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Toleranz in Europa | APuZ 29/1958 | bpb.de

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APuZ 29/1958 Geschichte als Fortschritt Toleranz in Europa

Toleranz in Europa

HANS-JOACHIM SCHOEPS

kühne und große Entwürfe, die nicht hybrid sind. Ohne einen Blick auf die Zusammenhänge über die Erde hin wird niemand mehr politische Verantwortung übernehmen können. Mit Teuerung und Pestilenz, mit sozialer Misere und ungerechter Verteilung der Güter sollen wir uns nicht abfinden, auch wenn wir wissen: das Böse bleibt. Die Desillusionierung schließt die Menschen ein. Geschichte als Fortschritt? Die Annahme der Lehre vom Aufstieg der Menschheit zu höheren Formen scheitert nicht eigentlich an einer pessimistischen Interpretation der bisherigen geschichtlichen Abläufe oder an der Verzweiflung über das Versagen in der Gegenwert oder am Grauen, mit dem die Vernichtungsmittel — die materiellen und die seelischen, Atomwaffen und Zwangssysteme — unsere Zukunft bedrohen. Sie scheitert schon an der Neuentdeckung des Menschen und seiner Schuld. Die Geschichte als Fortschritt? Es bedarf nicht des Ausblicks auf ein goldenes Zeitalter, um uns tätig zu machen und freudig zu machen.

Fortschritte sind uns nicht versagt — jeder weiß von ihnen, der Blick in unsere Städte stimmt uns nicht nur besorgt, sondern auch dankbar. Gleichrangig mit dem Fortschrittsglauben ist das dankbare Bewußtsein der je wechselnden, aber nie aussetzenden Aufgabe des Tages, des Jahres, unseres Landes, im weiten und engen Umkreis unserer Mitmenschen. Unser Glück ist die Situation, die immer wiederkehrende Gelegenheit zur Bewährung unserer Kräfte. Ungenügendes und Quälendes gibt es genug. Aber Verdrossenheit ist gar nichts anderes als Undank-barkeit. Bauen und bessern, und opfern, Kräfte entfalten und Hoffnungen hegen—das ist uns jeden Tag von neuem gewährt. „Das Gegenteil desPessiwistnus ist nicht der Optimisinus" — dieses Wort hat uns der 1950 verstorbene Emmanouel Mounier hinterlassen —, „sondern eine nnbesd^reiblidte Ausstrahlung von Schlichtheit, Mitleid, Beharrlid^keit und Gnade in einem.“

Dieser Aufsatz erschien erstmalig in dem Sammelband „Europa: Vermächtnis und Verpflichtung" im Walter Kerber Verlag, Frankfurt am Main.

Der moderne demokratische Rechtsund Verfassungsstaat hat das Prinzip der Toleranz zu seiner Voraussetzung; es ist durch zahlreiche Bestimmungen über Schutz der Minoritäten, Gleichberechtigung der Staatsbürger, Glaubens-, Rede-, Pressefreiheit usw. in vielen Gesetzbüchern verankert worden. Dies alles gilt als kostbare Errungenschaft, die schwer erkämpft worden ist und sehr leicht wieder verloren gehen kann, wie die Verhältnisse in Deutschland zwischen 1933 und 1945, in Rußland seit 1917 und in den Ostblockstaaten nach 1945 vor Augen geführt haben. Wir wollen nun im folgenden die Entwicklung der Toleranzidee in Europa in großen Zügen zu skizzieren versuchen. Toleranz ist in Europa erstmalig aufgetreten als Forderung nach Glaubensfreiheit und als Versuch, die Allmacht der Kirche einzudämmen. Sie ist im Mittelalter keine mögliche Position gewesen, nachdem die Aufsuchung der Häretiker, d. h. die Inquisition, 1184 auf dem Konzil von Verona eingeführt worden war und Papst Gregor IX. 1231 bis 1232 die Inquisition als förmliche Behörde mit Legalisierung von Folter und Tortur institutionalisiert hatte — unter Abstufung der Kirchenstrafen bis zur Auslieferung für die Ketzerverbrennung an die weltliche Gewalt. Die Inquisition, die sich auf alle Arten von Häretikern einschließlich Hexen und Judaei conversi erstreckte, ist -in Frankreich formell erst 1772 und in Spanien sogar erst 1834 aufgehoben worden. Inzwischen hatte sich nämlich das ganze Wirklichkeitsbewußtsein und speziell die Auffassung von der Würde des Menschen und von den Menschenrechten auch der jeweiligen Nonkonformisten des Zeitgeschehens entscheidend gewandelt. Es ist sicher nicht zutreffend, die Toleranz als ein Erzeugnis der Reformation anzusehen, war doch das Jahrhundert 15 50 bis 1650 eines der intolerantesten, das die Geschichte kennt. Abgesehen von einzelnen Vorläufern wie dem religionsvergleichenden deutschen Kardinal Nikolaus von Kues oder dem seltsamen französischen Arzt Guilelmus Postell sind es vielmehr Nebenströmungen der Reformation gewesen, die die Toleranzidee erstmalig proklamiert haben. Spiritualisten am Rande der Reformation, große „Einzelne" wie Sebastian Franck (1499 bis 1542), dem wir die erste Programmschrift des Pazifismus (Kriegsbüchlein des Friedens — 15 39) zu verdanken haben, Sebastian Casteilio (1515 bis 1563) mit seiner Streitschrift gegen Calvin und für Servet (De haereticis, an sint persequendi? — 15 54) oder einzelne Täuferführer wie Hans Denk, Dirck von Coornheert, David Jaris u. a. sind hier zu nennen, die Glaubenszwang und gewaltsame Unterdrückung für unvereinbar mit dem christlichen Liebesgebot erklärten. Insbesondere haben aber die friedlichen Täufergemeinden um Menno Simons und ein Teil der oberdeutschen Taufgesinnten, die selber unter schwerem Verfolgungsdruck standen, schon deshalb die prinzipielle Glaubensfreiheit proklamiert und von der Obrigkeit gefordert. So schreibt etwa der mährische Täufer Kilian Aurbacher 1535 an den Straßburger Reformator Martin Butzer: Idt wais audt, das nymermer recht ist ainen im glauben zu nottigen, er glaubt wie er woll, er sey jud oder turck“ Mit der Selbstrealisierung dieser Gedanken haperte es aber auch bei den Täufern noch; größere Breitenwirkung haben sie erst im folgenden Jahrhundert bekommen. Diese Gedanken sind deshalb unter Mystikern, Spiritualisten und Enthusiasten innerhalb und außerhalb der protestantischen Kirchen immer aktuell geblieben, weil diese die Ethik der Bergpredigt direkt auf die Ordnungen des öffentlichen Lebens anwenden wollten. Unter dem Eindruck des vielen persönlichen Leids, das der Augsburger Religionsfriede von 15 55 mit seinem Grundsatz cuius regio, eius religio über die Menschen gebracht hat, und angesichts der schweren Blutabzapfungen des 30jährigen Krieges erzielten viele geistmächtige Wanderprediger erhebliche Missionserfolge, die als wenig bekannte Vorläufer des Pietismus die Volksfrömmigkeit unterirdisch stark beeinflußt haben. Einzelgänger wie Paul Felgenhauer und Nikolaus Tetsing, Joachim Betke und Christian Hoburg, Johann Georg Gichtei und Ludwig Gifftheil sind hier zu nennen, die das Zeitalter der Glaubenskriege als wider Gottes Wort und Christi Opfertod ansahen. So ruft Joachim Betke aus: „Was ist dies für ein Christus, der mit diesen Christen ist, der mit giftigen Granaten und Pedtkränzen aufzeucht“ (Excidium Ger-maniae, 1666). Oder Paul Felgenhauer: „Es wäre ja wohl recht und billig, daß wir Menschen einander dulden, dieweil auch Gott uns alle duldet, wie unterschieden wir auch im Glauben und Religion waren In diesen Kreisen wurden erstmalig auch Stimmen pro Judaeis laut, die das ganze Mittelalter über unter Ausnahmerecht gestanden hatten und von der societas christiana ausgeschlossen waren. Als praktische Realisierung der Toleranz wurde ein Philosemitismu s pro-klamiert, der sich aus verschiedenartigen Motiven speiste und schließlich 1655 als Folge der Intervention Manasseh ben Israels bei Oliver Cromwell in der Neuniederlassung der Juden in England seinen praktischen Niederschlag gefunden hat. Aber auch naturrechtliche Ideen strömten ein, die zu einer revolutionären Umwertung der politisch-sozialen Ordnung drängten und späteren demokratischen, ja sozialistischen Ideen den Weg gebahnt haben.

Überhaupt muß diese weitere Entwicklungslinie des Toleranzgedankens beachtet werden: Mit dem ausgehenden 16. Jahrhundert und dann besonders im 17. Jahrhundert beginnt unter dem Einfluß christlicher und neustoischer Humanisten (Eurasmus, Reuchlin, Justus Lipsius, Heinsius usw.) der Glaube an das natürliche Licht, an ein natürliches System der Religion, der Sittlichkeit, des Rechtes und der wissenschaftlichen Wahrheit sich auszubreiten. Die Lehre von eingeborenen Begriffen oder elementaren Einsichten setzt sich durch, mit der sich eine rationale Theologie, Rechts-, Staats-und Naturwissenschaft begründen ließ.

Vornehmlich Wilhelm Dilthey hat dieses allmähliche Mündig-werden der Vernunft in der Dogmatik der Arminianer, einer freieren Richtung des holländischen reformierten Protestantismus — Episkopius, Arminius und Hugo Grotius waren ihre großen Geister — und der auf ein unitarisches Christentum hinzielenden Sozinianer beschrieben. Dogmen-und Bibelkritik haben den Offenbarungsglauben untergraben und damit erst die Voraussetzungen für die Toleranzidee auf dem Boden der Vernunftautonomie geschaffen. Theologen haben hier begonnen, was Juristen und Politiker fortsetzen sollten, denn die naturrechtliche Theorie wurde alsbald auch auf die positive Jurisprudenz und Staats-wissenschaft angewandt. Das dictatum rectae rationis sollte die neue Plattform werden, auf der sich Menschen jeder Religion und Weltanschauung zusammenfinden und verständigen können. Drei große Werke:

die Staatslehre des Jean Bodin (1577), die erstmals den modernen Souveränitätsbegriff entwickelte, die Politik des Johannes A 11 h u s i u s (1603) und das Völkerrecht des Hugo Grotius (1625) zeugen davon. Völlig frei von konfessioneller Unduldsamkeit hat Grotius das die Toleranz begründende „natürliche Rechtsgefühl“ vertreten, das den Menschen „ins Herz geschrieben“ sei, und damit prinzipiell das Recht des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft. Schön sagt Dilthey: „Nur Unwissende können über den heiligen und frommen Klang spotten, welchen für die Mensdten jener Tage die Worte: natürliche Religion, Aufklärung, Toleranz und Humanität gehabt haben. Das Aufatmen einer unter Drud^ der Konfessionen erliegenden Welt ist in ihm“ Aber der Weg dieser Ideen bis zu ihrer Fixierung in den Verfassungen der Staaten Europas war immer noch weit.

Hierfür kann festgestellt werden, daß unter den damaligen Staaten der modernste Preußen gewesen ist, dessen Kurfürst Johann Sigismund bei seinem Übertritt zum Calvinismus 1613 den Untertanen unter Verzicht auf sein fürstliches Regalrecht des Glaubenszwanges ihr lutherisches Glaubensbekenntnis beließ: „Audi wollen S. Kurf. Gn. zu diesem Bekenntnis keinen Unterthan offensiditlidi oder heimlich zwingen, sondern den Kurs und Lauf der Wahrheit Gott allein befehlen, weil es nid'it an Rennen und Laufen, sondern an Gottes Erbarmen gelegen ist“. Diese denkwürdigen Worte stellten gegenüber allem bisherigen Brauch einen großen Fortschritt auf dem Wege der Entfaltung moderner Toleranz dar. Audi in der Folgezeit ist Brandenburg-Preußen, wie etwa das Potsdamer Edikt von 168 5 über die Aufnahme der französischen Refugies zeigt, ein Musterland des konfessionellen Friedens geblieben, weil die Krone frei über allen Kirchen stand und die Parität schützte. Die Böhmischen Brüder konnten, wie Treitschke feststellt, ihr Danklied in den Marken erschallen lassen:

„Das Volk, das sonst im Finstern saR Von Irrtum ganz umgeben, das findet hier nun sein Gelaß und darf in Freiheit leben.“

Friedrich der Große, der schon bei seinem Regierungsantritt 1740 auf die Frage des Generaldirektoriums, ob ein Katholik das Bürgerrecht erwerben dürfe, geantwortet hatte: „Ein jeder kann bei mir glauben, was er will, wenn er nun ehrlidr ist“, hat dann später dem Aufklärungszeitgeist entsprechend mehr rationale Begründungen der Toleranz im Sinne der Staatsraison gegeben. So heißt es in seinem Testament von 1752:

„Idi bin neutral zwisdien Rom und Genf. Will Rom sich an Genf vergreifen, so zieht es den kürzeren. Will Genf Rom unterdrücken, so wird Genf verdammt. Auf diese Weise kann ich den religiösen Haß steuern, indem idi allen Parteien Mäßigung predige. Idi suche aber auch Einigung unter ihnen zu stiften, indem ich ihnen vorhalte, daß sie Mitbürger eines Staates sind, und daß man einen Mann im roten Kleide ebenso lieben kann wie einen, der ein graues Gewand trägt.“

In diesem Sinne ist dann nach Friedrichs Tod die Toleranz im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 verankert worden. Teil II, Titel 11 über die Rechte und Pflichten der Kirchen und geistlichen Gesellschaften beginnt mit folgenden Feststellungen:

1. Die Begriffe der Einwohner des Staates von Gott und göttlichen Dingen, der Glaube und der innere Gottesdienst können kein Gegenstand von Zwangsgesetzen sein.

2. Jedem Einwohner im Staat muß eine vollkommene Glaubens-und Gewissensfreiheit gestattet werden.

3. Niemand ist schuldig, über seine Privatmeinungen in Religionssachen Vorschriften anzunehmen.

4. Niemand soll wegen seiner Religionsmeinungen beunruhigt, zur Rechenschaft gezogen, verspottet oder gar verfolgt werden.

Das hiermit oft parallelisierte Toleranzedikt Kaiser Joseph II. für Österreich vom 20. X. 1781 hat ein anderes politisches Endziel angestrebt: die eine romfreie katholische Staatskirche; immerhin hat es den Protestanten, statt wie bisher bestraft oder ausgewiesen zu werden, den Fortschritt der Duldung erbracht.

In den anderen Ländern Europas ist es ebenfalls erst im 17. Jahrhundert zur stärkeren Durchsetzung der Toleranzidee gekommen. So fanden in den reformierten Niederlanden, die ihre Unabhängig-

keit von Spanien durchgefochten hatten (1566 bis 1609), nunmehr Katholiken und Lutheraner, aber auch Täufer, Sektierer und Spiritualisten aller Art eine neue Heimat. Amsterdam wurde im 30jährigen Krieg mit dem Ehrennamen Eleutheropolis belegt. Hier konnten bereits freigeistige Marranen wie LIriel d’Acosta und Baruch Spinoza trotz Synagogenbanns nicht nur dem Glauben ihrer Väter, sondern sogar dem Gott der Bibel öffentlich Valet sagen, ohne daß ein Scharfrichter das Schwert gezückt hätte. Spinozas „Politisch-Theologischer Traktat von 1670 (spez. Band III, cap. 16 bis 20) hat für die Ausformung der politischen Toleranz vielerlei vorweggenommen, was sich freilich erst ein Jahrhundert später ausgewirkt hat. In England kam nach erbitterten konfessionellen Kämpfen 1689 als Krönung der „Glorious Revolution“ die Toleranzakte zustande, die allen religiösen Dissenters außerhalb der Staatskirche volle Religionsfreiheit zusicherte, sofern sie dem englischen König Treue schworen und die päpstliche Gewalt ableugneten. Seither wurde in England und Amerika die Toleranzidee zu einem Grundbegriff des Protestantismus und späterhin als Schutz des Einzelnen vor Willkür aller Art zum Inhalt der modernen Demokratie.

Die Bill of Rights der A m e r i k a n e r , die Grundrechtserklärungen der nordamerikanischen Gliedstaaten (z. B. Virginia 1776) hat dann die Glaubensfreiheit zu den unveräußerlichen und unentziehbaren Menschenrechten gezählt. Gewissens-und Kultfreiheit, sowie die Trennung von Kirche und Staat wurden Bestandteile der Gesamtverfassung der nordamerikanischen Union.

Mit der Revolution der Franzosen von 1789 kamen dann diese Ideen nach Europa zurück, fanden allmählich Eingang in allen kontinentalen Verfassungen und sind aus dem europäischen Bewußtsein nicht mehr fortzudenken. Nachdem die „droits naturels et inscriptibles de rhomme" von der französischen Revolution auf den Schild gehoben worden sind, gelten Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung als Inbegriff der modernen Menschen-und Bürgerrechte (Art. 2 der bekannten Deklaration vom 26. 8. 1789). Die Toleranz war aber nunmehr vom andersgläubigen auf den andersartigen Menschen über-haupt ausgedehnt worden. Es sind insbesondere die Konsequenzen aus der Staatslehre des Thomas Hobbes (1588 bis 1679) und das Toleranzprogramm (Let-ters concerning Toleration, 1689) von John Locke (1632 bis 1704) gewesen, mit denen die Brücke von der englischen zur französischen Revolution geschlagen worden war. Die Pflicht der Toleranz für die Kirche und den Staat, paritätische Behandlung der Religionsbekenntnisse und Gewissensfreiheit als Naturrecht sind von Locke als Lehre der Revolution von 1688 verkündigt und philosorhisch oft mit Argumenten der Zweckmäßigkeit begründet worden. Dem Christentum wurde von Locke aus dem Religionsbegriff des natürlichen Systems heraus die weltliche Herrschaftsform abgesprochen, denn Gewalt stehe allein der weltlichen Obrigkeit zu. Ähnlich hat Pierre Bayle (1647 bis 1706) in Frankreich mit der Lehre aus der Huggenottenverfolgung unter Ludwig XIV. im Rücken die Trennung von Kirche und Staat sowie Toleranz auch gegenüber Atheisten verfochten, die Locke im Geist der englischen Toleranzakte noch nicht zugestanden hatte. Voltaire hat dann die in Bayles Skeptizismus — der Verbindung von vernünftigem Zweifel und Toleranz — angelegte Religionskritik zu einer Art System ausgebaut und mit seinem bissigen Spott bei der psychologischen Kausalerklärung religiöser Phänomene viele empfindliche Gemüter verletzt. Daß seine Vernunftsreligion Gemeingut weiter Kreise geworden war, zeigt die Konsequenz des Thermidors aus Voltaire, insofern Robespierre der Göttin Vernunft ein Denkmal in Paris errichten ließ. Napoleon Bonapi te, der dies alles wieder liquidierte, hatte dann aber eine noch vernüftigere Auffassung von der Nützlichkeit der Christentums und seiner prinzipiellen Vereinbarkeit mit der Staatsgewalt; er erklärte späterhin als Kaiser ganz im Einklang mit dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts: „Was midi betrifft, so sehe ich im Christentum nidit das Mysterium der Fleisdiwerdrmg, wohl aber das Mysterium der sozialen Ordnung. Die Religion verbindet mit dem Himmel eine Gleidtheitserwartung, die den Armen daran hindert, den Reidten totzusdilagen“

Die Popularphilosophie der deutschen Aufklärung hat sich im allgemeinen trotz starker französischer Einflüsse von Radikalismen freigehalten und daher auch am wirksamsten ein Toleranzprogramm ausbauen können. G. E. Le s s i n g hat in seiner „Erziehung des Menschen-geschlechts“ (1780) den alten Streit zwischen Offenbarung und Vernunft mit der Auffassung der Offenbarung als einer zu pädagogischen Zwecken verhüllten Vernunft ausgesöhnt und in seinem bekannten Drama „Nathan der Weise" hat er die Toleranzidee als das Evangelium der verträglichen und tätigen Menschenliebe verkündigt. Mit der bedenklichen, aus dem „Boccacio“ stammenden Parabel von den drei Ringen, die alle drei falsch seien, weil der echte verlorenging, ist es sogar noch weiter gegangen und hat die moralische Wirkung als das einzige Kriterium der Religion hingestellt und den Menschen zum Gesetzgeber und Richter in Sachen der Sittlichkeit und Religion erklärt. Ge-

schickt hat ihm Moses Mendelssohn mit seinem Buch „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum“ (1783) dabei sekundiert, daß der Inbegriff der Religion die Beförderung der menschlichen Glückseligkeit sei und das Judentum, das keine Kirchenmacht kenne, sich bei reinlicher Kompetenzenscheidung mit den Prinzipien des Staates gut vertrage. Freiheit des Denkens sei nur möglich, wenn Jedem Menschen das Recht gewährt werde, Gott nach „seiner oder seiner Väter Weise“ anzurufen. Daher müsse der Staat die Mannigfaltigkeit der religiösen Über-zeugungen zugestehen.

Die bürgerliche Emanzipation der Juden, die dieses Zugeständnis brachte und gesetzlich verankerte, ist in Europa durch die französische Revolution eingeleitet worden; sie wurde zum Prüfstein, an dem sich das christliche Europa die Redlichkeit der eignen Humanität bewies.

Die Juden waren die ersten, deren man habhaft werden konnte, um die Gleichberechtigung alles dessen, was Menschenantlitz trägt, zu proklamieren und unter Beweis zu stellen, ähnlich wie heute Neger und Mischblütige die letzten sind. Wie gefährdet die Toleranzidee immer wieder ist und wie labil die Existenzbedingungen für den modernen Rechtsstaat im Zeitalter der Massen sind, ist unserer Generation vor Augen geführt worden, so daß der aufgeklärte und ungebrochene Fortschrittsglaube des toleranzfreudigen Liberalismus, wie er noch in der Generation unserer Großväter lebendig war, heute kaum noch Verfechter findet. Es wäre aber ungerecht, die Aufklärung für alle ihre Folgen verantwortlich zu machen, zu denen schließlich auch der Un-glaube des modernen aufgeklärten Menschen gehört. Seitdem die politischen Ersatzreligionen aufgekommen sind, die ihre Absolutheitsansprüche grausamer durchsetzen als es die biblischen Offenbarungsreligionen je getan haben, steht der moderne Mensch vor der Frage, ob er den Raum der geistigen Freiheit festhalten will, den ihm die Generation von 1800 erkämpft hat, als sie den Weg vom Dogmenstreit zum Glaubensgespräch bahnte und damit eine neue Einschätzung auch des religiösen und weltanschaulichen Gegners durchsetzte. Seither geht es um die Frage, ob der Mensch die innere Bereitschaft aufbringt, in Spannungen zu existieren, auf den Anderen hinzuhören, also die Ansprüche seines Nebenmenschen auszuhalten und die eigenen von diesen begrenzen zu lassen, statt vor der unbequemen Störung davonzulaufen resp, den lieben Nächsten mundtod zu machen oder ihn gar physisch zu vernichten. Das kostbarste Gut neuzeitlicher Liberalität liegt in der Sicherung des Begegnungsraumes, in dem es allen Gesprächspartnern möglich bleibt, die Wahrheit, die sie bezeugen können, offen auszusprechen und ohne ständige Besorgnis, dadurch persönlichen Schaden zu nehmen oder gegen unüberwindbare Vorurteile nutzlos anzurennen.

Es ist eine ebenso einleuchtende wie offenbar schwer durchzusetzende Erkenntnis, die schon Johann Caspar La vater 1777 in seinen „Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“ formuliert hat: „Es ist unsinnig, dem Gewissen einer Nation, Gemeinde, Gesellsdraft eine Religionsform aufzudrängen. Zum äuflerlidten Bekenntnisse kann man durch Zwang gebracht werden, zur innerlidren Überzeugung nidit“ 6).

6) III, 240.

Anmerkung:

Reinhard Wittram, Dr. phil., o. Universitätsprofessor für osteuropäische Geschichte in Göttingen, geb. Riga 9. 8. 1902. Mitglied Akad. d. Wissensch. Göttingen.

Hans-Joachim Schoeps, UProf. f. Religion«-und Geistesgeschichte, Ord. Prof, in Erlangen. Geb. Berlin 30. 1. 1909.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hans J. Hillebrandt, Die politische Ethik der oberdeutschen Täufer, ein Beitrag zur Religions-und Christusgeschichte, Dissertation, Erlangen 1957.

  2. Monarchenspiegel I, 1633.

  3. Vgl. Hans-Joachim Schoeps, Philosemitismus im Barock, Religions-und geistesgeschichtliche Untersuchungen, Tübingen 1952.

  4. GW II, 95.

  5. Äußerung vom 4. März 1806.

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