den vergangenen Jahren eine erhebliche Verringerung der staatlichen Investitionen in die Schwerindustrie vor. Statt der Schwerindustrie wird die Konsumgüterindustrie ausgebaut. Während die Summe der Investitionen insgesamt um 36 Milliarden Zloty gesenkt wurde, ist sie für die individuelle Landwirtschaft und den Wohnungsbau um 20, 5 Milliarden Zloty erhöht worden. Beschränkt wird der Ausbau der Hüttenindustrie und der Maschinenbau — nicht aber die Leichtindustrie, die Herstellung von Baumaterialien und die Kohlenförderung.

Die Industrieproduktion soll im Verlauf der kommenden fünf Jahre nicht, wie zuerst vorgesehen, um 5 3 Prozent ansteigen, sondern nur um 50 Prozent, dabei wird der 'Anteil der Leichtindustrieproduktion steigen, der der Schwerindustrieproduktion sinken. Ein Teil der Produktion, der zur Erweiterung der Investitionsmöglichkeiten des Landes exportiert werden sollte, wird auf den Binnenmarkt gelangen und finanzielle Mittel, die man für das Militär und die Kriegsindustrie bereitstellen wollte, werden jetzt im Zusammenhang mit der Verringerung der Streitkräfte ebenfalls der Bedarfsgüterindustrie zugute kommen.

Der Kurs der Stärkung der individuellen Landwirte und der Entfaltung der privaten Kleinbetriebe setzt sich durch, auch wenn von Seiten der nicht zu unterschätzenden stalinistischen Elemente, die auf das Wohlwollen und die Unterstützung der Russen rechnen können, versucht wird, die Entwicklung aufzuhalten. Das im Mai stattgefundene 9. Plenum des Zentralkomitees der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei unterstrich nach einer grundsätzlichen Rede Gomulkas noch einmal nachdrücklich, daß man in Polen die im Herbst eingeschlagene Agrarpolitik unbeirrt fortzusetzen gedenke und auch die Zulassung des privaten Kleinhandels und der privaten Kleinbetriebe nicht rückgängig machen wolle. Alle diejenigen Funktionäre, die, bewußt oder aus Unfähigkeit sich an neue Arbeitsmethoden zu gewöhnen, diese Politik hindern, wurden gerügt. Gomulka betonte in seinem Referat vor dem Plenum die große Bedeutung des Abkommens, das seine Partei mit der Vereinigten Bauernpartei abgeschlossen habe, auf deren Hilfe bei der Durchführung des Agrarprogramms man rechne. In diesem Abkommen wird, wie in allen anderen offiziellen Dokumenten, erklärt, daß man in Polen nicht für alle Zeiten auf die Idee der sozialistischen Umgestaltung des Dorfes verzichten wolle. Man würde aber, im Gegensatz zu früher, alle Formen des Genossenschaftswesens auf dem Dorf fördern und keinerlei Zwang auf die Bauern ausüben, irgendwelche Kollektive zu gründen. In vielen Dörfern sind Milchverkaufsgenossenschaften, wie es sie bereits vor dem Kriege in Polen gab, geschaffen worden — aber im allgemeinen ist den Bauern zunächst einmal für lange Zeit das gemeinsame Wirtschaften verleidet.

Die Staatsgüter, die schon immer für die Bauern Vorbilder sein und ihnen die Vorteile einer gemeinsamen großen Landwirtschaft vor Augen führen sollten, sind in Polen nach wie vor unrentable Zuschußbetriebe. In der Ablieferung an den Staat hinken sie jetzt selbst hinter den privaten Bauernwirtschaften nach, und es sind Milliarden nötig, um ihre Schulden zu decken. Angesichts der Tatsache, daß es noch vieler Geldzuwendungen bedürfte, um eine den Anforderungen entsprechende Bewirtschaftung dieser Güter zu ermöglichen, deren Ländereien ca. eine Million Hektar besonders schwierigen Ackerbodens einschließen, gab das Landwirtschaftsministerium einen Teil des Bodens wieder in Privat-besitz zurück.

Außer den 200 000 ha, die die Staatsgüter den Repatrianten aus dem Osten zur Verfügung stellten und der Rückgabe von Ackerboden an diejenigen Landwirte, die ihn in den letzten Jahren freiwillig an den Staat gegeben hatten, wurde jetzt weiterer Boden für die Ansiedlung privater Landwirte freigegeben. Überdies ist schon im Frühjahr beschlossen worden, daß die Staatsgüter Land, das sie selbst nicht bebauen — sei es, weil sie zu wenig Arbeitskraft oder zu wenig Maschinen haben — an Einzelbauern verpachten können. LInter dem Druck der Öffentlichkeit, die die großen finanziellen Zuschüsse an die Staatsgüter mißbilligt, will man jetzt alles daran setzen, um ihre Ertragsfähigkeit zu erhöhen. Wie in den Industriebetrieben sollen die Arbeiterräte dabei helfen, und man will den einzelnen Gütern eine größere Selbständigkeit in der Wirtschaftsführung zugestehen. Die Arbeiterräte der Staatsgüter sollen ihre Produktionspläne weitgehend allein aufstellen können — nur die prozentuelle Steigerung der Warenproduktion insgesamt und die Höhe der Investitionen soll ihnen noch vorgeschrieben werden.

Die Neusiedler auf dem brach liegenden Ackerboden, besonders in den ehemals deutschen Gebieten, sind zum größten Teil Heimkehrer aus Rußland. Man kann im Zusammenhang mit der Rückführung der Polen aus Rußland, die nach den Novemberverhandlungen Gomulkas im Kreml einsetzte, von einer neuen großen Umsiedlungsaktion im Osten sprechen. Es sind nach polnischen Schätzungen rund eine halbe Million Polen, die die UdSSR jetzt freigibt. „Freigibt“ im wahrsten Sinne des Wortes, denn obwohl es sich nicht ausschließlich um Menschen handelt, die in Rußland in Lagern und Verbannungsorten oder sogar in Gefängnissen festgehalten wurden, so ist doch der überwiegende Teil von ihnen in der „Heimat der Werktätigen“ in irgendeiner Weise zwangsinterniert gewesen. Diejenigen der polnischen Staatsbürger aber, die nicht in der Verbannung und in Lagern gesessen haben, wurden 1945 auf alle erdenkliche Art daran gehindert nach Polen zu gehen, als der östliche Teil des vormals polnischen Staates an die Sowjet-ukraine, Sowjet-Weißrußland und Sowjetlitauen angegliedert wurde. Lange Jahre hatten Hunderttausende von Polen in der UdSSR auf ihre Rückkehr in die Heimat gewartet, aber erst die Wiederwahl Gomulkas zum Ersten Parteisekretär führte dazu, daß die polnische Regierung im Kreml energisch die Repatriierung ihrer Landsleute aus Rußland forderte und die Freilassung der Ende des Krieges in Massen in die so-wjetisdien Zwangslager verschleppten Polen, darunter die nichtkommunistischen polnischen Widerstandskämpfer gegen die Deutschen, erreichte. Jede Woche kommen jetzt in Polen Tausende von Menschen aus der LIdSSR an. Die Heimat ist angesichts der schweren wirtschaftlichen Lage, in der sie sich befindet, nur unter großen Schwierigkeiten fähig, ihnen schnell die entsprechenden materiellen Bedingungen für die Schaffung einer neuen Existenz zu schaffen:

Die Landwirtschaft bietet für die Unterbringung der Heimkehrer noch die besten Möglichkeiten. Der Staat empfiehlt sie daher mit größter Beredsamkeit. Neusiedler erhalten, wenn sie im Verlauf der Jahre 1957/58 Höfe übernehmen, in den folgenden fünf Jahren 50-prozentigen Steuererlaß, Hilfe beim Neuaufbau ihres Besitzes und Kredite für die Anschaffung von Inventar, Saatgut und Düngemitteln. Der unaufhaltsame Strom der Heimkehrer aus dem Osten macht es verständlich, warum Polen, das endlich die Zusammen-führung der deutschen Familien ermöglichte und durch die Abwanderung der Deutschen in die DDR und in die Bundesrepublik viele Arbeitskräfte verliert, nicht allzuschwer an dem Verlust trägt. Aber bis die neuen polnischen Bauern aus dem Osten in Pommern, Schlesien und an den masurischen Seen heimisch werden, wird wieder eine lange Zeit verstreichen, und selbst wenn die polnische Regierung die alten Fehler der Stalinzeit nicht mehr wiederholt, wird ihnen das sicher nicht leicht fallen.

Die Kohle

Mit der Kritik an den Zuständen in den Bergwerken begann Wladyslaw Gomulka sein politisches Programm für Polen zu entwickeln. Mit der Forderung, die Sowjetunion möge Polen die Zwangslieferungen von Kohle in die LIdSSR und die Länder der Volksdemokratie erlassen und für die LInterbezahlung im Verlauf der Nachkriegsjahre eine Kompensation geben, eröffnete er die Verhandlungen in Moskau. Er erreichte die Streichung der Schulden und das Einverständnis Moskaus mit geringeren polnischen Kohlenlieferungen nach der LIdSSR und den anderen Ländern des Ostblocks. Die LIdSSR mußte sich damit zufrieden geben, daß die Pläne für die Kohlenförderung in Polen so geändert würden, daß man die Bergarbeiter entlasten und Grubeneinrichtungen überholen konnte.

Die Löhne der Bergarbeiter wurden erhöht, die Sonntagsarbeit zunächst eingeschränkt, im nächsten Jahr soll sie ganz verschwinden. Der Einsatz von Gefangenen zur Arbeit in den Gruben hörte auf.

Dann fuhr der Parteisekretär am Festtag der Bergarbeiter am 5. Dezember selbst in die Bergbaubezirke und hielt vor den Kumpels mehrere Reden. Es waren einfache, aber sehr eindringliche und aufschlußreiche Worte, die er ihnen sagte. Es hat selten solche Ansprachen führender Staatsmänner an Arbeiter gegeben und selbst in einem kommunistischen Land, wo Reden vor Arbeitern ja zum System gehören, dürften sie einmalig gewesen sein. Wladyslaw Gomulka hielt den Bergarbeitern eine Art populär-wissenschaftlichen Vortrag über die Finanzlage Polens, über Export und Import des Landes und die wichtige Funktion, die sie und ihre Arbeit dabei zu erfüllen haben. Er machte ihnen an einfachen Beispielen aus ihrem täglichen Leben klar, wie der Staat Anleihen im Ausland aufnehmen müsse und wovon er sie zurückzahlen würde, wie er sich als guter und wie als schlechter „Familienvater“ erweisen könnte.

Trotz des sachlichen Tones, in denen sie gehalten waren, und trotz der Nüchternheit, mit der Gomulka sprach, hatten seine Worte eine zündende Wirkung. Die Art, wir er an die Bergleute appellierte, unterschied sich so gründlich von der der bisherigen Parteiredner, daß sie zum erstenmal seit langem wieder zu glauben begannen, daß ihre Anstrengunen nicht umsonst sein würden. Die Ansprachen Gomulkas forderten nicht zu Hurrarufen heraus, der Beifall wurde bei der Radioübertragung, nach einem neuen ungeschriebenen Gesetz in Polen, sogar gestrichen und doch führten sie zu einem fühlbaren Erfolg. Die Kohlenproduktion, die im Laufe der letzten beiden Jahre ununterbrochen zurückgegangen war, begann seit dem Januar 19 57 langsam, aber systematisch wieder zu steigen.

Die Kumpels hatten vorher manchen Steiger und manchen Direktor aus den Bergwerken herausgejagt. Sie hatten diejenigen unter ihren Vorgesetzten, die ihnen in der vergangenen Zeit Unrecht getan hatten, ebenso rücksichtslos entfernt, wie die Partei-und Gewerkschaftsbonzen, die es nicht verstanden hatten, für die Forderungen der Bergarbeiter einzutreten. Gomulka nahm dagegen nicht Stellung. Er warnte sie nur davor, mit den schlechten Funktionären nicht auch gute Spezialisten herauszuwerfen und erzählte ihnen von dem Fall, wo die Arbeiter eines Werkes im Eifer des Gefechts ihren Direktor auf einem Schubkarren aus der Fabrik gefahren hatten und dann am nächsten Tag gezwungen waren, sich bei ihm zu entschuldigen und ihn zu bitten, in die Fabrik zurückzukehren, weil sie keinen besseren Fachmann für diesen Posten hatten. Wie es sich herausgesetllt hatte, hatte man ihm Unrecht getan.

Ausgebildete Bergarbeiter gibt es nicht mehr viele im polnischen Bergbau. Viele Bergarbeiter wurden im letzten Kriegsjahr nach Ruß-land verschleppt, andere sind nach Deutschland geflüchtet. Die Verhältnisse im Bergbau waren auch keinesfalls dazu angetan, die Arbeiter für ihren Beruf zu interessieren. Lim das zu ändern, hat man jetzt die Löhne der Bergarbeiter besonders auffällig erhöht und bemüht sich, die Bedingungen in den Gruben sowie die Lebensbedingungen der Kumpels überhaupt, auf jede erdenkliche Weise zu verbessern. Auch im Ausland, sei es in Frankreich, in der Bundesrepublik oder in den Vereinigten Staaten ist man jetzt gezwungen, besondere Vergünstigungen für die Bergarbeiter zu schaffen, um sie für die Arbeit in ihrem schweren und gefährlichen Beruf zu interessieren. Nirgends kann der Bergarbeiter auf die Dauer durch Zwang zü einer hohen Förderung des schwarzen Goldes gezwungen werden. Das hat man auch im kommunistischen Polen endlich eingesehen.

Lim die Kohlenförderung in Polen zu heben, ist jedoch außer einer Verbesserung der Arbeitbedingungen für die Bergarbeiter, auch eine gründliche Verbesserung und Modernisierung der Grubeneinrichtungen notwendig. Die Förderung ging nicht zuletzt darum zurück, weil die technischen Einrichtungen der Bergwerke seit Jahren nicht instandgesetzt oder erneuert worden sind. Durch die ununterbrochene Förderung waren oft nicht einmal die laufenden Reparaturen richtig ausgeführt worden und von neuen Maschinen konnte das arme Polen nicht einmal träumen. Es mußte fördern und wieder fördern um die Forderungen der Russen erfüllen zu können. Gomulka brauchte in seinen Ansprachen an die Arbeiter diese Tatsache nur anzudeuten, sie verstanden ihn, auch ohne daß er die Dinge deutlich aussprach. Und sie verstanden auch, daß es damit jetzt Schluß war. Jetzt sollen alle Mittel flüssig gemacht werden, um die Bergwerke zu modernisieren und richtig instandzusetzen.

Ausländische Investitionen

Polen will ausländische Geldgeber für die Modernisierung des Bergbaus gewinnen. Während der Beratungen des Kohlenkomitees des Europäischen Wirtschaftsrates in Genf, die im März stattfanden, hat die polnische Delegation den Vorschlag gemacht, daß westliche Firmen Geld in die polnische Kohlenindustrie investieren. Die Mechanisierung der alten Gruben und die Einrichtung neuer würden den Kohlenmangel, der seit einigen Jahren in Europa spürbar ist, schnell beheben helfen, und die polnische Kohle würde überdies billiger sein, als die erhöhte Einfuhr von Kohle aus Übersee. Die Abzahlung der investierten Summen würde, so schlug die polnische Delegation in Genf vor, in Form von Kohlenlieferungen aus der erhöhten polnischen Kohlenproduktion erfolgen. Das wäre ein Vorteil sowohl für Polen, als für seine Kontrahenten.

Der Minister für Wirtschaftsplanung, Stefan Jendrychowski, hat, als er von einem Investitionsprogramm sprach, das außerhalb des angenommenen Fünfjahresplanes vorgesehen ist und sich auf ausländische Investitionen in die polnische Volkswirtschaft stützt, unter anderem eben diese eventuelle Beteiligung des Westens am Ausbau der polnischen Bergwerke im Auge gehabt

Ausländische Investitionen sieht die polnische Regierung aber auch für andere Industriezweige vor. So z. B. für die Ausbeute der neu entdeckten großen Schwefelvorkommen, die zu den größten in der Welt zählen. Erst im nächsten Jahr könne man mit der ersten Schwefelgewinnung rechnen, wurde kürzlich bekanntgegeben, aber am Ende des laufenden Fünfjahresplanes soll die Schwefelgewinnung in Polen bereits die Anforderung des Landes befriedigen und im nächsten Fünfjahresplan will man zum Export dieses Produktes übergehen. Zum Ausbau der Gruben ist vorgesehen, ausländische Anleihen oder direkte Investitionen ausländischer Firmen zu Hilfe zu nehmen Auch für die Elektrifizierung der Warschauer Vorortbahn, will man ausländische Firmen, wahrscheinlich " schwedische, gewinnen und die chemische Industrie Polens, die in Zukunft eine führende Stellung im Wirtschaftsleben des Landes einzunehmen verspricht, wird nicht nur im Hinblick auf die Schwefelgewinnung, sondern auch sonst auf ausländische Kreditierung gestützt werden müssen.

Nicht nur die Kohlenförderung ist in den ersten Monaten des Jahres gestiegen. Auch sonst ist der Plan der Industrieproduktion in Polen überboten worden. Lind zwar insgesamt um 6, 6 Prozent. Angesichts der neuerlichen Gepflogenheit in Polen, nur reale Zahlen anzuführen, Zahlen, die jederzeit nachgeprüft werden können und die keinerlei Schönfärberei enthalten, ist man geneigt, an diese Planüberbietung zu glauben, schon, weil ja die Aufstellung des Planes, entgegen den früheren Planziffern, sich ebenfalls im Rahmen des real Erreichbaren hielt und das Plansoll daher niedriger veranschlagt war, als bisher. Im Vergleich zu denselben Monaten des Vorjahres ist die Produktion um 10, 2 Prozent gestiegen, während der Plan für das ganze Jahr 19 57 durchschnittliehe Produktionssteigerungen um 4 Prozent vorsah. Dabei ist die Produktion von Lebensmitteln um 8, 5 Prozent angestiegen und der Lohnfond ist beinahe in allen Industrieunternehmen überzogen worden.

Höhere Löhne, aber mehr Arbeitslose

Ebenso wie in der Landwirtschaft herrscht in der Industrie die Tendenz, den persönlichen Bedürfnissen der Bevölkerung entgegenzukommen, obwohl die realen Möglichkeiten dafür durchaus nicht immer vorhanden sind. Die Gesamtausgaben für den Lohnfond sind im Vergleich zum Vorjahr um 28, 5 Prozent höher und die 400 Millionen Zloty, die über das Plansoll hinaus für die Löhne verausgabt wurden, entsprechen in keiner Weise den erhöhten Produktionsleistungen der Arbeiter. Zwar ist eine wesentliche Erhöhung des Lohnfonds, der im vorigen Jahr schon um ein Vielfaches erhöht wurde, vorgesehen, aber darüber hinaus gibt es immer wieder Fälle, in denen einzelne Betriebe von sich aus die „Finanzdisziplin brechen“, wie die Regierung feststellt, und die Löhne ihrer Arbeiter und Angestellten willkürlich hinaufsetzen. Auch hier muß die Regierung eine Inflation befürchten und diese Befürchtung wird immer lauter ausgesprochen.

Im Sejmklub der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei schlug Wladyslaw Gomulka daher am 23. März vor, die Schulden, die der Staat bei den Arbeitern habe, für getilgt zu erklären. Es handelt sich um neun Milliarden Zloty, die die staatlichen Fabriken den Arbeitern noch auf Grund'ihrer früheren Planüberbietungen oder anderen Prämienversprechungen zu zahlen hätten. Die Posener Ereignisse waren unter anderem dadurch hervorgerufen worden, daß die Betriebsleitung die Auszahlung dieser, den Arbeitern der Cegielski-Werke zustehenden Prämiengelder hinzog. Im Oktober hatten sowohl Partei wie Regierung versprochen, diese Angelegenheiten so bald wie möglich zu regeln.

Jetzt erklärte Gomulka, daß die wirtschaftliche Lage des Landes eine solche Rückzahlung nicht gestatte. Er zeigte auf, daß der polnische Staat im Laufe des Januar und Februar 1 Milliarde 200 Millionen Zloty mehr als vorgesehen für den Lohnfond ausgegeben hat, er sprach davon, daß dieser Lohnfond im vergangenen Jahr um 15 Milliarden Zloty gegenüber dem Lohnfond von 195 5 angestiegen sei und in diesem Jahr der Lohnfond von 1956 um weitere 10 Milliarden überschrit-ten würde. Die Belastung durch zusätzliche 9 Milliarden alter Schulden sei einfach nicht tragbar für das Staatsbudget. Er hielt es für wesentlich wichtiger, die Renten, Kinderbeihilfen und andere soziale Leistungen des Staates zu erhöhen. Der Sejm nahm den Antrag des Parteisekretärs an.

Die Einschränkung der Investitionen in der Schwerindustrie und die damit verbundene Verringerung der Produktion einzelner Industriezweige hat zur Folge, daß viele Fabriken ihre Arbeiter entlassen müssen. Bereits vor dem Oktober hat es in Polen eine verkappte Arbeitslosigkeit gegeben. Nur durfte davon nicht gesprochen werden. Ein sozialistisches Land darf keine Krisen kennen und daher auch kein Arbeitslosenproblem. Die neue Politik hat mit diesem schamhaften Verschweigen der tatsächlichen Lage ein Ende gemacht. Und so sind seit Monaten die Zeitungen und vor allem die Zeitschriften voll alarmierender Nachrichten über das Zunehmen der Arbeitslosigkeit im Land. Man versucht dem Problem beizukommen, indem man Umschulungskurse einrichtet und die Arbeiter auf das nach Arbeitshänden hungerde Land oder in die Bergwerke zu dirigieren trachtet. Zum ersten Mal ist man seit dem Krieg auch daran gegangen, die Arbeitslosen zu erfassen, Arbeitsvermittlungsstellen einzurichten und an eine Arbeitslosenunterstützung zu denken. Überall spricht man offen davon, daß durch die Fehlplanungen der Stalin-Ära und die unnütze Ausbildung einer großen Menge von Fachkräften für phantastische Bauvorhaben, von denen man jetzt Ab-stand genommen hat, eine große Anzahl von Arbeitslosen im Land vorhanden ist. Während offizielle Verlautbarungen allerdings nur von ca. 70— 100 000 Arbeitslosen sprechen, wird ihre Zahl inoffiziell auf weit mehr geschätzt.

Die Zahl der Arbeitslosen wurde noch durch die Maßnahmen erhöht, die die neue Parteiführung unternahm, um die Verbürokratisierung des Partei-und Staatsapparates rüdegängig zu machen. Viele Tausende von Parteifunktionären wurden in den letzten Monaten entlassen, die staatlichen Apparate zusammengelegt und die Zahl ihrer Angestellten sowohl in der administrativen Verwaltung wie in den Betriebsverwaltungen bedeutend verringert. Massenentlassungen der „Apparatschiks führten zu einer Massenarbeitslosigkeit von Menschen, die über keine brauchbaren Fachkenntnisse, dafür aber über große Ansprüche verfügten.

Ihre Einstellung gegenüber den Veränderungen in Polen und gegenüber der neuen Partei-und Staatsleitung mußte wenig positiv sein, und sie konnte gefährlich werden, wenn man diesem Teil der Bevölkerung nicht eine möglichst schmerzlose Überführung zu einer anderen Art Existenz garantierte. Zu den Partei-und Staatsfunktionären, deren man sich entledigte, kamen noch einige Tausend Funktionäre des Staatssicherheitsdienstes, den Gomulka nach dem Oktober noch einmal stark einschränkte, nachdem die Zahl der Sicherheitsbeamten schon vorher im Laufe des Jahres 1956 zweimal gesenkt worden ist.

Für alle diese Funktionäre, die sich begreiflicherweise keiner allzu-großen Beliebtheit im Volke erfreuen, wurden „Umschulungskurse" eingerichtet und Überbrücküngsgelder gezahlt. Vielfach erhielten sie noch drei Monate lang ihre Gehälter ausbezahlt, dann aber mußten sie neue Arbeitsplätze gefunden haben. Außer der Landwirtschaft und dem Bergbau kommt noch die Beschäftigung im Handelswesen in Frage, und zwar sowohl im privaten, wie im Staatshandel. Die neue Wirtschaftspolitik des Landes hat die Belebung des Handelsumsatzes in Polen zu einer wichtigen Aufgabe erklärt. Mit der Steigerung der Konsumgüterproduktion ist die Verbesserung des Handelswesens eine dringende Notwendigkeit geworden. Auch hier soll die private Initiative helfen. Die Konsumgenossenschaften und Staatsläden haben in den letzten Jahren so gründlich versagt, daß die Bevölkerung geradezu aufatmete, als man jetzt offiziell private Läden, Kioske und kleinere Handelsunternehmen gestattete. Besonders in den Jahren 1954— 5 5 ist der Privathandel in Polen vollkommen vernichtet worden und der Illegale Thwarzhandel hat sich zu einer wahren Landplage entwickelt.

Der Schwarzhandel ist natürlich auch jetzt noch nicht gebannt und das Spekulantentum macht der Regierung viel Sorge. Es wird voraussichtlich noch eine ganze Weile dauern, bis man damit fertig wird. Immerhin aber hat der Beschluß, die privaten Geschäfte wieder zuzulassen, den Städten und Dörfern schon gewisse Vorteile gebracht. Die Läden schießen förmlich aus dem Boden. Es hieß zwar, daß sie vor allem am Stadtrand und in kleineren Orten entstehen sollen, wohin die Konsumgenossenschaften nicht dringen, und daß sie sich vornehmlich dem Vertrieb von Lebensmitteln und Produkten des Handwerks widmen sollen, aber das läßt sich eben nicht von oben anordnen. Und so handeln die privaten Geschäfte vorläufig vor allem mit Kosmetiksachen, mit ausländischen Kleidern und mit Waren, die sie in staatlichen Warenhäusern durch Zwischenhändler erwerben. Sie richten ihre Geschäfte in den besten Straßen der Innenstadt ein, und statt die Tätigkeit der staatlichen Handelsunternehmen zu ergänzen, konkurrieren sie mit ihnen.

Diese Entwicklung hat viele Gründe, nicht zuletzt die, daß die wirklichen geübten Händler eben in Polen in den letzten zehn und mehr Jahren keine Gelegenheit hatten, sich zu entwickeln, daß der Handel halb illegal, halb Schwarzhandel war. Weder in der Zeit der deutschen Besetzung während des Krieges noch in den Jahren der Stalinisierung, gab es eine Möglichkeit für die Entwicklung richtiger ehrlicher Geschäftsmethoden auf privater Basis. Das muß jetzt nachgeholt werden.

Es ist anzunehmen, daß es nicht allzu schwierig sein wird, wenn der Staat in seiner kommunistischen Angst vor dem Privateigentum nicht wieder irgendwelche Zwangsmaßnahmen von oben anordnet, die eine gesunde Entwicklung des Privathandels untergraben und so sowohl die Bevölkerung wie schließlich auch den Staat um eine Gesundung des Wirtschaftslebens bringen. Mischt sich die Partei nicht hindernd ein, dann wird noch am ehesten jenes Netz von Grünkramläden, Bäckereien, Schusterwerkstätten, Reinigungsanstalten usw. entstehen, die das Leben im Westen so bequem machen und nach denen die staatlichen Instanzen jetzt ebenso verzweifelt in Polen rufen, wie die Bevölkerung.

Eine Belebung des privaten Handwerks und der kleinen Privatindustrie ist ebenso wie die Einrichtung dieser kleinen Läden die Voraussetzung dafür, daß das große Sterben der polnischen Kleinstädte gestoppt wird. Die forcierte Industrialisierung Polens, die in der StalinÄra erfolgte und die ganz den Bedürfnissen der Sowjetunion angepaßt war, hat die Kleinstädte im alten Polen und in den deutschen Gebieten unter polnischer Verwaltung zum Untergang verurteilt. Die Vernichtung der Privatindustrie und des privaten Handwerks hat ihnen die Existenz-möglichkeit genommen. Die Bevölkerung in all diesen kleinen Orten begann in die Nähe der neuen großen Fabrikanlagen zu flüchten. Die Jugend strömte, ebenso wie die Dorfjugend, in die Barackenstädte der Stahlgiganten und neuen großen Maschinenbaufabriken. Sie zog es vor, zu Dutzenden in diesen provisorischen Häusern zu leben, als in den wohleingerichteten alten Städtchen Hungers zu sterben. Inzwischen verfielen diese alten Bauten, das Leben in den kleinen Orten erstarb und auch diejenigen, die in den neuen Fabriken keine Arbeit mehr finden konnten, scheuten sich, in die anscheinend dem Untergang geweihten Orte zurückzukehren.

Kurz nach dem Oktober schlugen einige polnische Zeitschriften aufgrund dieser Entwicklung Alarm. Sie wiesen darauf hin, daß/gerade jetzt angesichts der schwierigen Wohnungsituation im Lande, angesichts der Arbeitslosigkeit und da doch die Wiedererstehung des privaten Handwerks und der privaten Kleinindustrie gefördert werden soll, eine Renaissance der Kleinstädte durchaus angezeigt wäre. Es kann sein, daß diesem heißen Appell hie und da einige der jetzt aus dem Gleis geworfenen Bürger folgen werden, es ist nicht ausgeschlossen, daß die Rückkehrer aus der Sowjetunion, die man von vornherein in solche Kleinstädte zu leiten sucht, dort Fuß fassen werden. Aber auch diese Entwicklung läßt sich nur schwer von oben anordnen. Sie muß spontan entstehen, die Menschen müssen den Vorteil erkennen. Wird es gelingen, ihnen diesen Vorteil klarzumachen? Wird es möglich sein, diese kleinen privaten Betriebe tatsächlich aus dem Boden zu stampfen und die Handwerker, die man jahrelang zwang, sich in staatliche Fabrikarbeiter oder in Staatsfunktionäre zu verwandeln, wieder zur Ausübung ihrer alten Fertigkeit zu bringen? Wird man vor allem der Jugend nun wieder den Vorteil einer kleinen Privatexistenz erklären können, die irgendwo im engen Rahmen eines weltfremden Städtchens vor sich gehen soll? Vielleicht — aber auch das ist nicht von heute auf morgen und vor allem nicht ohne große Nachsicht und entsprechende staatliche Hilfe, die jedoch nur materieller Natur sein darf, möglich.

Der Umschulung der Funktionäre zu Bergarbeitern, Bauern und Händlern steht der Einsatz von Fachkräften in den Fabriken und Betrieben gegenüber. An Stelle der Leute, die ihre Posten nur auf Grund ihrer Parteizugehörigkeit oder ihrer Linientreue erhalten hatten und die durch ihre fachliche Unfähigkeit die Entwicklung der Industrie gehemmt hatten, sind jetzt allerorts vor allem Spezialisten, Ingenieure, Techniker, Akademiker in verantwortliche Stellungen eingesetzt worden.

Die Arbeiterräte der Danziger Werft zum Beispiel drangen darauf, daß alle zu LInrecht entlassenen Schiffbauingenieure, die in der vergangenen Zeit wegen „politischer Unzuverlässigkeit" entlassen worden waren, wieder zurückgeholt wurden. Fachkenntnisse entscheiden jetzt vor allem über den Einsatz, die Einstellung oder Nichteinstellung eines Arbeiters oder eines Angestellten; die Zeiten, da das Parteibuch ausschlaggebend war, sind vorbei.

Auch das geht natürlich nicht reibungslos vor sich. Die Entlassung der Funktionäre und die Neueinstellung der gestern Verfolgten gleicht einer großen unblutigen Revolution. Sie erschüttert das ganze Land, und wenn es auch nicht zu offenen Kämpfen kommt, so ist doch die stille, aber hartnäckige Auseinandersetzung nicht ohne Einfluß auf die Lage sowohl in der Politik wie in der Wirtschaft. Die aus ihren Ämtern und vom Futtertrog verdrängten Funktionäre können diese Veränderung ihrer gesamten Lebensgewohnheiten nicht ohne weiteres schlucken, sie wehren sich manchmal erfolgreicher, manchmal weniger erfolgreich gegen das, was objektiv zwar gerecht, subjektiv aber für sie eine große persönliche Tragödie darstellt. Die Mittel, derer sie sich bedienen, sind nicht immer fair, es gibt Fälschungen und Lügen, es gibt Unterstellungen und Verleumdungen, und nicht ohne weiteres gelingt es, auch auf der anderen Seite, den Fachleuten, die Stelle der routinierten Nichts-könner mit der immer richtigen politischen Einstellung einzunehmen. Die Zahl der wirklichen Idealisten, die diese LImstellungen leiten oder doch durch öffentliche Kontrolle überwachen sollten, ist wie immer gering. Die Zahl derjenigen aber, die persönliche Vorteile mit allen Mitteln und auf alle Art erreichen will und zu erreichen gelernt hat, ist groß. Das alles spielt bei der Umstellung im wirtschaftlichen Leben Polens eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Partei aber, die diesen Prozeß längst nicht mehr in der Hand hat, kann — und das ist von Vorteil — nur Feststellungen über den Gang der Ereignisse machen und ab und zu ihre Meinung darüber publizieren. Die Entwicklung selbst ist endlich dem „gegenüber der Theorie so überaus reicheren Leben“ überlassen worden, von der Gomulka sagt, daß das Leben von nun an diese Theorie auf Schritt und Tritt korrigieren müsse.

Polen und das Ausland

Ein souveränes Land ist in der Wahl seiner Freunde unabhängig. Nach dem Oktober veränderten sich die Beziehungen Polens zu den Ländern sowohl in Ost wie in West.

Beinahe sofort z. B. wurden seine Beziehungen zu Frankreich, mit dem es eine traditionelle Freundschaft verbindet, wieder enger. 1948 mußte Polen auf sowjetischen Druck hin die Freundschaftsbande mit Frankreich lockern. Ein fingierter Schauprozeß gegen französische Konsulatsangestellte hielt dazu her, Mißhelligkeiten zwischen den beiden Ländern zu provozieren. Jetzt ehrte die französische Nationalversammlung in ihrer Plenarsitzung die Oktoberbeschlüsse in Warschau durch Aufstehen. Die einzigen, die bei dieser Ehrung sitzen blieben, waren ... die französischen Kommunisten.

Die polnischen Zeitungen begannen, objektiv über Amerika zu berichten, sie schlugen der Bundesrepublik gegenüber ganz andere Töne an und sahen die Entwicklung in den „volksdemokratischen“ Ländern mit etwas kritischeren Augen an als bisher. Das alles rief in diesen Ländern, besonders in der Tschechoslowakei, solche Empörung hervor, daß der „Bruderstaat“ sogar die Sendungen des Warschauer Rundfunks zu stören begann.

Zur gleichen Zeit stellten die polnischen Störsender ihre Tätigkeit ein. In Polen darf man heute die Sendungen aus aller Welt hören und man darf — theoretisch — auch alle Zeitungen der Welt lesen, theoretisch, denn es kommen noch nicht viele nach Warschau herein.

Vor allem aber machte Polen ostentativ die sowjetische und sowjetzonale Hetze gegen die angebliche „Konterrevolution“ in Ungarn nicht mit.

Das Verhältnis zu Ungarn wurde zu einem großen Drama für das polnische Volk. In der Bewunderung, die die Welt der „Besonnenheit“ des polnischen Volkes zollte, spürte man ein beruhigtes Aufatmen. Den Polen selbst, bis hinauf in die höchsten Parteispitzen, war diese Besonnenheit angesichts des furchtbaren Schicksals, das ihre Freunde in Ungarn traf, mehr als fatal. Es dauerte Wochen und Monate, bis die polnische Parteiführung schließlich am 15. März, dem Jahrestag der 48er Revolution, auf die östliche Sprachregelung einging. In einer Grußbotschaft an die Ungarn sprach Gomulka zum erstenmal von einer „Konterrevolution“, die Budapest im Herbst bedroht habe.

• Zur gleichen Zeit waren die mehr als gespannten Beziehungen zwischen Polen und der DDR wenigstens äußerlich wieder um ein geringes normalisiert worden, und in der polnischen Presse hatte es die ersten schwachen Versuche gegeben, auch den tschechoslowakischen „Genossen“ etwas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie könnten nichts dafür, daß sie die revolutionären Veränderungen in Polen nicht verstünden, es ginge ihnen wirtschaftlich dank ihrer Geschmeidigkeit doch so viel besser als den Polen . . .

Es gab Meldungen, daß die chinesischen Kommunisten ihre polnischen Genossen im Herbst ermuntert hätten, ja, daß sie es gewesen wären, die die Sowjets schließlich von einer bewaffneten Intervention in Polen abgehalten hätten. Auch unmittelbar nach dem Oktober hatten sie mit als erste die neue Parteileitung begrüßt. Der Besuch Tschu Enlais in Warschau, unmittelbar vor den Wahlen, konnte allerdings kaum als Bestärkung der Polen in ihrem Wunsch, eine selbständige Politik zu führen, aufgefaßt werden. Er sollte eher dazu dienen, sie enger an den Ostblock zu binden. Immerhin finden die Polen anscheinend doch in China einen Verbündeten in ihrem Widerstand gegenüber dem Druck Moskaus. Der angekündigte Besuch Mao Tse-tungs in Warschau und die Ehrungen, mit denen Ministerpräsident Cyrankiewicz in Peking empfangen wurde, sind ein Beweis dafür.

Diese chinesische Freundschaft ist bisher das einzige reale Gegengewicht, das die Polen gegen die Einflußnahme der Russen haben, die sich immer darauf berufen können, daß sie allein die Garantie für die Erhaltung der polnischen Grenzen und damit für die Existenz des polnischen Staates überhaupt bieten können. Die Einbeziehung Polens in den Ostblock wird durch diese Sachlage bestimmt. Die Lockerung der Bindungen Polens an den Kreml kann nie über einen gewissen Punkt hinausgehen, solange sich darin nichts ändert. Im Rahmen dieser politischen Abhängigkeit hat Polen jedoch in den letzten Monaten eine bemerkenswerte Manövrierfähigkeit bewiesen.

Auf wirtschaftlichem Gebiet ist das am deutlichsten zu erkennen.

Polen hat seine Souveränität dazu benutzt, eine gründliche Umstellung in den Wirtschaftsbeziehungen zum westlichen Ausland vorzunehmen.

Die Handelsumsätze zwischen Polen und der Bundesrepublik z. B.

stiegen im Verlauf des letzten Jahres um mehr als das Doppelte. Die Bundesrepublik steht an vierter Stelle im polnischen Außenhandel und unter den „kapitalistischen“ Ländern, mit denen Polen Handel treibt, an erster Stelle. Da der diesjährige Plan des polnischen Außenhandels insgesamt eine Erhöhung der Einfuhren um 25 Prozent vorsieht, ist eine weitere große Steigerung der Umsätze zwischen Polen und der Bundesrepublik sicher, um so mehr, Ja Polen eine Verdoppelung des Imports von industriellen Konsumgütern vorsieht.

Dieser Außenhandelsplan Polens ist überhaupt bemerkenswert für die Entwicklung, die das Land durchmacht. Er spricht deutlicher als alles andere von der Eigenart seines Weges. Während im nächsten Jahr die Einfuhr von Maschinen und Einrichtungen für die Schwerindustrie unverändert bleibt, erklärte Minister Jandrychowski im April in einem Artikel in der Parteizeitschrift „Nowe Drogi“, soll der Import von Lebensmitteln um 45 Prozent und von Rohstoffen um 23 Prozent steigen. Der Wert des Exportes von Rohstoffen, besonders von Kohle, wird sinken und auch Stoffe und Textilien gedenkt Polen in diesem Jahr bedeutend weniger auszuführen. Das so entstehende Defizit in der Handelsbilanz muß durch Auslandskredite wettgemacht werden. Es ist nicht schwer zu erraten, daß dabei an Kredite aus dem Westen gedacht wird.

Die UdSSR ist von dieser Westorientierung Polens begreiflicherweise nicht entzückt, jedoch scheint sie sich damit vorläufig abgefunden zu haben. Nur von Zeit zu Zeit gibt es plötzlich indirekte Angriffe. Zu solchen Attacken konnte man die scharfen Worte über die jugoslawischen Beziehungen zum Westen rechnen. Es war ein indirekter Schlag gegen die Polen, wie so mancher russische Angriff gegen die Jugoslawen Ende vorigen und Anfang dieses Jahres mehr die Polen als die Titoisten treffen sollte. Moskau vermied es, Gomulka direkt seine Meinung zu sagen. Entweder ließ es die SED und Ulbricht sprechen oder es kritisierte Tito. Gemeint war immer der neue Gegner Nr. 1 und in Warschau verstand man diese Warnungen wohl. Als daher gerade während der Verhandlungen der polnischen Wirtschaftsdclegation in Washington der Moskauer Rundfunk in einer Sendung für die Polen gegen den „wahren Sinn der amerikanischen Hilfe“ zu wettern begann und darzulegen versuchte, es sei immer „Spionage-Schädlingsarbeit und Unterminierung des Sozialismus“, wenn die Amerikaner einem Volke zu helfen versprächen, veröffentlichte das Parteiorgan „Trybuna Ludu" einen diplomatischen Artikel, in dem es zu dem 75-Millionen-Kredit Stellung nahm, „der westlichen Telegraphenagenturen zufolge“ Polen von Amerika gewährt werden soll. Das Blatt bedauerte, daß die Hilfe zum Teil über die Bundesrepublik nach Polen gelangen solle, es meinte über andere Staaten oder am besten direkt, wäre es vielleicht besser . . . War das eine indirekte Verbeugung vor den Russen? „Ihr seht, wir nehmen die Hilfe mit allen Vorbehalten“, so war es doch auch eine eindringliche Bekundung, daß man diese Hilfe brauche und wünsche, „am besten direkt aus den USA“.

Die Herausbildung des, wie man dort sagt, „neuen Wirtschaftsmodells“ in Polen hängt von dem Ausmaß der wirtschaftlichen (und politischen) LInterstützung ab, die der Westen Polen zubilligen wird. Die Großzügigkeit der „Freien Welt“ würde den Polen außerordentlich zustatten kommen und die Angst, daß man damit „den Kommunisten auf die Beine helfen würde“, scheint unbegründet und dieser freien Welt unwürdig. Die Haltung, die beinahe ausnahmslos die ganze polnische Emigration gegenüber den Ereignissen in Polen eingenommen hat, ist ein Zeichen dafür, daß sie die Veränderungen durchaus positiv einschätzt. Die sieben Millionen Polen im Ausland haben in ihrer überwiegenden Mehrheit das Gomulka-Programm für ihre Heimat begrüßt. Polnische Exilzeitungen brachten und bringen Zustimmungserklärungen zu den einzelnen Schritten der neuen polnischen Regierung, die polnischen Radiosendungen der ausländischen Radiostationen kritisieren kaum mehr irgendwelche ihrer Schritte. Polnische Organi-sationen in Amerika und England sowie einige der führenden Exilpolitiker befürworten eine möglichst große Wirtschaftshilfe des Westens für ihre, unter der Herrschaft Gomulkas, stehende Heimat. Ebenso wie die Führer der nichtkommunistischen Parteien in Polen selbst und die katholische Kirche Polens, halten sie unter den gegebenen Bedingungen für Polen eine Unterstützung Gomulkas für die beste Lösung.

Der Verzicht auf die Sowjetisierung des Landes bedeutete für Polen, daß man die politische Freiheit ernst zu nehmen begann. Die Entstalinisierung war kein Erfolg Gomulkas — umgekehrt, Gomulkas Wahl zum Parteisekretär war ein Erfolg der Entstalinisierung. Sie hatte in Polen ein Jahr nach dem Tod des Diktators mit aller Schärfe eingesetzt und war in ihrer Konsequenz weitergegangen als in irgendeinem anderen Land des Ostblocks, mit Ausnahme Ungarns. Sie wurde von den polnischen Intellektuellen, den Studenten und jungen Arbeitern getragen und brachte eine politische und geistige Aktivität mit sich, deren Reichweite über die Grenzen Polens hinausging. In der Atmosphäre, die während des vorigen Jahres in Polen herrschte und in den Oktober-tagen sowie in der ersten Zeit danach, als sie ihren Höhepunkt erreichte, sind in Polen viele fruchtbare Ideen und Theorien entwickelt worden, viele veralteten Konzeptionen und Dogmen wurden gestürzt, viele Werte neu entdeckt. Es schien beinahe, als könne dort eine Renaissance des Sozialismus eintreten, dessen Idee durch den Stalinismus so vernichtend kompromittiert worden ist Der neue „polnische Weg“ sollte die Möglichkeit eines demokratischen Sozialismus in Polen beweisen. Er verkündete den „menschlichen Sozialismus", dem jeder Terror, jede Unterdrückung des Menschen durch den Menschen zuwider ist. Der erste Schritt der neuen Partei-und Staatsführung war die öffentliche Rehabilitierung der Verurteilten der Stalinzeit und die Absetzung derjenigen, die an der Übertragung des NKWD-Systems auf Polen schuld gewesen waren Die Tätigkeit des Sicherheitsapparates wurde weitgehend eingeschränkt, die Bespitzelung der Bürger hörte auf und aus den Betrieben verschwanden die berüchtigten „Personalakten“, die bisher dort wie in jedem kommunistischen Land für jeden Arbeiter und Angestellten angelegt waren und „Charakteristiken“ sowie Denunziationen aller Art enthielten.

Verfolgungen wegen angeblich „staatsfeindlicher“ Äußerungen, wegen kritischer Ansichten oder nicht „linientreuer“ Bekenntnisse hörten ebenso auf, wie öffentliche Anprangerungen oder „Selbstkritiken“. Es wurde beinahe Mode anderer Meinung zu sein, und die Verbindung mit Verwandten oder Bekannten im Ausland war nicht mehr verdächtig.

Verschiedene politische und weltanschauliche Auffassungen sind Ausgangspunkt für die Bildung verschiedener politischer Parteien. Ein Mehrparteiensystem hat es in Polen auf dem Papier immer gegeben — ebenso wie in der DDR offiziell mehrere politische Parteien bestehen.

Aber ebensowenig wie die Ost-CDLI oder Ost-LDP neben der SED etwas zu sagen haben, ebensowenig hatte die gleichgeschaltete Vereinigte Polnische Bauernpartei oder die Demokratische Partei vor dem Oktober 1956 etwas zu sagen. Haben sie sich nach der polnischen Oktoberrevolution verändert?

Auch die anderen politischen Parteien haben ebenso wie die kommunistische Vereinigte Arbeiterpartei im Herbst 19 56 eine Erneuerung erfahren. Verfolgte Politiker kehrten in ihre Führung zurück, alte politische Konzeptionen wurden aufgefrischt. Mit der Veränderung auf dem Dorf; den größeren Rechten für die Privatbauern und der Massen-auflösung von Kollektivwirtschaften veränderten sich die Aufgaben der Bauernpartei, die Gomulka in seiner Programmrede direkt aufgefordert hatte, die Initiative auf dem Dorf zu ergreifen. Mit der Wiederzulassung der privaten Kleinbetriebe und dem Wiederaufleben des Handwerks erhielt die Demokratische Partei ein breiteres Betätigungsfeld. Ausdrücklich jedoch unterstrichen sowohl Gomulka, wie die Parteiführer der beiden anderen Parteien selbst, daß es in Polen auch weiterhin keinen Platz für politische Parteien gäbe, die nicht „auf dem Boden des Sozialismus“ stünden. Die Grundforderungen eines sozialistischen Staates, wie ihn die Kommunisten verstehen, d. h. die Verstaatlichung der wichtigsten Industriebetriebe und Banken und die Nichtzulassung privaten Großgrundbesitzes, bleiben unangetastet, die staatliche Planung der Wirtschaft darf ebensowenig verschwinden wie die Vorherrschaft der Kommunisten im Staat. „Wir geben die Macht nicht aus der Hand“, sagte Gomulka in einer Wahlversammlung im Januar -, „nicht weil diese Macht so süß ist, sie ist manchmal gallenbitter, sondern weil nur eine Volksmacht das Wohl des Volkes garantieren kann.“

Anscheinend bleibt also, politisch betrachtet, in Polen alles unverändert. Die kommunistische Partei übt weiter ihre Herrschaft aus, der sich die zwei außer ihr im Lande bestehenden Parteien, halb freiwillig und halb aus Einsicht in die Notwendigkeit, unterwerfen. Diese Herrschaft mag nicht ganz so absolut sein wie früher, die Meinungen des anderen mögen gehört und auch berücksichtigt werden, aber letzten Endes entscheiden doch die Kommunisten und ihre politischen Konzeptionen bleiben richtunggebend.

Ist es wirklich so? Ist Polen tatsächlich ein Satellit Moskaus geblieben? Lind sind die Veränderungen dort nicht mehr als ein vielleicht etwas hellerer Abglanz der Veränderungen in der UdSSR? Die Ereignisse, die dem Oktober folgten und besonders die Entwicklung, die nach dem Sieg Gomulkas in Polen eintrat, hat viele, nicht nur im Ausland sondern auch in Polen selbst, die eine radikalere und schnellere Veränderung erwarteten, enttäuscht. Unmut ist auch unter den Arbeitern und vor allem unter der Jugend zu spüren, Unmut und Ungeduld darüber, daß nicht alles mit einem Schlage anders und besser geworden ist.

Lind nicht nur das: Vieles, was im Oktober geschehen war, wurde rückgängig gemacht; Leute, die man damals abgesetzt hatte, tauchten an anderer Stelle auf, andere, die man gezwungen hatte zu schweigen, begannen wieder zu reden, und viele, die in den Oktobertagen geredet hatten, wurden wieder zum Schweigen gezwungen. Die Hoffnungen auf eine unbegrenzte Freiheit und Demokratie erfüllten sich nicht. Und nicht immer ließen sich die Maßnahmen der neuen Partei-und Staats-leitung, wie man es zuerst getan hatte, durch die angebliche polnische „Staatsraison“ erklären. Wenn es wirklich aus Rücksicht auf eine eventuelle Einmischung der Russen notwendig war, im Fall LIngarn äußerste Vorsicht walten zu lassen, war es auch nötig, nun eine ausdrückliche Anerkennung der Kadarregierung auszusprechen? Und wenn außen-politische Rückzüge noch vertretbar waren, mußte man unbedingt im Land selbst wieder zu stalinistischen Methoden zurückkehren? Mußte man kompromittierte Stalinisten in Funktionen einsetzen, mußte man so die Jugend an der Kandare zu halten versuchen — wo es doch augenscheinlich völlig erfolglos bleiben würde? Mußte man Meinungen unterdrücken, Organisationen nicht zulassen, die Rechte der Arbeiterräte beschränken? Das alles fragen die revolutionären Studenten und die jungen Arbeiter, die den Sieg des Oktober errangen. Aber sie fragen es nicht nur leise und in ihren vier Wänden, sie protestieren nicht nur im Kämmerlein, sondern man hört ihre Fragen und fühlt ihren Protest aus jeder Zeile ihrer, wie. offen zugegeben wird, zensierten Zeitungen, aus Sendungen im Radio, liest es in legal mit der Post über die Grenzen Polens kommenden Briefen. Das alles zeugt davon, daß von einem Zurück zu dem Status vor dem Oktober in Polen nicht die Rede sein kann Auch dann nicht, wenn die Entwicklung nicht so verlaufen ist, wie sie sich die Revolutionäre vorgestellt haben und Polen durchaus noch nicht in ein Paradies der Freiheit verwandelt ist. Die Bedeutung der Ereignisse vom Oktober ist für die Lage in Polen von großer und nachhaltiger Wirkung. Lingeachtet dessen, daß die Entwicklung etwas gestoppt worden ist, und obwohl sie Polen natürlich nicht aus dem Ostblock herausgeführt hat, was im übrigen von Anfang an nicht zu erwarten war — geht sie doch weiter. Daß sie langsamer vonstatten geht, daß es viele Rückschläge in dieser Entwicklung gibt, liegt nicht an Polen allein. Es liegt vor allem an der tragischen Entwicklung, die LIngarn genommen hat und am Versagen der Freien Welt angesichts dieser Tragödie.

Welcher Art sind die Rückschläge in Polen?

Vielleicht ist die Lage in der Jugendorganisation dafür am bezeichnendsten. Im Oktober wurde die Organisation der Polnischen Staatsjugend — die ZMP — eine Organistaion, die der ostzonalen FDJ entsprach, aufgelöst. Oder vielmehr, sie löste sich selbst auf, da sie den Interessen der Jugendlichen nicht entsprach, von ihnen als eine inhaltslose, leere Zwangsorganisation aufgefaßt wurde. In stürmischen Versammlungen forderten die jungen Arbeiter in den Betrieben, die Studenten in den Universitäten und die Bauernjugend, ihre eigenen Organisa-tionen gründen zu dürfen. Ihre politische Aktivität war ungeheuer, ihr Wille etwas Eigenes, Neues, Überzeugendes zu schaffen, groß.

Es gab die verschiedensten Richtungen; von Kommunisten bis zu katholischen Demokraten war alles vertreten, und eine Reihe bisher unbekannter junger Leute zeigte Anlagen, zu begabten Führern der neuen Organisationen aufzusteigen. Der alte Apparat der gelenkten Jugendorganisation schien zerschmettert.

Aber er erwies sich als zäher, als man dachte. Jedenfalls in der Atmosphäre dieser gezügelten Freiheit, die nun herrscht. An Stelle der Staatsjugend wurden nicht drei, wie man erst vorhatte, sondern nur zwei Jugendorganisationen geschaffen. Die Bauernjugend „Wici“ und die „Sozialistische Jugend“. Die „Demokratische Jugend" durfte sich nicht konstituieren. Was ihre jungen Führer gesagt hatten, war über den Rahmen dessen, was jetzt erlaubt ist, noch hinausgegangen. Dieses Verbot verstimmte nicht nur die jungen Demokraten (denen man übrigens empfahl, sich der Demokratischen Partei in „Jugendklubs“ anzuschließen), sondern auch die anderen. Diese anderen, nämlich die „Sozialistische Jugend“ verstimmte aber auch, daß man es ihr nicht erlauben wollte, sich „Kommunistische Jugend“ zu nennen. Sie wollte mit offenem Visier kämpfen, sie wollte ehrlich und unbekümmert für ihre Weltanschauung eintreten, ohne Diplomatie und Konzessionen und ohne Kontrolle der Partei. Aber die Partei oder vielmehr ihr neuer Erster Sekretär wollte es anders: er wollte auch die Jugend anführen können, und er wollte keine „Kommunistische Jugend“, wie er keine „Kommunistische“ Partei wollte. Gomulka weiß, daß in Polen etwas, was „kommunistisch“ heißt, nicht erfolgreich sein kann; allenfalls darf es „sozialistisch" genannt werden. Auch das mißfiel der Jugend. Die „Sozialistische Jugend“ hat bisher 80 000 Mitglieder. Die Staats-jugend hatte über eine Million. An den Universitäten gibt es kaum Mitglieder der „Sozialistischen Jugend“. Die vor einigen Monaten noch von politischer Aktivität überkochende Studentenschaft tanzt wieder nur Rock ‘n Roll, spielt Theater, läßt sich Bärte ä la Sartre stehen und geht in schwarzen Hemden. Für politische Gespräche hat sie nur verachtungsvolles Achselzucken übrig. Und die jungen Arbeiter reagierten ähnlich. Vor allem als der Erste Sekretär der neuen Organisation, Lenert, der in den Oktobertagen mit unter den Aktivsten war, seine Funktion niederlegte.

Lenert trat zurück, als es immer deutlicher wurde, daß die alten Funktionäre der Staatsjugend überall wieder auftauchten, als all die von der Jugend abgelehnten und abgesetzten Sekretäre und Untersekretäre von angeblich „neuem Geist“ beseelt und garantiert „anti-stalinistisch“, ihre alten „Fehler“ bekennend, wieder Posten und Pöstchen bezogen und im neuen Verband ihre alten Rechte verlangten. Was in der Partei noch notgedrungen zu ertragen war, ging in der Jugendorganisation einfach nicht. Die Jugend macht nicht mit. Man kann sie nicht zwingen.

Die „Wici“ dagegen, eine alte Organisation, die in Polen über langjährige Tradition verfügt, wurde, obwohl sie beinahe acht Jahre nicht bestanden hatte, über Nacht reaktiviert. Und die Funktionäre kamen nicht aus der Staatsjugend oder doch nur zum geringen Teil, es waren neue Leute und sie standen unter anderem Einfluß. Gerade dieser neue Einfluß unter der Bauernjugend rief die alten Staatsjugendfunktionäre auf den Plan. Sie fürchten eine antisozialistische Entwicklung der Bauernjugend. Diese Gefahr liegt sicherlich vor. Warum sollte sich in einem Dorf, in dem die private wohlhabende Bauernwirtschaft entwickelt werden soll, ausgerechnet eine sozialistische Jugendorganisation heranbilden? Von allein wird sie es sicher nicht. Ebensowenig allerdings durch die Methoden der alten Staatsjugend, durch Gewissens-terror und das Dreschen leerer Phrasen.

Ebenso wurde über Nacht die alte Organisation der Pfadfinder, die polnische Skoutenorganisation, reaktiviert. Und sie hat jetzt bereits einige hunderttausend Mitglieder. Hier standen die alten Führer der Skouts zur Verfügung, die man aus ihrer inneren Emigration herausholte und die nun wieder an die Vorkriegstradition anknüpfen Auch in den ersten Jahren nach dem Krieg, vor der Gleichschaltung der Kinder-und Jugendbewegung in Polen und der zwangsweisen Nachahmung der russischen „Pionierorganisation“, hatte es in Polen die Skouts gegeben. Hier gibt es, soviel bisher zu ersehen ist, keinerlei Mißverständnisse. Während man die Bauernjugend „Wici“ schon wegen ihrer „Kulakenpolitik“ angegriffen hat, blieben die Pfadfinder bisher ungeschoren.

Es gibt außerdem neben den halb-und viertelfreien Parteien und Bünden noch zwei Organisationsformen, die von großer Bedeutung sind, die Klubs der jungen Intelligenz und die Klubs der katholischen Intelligenz. Beide sind mehr oder weniger exklusive Klubs. Ihre Mitgliederzahl ist beschränkt. In die der katholischen Intelligenz ist es nicht leicht hineinzukommen, und, die Organisatoren erklären selbst, daß sie keinesfalls beabsichtigen, diese Klubs zu Massenorganisationen werden zu lassen; obwohl die Möglichkeit dafür ebenso wie für eine Verwandlung dieser Klubs in eine Partei in der Art einer Christlich-Sozialen Partei sicher durchaus vorhanden ist und vielen erstrebenswert scheint. Aber die Organisatoren wissen wohl und sie haben es in ihrer Zeitung unzweideutig ausgesprochen, daß dann jene Macht, die Budapest niederschlug, schnell wieder zur Stelle wäre. Lind so wird in den Klubs der katholischen Intelligenz in kleinem Rahmen theoretisiert über Fragen, die die Grundkonzeptionen des sozialistischen Staates nicht angreifen, über Theologie, Moral, Kunst vielleicht.

Kunst ist vor allem das Thema, dem die Abende der Klubs der jungen Intelligenz gewidmet sind, Musik, Malerei, Poesie, Theater und sehr viel Bildhauerei. Auch da können sich die Russen empören. Schepilow würde in den Räumen, die die junge polnische Intelligenz in Krakau oder Warschau, aber auch in kleinen Orten in der Provinz, für ihre Klubs zur Verfügung gestellt bekommen und eingerichtet hat, genau so entsetzt sein, wie er es in den französischen Kunstausstellungen der Modernen war. Die jungen Polen huldigen ganz „westlichen" Kunstauffassungen. Sie lieben die Abstrakten ebenso wie sie am liebsten Jazzkapellen gründen und Bert Brecht aufführen Sie lesen Franooise Sagan und haben einen eigenen jugendlichen Autor, Hlaska, dessen Themen ähnlich und dessen Ausdrucksweise für die prüden sowjetischen Ohren unmöglich klingt. Die polnischen Verlage übersetzen das Neueste und Modernste aus der westlichen Literatur, -die polnischen Kinos reißen sich um die französischen, italienischen aber auch um die amerikanischen Filme. Mit Macht drängt man in Polen auf den kulturellen Anschluß an den Westen. Hier ist die Moskauhörigkeit überwunden. Man verlangt nach Übersetzungen, nach Herausgabe von möglichst viel und möglichst allseitigen Berichten aus dem Ausland, man will alles kennenlernen, was man in den vergangenen Jahren kennenzulernen versäumte. Die Jugend, lange Jahre zu wenig in westlichen Sprachen unterrichtet, holt auf. Sie fährt ins Ausland, entdeckt den Westen und begeistert sich für ihn, offen und unbekümmert.

Der neue Bildungsminister Polens, Wladyslaw Bienkowski, und mit ihm eine Reihe anderer führender Kulturpolitiker haben ausdrücklich festgestellt, daß die Wissenschaft und die Kunst weitgehend von der Einmischung durch Parteiinstanzen bewahrt werden müssen, und diese Erklärung wurde bisher nicht zurückgenommen. Dennoch gibt es auch da Rückschläge.

Realpolitik und Parteiherrschaft

Mit der schönste Erfolg des Oktobers in Polen war die große theoretische Auseinandersetzung über grundsätzliche Probleme des Marxismus, die er einleitete. Junge Theoretiker, Publizisten, Schriftsteller, Wirtschaftler und Philosophen untersuchten, inwieweit der Stalinismus den Marxismus verfälscht hatte, was an dieser Lehre, die im vorigen Jahrhundert begründet worden war, heute noch zutreffend sei und auf welche Weise man die Methode, mit der Marx den Kapitalismus analysiert hatte, auch zur Analyse der wirtschaftlichen Beziehungen im sowjetischen Sozialismus benützen könnte. Sie kamen zu neuen Schlußfolgerungen über die Klassenverhältnisse in der Sowjetunion, zu anderen Ergebnissen bei soziologischen Untersuchungen über die Lage in Amerika und zu anderen Prophezeiungen über die weitere Entwicklung in den Ländern, in denen die Produktionsmittel verstaatlicht sind, als ihnen bisher erlaubt war. Die Verstaatlichung der Produktionsmittel, erklärten sie, sei durchaus noch nicht Sozialismus und schon gar nicht Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Hier könne die Entwicklung zum Sozialismus allerdings anfangen, sie könne, wohlbemerkt, aber sie müsse nicht, wie ja die Praxis bewiesen habe. In Moskau riefen solche Erklärungen höchste Panik hervor. „Einige polnische Journalisten versuchen eine Revision des Marxismus!“ schrieben russische theoretische Zeitschriften. Man beschuldigte die jungen Polen, daß sie in „bürgerliches Fahrwasser“ geraten seien, daß sie „kapitalistische Ideologie“ und „Verrat" betrieben. Die Polen antworteten. Ihre Beiträge waren von höchstem Niveau, sie waren witzig, elegant und überlegen in der Form, überzeugend in ihrer Logik, gestützt auf die am eigenen Leibe gemachten Erfahrungen. Die Russen antworteten darauf nicht. Sie hätten es nicht gekonnt und sie brauchten es auch gar nicht. Man muß nicht überzeugen, wenn man die Macht hat. Die Revisionisten in Polen, die es wagen wollten, die Marxschen Gedanken der heutigen Zeit anzupassen, durften ihre ketzerischen Ideen nicht mehr veröffentlichen. Der alte Marx, der beinahe ein „come back“ im Atomzeitalter erlebt hätte, wurde wieder in die Schranken verwiesen. Es ist möglich, daß es dem Realpolitiker Gomulka weniger um die Wiederbelebung der Idee, als um praktische Erfolge für seine Heimat geht. Er braucht eine starke Partei und im Dienste der Geschlossenheit und Einheit seiner Partei wandte er sich in der 9. Plenarsitzung des Zentral-komitees der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei im Mai mit gleicher Schärfe gegen die Opposition der Stalinisten, wie gegen die Revisionisten. Die einen — Gomulka nannte sie „Dogmatiker“, einmal sogar „nihilistische Dogmatiker“ — schadeten der Partei dadurch, daß sie den Kommunismus als ein leeres Dogma auffaßten und das wirkliche Leben, die tatsächlichen Umstände, nicht berücksichtigten, und die anderen, die Revisionisten (oder „nationalistischen Revisionisten“), dadurch, daß sie die Grundthesen des Marxismus-Leninismus in Frage stellten. Gefährlicher als die Dogmatiker, so meinte der Parteichef, seien jedoch die weitaus zahlreicheren „konservativen“ Parteifunktionäre, die zwar im Prinzip die neue Parteipolitik befürworteten, aber durch ihre Unfähigkeit, sich die neuen Arbeitsmethoden anzueignen und durch Passivität diese neue Politik praktisch boykottierten.

Die Bemühungen des Parteisekretärs durch gleichzeitige Abwehr sowohl der einen, wie der anderen extremen Abweichungen, seine Partei zusammenzuschweißen und den alten Funktionärstamm hinter sich zu bringen, wurden durch die Resolution unterstützt, die das Plenum in der Angelegenheit der Verantwortlichen an den Verbrechen der Stalin-Ära in Polen annahm.

Im Oktober war Gomulkas Sieg mit einer scharfen Verurteilung dieser Verantwortlichen an den Verbrechen des früheren Sicherheitsministeriums verbunden gewesen. In der 8. Plenarsitzung des Zentralkommitees waren scharfe Worte gegen Jakub Berman gefallen, dem Mitglied des Politbüros, der die Tätigkeit des Sicherheitsministeriums im Auftrage der Partei überwachen sollte. Man setzte eine Kommission ein, die sowohl seine Tätigkeit als die des ehemaligen Ministers für Öffentliche Sicherheit und die seines Stellvertreters überprüfen sollte.

Nun hatte diese Kommission dem Zentralkommitee Bericht erstattet, und das Plenum hatte daraufhin beschlossen, Jakub Berman aus dem ZK zu entfernen und ihn, ebenso wie den früheren Sicherheitsminister, Stanislaw Radkiewicz, aus der Partei auszuschließen. Nach Ablauf von drei Jahren sollten sie wieder das Recht haben, einen Wiederaufnahme-antrag zu stellen. Der stellvertretende Minister für Sicherheitswesen, Mieczyslaw Mietkowski, wurde für immer aus der Partei ausgeschlossen.

Als Grund für diese milde Bestrafung der vom Volke so sehr gehaßten Männer, gab das Plenum die völlig unglaubwürdige Erklärung, sie „hätten von den Methoden, die das Sicherheitsministerium an-wandte, um falsche Geständnisse zu erpressen, nichts gewußt“. Für die dort begangenen Verbrechen waren nur die Angestellten des berüchtigten X. Departements unter Anklage gestellt worden, die angeblich, ohne ihre Vorgesetzten zu informieren, gehandelt hätten. In der Resolution wurde angedeutet, daß das X. Departement auch eine Verhaftung des damaligen Ersten Parteisekretärs Boleslaw Bierut vorbereitet habe.

Diese Resolution rief Unzufriedenheit in der Bevölkerung hervor.

Während man die allgemeine politische Entschließung des Plenums, die konsequente Bestätigung der im Oktober eingeschlagenen innenpolitischen Veränderungen und die unabhängige Haltung gegenüber der UdSSR würdigte, trug die milde Beurteilung der Funktionäre, die in den vergangenen Jahren Angst und Schrecken im Land verbreitet hatten, nicht dazu bei, die Stimmung zu verbessern.

Aber auch wenn die Erwartungen, die das polnische Volk im Oktober vorigen Jahres hegte, nicht ganz erfüllt worden sind, auch wenn es eine Reihe von Rückschlägen erleben mußte, ist doch die Lage heute in Polen ganz 'anders als vor dem Oktober und himmelweit verschieden von der Situation in Rußland oder in der DDR.

Entscheidend ist dabei, daß es keinen Polizeiterror gibt und der Gewissenszwang aufgehört hat. Die Angst ist in Polen verschwunden.

Man sagt wieder was man denkt und fürchtet sich nicht davor, für seine Rechte einzutreten. Nicht nur die Sicherheitspolizei bleibt entmachtet — auch die Parteidiktatur ist weiterhin wohltuend beschränkt.

Dies hängt zu einem gewissen Teil davon ab, daß die politischen Gegensätze in den Reihen der Partei, die Gomulka mit Aufbietung aller Kräfte zu überbrücken trachtet, so tiefgreifend sind. Aber auch wenn es dem Parteisekretär gelingen sollte, die Partei zu einigen, so wird das nicht auf Kosten der freien Meinungsäußerung geschehen.

Gomulka hat in seinem Referat auf dem 9. Plenum ausdrücklich unterstrichen, daß an eine Behinderung der innerparteilichen Diskussion nicht gedacht ist.

Einer solchen Behinderung der Diskussion in der Partei und im Land überhaupt, steht die politische Haltung des ganzen Volkes und seiner erprobten Sprecher entgegen. Die Erfahrungen, die dieses Volk im Verlauf des letzten Jahres gemacht hat, die Erfolge, die es erzielte, haben sich fest in sein Bewußtsein eingegraben. Die Parteiführung muß sich danach richten. Die Demokratisierung hängt nicht mehr von Parteibeschlüssen ab, sie ist eine Tatsache, die die Funktionäre nicht ungestraft ignorieren dürfen. Wo sie es dennoch tun, reagieren die Arbeiter mit Streik. „Wir sind gegen Streiks“, sagte Gomulka, „aber wir werden nicht mit Gewalt gegen sie vorgehen“. Sie sollen als ein Signalzeichen dafür aufgefaßt werden, daß die Partei etwas falsch gemacht hat. Ein Staat, in dem es keinen Polizeiterror gibt, ein Staat, in dem die führende Partei Diskussionen in ihren Reihen zuläßt, und ein Staat, in dem die Arbeiter für ihre Rechte eintreten können, hat schon wesentliche Merkmale des Totalitarismus verloren.

Polen sei das Land, in dem der Versuch einer Koexistenz zwischen Marxismus und Katholizismus unternommen würde — schreiben polnische Zeitungen. Es ist das Verhältnis Gomulkas zur Kirche, was Moskau neben der Bauernpolitik am meisten an dem „polnischen Weg“ zu bemängeln hat. Es gibt neben der kommunistischen Partei eine andere Großmacht im Lande, und auch diese Tatsache schiebt dem Totalitarismus einen Riegel vor, selbst wenn die Kirche nicht als politische Kraft in Erscheinung tritt. Die Politik der Partei steht und fällt mit der Unterstützung, die Gomulka von ihr erhält und Gomulka, der sich mit der Kirche verbündet hat, um sein Volk vor einer Tragödie ähnlich derjenigen Ungarns zu bewahren, versteht das wohl. Noch für lange Zeit würde es in Polen die marxistische Weltauffasung neben der idealistischen, die Gläubigen neben den Ungläubigen, die Volksmacht neben der kirchlichen Hierarchie geben — erklärte er auf dem 9. Plenum. Die Partei müßte das ebenso berücksichtigen wie die Kirche.

Wenn Polen auch außenpolitisch nach wie vor ein Teil des Ostblocks ist — an ein Ausbrechen aus ihm konnte angesichts der geographischen Lage Polens ohnehin niemand im Ernst glauben, so ist es doch keinesfalls mehr ein „Satellit“ Moskaus im alten Sinne. Das polnische Volk hat sich mit seiner Entschlossenheit ein gutes Teil wirklicher Unabhängigkeit erkämpft und es ist sein großes Verdienst, daß es damit das von Stalin geschaffene System der Unterdrückung anderer Nationen überhaupt von Grund auf erschütterte. Das polnische Beispiel übt eine ständige revolutionierende Wirkung auf die anderen Satelliten Moskaus, ja auf das sowjetische Volk selber aus. Es wird nicht allein von Polen, sondern in nicht geringerem Maße vom Westen abhängen, in wie weit es ihm gelingt, sich seine Souveränität zu bewahren und auf dem Wege der Demokratisierung weiter zu schreiten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Im Herbst hatte Polen seine Kohlelieferungen nach der Ostzone Deutschlands eingestellt, was für die Wirtschaft der DDR einen harten Schlag bedeutete. Nunmehr sollen diese Lieferungen auf einer neuen Basis wieder ausgenommen werden. Während sie nämlich früher so gut wie umsonst erfolgten, wird die DDR jetzt mit technischen Einrichtungen für den polnischen Bergbau für die Kohle zahlen. Das ist der Sinn, der sich hinter der den Polen von der DDR kürzlich versprochenen Anleihe verbirgt. Die Summe, auf die sich diese ostzonale Anleihe belaufen soll, wird mit 100 Millionen Dollar angegeben. Da es sich aber um „Dollars“ handelt, die nach dem sowjetischen (und ostzonalen) Kurs berechnet werden, so ist der wirkliche Wert wesentlich geringer. Die Gewährung der Anleihe ist der DDR durch die großen Kredite möglich gemacht, die es selber kürzlich von der UdSSR erhielt.

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