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WAS DIE HUNDE HEULEN | APuZ 39/1958 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 39/1958 WAS DIE HUNDE HEULEN

WAS DIE HUNDE HEULEN

AUREL VON JUCHEN

Wir bringen heute Fortsetzung und Schluß der Kurzfassung des Buches „Was die Hunde heulen". Das Buch selbst wird unter gleichem Titel im Oktober bei der Deutschen Verlagsanstalt, Stuttgart, erscheinen.

Zwangsarbeit Rückfall in die Barbarei

Ich hörte, was die Hunde heulen. Heulen alle diese armen und verstoßenen Hunde nur, weil sie getreten und geschlagen wurden? Heulen sie nur, weil man sie in einen viel zu engen Zwinger gesteckt hat?

Nein, der Gefangene hat viel, viel Zeit. Er hat zehn, fünfzehn, fünfundzwanzig Jahre Zeit. Er gewöhnt sich an die moderne Hölle. Er gewöhnt sich an dieses Leben ex minimo. Gewiß, viele verbittern. Aber viele, sehr viele geben sich auch redliche Mühe, sich von aller Verbitterung frei zu halten. Viele haben ein deutliches Gefühl dafür, daß sie ihre geistige Freiheit und damit ihre menschliche Würde verlieren, sobald sie einem Ressentiment erliegen, und sie benutzen die qualvoll lange Zeit, die ihnen gestohlen und doch in anderer Weise auch wieder gegeben ist, um über sich selbst, über die Menschen und auch über die Methoden dieses Staates nachzudenken, dessen Bürger sie sind. Was ich über die einzelnen Gruppen, was ich über die ganz Alten, die Intellektuellen, die Juden, die Frommen, die Arbeiter, die Bauern, die Jugendlichen, über die Muschiki, die Suki und die Wory erzählte, beruht nicht auf den Selbstbemitleidungen, den leidvollen Exklamationen, Klagen und Anklagen von Gefangenen, sondern es spiegelt die reale Situation des Landes, es spiegelt die objektiven Leiden eines großen, leidgeprüften Volkes.

Nachdem wir versucht haben, ein Bild der Leidenden zu entwerfen, wollen wir in einer zweiten Überlegung die wesentlichen Leiden des russischen Volkes zu analysieren versuchen. Wir beginnen mit der Geißel der Zwangsarbeit.

Der klassenlose Staat, in dem es, wie die Verfassung dieses Staates deklamiert, keine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen mehr gibt, hat eine Klasse hervorgebracht, die es in keinem Staate der westlichen Welt gibt, die nach Millionen zählende Klasse der Zwangsarbeiter Der Staat, der die angeblich höchste Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung, den Kommunismus, erklommen hat, und der von der Höhe seiner theoretischen Erkenntnisse auf die gesamte Entwicklung der Menschheit ruhmrednerisch hinabschaut, hat die Abhängigkeit geschaffen. die nicht auf der restlosen Verfügungsgewalt über Leib und Leben und über jedes geistige und körperliche Vermögen gefangener und lebenslang eingesperrter Menschen beruht. Er hat in der direktesten Weise Millionen Menschen selbst zu Produktionsmitteln, zu selbsttätigen Hacken, Schaufeln, Keilen, Vorschlaghämmern und Arbeitsmaschinen gemacht, die Maschinen gegenüber nur noch den Nachteil haben, daß sie essen und schlafen müssen. Jeder Vergleich mit der Leibeigenschaft des mittelalterlichen Feudalsystems oder mit der Sklaverei des Altertums wird diesen Erscheinungen nicht gerecht. Denn erstens waren die Sklaverei des Altertums und die Leibeigenschaft des Mittelalters geschichtlich notwendig. Der Sklaventerror der Sowjetunion stellt dagegen einen geschichtlichen Anachronismus dar. Die Sklaverei des Altertums war ein Fortschritt gegenüber der Zeit, da es Gepflogenheit war, Kriegsgefangene zu töten. Die Leibeigenschaft ihrerseits war ein Fortschritt gegenüber dem früheren Zustand der Sklaverei. Der Sklaventerror der Sowjetunion ist dagegen ein Rückfall in die Barbarei, den sie jahrzehntelang vor der ganzen Welt geheimhalten mußte und der erst durch den Krieg und seine Folgeerscheinungen an das helle Licht der Weltöffentlichkeit gelangte. — Die Sklaverei des Altertums und die Leibeigenschaft des Mittelalters kannten im allgemeinen keine Trennung der natürlichen Bande der Familie, während der sowjetische Zwangsarbeiter entweder für Jahrzehnte, in den meisten Fällen aber für die ganze Dauer seines Lebens von Eltern, Frauen und Kindern getrennt wird. — Die Sklaverei des Altertums und die Leibeigenschaft des Mittelalters waren keineswegs notwendig mit Verbannung verbunden. Der sowjetische Zwangsarbeiter wird vornehmlich in jene Gegenden Nordrußlands, des Urals, in das ewige Grauen Nowaja Semljas, in die Gold-lager Nordostsibiriens, in die Hölle von Karaganda und Asbest, auf die unzugängliche Halbinsel Kola verbannt, um dort Gold, Silber, Kohle, Nickel, Asbest, Peschblende usw. zu fördern. Er muß im gesundheitsschädlichsten Klima und in der unbeschreiblichsten Trostlosigkeit der Tundra, der Taiga oder der Steppe seine Tage verbringen. — Die Sklaverei des Altertums und die Leibeigenschaft waren gemildert durch persönliche Kontakte und durch eine patriarchalische Moral. Neben furchtbaren Härten gab es auch Fürsorge, Liebe und Gerechtigkeit zwischen Herren und Sklaven. Der Sklave gehörte zum Ingesinde des Hauses. Seine Kinder wurden vielfach mit den Kindern des Hauses erzogen. Der Sklave wurde nicht nur gestraft für Unfolgsamkeit, sondern auch für seine Treue belohnt. Ja, nicht selten wurde ihm die Freiheit geschenkt. Die Stoa lehrte im Sklaven den vernunftbegabten Menschen, die christliche Gemeinde, wie der Philemonbrief des Neuen Testaments beweist, Gottes Kind und den Bruder seines eigenen Herren zu sehen. Der sowjetische Zwangsarbeiter ist einem kalten unpersönlichen System ausgeliefert, das die einzigartige Chance nützt, für diesen Verurteilten und Bestraften niemandem in der Welt Rechenschaft schuldig zu sein. Ob bei bestimmten Arbeitern viele oder wenige umkommen, erfrieren, krank werden, von Seuchen dahingerafft werden, an Entkräftung sterben, die NKWD ist darüber niemandem eine Auskunft oder Verantwor-tung schuldig. Wer die stumpfen und müden Arbeitskolonnen nach einem zehnstündigen Arbeitstag sich einmal müde durch den Schneesturm hat vorwärtsbewegen sehen, der vergißt ihren Anblik niemals.

Der englische Korrespondent Quentin Reynolds schrieb 1942 in „Only the Stars are neutral“: „Einige Meilen außerhalb von Kuibyschew kamen wir an dem großen Konzentrationslager vorbei, das für Gefangene bestimmt ist. Wir sahen sie in einer langen Reihe an einer neuen Straße arbeiten. Es waren etwa achthundert. Auf ihren Gesichtern lag nicltt der geringste Schimmer von Hoffnung. Einige Soldaten mit Karabinern bewachten sie nachlässig, denn es gab für sie keine Möglichkeit zur Flucht. Steel und ich sahen uns an und stöhnten entsetzt auf . . . ich glaube, wir erschraken, weil diese achthundert Gefangenen Frauen waren.“

Der englische Journalist Philip Jordan schreibt in seinem Buche „Russian Glory": „Zu Seiten unseres Zuges stand eine lange Reihe flacher Karren, hier und da unterbrochen von dürftigen Gefangenenwagen. Auf dem Geleis gegenüber unserem Fenster befanden sich etwa dreißig Frauen, die von einem NKWD-Mann mit einer Maschinenpistole bewadtt wurden. Sie kauerten da reglos und hatten sich seit Stunden nicht bewegt, obgleich gegen ihren ungeschützten Körper der erste winterliche Schnee sdtlug. Und so blieben sie. Eine der Frauen trug ein Baby in ihren Armen . . . die anderen wirkten wie Denkmäler der Trauer, die aus einem rohen, gewöhnlidten, aber wetterfesten Stein primitiv aus-gehauen waren. Etwas Schreddidtes lag über ihnen. Sie sahen aus wie die letzten Bewohner einer Welt, die einst, wie sie sidt nodt erinnern, von glüddidten Aiensd-ien bewohnt war, die es nicht mehr gab.“

Dies sind Impressionen. Aber sie stoßen bis ins Innere der Stimmung vor, die über dem ganzen sowjetischen Zwangsarbeitssystem liegt.

Die Frage, wie groß diese Klasse der Zwangsarbeiter ist, ist aucn heute noch nicht exakt zu beantworten. Ich habe von ehemaligen Mitarbeitern Moskauer Planungsbüros zu erfahren versucht, wie groß der Anteil der russischen Wirtschaft sei, der von Zwangsarbeitern in Gang gehalten wird. Aber auch sie konnten diese Frage nicht genau beantworten, weil jeder Planungsbeamte immer nur einen winzigen Teil der Gesamtplanung überblicken kann. Viktor Krawtschenko erklärt in seinem Buche „Ich wählte die Freiheit!", in offiziellen Kreisen werde „die Größe dieses Reservoirs an Arbeitskräften auf zwanzig'Millionen geschätzt“. — „Nidtt einbegriffen in diese Schätzung sind die Jugendlichen beiderlei Gesdiledits, die ihren Eltern fortgenommen worden sind und in Gebiete geschaffen wurden, wo der Mangel an Arbeitskräften in der Industrie am größten ist. Die Rüstungsindustrien der UdSSR beruhen hauptsächlidi auf Sklavenarbeit.“

Die Gefangenen sind die Zwangskolonisatoren unerschlossener Gebiete, eine Reservearmee unbegrenzter Ausbeutung. Der Zwangsarbeiter ist ein Arbeiter, dem man die härtesten Lebensbedingungen, das ungesundeste Klima, die primitivste und schmutzigste Unterbringung und eine Entlohnung zumuten kann, die sein Leben eben noch fristet. Ja, in Hunderttausenden von Fällen ist dieser Arbeiter bis zum Hunger und bis zur völligen Erschöpfung ausgepreßt worden. Von der Bahnstrecke Kotlas-Workuta, an deren Fertigung ich noch teilgenommen habe, erzählten die Kameraden, die die ersten Stadien dieser Verlegung mitgemacht haben, daß damals so viele Menschen verhungert, erfroren und an Erschöpfung gestorben seien, daß gleichsam unter jeder Schwelle des Bahnkörpers ein Toter liege. Nur ganz wenige hatten die bitteren ersten Jahre der Entstehung dieses Projektes überstanden. —

Das Regiment des Zynismus

Stellt man die Frage, ob der Gesichtspunkt der Strafe für begangene oder vermeintliche Verbrechen oder die Ausbeutung der Arbeitskraft die wesentliche Rolle spielt, so ist der Gefangene in der Zeit, wo er im Gefängnis mit allnächtlichen Verhören und Untersuchungen bedrängt wird, geneigt, auch dann, wenn er völlig unschuldig ist, seine Verhaftung von der Seite der Recht-Unrecht-Überlegung her zu sehen. Es wird eine Bewußtseinslage in ihm erzeugt, als ginge es um Schuld oder Unschuld. Je mehr der Gefangene dann eintaucht in den Arbeitseinsatz, dem man ihn zuführt, je mehr er Tausende und Abertausende neben sich leiden sieht, die ebenso unschuldig sind wie er selbst, desto mehr wird ihm deutlich, daß das ganze Gerichtsverfahren nur eine Tarnung ist für ein Rekrutierungsverfahren von Arbeitskraft. So wie die Werber des Dreißigjährigen Krieges ihre Opfer betrunken machten, so wie Friedrich Wilhelm I.seine „langen Kerls“ entführen ließ, so werden hier für die Bedürfnisse der sowjetischen Volkswirtschaft in schwer zugänglichen Gebieten bzw. für die Erstellung von Mammutprojekten, Menschen durch ein Gerichtsverfahren rekrutiert, bei dem ihnen eine Schuld, die sie niemals begangen haben, zudiktiert oder suggeriert wird. In dem Augenblick, wo ein Gefangener das Lagergebiet betritt, ist von seinem tatsächlichen oder angeblichen Verbrechen überhaupt nicht mehr die Rede. Niemand nimmt das mehr ernst, was während der Untersuchung so viel Kopfschmerzen und Gewissenskonflikte verursachte. Hält aber die Schuldfixierung bei dem Gefangenen an, bringt er von sich aus die Rede auf den Grund seiner Verhaftung, so begegnet er bei den Offizieren oder bei den Beamten der sowjetischen Verwaltung eine freundlich-zynisches Grinsen. Sie behandeln ihn freundlich wie der Arzt einer Irrenanstalt den Verrückten, der noch an den Nachwirkungen eines Anfalls leidet. Tatsächlich vergeht auch bei den meisten Gefangenen der Schuld-Unschuld-Komplex im Lager sehr schnell. Er erweist sich sehr bald als ein künstliches Erzeugnis der psychologischen Gehirnwäsche, der er im NKWD-Gefängnis unterzogen wurde. Die meisten Gefangenen werden im Lager wieder sehr schnell normale Menschern und nur ein paar Narren beteuern in Schreiben an Dutzende Instanzen immer wieder von neuem ihre Unschuld. Mit welchem Idealismus ergeben sich in Europa viele Intellektuelle der Idee des Kommunismus. Sobald sie das Land des Kommunismus betreten, sobald sie den Repräsentanten des Kommunismus in die verschmitzten Augen sehen, erkennen sie, daß in diesem Lande nicht der Idealismus regiert, sondern sein äußerster Widersacher, der Zynismus.

Aber wer hat dem Menschen oder einer Gruppe von Menschen das Recht gegeben, andere Menschen zu opfern, zu verbrauchen, in ein Projekt zu investieren und zu verschleißen, und sei es für einen noch so hohen Zweck? Der Christ darf eine solche Frage nur verstehen als die Frage des Versuchers, der Christus auf einen hohen Berg führte und ihm alle Reiche der Welt zeigte und zu ihm sprach: „Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und midi anbetest!“ Der Christ muß wissen, daß ihm dieses Recht nicht nur nicht gegeben, daß es ihm vielmehr ausdrücklich bestritten ist. — Aber auch der Anhänger eines humanistischen Sozialismus kann eine solche Betrachtung niemals zu seiner eigenen machen. Denn wenn es eine Verbindung gibt zwischen christlichem Glauben und dem humanistischen Sozialismus, so liegt sie eben darin, daß Karl Marx bei der Erhellung wirtschaftlicher Vorgänge den Menschen, den geplagten, geschundenen Menschen ins Blickfeld des Nationalökonomen und Soziologen gerückt hat. Wo die klassische Nationalökonomie von abstrakten Vorgängen sprach, wo sie von der „Rentabilität des Kapitals“, von der „Steigerung des Nationaleinkommens“, von „Arbeit“, „Ware“, „Geld“, von „Angebot und Nachfrage“ sprach, sieht Karl Marx in allen Bezügen den Menschen. Da ist nicht Arbeit, sondern die Arbeitskraft des Menschen. Da ist nicht eine Maschine, ein qualifiziertes Werkzeug, welches Arbeit spart und die Produktion steigert, sondern da ist auf der einen Seite eine Besitzer der Maschine und auf der anderen Seite einer, der diese Maschine braucht, um seine Arbeitskraft überhaupt realisieren zu können. Da ist nicht ein abstraktes, sich verzinsendes Kapital, sondern der Zins, den dieses Kapital abwirft, entsteht dadurch, daß der Arbeitgeber mehr produziert, als die Entlohnung seiner Arbeit beträgt. Hinter allen nationalökonomischen Abstraktionen erscheint im humanistischen Sozialismus das Gericht des Menschen. Dieses konsequente Aufspüren des Menschen bzw.der mensch-menschlichen Beziehungen im Vorgang des Wirtschaftens ist das unstreitige Verdienst von Karl Marx. Wie kann da ein sozialistischer Staat das Millionen Menschen aufgezwungene Lebensopfer als einen billigen Preis für eine kulturelle Errungenschaft, wie sie der Weißmeer-oder der Wolga-Don-Kanal zweifellos ist, betrachten?

Auch der Vergleich mit der Französischen Revolution, der von östlicher Seite immer dann herangezogen wird, wenn ihre Streiter sich durch Vorwürfe der Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit bedrängt fühlen, ist nicht stichhaltig. Wo sich das Gewissen bei den Verfechtern von Unmenschlichkeiten einmal meldet, sagen sie etwa: Sehet was verdanken wir doch der Französischen Revolution! Sie hat die Aufklärung gebracht, von deren Errungenschaften wir täglich leben. Sie hat die Freiheit der Wissenschaften gebracht, die wir nicht wieder preisgeben möchten. Sie hat die staatlichen und gesellschaftlichen Lebensformen geschaffen, in denen ganz Europa lebt. Sie hat die Toleranz gebracht, die selbst die Konfessionen nicht mehr vermissen möchten. Aber alle diese Dinge besäßen wir nicht ohne das Blut, das die Revolution vergoß. Alle Scheußlichkeiten und Ungerechtigkeiten, die sie mit sich brachte, fallen historisch gesehen nicht ins Gewicht. Es ist viel gegen diese hochfliegende Argumentation zu sagen. Denn erstens haben die Exzesse der Französischen Revolution in Frankreich den Aufstieg Napoleon Bonapartes und die Kette der Napoleonischen Kriege heraufgerufen. Zweitens haben sie in allen Ländern Europas die Reaktion gestärkt und alle Freunde der Französischen Revolution abgestoßen. Klopstock, Goethe, Herder, Friedrich Schiller, die zum Teil „Ehrenbürger der Französischen Revolution“ waren, wandten sich angewidert von ihr ab. Das entscheidende Gegenargument gegen die östliche Koketterie mit der Französischen Revolution aber ist dies: man kann die bolschewistische Revolution und die Französische Revolution überhaupt nicht miteinander in Vergleich setzen. Die Französische Revolution ist die Erhebung einer revolutionären Klasse. In Rußland war eine solche revolutionäre Klasse nach Lenins eigenen Aussagen gar nicht vorhanden. Sie wird dort von vorneherein ersetzt durch einen Klub von Berufsrevolutionären. Und selbst wenn man mit den notwendigen Einschränkungen die Revolution von 1917 mit der Französischen Revolution noch vergleichen könnte, so ist das schlechthin unmöglich bei dem Vorgang der Hinmordung und Vertreibung der Kulaken, der Aussiedlung und Verpflanzung von ganzen Völkerschaften, der Rekrutierung von Millionen Arbeitern und Bauern durch einen Akt gerichtlicher Verurteilung für angeblich begangene Verbrechen. In allen diesen Fällen handelt es sich nicht um Revolution, sondern um Exekution, die ausgelöst ist durch einen eiskalten obrigkeitlichen Beschluß. Die Französische Revolution vernichtete die Mitglieder einer Klasse, die sich kollektiv gesehen der Unterdrückung des Volkes schuldig gemacht hatte. Das sowjetische Regime vernichtet Bauern, Arbeiter und Soldaten. Wenn die sowjetischen Maßnahmen den Namen der „Revolution“ -verdienen, dann war jede Unterdrückungstat durch einen Tyrannen oder Despoten in der Geschichte eine Revolution.

Denkt man bei den Stimmen, die in den Gedichten laut wurden, auch an die Väter, die Mütter, die Geschwister, die Bräute, die Kinder der Gefangenen, rechnet man auf jeden Zwangsverurteilten in der Sowjetunion vier Menschen, die um ihn trauern und die der Überzeugung sind, daß ihm bitteres Unrecht zugefügt wurde, so käme man bei der Annahme auch von nur 25 Millionen Zwangsverurteilten auf eine Zahl von 100 Millionen Menschen, die allein aus diesem Grunde dem sowjetischen Regime gram sein und es der äußersten Unmenschlichkeit für fähig halten müssen.

Im Laufe der Jahrzehnte hat die Belegschaft der Läger vielmals gewechselt. Immer wieder haben Hunger, Typhus und der Tod infolge körperlicher Entkräftung dezimiert. Nach 1917 bevölkerten die Mitglieder der unter dem Zarentum herrschenden Klasse, Großgrundbesitzer, Kaufleute, Offiziere und Soldaten der weißgardistischen Armee, Geistliche und Mönche, die Gefangenenlager. Von ihnen findet man im Lager heute kaum jemanden mehr, weil sie die Zeitläufte nicht überstanden haben. Mit dem Jahre 1928 ändert sich das Bild. Kulaken und alle diejenigen, die sich in den verschiedenen Stadien gegen die Etappen der Kolchosivierung wehrten, geraten ins Lager. Im Zusammenhang mit den Verfolgungen der Kirche werden Priester und Gläubige und die Angehörigen der verschiedenen Sekten eingesperrt. Nach der Einverleibung Estlands, Lettlands und Litauens strömen Balten in großer Zahl in die Lager. — Bei Beginn des Krieges werden die Volksdeutschen in die große Armee der Zwangsarbeiter eingezogen. Während des Krieges und unmittelbar nach dem Krieg wird diese Arbeitsarmee offenbar durch Hunger und Typhus so stark dezimiert, daß sie neu aufgefüllt werden muß. Es sind deutsche und japanische Kriegsgefangene, Verschleppte aus den besetzten Ländern, eingefangene Emigranten, eigene Soldaten, die während des Krieges in Gefangenschaft gerieten und dafür nochmals mit zwanzig Jahren Zwangsarbeit bestraft werden, es sind Hunderttausende, die mit deutschen Truppen oder deutschen Behörden etwas zu tun hatten, die nochmals bestraft werden, und es sind abermals neue Kontingente von Litauern, Letten, Esten, Finnen. Es sammeln sich ferner in den Lagern jene Hunderttausende, die Hitler zwangsweise zum Arbeitseinsatz nach Deutschland schleppte, die ihre Zwangsarbeit in Deutschland durch eine neue und wahrscheinlich drückendere Zwangsarbeit von fünfzehn oder zwanzig Jahren abbüßen müssen, die ihnen nun nicht der Landesfeind, sondern die Regierung des eigenen Landes auferlegt. Wir sehen, die Bewegungen in den Konzentrationslagern der Sowjetunion sind die unheimliche Spiegelschrift zu den Schriftzeichen, mit denen die Sowjetunion ihre Existenz in das große Buch der Geschichte eingetragen hat.

Ansiedelung der Gefangenen

Nun kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die sowjetische Regierung nach dem Tode Stalins und dem Sturze Berijas zögernde Versuche unternimmt, die Läger aufzulösen. Ich habe diese Versuche noch an Ort und Stelle miterlebt, während der größte Teil der Ausländer bereits abtransportiert war, da die sowjetische Verwaltung Ausländer als Augenzeugen ihrer neuen Maßnahmen nicht wünschte. Eine einfache Auflösung der Läger ist nämlich gar nicht möglich. Die Sowjetwirtschaft ist so angelegt, daß ein großer Teil, ich vermute mindestens 20— 25 Prozent der Gesamtwirtschaft und mindestens 40 Prozent der industriellen Erzeugung, durch die Armee der Arbeitssklaven bestritten wird. Alle Vorhaben in den klimatisch ungünstig gelegenen und zum Teil für menschlichen Aufenthalt kaum geeigneten Gebieten würden zusammenbrechen. Die sowjetische Regierung kann also nur den Versuch machen, die Lage der Zwangsarbeiter zu verbessern, und ihr Bestreben geht dahin, sie in dem Gebiet, in dem sie sich gerade befinden, anzusiedeln. Ende 1953 begann in den Lägern der Abtransport der Ausländer. Sie wurden zunächst nicht in ihre Heimatländer transportiert, sondern in der Nähe Moskaus in Nationalitätenlagern zusammengezogen, um sie im Ernstfall schnell zur Verfügung zu haben und um sie ernährungs-und gesundheitsmäßig zu restaurieren. Außer den Ausländern wurden die russischen Invaliden und Kranken entlassen, ferner diejenigen, die ihre Straftat vor Vollendung ihres achtzehnten Lebensjahres begangen hatten, und schließlich alle diejenigen, welche mehr als zwei Drittel ihrer Strafe abgegolten hatten. Die Verbleibenden wurden aufgefordert, gruppenweise neben ihrer Arbeit Häuser zu bauen, in denen sie frei angesiedelt werden sollten. Der Staat erklärte sich bereit, für solche neu zu errichtenden Häuser großzügige Kredite zu geben. Aber in meinem Lager ging nicht ein einziger Gefangener auf dieses Anerbieten ein, obwohl sich die politischen Offiziere die größte Mühe gaben, durch Versprechungen und durch Druck die Gefangenen zu bewegen. Doch vergebens, das Mißtrauen des normalen Sowjetbürgers gegenüber dem Staat ist so groß, daß kein Versprechen ernst genommen wird. Die Gefangenen waren der Meinung, man wolle sie bewegen, zusätzlich neben ihrer Arbeit Häuser zu bauen, in denen dann andere wohnen würden. Als dieser Versuch restlos gescheitert war, ging die Lagerverwaltung dazu über, die Gefangenen in verschiedene Gruppen zu trennen und diese Gruppen einzeln anzusiedeln. Solche Gefangene, die einen großen Teil der Haft bereits verbüßt hatten, siedelten sie in von anderen Baracken abgetrennten Baracken an und gaben ihnen besondere Freiheiten. Sie gaben ihnen Passierscheine, mit denen sie auf Antrag auf acht oder zehn Stunden das Lager verlassen konnten. Sie erlaubten ihnen, zivile Kleidung auch im Lager zu tragen. Die Baracken selbst wurden geräumiger ange-legt, so daß sie nicht mehr zu zweit oder zu dritt übereinander zu schlafen brauchten. Nun muß man bedenken, daß man Gefangene, jedenfalls russische Gefangene, die viele Jahre im Lager zugebracht haben, nicht einfach in Freiheit setzen kann. Sie können die Freiheit gar nicht mehr ertragen. Jahrelang haben sie kein eigenes Geld in der Tasche gehabt. So müssen sie erst wieder daran gewöhnt werden, mit Geld umzugehen. — Jahrelang haben sie keine Frau gesehen und gesprochen. Nun ist der Erfolg, daß sie zunächst jede Frau, deren sie ansichtig werden, belästigen. Jahrlang war ihnen der Wodka vorenthalten. Nun ist die Wirkung, daß sie nach ihren ersten Urlaubstagen völlig vernehmungsunfähig im Lager wieder eingeliefert werden. Jahrelang haben sie in einer wilden Männerwelt gelebt, in der jeder Meinungsstreit in eine Schlägerei ausartete. Wer kann sich wundern, daß sie auf ihren Ausflügen in die „Freiheit" in wilde Händel gerieten, daß sie einen Wehrlosen elend zusammengeschlagen hatten, oder daß sie selbst zusammengeschlagen auf einer Tragbahre wieder ins Lager gebracht wurden? Die Verwaltung bestrafte jeden, der auf seinem Ausflug etwas Böses angestellt hatte, indem sie ihn wieder, wenigstens für drei oder vier Monate, in das verschärfte Lager zurückversetzte. Wenn dieses Experiment der langsamen Gewöhnung an „die Freiheit“ gelungen ist, so hofft die sowjetische Verwaltung, daß der eine oder der andere Frau und Kinder in das Strafgebiet kommen und sich dort frei ansiedeln läßt, bzw. daß die Jungen mit einer weiblichen Gefangenen oder mit einer Freien eine eheliche Verbindung eingehen.

Die Zugezogenen oder die Kinder, die aus diesen Verbindungen stammen, müssen dann im Laufe der Jahre diejenigen ersetzen, die ihre Strafe abgegolten haben und die in die Heimat zurückkehren dürfen. Die sowjetische Regierung strebt also danach, die Zwangsarbeit durch Zwangsansiedlung zu ersetzen, wobei der Wohnungsmangel große zusätzliche Schwierigkeiten bereitet. Ausgeschlossen sind bisher von allen Erleichterungen politische Gegner und alle Nachkriegspartisanen, die in der Ukraine, in Litauen, Lettland und Estland einen Krieg auf eigene Faust gegen die Rote Armee geführt haben. Die Rückkehr aus dem Strafgebiet in die Heimat scheint für die meisten ausgeschlossen. Da aber schon der Abtransport der vier Gruppen, die ich oben nannte, derer, die als Jugendliche unter achtzehn Jahren ihre Straftat begingen, der Invaliden, der Ausländer und derer, die ihre Strafe nahezu verbüßt hatten, die Einhaltung des Plansolls gefährdet, so mußte für sie Ersatz herbeigeschafft werden. Auch diese Ersetzung der Entlassenen habe ich noch miterlebt. Ab Anfang 19 54 rollten Züge über Züge mit russischen Kriminellen an. Jugendliche, verlottert, zerlumpt, verkommen, mit schrecklichen Greisengesichtern, aber auch Jugendliche, die eine ganz leichte Straftat begangen hatten, stürmten die Lager. Nicht als ob diese Jugendliche alle eine strafbare Handlung begangen hätten, wegen der sie saßen, sondern die meisten von ihnen standen auf Listen. Sie waren seit langer Zeit vorgemerkt. Viele waren nur arbeitsscheue, arbeitsunwillige Drückeberger. Ja, es gab eine ganze Reihe unter ihnen, die durch die Amnestie nach Stalins Tod im Jahre 1952 erst aus dem Lager entlassen worden waren. Aber aus der Liste der NKWD waren sie nicht gestrichen worden. Jetzt, wo man Ersatz brauchte, hatte man sie einfach wieder eingefangen. Genau wie bei den Zivilinternierten, bei den Kriegs-gefangenen, bei den in Deutschland Arbeitsverpflichteten strafte der Staat nicht, weil ein Rechtsgut verletzt war und weil das Gesetz eine Bestrafung forderte, sondern weil er Sklaven brauchte, Ersatz für die, die er aus bestimmten innen-und außenpolitischen Gründen. nicht mehr länger glaubte halten zu können. An der Tatsache, daß Arbeitssklaven rekrutiert werden, an den Methoden, wie rekrutiert wird, hat sich — leider muß ich diese Feststellung treffen — nichts geändert.

Deportationen Krieg gegen das eigene Volk

Nahe verwandt mit dem Leid der Zwangsarbeiter ist das der Massen-deportationen, das der Bolschewismus über das russische Volk gebracht hat.

Wir müssen uns deutlich machen, welchen Inhalt dieses Wort „Massendeportationen“ hat. Wir haben am Schluß des Krieges eine Massen-flucht erlebt, eine Massenauswanderung. Ganze deutsche Stämme, Ostpreußen, Schlesier, Posener und Pommern, haben ihren angestammten Sitz verlassen müssen. Nun, das, was in unserem Vaterland als Folge des Krieges geschehen ist, hat in der Sowjetunion der Staat durch seine eigenen Organe, durch die Truppen der NKWD viele, viele Male ohne Not aus politischen Gründen über ganze Völkerschaften verhängt. Er hat sie, Mann und Frau und Kind, zusammengetrieben, verfrachtet und in Gebiete verschickt, die tausende Kilometer von ihrer angestammten Heimat entfernt sind, und die völlig fremde landschaftliche und klimatische Bedingungen haben. Er hat sie nicht mit der Pfleglichkeit verpflanzt, die ein Gärtner beim Versetzen einer Blume oder eines Strauches übt, sondern diese „Umsiedlung“ trägt den Charakter einer Strafexekution und geschieht mit der bürokratischen Kälte und mit der „revolutionären Härte“, zu der die Machthaber die Werkzeuge einer solchen Exekution in siebenunddreißig Jahren erzogen haben. Die Sowjetunion, die ihrer Verfassung nach angeblich eine freie Vereinigung verschiedener Sowjetrepubliken darstellt, die sich angeblich alle autonom verwalten und deren Freiheit angeblich so groß ist, daß sie — immer der Verfassung nach — jederzeit die Möglichkeit haben, aus dem Verband der Unionsrepubliken auszutreten, können — und das ist gegenüber dem Verfassungsmärchen die Verfassungswirklichkeit — plötzlich durch eine Verordnung des Präsidiums des Obersten Sowjets oder durch einen Beschluß des Ministerrats verschwinden und auf allen Karten der Sowjetunion ausgelöscht werden. Völkerschaften, die die gelehrten Ethnologen in aller Welt kennen, können plötzlich vom Erdboden verschwinden, ihr Name kann aus allen russischen Veröffentlichungen getilgt werden, und irgendwo an einer anderen Stelle des großen russischen Raumes können sie unter einem völlig anderen Namen, der keinem Ethnologen in der Welt bekannt ist, wieder auftauchen. Die Truppen der NKWD aber haben längst eine gewisse Routine in solchen Aktionen erworben, die mitten im Frieden stattfinden, und mit denen keine andere Armee der Welt Erfahrung hat.

Die erste große Deportationswelle, die über die ganze Sowjetunion hinwegging, war die große Deportation der Kulaken und der „kulakisch Gesinnten“. Die vom Zentralkomitee der KPdSU herausgegebene Geschichte der kommunistischen Partei sagt darüber wörtlich:

„Ende 1929 vollzog die Sowjetmacht im Zusammenhang mit dem Wachstum der Kollektivwirtschaften und Sowjetwirtschaften eine schroffe Wendung und ging von dieser Politik ab. Sie ging zur Politik der Liquidierung, zur Politik der Vernichtung des Kulakentums als Klasse über. Sie schaffte die Gesetze über die Bodenpacht und die Lohn-arbeit ab und entzog auf diese Weise dem Kulakentum sowohl den Boden als auch die Lohnarbeiter. Sie hob das Verbot der Kulakenenteignung auf. Sie gestattete den Bauern, das Vieh, die Maschinen und anderes Inventar der Kulaken zugunsten der Kollektivwirtschaften zu konfiszieren. Das Kulakentum wurde expropriiert, wie im Jahre 1918 die Kapitalisten in der Industrie expropriiert worden waren, jedoch mit dem Unterschied, daß in diesem Fall die Produktionsmittel des Kulakentums nicht in die_ Hand des Staates, sondern in die Hand der vereinigten Bauern, in die der Kollektivwirtschaften übergingen. — Das war eine außerordentlidi tiefgreifende Umwälzung, ein Sprung aus einem qualitativen Zustand der Gesellschaft in einen neuen qualitativen Zustand, eine Umwälzung, die in ihren Auswirkungen der revolutionären Umwälzung vom Oktober 1917 gleichkam.“ — Die Frage, wer „diese außerordentlich tiefgreifende Umwälzung“ vollzieht und in wessen Namen sie vollzogen wird, wer eigentlich der Träger des qualitativ neuen Rechtsbewußtseins ist, das eine solche tief-greifende Operation am Leibe eines Volkes rechtfertigen kann, wird von der Geschichte der KPdSU nicht gestellt und nicht beantwortet. Jedes Kind und jedes Bäuerlein aber könnten die Antwort geben, daß es Mächte sind, die dem Volk als fremde, gewaltsame und vergewaltigende Mächte gegenüberstehen, nämlich das Exekutivkomitee der Pseudophilosophen, ein Staat, der das eigene Volk bedrückt, die Rote Armee, die gegen das eigene Volk Krieg führt, und die NKWD, die auf Befehl jener Pseudophilosophen das eigene Volk schlimmer behandelt als den ärgsten Feind. Aber diese sowjetischen Deportationen haben noch einen besonderen Effekt. Als die Juden aus Palästina nach Babylon verbannt wurden, blieb doch der Familienzusammenhang erhalten. Bei den sowjetischen Aktionen werden alle menschlichen und familiären Bande zerschnitten. Entweder wurden die Männer weggetrieben und die Familien blieben da, oder die Familien wurden mit den Familienhäuptern zusammen vertrieben, um zu einem späteren Zeitpunkt doch getrennt zu werden. Meist siedelte man Frauen und Kinder in einer völlig anderen Gegend an als die Männer, die man nach dem Norden oder Osten Sibiriens verfrachtete, um sie auf vereisten Steppen auszusetzen und erfrieren zu lassen, oder in Lagern sperrte, um sie bestimmte Arbeiten verrichten zu lassen. Wenn auch kein Entsetzen und keine Empörung die Liquidierung und Vertreibung von neun Millionen Kulaken und „kulakisch Gesinnten“ aufheben oder rückgängig machen kann, so sind die Schmerzen und Leiden dieser Aktion bis auf den heutigen Tag nicht vergessen. Noch heute leiden die bäuerlichen Menschen der Sowjetunion unter der Zerreißung der Familien, unter der Trennung von Kindern, Frauen, Schwestern, Brüdern, die damals erfolgt ist. Während bei späteren Deportationen eine briefliche Verbindung zum Teil weder zustande gekommen ist, haben sich die Menschen, die im Zeichen der Kulakenliquidierung auseinandergerissen wurden, niemals wiedergefunden.

Verschleppung ganzer Völkerschaften

Die Deportation der Wolgadeutschen beginnt kurz vor Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und der Sowjetunion im Jahre 1939/40. Die Wolgadeutschen hatten nicht nur unter dem Zarismus die schönsten und reichsten Dörfer, sondern auch nach der Kolchosiwierung wurden die deutschen Kolchosen von den sowjetischen Agronomen den Russen immer wieder als Musterkolchosen vorgehalten. „Seht, wie es die Deittschen wachen! Waruw soll bei eudt nicht gehen, was bei den Deutschen geht?“ Nun wurden sie, soweit die Männer nicht in Zwangsarbeitslager gebracht wurden, in die Distrikte von Nowosibirsk und Omsk, nach Altai Krai oder in die verlorenen Steppen der Kasachenrepublik, nahe der mongolischen Grenze, verschleppt. Die Wolgadeutschen, die von Katharina der Großen ins Land ausgenommen worden waren, hatten von ihr besondere Rechte erhalten. Sie lebten in geschlossenen Wohnbezirken, sie durften sich völlig selbst verwalten, hatten eigene Schulen, eigene Kirchen, Bürgermeister, Lehrer, Pastoren. Sie lebten in ihren Dörfern wie in rein deutschen Dörfern in der Heimat und bewahrten die alten Sitten und Gebräuche. Sie waren geistig so völlig in deutscher Kultur eingewurzelt, daß mehr als 75 Prozent von ihnen die russische Sprache überhaupt nicht verstanden. Bis auf den heutigen Tag sprachen sie den Dialekt der Heimat ihrer Vorfahren, schwäbisch, hessisch oder oberfränkisch. Nun wurde mit einem Federstrich ihre ganze Existenz, die sie als deutsche Minderheit führten, vernichtet. Am 28. August 1941 verfügte das Präsidium des Obersten Sowjets den Abtransport der Wolgadeutschen, der vorher schon begonnen hatte. Die Begründung für diese Deportation und Zerstreuung besagte, Zehntausende unter ihnen warteten nur auf den Augenblick, um auf eine Weisung von Berlin hin „die sowjetischen Verteidigungsveranstaltungen zu sabotieren“. Auf diese Beschuldigung hin wurden 500 000 Wolgadeutsche — sie zählten zu Zeiten des Zaren noch 1 Million 500 000 — in den sibirischen Raum und in die Kasachstanischen Steppen zerstreut. Zehntausende aber endeten in der großen Zwangsarbeitsarmee, die über den ganzen gigantischen Raum der Sowjetunion verteilt ist. Den gleichen Weg gingen hunderttausend Menschen aus allen Grenzgebieten, Frontgebieten und den Gebieten, in denen Befestigungen gebaut wurden.

Der schändliche Vertrag zwischen Ribbentrop und Molotow, bei dem Rußland und Nazideutschland sich Polen teilten, bewirkte, daß über eine Million Polen, einzeln oder mit Familie, in den unabsehbaren Weiten der Sowjetunion verloren gingen. Verhaftet wurden alle diejenigen Polen, die sich weigerten, die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen und sich sowjetische Pässe ausstellen zu lassen. Eine Frau Witkowska, deren Fall von der American Federation of Labour den Vereinten Nationen vorgelegt wurde, beschreibt die Verhaftungen: „Die Razzien wurden iwwer bei Nacht durchgeführt. Bei Einbruch der Dunkelheit erschienen NKWD-und Melizabteilungen sowie Soldaten der Roten Armee wit Personen-und Lastkraftwagen in den Straßen. Diese Verbände riegelten ganze Häuserblod^s ab, trieben die Flüchtlinge zusammen und brachten sie direkt zum Bahnhof, wo sdton Viehwagen auf sie warteten. Am 29. Juni 1940 wurde auch ich zusammen mit vierundzwanzig anderen Häftlingen auf so einen Wagen verladen. Es waren Männer, Frauen und Kinder. Die Enge war fürditerlich, und alles starrte in einer unerträglichen Weise von Schmutz. Auf den anderen Wagen aber war es noch schlimmer und noch enger.“

Gleiche Deportationen ereignen sich in Finnisch-Karelien und in Bessarabien.

Ein besonderes hartes Geschick hat die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland betroffen. Auch sie sind ein Opfer -der heimtückiseinen Abmachungen zwischen Ribbentrop und Molotow im Jahre 1939. Unmittelbar nach diesen Verhandlungen verlangte die Sowjetunion militärische Basen und das Recht zur Unterhaltung von Garnisonen auf dem Territorium der baltischen Staaten. Die Regierungen von Riga, Kowno und Talinn glaubten, allein und ohne Hilfe dem mächtigen „Freund“, der so drohend und zähnefletschend einen Freundschaftsdienst von ihnen verlangte, nicht nein sagen zu können.

Nachdem die Sowjets aber erst einmal durch das trojanische Roß eines listigen Vertrages ihre Soldaten in die Randstaaten eingeschleust hatten, fühlten sie schon im Juni 1940 die Sicherheit ihrer Garnisonen bedroht, und die Rote Armee marschierte in Litauen, Lettland und Estland ein. Die Regierungen dieser Länder flohen oder wurden verhaftet, und in allen drei Ländern wurden nach bewährtem Muster in einer Wahl, in der nur eine Partei zur Wahl stand, Regierungen gewählt, die dem Kreml hörig und bequem und deren Mitglieder zum Teil Russen waren, die einen litauischen, estnischen oder lettischen Namen angenommen hatten. Unmittelbar darauf, vom August 1940 bis zum Juni 1941, gehen nach einem genauen strategischen Plan die Deportationen los. Bestimmte Häuserblocks oder ganze Dörfer werden abgeriegelt. NKWD-Miliz dringt in die Häuser. Sie untersuchen zunächst jede Schublade und jede Kiste im ganzen Haus. Dann wird den Hausbewohnern erklärt, sie würden auf Grund eines Regierungserlasses in ein anderes Gebiet der Sowjetunion verschickt werden und müßten sich innerhalb weniger Stunden bereithalten. Es wird ihnen erlaubt, Hausrat im Gesamtgewicht von zwei Zentnern mitzunehmen. Dann werden sie in grauenvoller Enge auf Lastkraftwagen geladen und an bestimmten, vorher festgelegten Punkten zu einer Reise, von der sie niemals wiederkehren und mit einem Ziel, das niemand kennt, verfrachtet. Im Fall der baltischen Deportationen sind den lettischen und litauischen Partisanen eine ganze Reihe von Geheimbefehlen, Einsatzkarten und Anweisungen in die Hand gefallen, die in die Technik der Deportationen genauen Einblick geben. Einer der aufschlußreichsten Geheimbefehle hat folgenden Wortlaut:

„In Anbetracht der Tatsache, daß eine große Zahl von Deportationen in Sonderlägern zusammengefaßt und von dort aus verteilt werden muß, da ferner ihre Familienangehörigen nach Sondersiedlungen in weit entfernten Gebieten weitergeleitet werden, ist es unerläßlich, daß der Abtransport sowohl der Familienangehörigen der Deportierten als auch der Familienoberhäupter selbst gleichzeitig erfolgt, ohne daß die davon Betroffenen von der ihnen bevorstehenden Trennung unterrichtet werden...

Zum Bahnhof ist jedoch die ganze Familie geschlossen abzutransportieren. Erst auf dem Verladebahnhof ist das Familienoberhaupt, von seinen Angehörigen getrennt, in einem eigens für Familienväter bestimmten Waggon unterzubringen. Während der Festnahme der Familie in der Wohnung des Deportierten ist das Familienoberhaupt darauf aufmerksam zu machen, daß persönliche Effekten männlicher Familienmitglieder in einem besonderen Koffer zu verpad^en sind. Als Grund dafür ist anzugeben, daß die Deportierten an einer ärztlichen Untersuchung teilnehmen sollen, bei der die Männer von den Frauen und Kindern getrennt werden.“

Auch die Gnade, die das Altertum den Deportierten gewährte, daß man Familienbande nicht zerriß, wird den Deportierten Sowjetrußlands geraubt.

An der Echtheit dieses Befehls, der im „Bulletin Lithuanien" Nr. 2 vom Juni 1951 abgedruckt ist, kann für die, die in einem russischen Lager waren, kein Zweifel bestehen. Denn wir haben diese Vorgänge aus vielen Erlebnisberichten von Litauern und Letten bestätigt erhalten.

Für die drei baltischen Staaten aber genügten die Deportationen von 1941 nicht. Mit der Zähigkeit ungebrochener Bauemvölker leisteten sie Widerstand. Die Männer und Jungmänner flohen in die Wälder, um der Einziehung zur Roten Armee zu entgehen, und schlossen sich zu soge-nannten „Waldbrüderschaften" zusammen. Die jungen Mädchen versorgten sie mit Essen und Trinken, die Alten gewährten ihnen Unterschlupf in ihren Scheunen, Häusern und Kellern. Die Greise und die Kinder unterhielten den Kurierdienst zwischen den verborgenen „Waldbrüdern“ und den daheim um sie Bangenden. Hier waren also — vom Kinde bis zum Greis, außer einigen Denunzianten — ganze Völker beteiligt am Abwehrkampf gegen ihre Unterdrücker. Die Sowjets antworteten darauf mit der Ausräumung ganzer Dörfer, mit Erschießungen, mit der Zurschaustellung der Erschossenen auf dem Marktplatz an den Tagen, wenn die Frauen zum Markt gingen, und — mit neuen Deportationen.

Im Anschluß an den Krieg finden weitere Verschleppungsaktionen von Karelo-Finnen, Ukrainern und Weißrussen statt. Schon während des Krieges gaben die Sowjets bekannt, daß wegen mangelnder Unterstützung ihrer kriegerischen Aktionen die Krim-Tataren, die Tschetschen und die Inguschen strafweise in andere Teile der UdSSR deportiert worden seien. Im Juni 1946 billigte der Oberste Sowjets die Auflösung dieser drei Sowjetrepubliken, die schon vorher durch das Präsidium des Obersten Sowjets verfügt worden war. Von der Deportation dürften etwa 7 50 000 Krimbewohner betroffen worden sein. Die Tataren tragen diese Auslöschung mit bitterem Groll, zumal in ihnen das Bewußtsein einer großen geschichtlichen Vergangenheit und der Ehrenstellung, die sie in der Zeit des Zarismus innehatten, bis heute lebendig ist. Nach dem Kriege sind außerdem zwei weitere Volksgruppen der UdSSR, die der Kalmücken und der Autonome Oblast (= Distrikt) der Karatschaier ohne Angabe von Gründen aufgelöst und ihre Bewohner deportiert worden. Auch bei ihnen liegen die Gründe wahrscheinlich darin, daß die Bewohner dieser autonomen Republik die Sowjetunion so liebten, daß sie die vorrückenden deutschen Truppen wie Befreier begrüßten.

Eine erschütternde Untergangssage eines tapferen Volkes in unserer Zeit hat die Geschichte geschrieben, ohne daß wir es — beschäftigt mit unseren eigenen Sorgen — bemerkt haben. Ich meine die Geschichte des Unterganges jenes Teiles der Kasachen, die in der autonomen Republik Sinkiang wohnten. Schon ihr Name bezeugt ihre unbändige Freiheitsliebe. Denn das Wort Kasache bedeutet: „Mann ohne Herrn über sich“. Da sie, ein Hirten-und Reitervolk, gefürchtete Bogenschützen waren, haben sie jahrzehntelang, unbekümmert um die Herren, die in Moskau regierten, jeder Eingliederung in das kommunistische System widerstanden. Aber nach ihrem Siege über Deutschland gelüstete es die Sowjets, einen leichten Sieg über die Kasachen davonzutragen. Mit Flugzeugen, Panzern und Geschützen zogen sie gegen dieses Reitervolk aus. Die Kasachen wußten, was ihnen blühte: Straßenbau, Eisenbahnbau, Bauten von Kanälen, Schleusen, Kraftwerken, ein Leben in Zwangs-arbeitslagern, um die zwischen China und der Sowjetunion geplanten Verbindungswege zu schaffen. Aber die Kasachen hatten so wenig Sinn für die Gesichtspunkte einer mondialen Politik des Ostblocks, daß die Häuptlinge sechs Stämme mit ihren Millionenherden an einem Ort zusammenriefen, um Rat zu halten. Es wurde beschlossen, die Sowjetunion zu verlassen und irgendwie, ohne Kompaß und ohne Karte und erst recht ohne geographische Vorstellungen über das Gebiet, das zu durchqueren war, den Weg in die Türkei zu suchen. Da die Kasachen rassemäßig zu den Turkvölkern gehören, glaubten sie, bei den Türken Asyl gewinnen zu können. Verfolgt von Kamelreitertruppen der Roten Armee, aus Bordkanonen von sowjetischen Flugzeugen beschossen, ohne Schutz und Deckung durch die Landschaft, suchten sie zunächst China zu erreichen und wandten sich dann — der leichtere Weg durch sowjetisches Gebiet wurde ihnen durch Sowjettruppen verlegt — durch das Hochland von Tibet nach Kaschmir, wahrscheinlich der abenteuerlichste und furchtbarste Treck, der überhaupt jemals unternommen worden ist. Gipfelhoch hinauf und abgrundtief hinab, tagaus, tagein, Woche für Woche und Monat um Monat. Wir können hier den Verlauf des Trecks nicht im einzelnen beschreiben. Hunger, Mattigkeit, Durst, Sauerstoffmangel infolge der Höhen, die zu durchschreiten waren, Herzschwäche, Schneeblindheit zermürbten sie immer mehr. Es starben auf diesem Treck alle Kinder unter sechzehn Jahren und alle alten Leute.

Es krepierten die Pferde und Rinder, die Kamele und die Schafe. Es starben fast alle Frauen und viele, viele Männer. Von 40 000 Kasachen, die mit dem ersten Treck aufbrachen, kamen in Kaschmir 2000 Männer und einige Frauen an. Von 19 000, die später aufbrachen, konnten nur 400 in Kaschmir mit den Stammesbrüdern ein trauriges Wiedersehen begehen. Aber diese in Sinkiang ansässigen Stämme haben den Untergang einem Leben in Knechtschaft vorgezogen, das sie nicht ertragen zu können meinten.

Man mag aus diesen wenigen Angaben ersehen, w i e frei, w i e souverän und w i e autonom die souveränen Nationen und die autonomen Republiken sind, die zur „Union Sozialistischer Sowjetrepubliken zusammengefaßt sind. Wohin wir in der Sowjetunion schauen, begegnet uns eine Verfassungswirklichkeit, die das geschriebene Verfassungsrecht als abgefeimte Lüge entlarvt.

Heimatverfremdung Infiltration fremder Menschen

Doch vermag man den Sinn dieser gewaltsamen Völkerdeportationen nicht zu verstehen, wenn man nicht ein anderes Leiden hinzunimmt. Es fehlen uns die Erfahrungen, um ohne gründliche Besinnung dieses Leid der Massendeportationen zu ermessen.

Für das Leiden, von dem ich im folgenden sprechen möchte, fehlt uns sogar ein Wort. Ich muß erst suchen, um davon sprechen zu können. Es ist das Leiden der „Heimatverfremdung“, das den sowjetischen Völkern von der Sowjetunion ständig zugefügt wird. Ich muß erklären, was ich damit meine.

Die Heimatverfremdung ist das dialektische Gegenstück zur Deportation. Es ist die systematische Infiltration fremder Menschen, Einrichtungen und Gepflogenheiten in einen volkstumsmäßig bestimmten Raum. Den zur Sowjetunion gehörenden Völkern wird gleichsam ihre eigene Haut abgezogen und eine andere Haut übergestreift. Ganz langsam geht dieser Vorgang vor sich, aber mit mathematischer Genauigkeit. Die einzelnen Etappen sind so genau festgelegt wie für einen routinierten Schuhmacher die Etappen einer Schuhbesohlung.

Die erste Etappe ist die Wahl oder Ausrufung einer kremlhörigen Regierung. Wie das gemacht wird, brauche ich Deutschen nicht zu erklären. Zugleich wird die Autonomie, die Selbständigkeit des Landes innerhalb der Union, aufs stärkste unterstrichen. Die nationale Geschichte des Volkes wird hervorgehoben, seine nationalen Erinnerungsstätten werden gepflegt. Nein, sie sollen beileibe ihre nationale Selbständigkeit nicht aufgeben, sie sollen sie stärken und fördern, aber als ein selbständiges und autonomes Glied mit charakteristischer nationaler Eigenheit sollen sie Glied der „Union Sozialistischer Republiken werden. Um die nationalen Gefühle gar nicht zu verletzen, vermeidet die offizielle Bezeichnung der Sowjetunion die Erwähnung des Wortes „Rußland“ oder des Eigenschaftswortes „russisch“. Die Union soll bei-leibe keine Fusion sein. Formaljuristisch ist die Sowjetunion auch nicht föderativ wie etwa die „föderative deutsche Bundesrepublik“. Denn im Namen der Bundesrepublik steht das Wort „deutsch“ vor und über der Föderation und dem Bundescharakter. Formaljuristisch läßt die sowjetische Verfassung den Republiken viel größere Freiheit und nationale Selbständigkeit. In der ersten Etappe werden diese formaljuristischen Gesichtspunkte stark hervorgekehrt.

Die Union mit dem großen Sowjetvolk beruht auf der Freundschaft, die das Sowjetvolk schon immer allen kleinen Völkern entgegengebracht hat.

In einer zweiten Etappe erfolgt die vorsorgliche Entfernung der Widersacher, die bereit und in der Lage sind, das Volk aufzuklären über das böse Spiel, das mit ihm getrieben wird. Lange zuvor hat die NKWD durch ihre Beauftragten das Gelände sondiert, und lange zuvor steht der Personenkreis fest, der angegriffen und verdächtigt und, wenn nötig, verhaftet und abtransport werden muß. Immer lautet der Grund der Verhaftung, daß die Verhafteten Zwietracht säen wollen zwischen der freien Nation und dem großen sowjetischen Brudervolk. Sie haben Verbindung mit ausländischen Mächten, zielen auf Intervention und Krieg. Sie müssen also um des Friedens und um der Freundschaft willen beseitigt werden. Sehr häufig verschwinden sie auch völlig lautlos.

Die dritte Etappe wird bezeichnet durch die Einführung des russischen Unterrichts in den Schulen. Nun, jeder Vernunftbegabte muß doch einsehen, daß ein Volk, das in einer freundschaftlichen Union mit dem großen Sowjetvolke lebt, gut daran tut, auch seine Sprache zu pflegen. Zudem verschafft die Erlernung einer fremden Sprache einen weiteren Horizont. Sie kann dem Handel und Wandel nur nützlich sein. Und ist es nicht sinnvoller, wenn die Kinder in der Schule die Sprache eines großen und bedeutenden Nachbarvolkes erlernen, als Englisch und Französisch? So beschließen denn alle vernünftigen Menschen bei sich, daß es gut und völlig in der Ordnung ist, wenn neben der Sprache der Nation in der Schule Russisch zum Pflichtfach erhoben wird. Die Gutgläubigen vermögen in diesen drei ersten Etappen noch keine erschreckenden Anzeichen einer Sowjetisierung zu erkennen.

Das ändert sich dann plötzlich in der vierten Etappe. Diese vierte Etappe wird gekennzeichnet durch die Forderung, daß alle entscheidenden administrativen, richterlichen und selbstverständlich auch alle exekutiven Positionen, dazu die Stellung der Lehrer, des Theaterdirektors, des Bürgermeisters, kurz alle Ämter, bei denen die Bevölkerung es mit Institutionen zu tun hat, nur solchen Bürgern des Staates anvertraut werden können, die sowohl die Sprache des Landes wie auch die russische Sprache beherrschen. Man überlege sich, daß mit der Durchführung dieser Maßnahme mehrere Generationen aus dem öffentlichen und politischen Leben des Volkes ausgeschaltet werden. Zugleich achtet man darauf, daß die neuen Amtsträger Mitglieder der KPdSU, mindestens aber Komsomolzen sind. Parteimitglieder und Komsomolzen aber sind auch in der Wahrnehmung von nationalen Belangen nicht mehr frei, da die Kommunistische Partei keine Partei im europäischen Sinne dieses Wortes ist. Sie sind Untergebene, Soldaten einer großen Armee, die zur unbedingten Durchführung eines Parteibefehls oder einer Richtlinie verpflichtet und für ihre Durchführung verantwortlich sind.

Erst die fünfte Etappe aber macht die Sowjetisierung des ganzen Landes, der ganzen Nation, der ganzen „autonomen Republik“ jedermann offensichtlich. Es werden Menschen des eigenen Landes irgendwohin an einen der Brennpunkte des sozialistischen Aufbaus versetzt. Andere werden gewaltsam deportiert. Aber in einem viel breiteren Ausmaß werden russische Familien in das Land eingeschleust. Russische Beamte, Lehrer, Funktionäre, Verwalter, Direktoren besetzen die wichtigsten Kommandoposten des Landes. Dörfer und Städte werden neu besiedelt mit Menschen von weither. Die Kolchosen gebrauchen Agronomen, Techniker, Elektriker, Traktoristen, Kranführer usw., die aus fernen Städten kommen. Neuentstandene Industriezentren ziehen Arbeiter an, die von überall herkommen. Es dauert nicht lange, so erkennt der Einheimische sein eigenes Land nicht wieder. Seine Freunde sind fort. Fremde spielen in seinem Lande die entscheidende Rolle. Die Fremden aber bringen fremde Sitten und Vorstellungen mit. Ihre Sitten und Vorstellungen bestimmen das Klima des Landes.

Verlust der Autonomie

Durch alle fünf Etappen aber wird der Grundsatz durchgeführt, der in Artikel 36 des Parteistatuts formuliert ist: „Das Zentralkomitee lenkt die Arbeit der zentralen Sowjet-und gesellschaftlichen Organisationen durch die in ihnen bestehenden Parteigruppen.“ Überall, wo Entscheidungen fallen, auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, in Schule, Presse, Kultur, Verwaltung, Gerichtsbarkeit. Produktion, Arbeitseinsatz, ist das Zentralkomitee die allgegenwärtige, herrschende bestimmende, fördernde, vernichtende Macht. Gewiß, das Land hat seine eigenen Minister. Aber diese Minister sind Glieder der Partei. Sie werden nicht nur schärfstens überwacht, sondern für jedes Ressort eines Ministers ist ein Mitglied des Zentralkomitees verantwortlich. Vor diesem zittert der Minister. Wo bleibt da die Autonomie des Landes? Sie ist ein schönes Wort, geschrieben auf dem Papier der Verfassung.

Das bedeutet, daß dem Volk, das seinen Anschluß an die „Linien der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ vollzogen hat, alle eigenen Funktionen und die Steuerung dieser Funktionen zunehmend entzogen werden. Es gibt in der Sphäre der Realität kein Bild, an dem man diesen Vorgang deutlich machen könnte. Der Vorgang der Suggestion, bei der der Wille eines Menschen über alle Funktionen eines anderen Menschen verfügt, ist als Bild unbrauchbar, weil in der Suggestion das Bewußtsein und der Wille des Mediums so lange erlischt, wie sich das übergreifende Bewußtsein des Suggerierenden der Herrschaft über das Bewußtsein des Mediums bemächtigt hat. Man müßte zu einem surrealistischen Bilde greifen, um für den Vorgang der bewußten Heimat-verfremdung einen Vergleich zu finden. Es ist so, als erlebte jemand bei wachem Bewußtsein und gleichsam zähneknirschend, wie seine Beine und seine Arme sich langsam in Prothesen verwandeln, wie sein Mund zu einer Apparatur wird, die Reden wiedergibt, die er selbst nicht spricht, und wie sein ganzer Leib nicht mehr ihm, sondern einem anderen gehorcht, der ihn entgegen dem eigenen Willen bedient.

Die Patrioten dieser Länder sind Fremdlinge im eigenen Lande geworden. Sie kennen ihre Städte nicht wieder. Das Recht, das gesprochen wird, ist nicht ihres Volkes Recht, die Gesetze sind nicht ihre Gesetze. Gehen sie zu einer staatlichen oder lokalen Behörde, so begegnen ihnen Fremdlinge. Wo sie die Stimme der Vernunft hören möchten, hören sie die Stimme der Partei. Sie aber verstehen die Sprache der Partei so wenig, wie die Partei ihre Sprache versteht. Das ist die Heimatverfremdung, die die große und mächtige Sowjetunion den Staaten und den Völkern auferlegt hat, die die Absicht hatten, mit ihr in Freundschaft und in Frieden zu leben.

Die Stellung der Sowjetunion zum Nationalismus ist ebenso dialektisch wie die zur Religion. Natürlich ist für den in die letzten Erkenntnisse des dialektischen Materialismus eingeweihten Kommunisten der Nationalismus eine Dummheit. Er ist etwas, was irgendwann in der kommunistischen Gesellschaft völlig überwunden sein wird. Aber noch ist er eine starke Macht. Ja, er ist vielleicht die stärkste Macht, mit der der Kommunismus im Kriege liegt. Darum muß er den Nationalismus dauernd benutzen. Er muß ihn loben, er muß ihm schmeicheln, er muß ihm alle nur denkbaren Ehren beilegen, und er muß — ihn trotzdem unterdrücken. Der Nationalismus der anderen ist wie ein Raubtier, ein unvernünftiges, dummes Raubtier, dem der Dompteur sich freundlich nähert, dem er kleine Näschereien zuwirft, das er streichelt und dem er, während er es streichelt, die Schlinge um den Leib wirft, um es damit zu fesseln. Das Lächeln, mit dem die Sowjetunion den Unionsrepubliken begegnet, heißt? „Autonomie“, „Freiheit“, „Souveränität , „Minderheitenrecht“, harmonische Zusammenfassung im „Sowjet der Nationalitäten“. Die Schlinge, die ihnen um den Leib und alle Glieder gezogen wird, heißt: Alleinherrschaft der KPdSU. Die Stimme der Kasachen, die auf ihrem Wahnsinnstreck zugrunde gegangen sind, stört die Harmonie nicht mehr. Die Kalmücken, die Karatschaier, die Krim-Tataren, die Wolgadeutschen, die Tschetschen und Inguschen sind bereits eingeschmolzen in die sozialistische Gemeinschaft. Ihr Nationalbewußtsein ist bereits untergegangen in der höheren Gemeinschaft. Wenn man auch mit Tücke und Gewalt etwas nachhelfen mußte, so ist doch da schon ein Stückchen des kommunistischen Endziels sichtbar geworden. Peinlicher und vorsichtiger muß man mit den Völkern höherer nationaler Empfindlichkeit umgehen, mit den Armeniern z. B., mit den Ukrainern, den Litauern, Letten und Esten. Diese Völker leiden an dem Vorurteil, ihre eigene nationale Kultur für größer und reicher zu halten als das, was die Russen ihnen bringen. Manchmal passiert auch ein ausgesprochenes Unglück. Es reißt sich eins dieser in der Glut des Nationalismus brennenden Raubtiere im letzten Augenblick wieder los und fletscht die Zähne gegen den Dompteur, der es mit seiner Schlinge doch nur beglücken wollte. Jugoslawien schreitet frei und ungebunden einher und weigert sich, sich wieder einfangen zu lassen. Polen zerreißt die Schlinge, und es zwingt die Sowjetunion, mit seinem Fesselungsversuch wieder von vorn zu beginnen. Ungarn zerreißt in einem wütenden Verzweiflungsausbruch alle Schlingen und faucht den Dompteur gefährlich an. Die Peitsche zwingt es wieder nieder. Auch die Deutschen in Ost-und Westdeutschland wollen sich durch kein noch so gutes Zureden glauben machen lassen, daß bei der sogenannten „Nationalen Front“ die wirklichen nationalen Belange des Volkes am besten aufgehoben seien.

Aber da, wo die Sowjetunion einem Volk ihre Freundschaft einmal aufgedrängt hat, rechnet sie mit langen Zeiten. Sie rechnet auf diejenige Generation, die einmal das Gefühl der Heimatverfremdung nicht mehr kennt, weil die Tradition abgebrochen ist. In allen Nationen der Sowjetunion kann man das zähe Ringen zwischen den klugen Methoden der bewußten Verfremdung einerseits und der Tradition andererseits feststellen, die von den Eltern auf die Kinder und Kindeskinder weitergegeben wird. Wo zur Zähigkeit die Bewußtheit tritt, sind die Völker unüberwindlich.

Die europäischen Völker sehen dieses Leiden der Heimatverfremdung nicht so deutlich, weil sie, mit Ausnahme der osteuropäischen Staaten, den schmerzlichen Verfremdungsprozeß nicht am eigenen Leibe spüren, und weil sie zweitens allzu unwissend die Sowjetunion als eine Einheit betrachten. Es kommt noch hinzu, daß es einen Punkt gibt, der zu dem von mir entworfenen Bild scheinbar nicht recht passen will.

Hat nicht die Sowjetregierung eine wirklich beneidenswerte folkloristische Literatur hervorgebracht, um die gar manches Land sie beneiden könnte? Hat sie nicht versunkene Schätze an Sagas und Märchen wieder ins Bewußtsein des Volkes gehoben? Hat sie nicht beinahe jedem Volk innerhalb ihres weiten Bereiches eine eigene Literatur geschenkt? Kann nicht das Theater und Ballett von Eriwan und, mit Abstand, auch das Theater und die Oper von Kiew mit Theater, Ballett und Oper von Moskau und Leningrad konkurrieren? Werden nicht nationale Tänze, Trachten und Chöre bereitwillig gefördert? Gibt nicht der Moskauer Rundfunk den Liedern und Weisen und der Musik aller Völkerschaften in gerechter Weise Raum, obwohl z. B. afghanische Hirtenmusik für die Ohren der meisten europäischen Russen eine Zumutung darstellt? Gibt es nicht in Moskau und in Kiew und vielleicht auch noch anderswo Minderheitenverlage, die Bücher in den Sprachen der Minderheiten herausbringen? Das alles muß unumwunden zugegeben werden, und doch beweist es nur, wie genau die entscheidenden Stellen abgewogen haben, in welchen Bereich man dem Nationalismus freien Raum geben kann, und wo die Grenze liegt, an welcher der großrussische Nationalismus keinen Spaß mehr versteht. Ich will nicht sagen, daß die Hausmärchen der Gebrüder Grimm oder die Sammlung französischer Märchen durch Perault für die Entwicklung der beiden Länder keine Bedeutung gehabt hätten. Aber alle Folklore ist retrospektiv. Sie blickt in die Vergangenheit. Die sowjetische Kulturpolitik ist klug und großzügig genug, diesen Blick in die Vergangenheit zu erlauben. Ja, sie ermuntert ihn. Doch überall da, wo das Nationalbewußtsein der Völker in die Gegenwart hinein wirken könnte, in der Schule z. B., in der Presse, im Film, in der Verwaltung, in den gesellschaftlichen Organisationen, muß ihm der Hals umgedreht werden. Der Stolz auf eine reiche kulturelle Vergangenheit, der Blick auf alte Sagas, Märchen, Lieder des Volkes, auf alte Schwert-und Hochzeitstänze macht den Patrioten die sich vor ihren Augen vollziehende, zunehmende Verfremdung ihrer Heimat nur schmerzlicher.

Rechtlosigkeit Die Quelle allen Leidens

Das quälende Leid, welches das russische Volk zu ertragen hat, das Leid, in dem alle anderen Leiden ihren Ursprung haben, ist die Rechtlosigkeit, der die Söhne dieses Volkes preisgegeben sind.

Ich will mir hier die Dinge nicht leicht machen. Ich will meine Darlegungen nicht auf den Erfahrungen aufbauen, die der deutsche Landser oder der Zivilinternierte mit der russischen Justiz machte. Denn er hat die russische Justitia nur als eine abgefeimte und ehrlose Hure kennen-gelernt. Die Erfahrungen des Landsers und des Zivilinternierten hat Gollwitzer in seinem Erlebnisbuch „Und führen, wohin Du nicht willst“, am präzisesten mit den Worten getroffen: „Merkwürdig war mir, daß man überhaupt noch nach Vorwänden für die Verurteilung suchte. Hätte man abgezählt und jeden fünften über die Klinge springen lassen, so wäre der Effekt für die Gerechtigkeit derselbe gewesen.“ — Um als Kriegsverbrecher verurteilt zu werden, brauchte nicht ein bestimmter Tatbestand erfüllt zu sein. Wenn jemand einmal Stadtkommandant gewesen war, so konnte er sein Amt wie ein Engel vom Himmel geführt haben, die Tatsache, daß er Stadtkommandant war, genügte, um ihn zum „Kriegsverbrecher“ zu machen. — Wenn jemand während des Krieges einmal eine Brücke oder eine Eisenbahnlinie gesprengt hatte oder auch völlig passiv bei einer solchen Sprengung zugegen gewesen war, so brauchte es keines weiteren Tatbestandes, er war „Kriegsverbrecher“. Wenn jemand als Landser irgendwann ein Gefangenenlager bewacht oder an einer Partisanenbekämpfung teilgenommen hatte, ja selbst wenn er Schuhmacher oder Koch in einer Einheit war, die an der Partisanenbekämpfung teilgenommen hatte, so war er „Kriegsverbrecher“. Da wurden LIrteile zu zwanzig und fünfundzwanzig Jahren vollautomatisch in Serienherstellung gefällt.

Aber auch da, wo, wie in meinem Falle, die LIntersuchung neun Monate dauerte, ja, wo sie wie bei anderen Kameraden ein oder zwei Jahre dauerte, ist die Dauer des Verfahrens kein Beweis für die Gründlichkeit in der Tatbestandserforschung, sondern die politische Polizei (NKWD) hat die Aufgabe, aus jedem Menschen das an Wissen und Erinnerung herauszuholen, was in ihm ist. Für die NKWD, heute MWD, hat die Welt einen einzigen großen Fehler, nämlich den, daß man die Gedanken eines Menschen nicht sehen kann. Die Tatsache, daß der Mensch Geheimnisse haben und unter Umständen lange, in manchen Fällen für immer, bewahren kann, das ist für die politische Polizei der Sowjetunion ein katastrophaler Konstruktionsfehler der menschlichen Natur, den wettzumachen die politische Polizei die Aufgabe hat. Alle psychologischen Untersuchungsmethoden, alle Methoden der Belohnung und Bestrafung, alle Methoden der Folterung kreisen um dieses Problem: „Wie kann man einen-Menschen zum Sprechen bringen, und wie kann man erreichen, daß er das sagt, was er weiß?“ So wird also der Mensch, der möglicherweise etwas weiß, was die NKWD wissen möchte, verhört, künstlich ermüdet, übermüdet, gelobt, beschimpft, entehrt, geschlagen und völlig entkleidet tagelang, wochenlang in Kellern dem Frost und einem künstlich erzeugten Zugwind ausgesetzt. Er wird geblendet, der körperlichen Entspannung künstlich beraubt, in Fesseln geschlagen, grellstem Licht ausgesetzt, in Dunkelzellen aufbewahrt und immer wieder herausgeholt, verhört, verhört und wieder verhört. Er soll das letzte Wissen, das in seiner Gehirnschale aufbewahrt ist, auskramen. Ein Kamerad, mit dem ich im Gefängnis zusammen war, der Wochen und Monate hindurch von dazu angestellten Schlägern geschlagen worden war, zog eines Tages aus seinem Strohsack eine ausgedroschene Ähre. Die nahm er beim nächsten Verhör mit und legte sie seinem Untersuchungsführer auf den Schreibtisch. „Was ist das?“ fuhr der ihn an. Der Gefangene antwortete darauf: „Sehen Sie, diese Ähre ist leer. Kein Bauer würde sie nod'i weiter dreschen. Ich bin genauso leer wie diese Ähre. Ich kann nichts wehr sagen. Wenn Sie Verstand haben, so viel wie ein Bauer, so lassen Sie wich nicht wehr dreschen!“ In diesem Falle erkannte der Untersuchungsführer, daß er an seine Grenze gekommen war. In zahllosen Fällen aber drängt der Untersuchungsführer den Gefangenen weiter und weiter. Wie ein Schrecken, der niemals aufhören wird, erscheinen dem Gefangenen die Torturen. Der Untersuchungsführer wird vom Rausch seiner psychologischen Offensive so hingerissen, daß er immer weiter in den Angeklagten dringt. Und dieser sagt Dinge, die mit der Wahrheit überhaupt nichts mehr zu tun haben. Er beschuldigt sich selbst Taten, die er niemals getan hat, nur um bald, recht bald an das Ende der Torturen zu kommen. Die NKWD aber erreicht bei einer solchen Behandlung zweierlei. Sie erleuchtet erstens den für sie verhangenen Raum dessen, was hinter der Stirn eines Menschen vor sich geht, und zweitens erhellt sie den für sie verhangenen gesellschaftlichen Raum, in dem dieser Mensch lebte. Sie lernt seine Freunde, seine Verwandten, seine Braut, seinen Arbeitgeber, seine Arbeitskollegen kennen. Sie erfährt, wie er seinen Geburtstag gefeiert hat, wer bei seiner Geburtstagsfeier anwesend war, worüber bei dieser Geburtstagsfeier gesprochen wurde. Sie lernt alle seine gesellschaftlichen Verbindungen zum Kegelklub, zum Fußballverein, zum Kränzchen, in welches seine Frau geht, und damit das Gespinst dieser gesellschaftlichen Verbindungen selbst kennen.

So wie ein Historiker, um eine bestimmte Zeit zu erhellen, Bücher wälzt, Chroniken studiert, Pandekten liest, in alten, verstaubten Akten gräbt, Kirchenregister, Kassenregister, Grabregister durchforscht, so gräbt, wühlt, bohrt und liest ein Untersuchungsführer der NKWD in Menschen. Alle politischen Vorgänge in der Umwelt eines Menschen, vor allem aber eines politischen Menschen, will er erforschen. Die Bestrafung des Angeklagten X — an seiner Stelle könnte ebensogut der Angeklagte Y oder Z stehen —, ist für den Untersuchungsführer und für die NKWD nur ein Nebenergebnis, gleichsam ein Abfallprodukt der politischen Umwelterforschung, die die NKWD berufsmäßig betreibt.

Alles ist Mittel zum Zw eck

Aber steht es mit dem Straf-und Zivilrecht besser als mit dem Recht, das durch die NKWD-Organe gesprochen wird? Doch der Begriff des Rechtes hat in der sowjetischen Theorie und in der sowjetischen Praxis gar keinen materiellen Gehalt. Nach der bolschewistischen Rechts-philosophie ist das Recht ein „Werkzeug in den Händen des arbeitenden Volkes“, eine „Waffe zur Festigung der Diktatur des Proletariats“. Da, wo die Bourgeoisie das Recht handhabt, ist es in ihrer Hand ein „Mittel zur Unterdrückung des Proletariats“. Es soll hier nicht die historische Frage gestellt werden, ob nicht die herrschende Klasse je-und dann tatsächlich das Recht als Werkzeug der Unterdrückung gebraucht hat. Das ist ganz gewiß der Fall. Es geht uns aber nicht um die historische Frage, sondern um die Frage, was Recht eigentlich ist. Nach der maxistischen Definition ist das Recht sowohl als bürgerliches wie als revolutionäres Gesetz eine Funktion der Macht, im einen Fall eine Funktion der Macht des Bürgertums, im anderen eine Funktion der Macht des Proletariats. Der Machthaber rechtfertigt sich selbst und seine Macht durch das Recht. Diese Definition des Rechtes ist nicht genuin marxistisch, sondern sie begegnet uns als Erklärung des Rechts auf der ganzen Linie des bürgerlichen Rechtspositivismus. Karl Marx hat sie nur übernommen. Jedenfall hat im Sowjetstaat das Recht keine eigene Wertsubstanz, keine unantastbare Würde, keinen eigenen Raum neben und oberhalb der Macht. Es ist ein reines Mittel zur Erreichung eines politischen Zwecks geworden. Es braucht uns darum nicht zu verwundern, daß sich in der Sowjetunion das Recht nach den Direktiven der Kommunistischen Partei zu richten hat. Wyschinsky, der viele Jahre lang Generalstaatsanwalt der Sowjetunion war, erklärt in einer Schrift über „Revolutionäre Gesetzlichkeit“: „Widersprüche iw Gesetz wüssen durch Unterordnung des forwalen Rechts unter die Parteipolitik gelöst werden.“

Die Politik bekommt also ihre Wertmaßstäbe nicht aus dem Bereich des Rechts, sondern das Recht bezieht seine Wertmaßstäbe vom Zentralkomitee der Partei. Das Strafgesetzbuch der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik enthält 91 Paragraphen, die sich mit Verbrechen gegen den Staat, 25, die sich mit Verbrechen gegen den Menschen, und 16 Paragraphen, die sich mit Verbrechen gegen das Vermögen befassen. Dabei fällt auf, daß die Verbrechen gegen den Menschen und gegen das Vermögen relativ billig sind. Bei Verbrechen gegen den Staat werden die höchsten Strafen, fünfundzwanzigmal die allerhöchste des Erschießens angedroht. Politische Gesichtspunkte begegnen uns weiter darin, daß vor dem sowjetischen Recht nicht jedermann gleich ist. Nun gibt es zwar kein Gesetz der Welt, vor welchem schematisch jedermann gleich ist. In jedem Gesetz der Welt wird eine Straftat, die von Kindern begangen wurde, anders behandelt als dieselbe T t, wenn sie von einem Erwachsenen begangen wurde. In jedem Gesetz der Welt wird in der Zusprechung der Verantwortlichkeit ein Unterschied gemacht, je nachdem eine Tat durch einen Wahnsinnigen oder einen normal verantwortlichen Menschen begangen wurde. Auch die Haltung des Rechtsbrechers macht einen Unterschied. Ein Überzeugungsverbrechen, das aus einer edlen Gesinnung und in einer edlen Absicht begangen wurde, wird vom Gesetz anders beurteilt als ein Verbrechen, das aus gemeinen Motiven begangen wurde. Aber alle diese Aufhebungen der schematischen „Gleichheit vor dem Gesetz“ sind in der Natur des Menschen und in dem Grad seiner Verantwortlichkeit begründet. In der sowjetischen Rechtsprechung wird die Aufhebung der „Gleichheit vor dem Gesetz“ politisch begründet. Angehörig: der Bourgeoisie werden für strafbare Handlungen härter bestraft als Angehörige der werktätigen Schichten. Anhänger des kommunistischen Systems können auf größere Milde der Richter rechnen als solche, die es nicht sind. Es ist auch nicht Mord gleich Mord und nicht Diebstahl gleich Diebstahl. Der Mord an einem Polizisten, an einem Parteifunktionär oder einem Beamten des Staates ist ein politisches Verbrechen, das mit der höchsten Strafe nach der Todesstrafe geahndet wird, mit fünfundzwangzig Jahren Zwangsarbeit. Der Mord an einem harmlosen Bürger kostet dagegen nur zwei Jahre. — Der Einbruch bei einem Privatmann ist eine harmlose Tat und erhält nur eine harmlose Strafe, wenn dagegen ein Junge auf einer Kolchose einige Kartoffeln stiehlt, oder wenn ein Arbeiter in einer Zuckerfabrik Zucker mit nach Hause nimmt, weil in den Magazinen keiner zu bekommen ist, so ist das ein politisches Verbrechen und wird mit einer Strafe nicht unter sieben Jahren (meistens zehn Jahre) bestraft.

Ein deutscher, französischer oder englischer Jurist wird mit den meisten Strafbestimmungen, denen er im sowjetischen Recht begegnet, gar nichts anzufangen wissen, weil er an die konkrete Definition eines Tatbestandes gewöhnt ist. Das positive Recht soll dem Richter keine Handhabe bieten, einen Angeklagten auf einen Verdacht oder auf eine allgemeine Eigenschaft hin zu bestrafen. Darum verlangt das Gesetz, daß eine Strafe nur dann ausgesprochen werden kann, wenn ein bestimmter, genau fixierter Gesetzestatbestand erfüllt ist. Das sowjetische Recht ist an solche Grundsätze nicht gebunden. Es bestraft in unzähligen Fällen nicht strafbare Handlungen, die in genauen Definitionen gefaßt sind, sondern es bestraft vage und verschwommen angedeutete Verhaltensweisen. So spricht es beispielsweise von „allgemeiner Schuld gegen die sozialistische Gesellschaft", von der „sozialen Gefährlichkeit eines Menschen, von „konterrevolutionärer Tätigkeit und Gesinnnug oder von „Verbrechen gegen die Verwaltungsordnung . Man kann sich leicht vorstellen, daß solche vagen und abstrakten Formulierungen jeder Willkür Tür und Tor öffnen. Je weniger scharf fixiert der Tatbestand einer strafbaren Handlung ist, desto mehr wird der Richter zum Deuter und zum psychologischen Interpreten. Die Beleidigung eines Direktors oder seiner Frau kann auf diese Weise zu einem konterrevolutionären Akt werden. Der einfache Mann in der Sowjetunion spricht von den Gummiparagraphen des Gesetzeskodex, in die man alles hineinstecken kann. Nun hat im Jahre 1954 ein sowjetischer Staatsrechtslehrer namens Piontkowskij in einer Arbeit über „Die Festigung der revolutionären Gesetzlichkeit und Grundfragen der Lehre vom Tatbestand“ die Meinung dargetan, daß es keinen anderen Strafgrund als den Tatbestand geben dürfe. Die Bestimmung der „sozialen Gefährlichkeit“ könne die Lehre vom Tatbestand nicht ersetzen. — Wenn man die Zeiträume kennt, die in der Sowjetunion eine juristische Erkenntnis bis zur Kodifizierung braucht, dann wird man sich denken können, wie lange diese kühne Entdeckung, daß der Tatbestand Grundlage eines Urteils sein muß, brauchen wird, bis sie geltendes und praktiziertes Recht sein wird. In den Lägern sitzen Millionen russischer Menschen, die alt und grau darüber geworden sind, daß sie vom 1. Mai zum Gedenktag der Oktoberrevolution und vom Gedenktag der Oktoberrevolution wieder zum nächsten 1. Mai von Jahr zu Jahr auf den neuen Kodex warten, von dem seit über zwölf Jahren in der Sowjetunion die Rede ist, der dem russischen Volke immer wieder versprochen wurde und der auch von der Regierung, die nach Stalins Tod die Macht übernahm, in ihrer ersten Verlautbarung versprochen wurde, ohne daß dieses Versprechen bis heute eingelöst worden wäre. Die meisten Gefangenen sind davon überzeugt, daß sie über dem Warten auf den „neuen Kodex“ sterben werden.

Übrigens bezeichnet Wyschinsky das sowjetische Gesetz nicht als Recht. Die Sowjets sprechen durchgängig von der „sozialistischen“ oder von der „revolutionären Gesetzlichkeit“, um nicht die Meinung aufkommen zu lassen, daß sie diese Gesetzlichkeit für „Recht“ hielten.

Was aber ist nach sowjetischer Auffassung inhaltliches Recht? Nun, darüber kann auch der Generalstaatsanwalt der Sowjetunion, Wyschinsky, keine Auskunft geben. Was Recht ist, erfahren wir erst am Nimmerleinstag. In seinem Buch über „Das Recht des Sowjetstaates“

vertröstet Wyschinsky uns, daß die Herrschaft des Rechtes erst in der höchsten Phase des Kommunismus möglich sei. Bis dahin gibt es nur Gesetze, Gesetze aber haben nichts mit dem Recht zu tun. Sie sind nach einem Worte Lenins „Anweisungen an die Massen zum Handeln“. Auch die Schauprozesse Wyschinskys haben nichts mit Recht zu tun. Sie sind ein „Akt revolutionären Handelns“, weiter nichts. Der europäische juristische Positivismus aber möge die Schauprozesse Wyschinkys und alle Urteile der NKWD als ein Menetekel betrachten. So weit kann es kommen, nein, so weit muß es kommen, wenn positives Recht nichts anderes als eine Funktion staatlicher Macht ist, wenn geltendes Recht nichts anderes als staatliche Satzung darstellt. Lenin und Wyschinskys Rechtstheorie ist nichts als ein Rechtspositivismus, bei dem die recht-setzende Gewalt theoretisch „Die Diktatur des Proletariats“, in Wahrheit das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei ist.

Wir sagten, das ärgste Leiden des sowjetischen Volkes sei die Rechtlosigkeit. Rechtlosigkeit als einen rechtfreien Raum aber kann es nicht geben, weil da, wo das Recht nicht ist, das Unrecht sich mit ungeheurer Wucht in den rechtfreien Raum ergießt. Der Mensch ist nicht von Natur gut. Wäre er es, so brauchte menschliches Zusammenleben keine Gesetze.

Sondern die Natur des Menschen heißt ihn, seinen Vorteil wahrzunehmen, und wo er in der Wahrnehmung seiner Interessen in Kollission mit den Interessen eines anderen gerät, stößt ihn seine Natur, seinen Vorteil auf Kosten des anderen wahrzunehmen. Sie stößt ihn, das Recht des anderen zu schmälern oder gar aufzuzehren. Darum entsteht Recht nur da, wo das Unrecht verjagt wird. Recht entsteht und bewahrt sich nur im Kampf gegen das Unrecht. Wo eine Generation einmal einen unangefochtenen Rechtszustand genießt, genießt sie ihn dadurch, daß eine andere Generation ihn erkämpft und erstritten hat. Die Justitia ist eine kämpferische Gottheit. Nur wo ihr Schwert das Unrecht verjagt hat, kann sie die Waage der Gerechtigkeit gebrauchen. Und überall da, wo ihr Arm und ihr Blick nicht hinreicht, nistet sich das Unrecht ein.

Der deutsche Rechtspositivismus, vor allem der große deutsche Rechts-gelehrte Rudolf von Ihering, hat diese Bedeutung der Macht und des Kampfes für das Recht unübersehbar gegenüber der sogenannten „romantischen Schule“ herausgestellt. Aber es ist etwas anderes, die instrumentale Bedeutung der Macht für das Recht herauszustellen oder das Recht zu einer Funktion der Macht herabzuwürdigen.

Der Satz, in der Sowjetunion herrsche Rechtlosigkeit, meint also nicht nur, das Recht sei abwesend, sondern er will besagen, es herrsche dort Unrecht, Gewalt und Willkür. Das Wort: „Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit!“ gilt auch für die Sowjetunion. Selbst da, wo die besten Anordnungen und Rechtsgrundsätze bestehen, die der Europäer mit einer gewissen Beruhigung, daß es doch nun wohl besser sei oder doch allmählich besser werde in der Sowjetrepublik, am Frühstückstisch lesen kann, herrscht in der Wirklichkeit der Sowjetunion weiter das alte Unrecht, Da alle Rechtsanordnungen ja nur auf bürokratischem Wege erzeugt, fixiert und von Instanz zu Instanz weitergegeben werden, da sie niemals vom Volke gefordert und ihre Durchführung nicht kontrolliert werden kann, nimmt die unterste Instanz, die an der Front des Geschehens steht, diese Anordnungen zur Kenntnis oder wirft sie in den Papierkorb oder führt sie halb oder zu einem anderen ihr genehmen Bruchteil durch. Darum ist in der Sowjetunion ständig ein Heer von Kommissionen, von Kontrolleuren, Inspizienten usw. unterwegs. Die Behörden nehmen einen so großen Teil des Personenverkehrs in Anspruch, daß die Fahrkarten auf der Eisenbahn für bestimmte Strecken auf Wochen hinaus ausverkauft sind. Und doch sind die ausverkauften Züge in Wirklichkeit fast leer. Die Plätze sind nach einem russischen Ausdruck „verpanzert“ oder „vermauert“. Das heißt, sie sind von den Behörden für alle Fälle belegt, nicht weil sie gebraucht werden, sondern weil sie gebraucht werden könnten.

Muß man aber an dieser Stelle nicht die Frage des Cassius in Shakespeares „Julius Cäsar“ stellen:

,, Warum denn wäre Cäsar eiu Tyrann?

Der arme Mann! — Ich weiß, er wär kein Wolf, Wenn er midi säh’, die Römer sind nur Schafe, Er wär kein Leu, wenn sie nicht Rehe wären!“

Bringt ein Volk die Regierung hervor, die es hat? Erzeugt ein Herrscher das Volk, dem er befiehlt? Es liegt eine Wechselwirkung vor, die in Rußland ein jahrhundertealtes Gefälle hat. Das Volk ist durch Jahrhunderte hindurch gewohnt, in einem Unrechtszustand zu leben, und auf jeden Europäer, der nicht gerade in Moskau oder Leningrad, sondern in der Weite des russischen Gebietes leben muß, färbt die russische Art, sich zu den Dingen zu verhalten, in kurzer Zeit ab. Auch für ihn wird der Unrechtszustand sehr schnell zur Gewohnheit. Als die Deutschen als Kriegsgefangene oder als bestrafte „Spione“ in die Sowjetunion kamen, hatten sie zunächst einen kräftigen und vitalen Willen, sich kein Unrecht bieten zu lassen. Bei vielen war dieser Wille allerdings schon durch die Untersuchungshaft und durch die Erfahrung unschuldiger Verurteilung und Bestrafung geknickt. Doch immerhin, es lag in ihrer Art, gegen offensichtliches Unrecht aufzubegehren, zu opponieren, zu protestieren, zu dieser oder jener Verwaltungsstelle zu laufen und sich zu beschweren. Sie hörten nicht auf die Russen, Letten oder Litauer, die ihnen sagten: „Laß das! Es hat keinen Zweck!“ Aber sie machten dann selbst die Erfahrung, daß man sie mit einem Lächeln oder mit einer dummen Antwort oder mit einer Lüge oder mit einem nichtssagenden Versprechen, es würde bald besser werden, abspeiste. Sie konnten aber auch erleben, daß sie sich die Feindschaft eines mächtigen Desertniks oder Natschalniks zuzogen und daß sie sehr bald schwere Nachteile von ihrer Beschwerde hatten. Bei näherer Beobachtung erkannten sie auch den Grund, warum keine Beschwerde Erfolg haben kann. Alle Vorgesetzten sind nämlich sehr häufig durch ein gemeinsames Interesse am Bestehen gewisser Unrechtszustände interessiert. Sie sind infolgedessen miteinander verquickt und verfilzt. Sie verschaffen sich kleinere und größere Vorteile auf Kosten des Arbeiters oder auch auf Kosten des Staates und decken sich gegenseitig. Jeder Russe weiß das. Jeder hat es tausendmal an sich und anderen erlebt. Beschwert sich jemand schriftlich und findet er in dem komplizierten bürokratischen Wolkenkratzer zufällig die richtige Tür, so bekommt er von dieser Stelle nie eine persönliche Antwort, sondern die Stelle, die die Beschwerde empfangen hat, regelt die Angelegenheit mit der Stelle, von der jemand Unrecht zugefügt worden ist. Ja, sehr häufig übergibt das Ministerium Klagen gegen Vorgesetzte zur Behandlung eben diesen Vorgesetzten. Um diese Unsitte zu kennzeichnen, brachte das sowjetische Witzblatt „Krokodil einmal eine sehr gute Karikatur. Sie stellt einen überdimensionalen Kater dar, der auf einem Bürostuhl sitzt. Eine Beschwerde liegt unter seinen Pranken auf dem Schreibtisch. Vor ihm sitzt auf der Schreibtisch-platte ein kleines, mageres, vor Angst zusammengesunkenes und zitterndes Mäuschen und verbeugt sich tief. Der Kater blitzt und funkelt es aus zorngrünen Augen an: „Das Ministerium hat mich beauftragt, Ihre gegen mich gerichtete Beschwerde zu prüfen. Was haben Sie also zu Ihrer Reclttfertigung vorzubringen?“ — Man kann also das Cassiuswort aus Shakespeares „Julius Cäsar“ auf die sowjetische Situation nicht übertragen. Die modernen Diktaturen tragen einen, mit keiner personalen Diktatur vergleichbaren, eigenen Charakter. Die Russen sind keine Schafe und Rehe. Aber — sie sind müde. Durch das ständige Leben in einem Unrechtszustand, an dem alle, groß und klein, oben und unten, Minister und Generalprokuratoren, die Natschalniks und die Buchhalter auf den Kontoren, beteiligt sind, entsteht eine gefährliche Rechtslethargie.

Das Recht eines Staates, auch darauf hat Rudolf von Ihering immer wieder hingewiesen, wird nicht durch den Gesetzgeber, durch die Richter, Reichsgerichtsräte und Staatsanwälte gesichert, sondern vor allem auch durch den Bürger, der „sein Recht sucht“. Nur wo ein Bürger lebt, der „sein Recht sucht“, kann es Richter geben, die es „finden". Michael Kohlhaas mit seinem unbändigen heißen Rechtsverlangen ist für einen Rechtsstaat ebenso notwendig wie weise und gerechte Richter. Aber Michael Kohlhaas kann in der Sowjetunion nicht leben. Die Mächtigkeit und die Massenhaftigkeit des Unrechts ist so groß, daß sie den Recht heischenden Willen ermüdet. Auch die Deutschen, die Rumänen, die Franzosen und Ungarn litten nach ein, zwei Jahren an der gleichen Rechtslethargie wie die eingeborenen Sowjetbürger. Auch sie griffen zu dem russischen Generalrezept: „Nitschewo!"

Furcht Nirgends eine Zuflucht

Man bedenke weiter, wie der Pegelstand der Rechtlosigkeit im Bewußtsein der Menschen steigen muß, wenn es in der Sowjetunion eine Macht gibt, die über und außerhalb aller Gesetze, die über und außerhalb jeder menschlichen und juristischen Verantwortung steht. Eine Macht, der gegenüber es keine Beschwerde, keinen Appell, keinen Protest,'keine Kritik gibt. Eine Macht, vor deren unheimlicher Drohung man zu keiner anderen Macht fliehen kann. Keine Bitte, keine Erklärung, kein noch so gellender Hilfeschrei hilft gegen sie. Eine Macht, so mächtig und unbeeinflußbar, daß es wohl oft geschehen mag, daß die Gläubigen an der Macht und an der Väterlichkeit Gottes zweifeln, weil es vor dieser Macht keine Zuflucht zu geben scheint, und auch kein Gebet, keinen Hilferuf, der zum Himmel schreit, Gott zum Eingreifen veranlaßt. Eine Macht, für die Verbrechen keine Verbrechen sind, für die die Lüge ein Dienst an der Wahrheit, der Mord ein Dienst an der Menschheit, die Ausmerzung eines Volkes eine Notwendigkeit der Geschichte, der Raub der Freiheit eine Stufe zur wahren Freiheit, die Barbarei ein Werkzeug zur höchsten Vollkommenheit der Kultur ist, eine Macht, für die alle natürlichen Bindungen, Heimatliebe, Elternliebe, Familienzusammenhalt, Liebe, Freundschaft gefährliche Imponderabilien des alten Adam sind, die man vernichten und zerreißen muß.

Eine solche Macht könne es nicht geben, meinen Sie? Diese Macht ist die sowjetische Geheimpolizei, die sich nacheinander Tscheka, GPU, NKWD, MWD und MGB genannt hat. Das russische Volk hat sie immer mit ihrem ersten Namen „Tscheka“ genannt, und für den einfachen Menschen sind ihre nach Hunderttausenden zählenden Gehilfen „Tschekisten". Die Namensänderungen betrachtet das Volk nicht anders, als wenn uns derselbe Schuft heute in einen dunklen und morgen in einem blauen oder mausgrauen Anzug begegnete.

Die heute MGB genannte Truppe ist eine Polizei, aber sie ist zugleich eine Armee mit eigenen Verbänden, mit Artillerie, Infanterie, mit eigener Panzer-und Luftwaffe. Und sie ist zugleich das größte Wirtschaftsunternehmen der Sowjetunion mit eigenen Fabriken, eigenen Bergwerken, Brennereien, eigenen Lagern und Depots. Sie besitzt ihre eigenen Transportkolonnen, Kräne, Maschinenparks, Lokomotiven, Güterzüge, Spezialwagen. Sie besitzt Schulen zur Schulung ihres Nachwuchses. Bibliotheken, Sanatorien, Krankenhäuser, Bäder, Kurorte. Die SS Himmlers war erst die ersten Schritte gegangen auf dem Wege, den die namenreiche sowjetische Geheimpolizei zurückgelegt hat.

Ist sie etwas neben der Kommunistischen Partei? Man hat Berija und seiner Umgebung vorgeworfen, daß sich unter-seinem Einfluß die MWD über die Partei und über die staatlichen Organe erhoben habe. Man hat nach dem Sturze Berijas diese Entwicklung rückgängig zu machen versucht. Man hat den Einfluß der MWD auf das Innenministerium und Justizministerium beschränkt. Man hat der politischen Polizei einen großen Teil ihrer wirtschaftlichen Mächtigkeit genommen. Aber man hat sie nicht aufgelöst. Die politische Polizei gehört zum Wesen des kommunistischen Staates. Wenn das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei das Gehirn des Sowjetstaates darstellt, so ist die MGB das Zentralnervensystem, ohne das dieses Gehirn nicht arbeiten kann. So wie sich die Nerven in allen Organen und Gliedern des Körpers befinden, so befindet sich die MGB in allen Organen und Gliedern des Staates und allen seinen gesellschaftlichen Organisationen. Sie überwacht die Minister des Staates und jeden Beamten auch des unwichtigsten Ministeriums. Sie kontrolliert die Post, die Eisenbahn, die Planungsbüros, die Soldaten und Offiziere der Roten Armee, Lehrer und Schüler, Direktoren und Arbeiter, Presse, Theater, Film, kommunale Verwaltung. Sie überwacht jedes Dorf, jede Stadt, ja noch die Gefängnisse und die Läger. Sie hat ihre Verbindungsleute in allen Ländern der Welt, in allen Regierungen der Welt, in allen Armeen der Welt. Sie ist ein bewundernswertes System, so bewundernswert, wie das Nervensystem des Körpers es ist. Sie ist das allgegenwärtige Auge der Partei. Sie ist das überall mithörende Ohr der Partei. Sie ist die grausam je und je zupackende Faust der Partei.

Ihre Glieder brauchen eine jahrelange Schulung. Es wird eine außerordentliche Askese von ihnen verlangt, nicht eine Askese im Verzicht auf Essen und Trinken und die Güter dieser Welt, wie sie von einem Mönch gefordert wird, nein, einer viel tiefergreifenden Askese müssen sie sich unterziehen. Der Verzicht auf alles persönliche Denken, auf alle natürlichen menschlichen Gefühle, auf jede Äußerung ihres selbständigen personhaften Seins wird von ihnen verlangt. Diese merkwürdigen Sozialisten glauben erst dann rechte Sozialisten zu sein, wenn sie sich jedes natürliche soziale Empfinden und Mitempfinden abgequält haben. Sie müssen unempfindlich sein gegen fremde Leiden, sie müssen kaltblütig zusehen können, wie jemand aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen blutig geschlagen wird, sie müssen unempfindlich dagegen sein, wenn ein Mann an seinem Hochzeitstage von der Hochzeitstafel weg verhaftet wird, es darf ihnen nichts ausmachen, schwangere Frauen in naßkalte Kellerverliese zu stecken oder sie von ihren Kleinkindern wegzureißen. Lind doch müssen sie zugleich alle menschlichen Gefühle kennen. Sie müssen sie ansprechen und zum Schwingen bringen können. Sie müssen auf der Klaviatur der menschlichen Gefühle und Charaktere spielen können. Sie müssen Feindschaften schüren, Freunde entzweien, Ehegatten aufeinander eifersüchtig machen können. Sie müssen Vertrauen gewinnen und Mißtrauen säen können. Sie müssen den Stummen reden machen, den Starken brechen, den Charaktervollen korrumpieren können. Auch auf die edelsten Gefühle müssen sie sich verstehen. Sie müssen Buße predigen, Reue und Zerknirschung erzeugen, sie müssen die Begeisterung noch anheizen und den Idealisten noch höher treiben können. Vor allem aber, sie müssen lange und geduldig warten und schnell wie eine Schlange ihr Opfer anfallen können.

Das alles braucht neben Talent eine lange, mühselige Schulung.

Sicherlich sind es in erster Linie die materiellen Vorzüge, die sie bewegen, sich in diesen unmenschlichen Beruf zu finden. Die ideellen Gründe sind sehr schwer abzuschätzen. Die größte Rolle wird der Genuß spielen, den es bereitet, teilzuhaben an der das ganze Leben der Gesellschaft bestimmenden Macht. Den geringsten Einfluß dürfte der Glaube an die Durchsetzung einer vollkommenen kommunistischen Gesellschaft haben. Denn die Tschekisten sind keine Gläubigen. Sie sind ausgemachte Zyniker. Und wie könnte es bei ihrem Handwerk auch anders sein, als daß sie „Schaden nähmen an ihrer Seele“?

Zu den Helfern der MGB, die an ihren Uniformen und vor allem an den giftgrünen Mützen erkennbar sind, gehören ferner die zahllosen unsichtbaren Helfer. Jeder von den sieben Millionen Mitgliedern der Kommunistischen Partei, Jeder von den siebzehn Millionen Mitgliedern der Komsomolzenbewegung ist, auch wenn er es bei seinem Eintritt nicht ahnte, verpflichteter Helfer der politischen Polizei. In allen Lägern sitzen Kommunisten, die es aus Gründen der Anständigkeit unterließen, einen Freund oder einen nahen Verwandten anzugeben, und die eine Sache, einen Ausspruch, ein entglittenes offenes Wort vertuschten. Sie wurden wegen „Desinformation“ mit mindestens zehn Jahren bestraft.

Darüber hinaus aber preßt die politische Polizei Arbeiter und Gelehrte, Bauern und Studenten, Männer und Frauen, Kinder und Greise, hoch-intelligente Menschen und Halbidioten zu ihren ständigen Zuträgern.

Es kann in der Sowjetunion keine Versammlung, keine Zusammenkunft, keine Besprechung, kein Kongreß stattfinden, die Polizei ist in Gestalt ihrer Spitzel anwesend. Jedermann weiß das, und jedermann richtet sich danach. Was gesprochen wird, was entschieden oder beschlossen wird, wird für das Ohr der politischen Polizei gesprochen, entschieden, beschlossen. Auch der Spitzel wird wiederum bespitzelt.

Denn seine Auftraggeber müssen wissen, ob der Spitzel richtig oder falsch berichtet.

So ist also das ganze Volk eingekreist, umklammert wie von Millionen Fangarmen eines riesenhaften Polypen, der es geistig und politisch lähmt bis in das geheimste Gespräch, Ja, bis in das Denken hinein.

Lind noch schlimmer als die Angst vor den Spitzeln ist die Angst, von der MGB zum Spitzel gepreßt zu werden. Denn man muß bedenken, daß in der Sowjetunion jedermann beruflich und materiell vom Staate abhängig ist. Gewiß besteht auch in der Sowjetunion die Möglichkeit, sich Aufträgen der politischen Polizei zu versagen. Aber diese Möglichkeit hat nur der, der einen makellosen Lebenswandel führt — denn die MGB liebt diejenigen, die etwas auf dem Kerbholz haben —, der darüber hinaus keine Schwächen hat —, denn die MGB liebt diejenigen, die moralisch einen Knick haben —, und die für sich selbst und für ihre Kinder keinen Ehrgeiz haben —, denn die MGB liebt die Streber und die Ehrgeizigen. Hat jemand ihr einen kleinen Finger gereicht, so wird sie ihn bald mit Haut und Haar besitzen. Vom harmlosen Klatsch, von der leichten Angeberei treibt es ihn weiter zu ganz fest umrissenen, konkreten Aufträgen. Es sind arme, zerrissene Geschöpfe, die zu ihren Handlangern werden, hin und her gerissen zwischen angeborener Anständigkeit und der sie dauernd verfolgenden Suggestion: „Ich muß etwas bringen! Was werde ich bringen?“, hin und her gerissen zwischen Dienstwilligkeit und einem abgrundtiefen Haß gegen ihre Auftraggeber.

Das tiefste Anliegen des jungen Marx war die Aufhebung dessen, was er die „Selbstentfremdung des Menschen“ nannte. Die Gedanken, die er in seinen Frühschriften zu diesem Thema ausgeführt hat, stehen einem Motto gleich über seiner ganzen Lebensarbeit, auch da, wo er, durch den Gang seines Studiums geführt, sich mit dem Problem des Lohns und des Arbeitsertrages herumgeschlagen hat. Auch in seinen abstrakt ökonomischen Schriften geht es ihm nicht um die Ökonomie an sich, sondern um die Aufdeckung der Ursachen der Selbstentfremdung des Menschen unserer Zeit, d. h. um die Aufdeckung der Ursachen, aus denen der Arbeitgeber einerseits, der Arbeitnehmer andererseits ihrem wahren Menschsein entfremdet sind.

Wer mit dieser Frage durch die Sowjetunion ging, mit der Frage, ob hier der Mensch bei sich selber ist, ob er sich in seinem Leben und Denken voll und reich entfalten könne, der mußte entsetzt erkennen, daß hier eine andere Macht als die Macht des Kapitals den Menschen sich selbst entfremdet, nämlich die Macht der Angst. Da ist auf der einen Seite der Typus des Funktionärs, der Apparatschiks und des Angestellten der MGB, die das Menschentum in sich willentlich und bewußt ertöteten, um nicht durch menschliche LIrgefühle wie Liebe, Freundschaft, Ehrfurcht, Mitleid, soziale Verbundenheit gehemmt zu sein in der Virtuosität, Menschen beherrschen zu können, und da ist auf der anderen Seite der Typus derer, die gezwungen sind, ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Leidenschaften in sich zu vergraben. Sie müssen denken, was zu denken verlangt ist, sie müssen sprechen, was andere vorgedacht und vorgesprochen haben, sie müssen loben, wo sie eigentlich tadeln müßten, sie müssen verdammen, wo sie eigentlich zustimmen müßten, sie müssen lieben, wo sie hassen möchten; und wo sie selbst zum Spitzel geworden sind, da müssen sie vernichten, wo sie helfen und retten möchten. Gerade der, der den humanistischen Grund-ansatz im Marxismus ernst nimmt, erkennt mit Schaudern in der Sowjetunion die grauenhafte Selbstentfremdung des Menschen durch die Furcht.

Geistverfolgung Terror und Dogmatismus

Wir haben bisher von Leiden gesprochen, die alle mehr oder weniger Auswirkungen eines Terrors sind, unter dem das sowjetische Leben sich vollzieht. Zwangsarbeit, Deportation, Heimatverfremdung, Rechtlosigkeit, Spitzelangst und das Leben in einer nicht durch die Natur, sondern durch das Herrschaftssystem der Sowjetunion begründeten Dürftigkeit sind Folgen des Terrors. Aber der Terror hat einen Zwillingsbruder, der ebensoviel Unglück anrichtet wie er. Dieser Zwillingsbruder ist der Dogmatismus. Wenn man das Verhältnis von Terror und Dogmatismus untersuchen würde, so würde man erkennen, daß der Terror zwar grobschlächtiger und sichtbarer in Erscheinung tritt, daß aber der Dogmatismus der dominierende von beiden ist. Der Dogmatismus bringt den Terror hervor. Der Terror fühlt sich durch das Dogma beauftragt, angefeuert und vorwärtsgestoßen. Lind schließlich dient das Dogma zur moralischen und intellektuellen Rechtfertigung des Terrors. Wer den Terror nicht von seiner philosophischen bzw. pseudophilosophischen Grundlage her versteht, versteht ihn überhaupt nicht. Die Diktaturen, die unserer Zeit ihren Stempel aufgedrückt haben, die Diktatur Hitlers, Lenins und Stalins, entspringen nicht der überragenden Macht eines einzelnen, der die Herrschaft usurpiert hat, sondern sie treten als Propheten einer Heilslehre auf, für die sie unbedingt Geltung in Anspruch nehmen. Sie tragen den Mantel eines antiken Straßenphilosophen. Sie vertreten ein mehr oder minder geschlossenes System, ein System, das den ganzen Bereich des gesellschaftlichen, moralischen und kulturellen

Lebens umfaßt. Sie verlangen die vollkommene Bejahung und Hingabe an diese ihre philosophische Heilslehre. Sie begnügen sich nicht mit dem Gehorsam, der in der Tat besteht, und den jede Obrigkeit fordern kann, sondern sie verlangen darüber hinaus Gehorsam im existentiellen Sinn. Der Gehorsam der Tat genügt ihnen -nicht, weil er ja möglicherweise abzuleisten wäre mit dem Reservat des Willens, des Gefühls und des Verstandes. Dieser Gehorsam ist also im Letzten, im Persönlichen Ungehorsam. Dieses Reservat des Ungehorsams, das in einem formalen Gehorsam steckt, muß gebrochen werden. So werden dann die Bürger des Staates durch eine überall gegenwärtige Institution beobachtet, kontrolliert, überwacht, ob sie auch diesen qualifizierten Gehorsam leisten. Man verlangt von ihnen nicht Gehorsams-, sondern Bekenntnis-handlungen, man fordert Reden, Aufmärsche, Lieder, Bestätigung von Ergebenheitssymbolen, keine Kollekten, sondern echte Opfer. Man muß es den Bildern der Maler, den Skulpturen der Bildhauer, den Büchern der Wissenschaftler, den Gedichten der Dichter anmerken, daß sie die philosophische Heilslehre völlig in sich ausgenommen haben. Ja, die philosophische Lehre ist selbst Kern und Gehalt aller Wissenschaft, sie ist Ziel alles Philosophierens, sie ist selbst Inbegriff der Kunst. Alles was außerhalb ihrer selbst künstlerisch geschaffen wird, ist Scheinkunst, ist „Formalismus“, d. h. ein Spiel mit Formen, das den Gehalt der Kunst, der in der philosophischen Heilslehre besteht, nicht in sich ausgenommen hat. Sie setzt die Moral, nein, sie ist die Moral, die alle anderen moralischen Gesetze außer Kraft zu setzen in der Lage ist. Im Dienste dieser neuen Moral ist es erlaubt, zu töten, zu stehlen, zu rauben, zu lügen, falsche Eide zu leisten, Verträge zu brechen, Versprechungen zu geben, ohne daß man gewillt ist, sie zu halten, weil und wenn es taktisch erforderlich ist.

Max Scheler unterscheidet vier Bereiche des Denkens, das Nützlichkeitsdenken, das nach dem Zweck und der Nützlichkeit für den Menschen fragt, das forschende Denken, das nach dem Warum der Dinge fragt, das philosophische Denken, das die Frage stellt: „Warum überhaupt?“ und das Heilsdenken, das nach dem Heil des Menschen fragt. Scheler vertritt den Standpunkt, daß jedes Denken, bei dem eine dieser Fragen überbetont sei, etwa das Nützlichkeitsdenken, weithin in Europa oder das Heilsdenken bei den Yogis, eine Verkümmerung des menschlichen Denkens anzeige. Die philosophische Grundlage des Nationalsozialismus war die Philosophie des Vitalismus. Aber da sowohl Hitler in seinem Buch „Mein Kampf“ wie auch Rosenberg in seinem „Mythos des 20. Jahrhunderts“ dilettantisch eklektisch vorgegangen waren, hatten sie sich in der Rassenlehre, in der Lehre vom Erbträger des Blutes usw. auf eine solche Fülle von anachronistischen Narrheiten festgelegt, daß ihnen der Einbruch in die Wissenschaft und in die Philosophie nicht glücken konnte. Ganz anders die leninistische Philosophie, die von einer imponierenden Geschlossenheit ist. Sie beansprucht das Nützlichkeitsdenken, das forschende, das philosophische Denken und das Heilsdenken zu gleicher Zeit. Als Nützlichkeitsdenken beherrscht sie den ganzen Raum der technischen Ausnutzung des Landes, der wissenschaftlichen Wertung der Produktionsmittel und ihrer Entwicklung. Als wissenschaftliches Denken durchleuchtet sie alle biologischen, physikalischen, astronomischen und historischen Tatbestände und weist die dialektischen Gesetze ihrer Entwicklung auf. Als philosophisches Denken liefert sie in „Materialismus und Empiriokritizismus“ eine Erkenntnistheorie und führt alle Erscheinungen der Welt auf das sich dialektisch entfaltende Prinzip der Materie zurück. Als Heilslehre sagt sie, wozu unsere Gesellschaft im Ablauf der Geschichte, und wozu jeder einzelne in der Lage der heutigen menschlichen Gesellschaft berufen sei. Die leninistische Philosophie übertrifft in dieser Totalität und Universalität also jede andere wissenschaftliche oder philosophische Schule und jede Religion. Denn keine religiöse Heilslehre maßt sich an, den ganzen Bereich des Nützlichkeitsdenkens oder des forschenden Denkens zu erfüllen, keine Philosophie gibt Anweisungen für die politische Taktik, keine Wissenschaft umgreift zugleich das Gebiet des Heilsdenkens. Der Leninismus-Stalinismus ist alles in allem. Die Sowjetunion selbst in angeblich die in die Wirklichkeit umgesetzte Schau des klassenlosen Staates. Die uralte Diskrepanz zwischen dem wirklichen und dem wahren Staat der Philosophie, die den Philosophen Kopfschmerzen bereitete von Plato bis zu Hegel, ist hier aufgehoben. Die Regierung dieses Staates ist eine Versammlung von Dienern an dem Staat, in dem Wahrheit und Wirklichkeit angeblich zusammenfallen. Zwar haben die 800 Minister der Sowjetunion nicht viel zu sagen. Sie haben den Charakter von Sachreferenten auf dem Gebiet des Transportwesens oder der Tabakverarbeitung usw. Bedeutung haben nur die wenigen Minister, die zugleich Mitglieder des Zentralkomitees (71 Personen) oder des noch engeren Politbüros sind, das aus neun Mitgliedern und fünf Kandidaten besteht. Sie bilden die philosophische Oligarchie des Landes, der allein die Diktatur zusteht. Nun kann es ein völliges Zusammenfällen des wahren und wirklichen Staates nicht geben. Darum muß die Lüge helfen, sie zur Konkurrenz zu bringen, und man ist immer wieder von neuem erstaunt, mit welcher Konsequenz und mit welcher Frechheit in der Sowjetunion die trübe Wirklichkeit zum Ideal umgelogen wird. Es fehlt das, was Rosa Luxemburg „die heilsame und reinigende Kraft der politischen Freiheit“ nannte, die ihre „Wirkung versagt, wenn die Freiheit zum Privilegium wird“. In der Ära Stalin hatte sich nun aus diesem Philosophenkreis der Liberphilosoph Stalin herausgehoben. Er hatte es nicht getan auf Grund der überragenden philosophischen Autorität seiner Schriften, sondern dadurch, daß er alle seine philosophischen Nebenbuhler hatte umbringen lassen. Nachdem er sich auf diese Weise den Rang des Liberphilosophen verdient hatte, besaß er allein das Recht und die Verpflichtung, über die Reinhaltung und Durchsetzung des von ihm allein verstandenen Rechtes zu wachen. Die Morde, die Stalin in dieser Eigenschaft als Wächter des Parteidogmas begangen hat, sind keine gewöhnlichen schändlichen Morde aus Rachgier, Machtgier und Herrschsucht allein, sondern sie sind Ketzerurteile, nur vergleichbar mit den Urteilen der spanischen Inquisition. Die Opfer aber, Nikolajew, Sinowjew, Kamenew, Smirnow, Pjatakow, Radek, Sobolnikow, Rykow, Bucharin, Krestinski, Rakowski, dazu die zahllosen Soldaten, der Marschall Tuchatschewski, General Jakir, General Uberewitsch, Kommandant der Militärakademie Kork, und viele, viele andere, dazu die Millionen ermordeter Kulaken und kulakisch Gesinnter, sie alle, alle starben einen Ketzertod. Ihr Verbrechen ist ein Verbrechen gegen die eine, allgemeine unantastbare Wahrheit, die sie entweder in Gedanken, Worten oder mit der Tat begingen.

Die Partei hat die Aufgabe, das philosophische Programm des Zentral-gehirns in die Tat umzusetzen. Die politische Polizei hat die Aufgabe, jede Ketzerei aufzuspüren und durch Tod, Zwangsarbeit oder Gefängnis zu ahnden. Alles, Massendeportationen, Zwangsverschickungen, Erschießungen, Unmenschlichkeiten der Prozeßführung, alles, alles geschieht im Zeichen der Philosophie. Es gibt aber auch keine Weiterentwicklung dieser Philosophie des Terrors. Die gesamte Tätigkeit der Sowjetphilosophen besteht darin, die Worte Lenins zu tradieren und zu kommentieren. Das Verhältnis der bolschewistischen Philosophie zu Lenin gleicht dem Verhältnis zwischen dem Talmud und dem Gesetz des Alten Testaments. Und doch tut man bei einem solchen Vergleich den talmudischen Schriftgelehrten noch bitteres LInrecht. Denn der Spannungsreichtum und die Kühnheit der talmudischen Auslegungskunst ist ungleich größer als die der sowjetischen Leninausleger.

Gottverfolgung Gebet für den Diktator

Wenn wir uns den pseudophilosophischen Charakter des sowjetischen Staates klargemacht haben, wenn wir uns deutlich gemacht haben, daß seine Diktatur die Diktatur eines Dogmas ist, dann erst sind wir vor Illusionen geschützt, denen in Europa, da der Wunsch immer wieder der Vater des Gedankens ist, so mancher schon aufgesessen ist. Von dem allzu bereitwilligen Glauben an Moskaus Koexistenzpropaganda bis zu Präsident Roosevelts Vertrauen, er könne „Uncle Joe“, wie er Stalin im Scherzgespräch nannte, zu Demokratie und religiöser Toleranz überreden, und bis zu Averell Harrimans Meinung, die größere Atemfreiheit der Russisch-Orthodoxen Kirche sei auf seine Intervention zurückzuführen, stammen alle Fehlurteile aus der Unterschätzung dieses pseudophilosophischen Charakters des sowjetischen Regimes. Von hier aus wird uns auch der Charakter eines anderen Leidens, der sowjetischen Gott-verfolgung, deutlich.

Als Ostern 1946 zum erstenmal wieder seit der Revolution die Kirchenglocken über ganz Rußland läuten durften, atmete die Welt befreit auf. Als man hörte, der sowjetische Staat habe die Erlaubnis gegeben, neue Kirchen zu bauen, und er habe Areal für diese Kirchen zur Verfügung gestellt, er habe glockenlosen Kirchen Glocken geschenkt, er habe die Heranbildung neuer Priester gestattet, als man weiter hörte, ein orthodoxes Seminar sei wieder eröffnet worden, die Regierung habe die Wahl des Metropoliten Sergius zum Patriarchen gestattet, ja, Stalin habe den 76jährigen Sergius mit zwei anderen Metropoliten empfangen, da beruhigte sich die Welt über das große Leid der Glaubensverfolgung in der Sowjetunion. Doch das Leiden hat nur eine andere Gestalt angenommen. Die Schleifung der Klöster, die Vertreibung der Mönche, der Mord an Priestern, Bischöfen und Gläubigen, die Gefangenschaft und Verbannung von Priestern wegen Sabotage der Kolchosiwierung oder ihre Bestrafung als „nichtarbeitende Elemente“ mit Zwangsarbeit in Sibirien oder am nördlichen Eismeer, die Schließung der Kirchen, das Verbot der religiösen Propaganda, das alles lag vor den Augen der Welt als ein schreiendes Unrecht da. Seit 1939 haben sich für die Orthodoxe Kirche die Wogen der Glaubensverfolgung sichtlich beruhigt. Doch gab es eine neue Religionsverfolgung in der Sowjetunion, auf die jedoch über dem Läuten der Kirchenglocken der Westen kaum aufmerksam geworden ist. Es wanderten nach dem Kriege die römisch-katholischen Geistlichen und Bischöfe Rutheniens und der Ukraine, und zwar nahezu vollständig, und ebenso die römisch-katholischen und lutherischen Geistlichen Litauens, Lettlands und Estlands in die Zwangsarbeitslager. Die Erleichterung des Lebens der Orthodoxen Kirche aber ist durch ein schlimmeres Leiden, als das Martyrium es sein könnte, erkauft. Die Kirche hat zu allen Zeiten das Blut der Märtyrer als ihren höchsten Schatz betrachtet. Die Unfreiheit der Kirche ist, wie wir gleich zeigen werden, größer geworden, als sie im Zeichen des Martyriums war.

Während des Krieges ergab sich die geradezu groteske Situation, daß zwei ausgesprochene Feinde des christlichen Glaubens, das nationalsozialistische Deutschland und das bolschewistische Rußland, sich gegenseitig der Glaubensfeindschaft bezichtigten und sich selbst als Ritter für die Freiheit der christlichen Verkündigung anpriesen. Hitler spendete Geld für den Bau einer orthodoxen Kathedrale in Berlin. Neunzehn orthodoxe Kirchen bekamen für ihre Wiederherstellung Regierungsunterstützungen. In den besetzten Gebieten öffneten die Deutschen geschlossene Kirchen, ließen die Glocken läuten, und die Menschen strömten in Scharen hinein. Orthodoxe Geistliche und Bischöfe beteten für den Sieg der deutschen Waffen. Und zu gleicher Zeit klagt der Moskauer Rundfunk am 21. August 1941 die Deutschen an: „Sie versuchen, den Herrn Jesus Christus zu stürzen und statt dessen Alfred Rosenbergs , Mythos des XX. Jahrhunderts'einzuführen“. Stalin veranlaßte die Aufhebung des „Verbandes der Gottlosen“ und die Einstellung verschiedener Zeitungen der Gottlosen. Die Sechstagewoche wird wieder zugunsten der Siebentagewoche-abgeschafft. Hitler und Stalin treten einander im Gewände eines Ritters Georg gegenüber, legen die Lanzen ein und bekämpfen wechselseitig einer im anderen den Drachen der Glaubenslosigkeit. Dieses Bild spiegelt die groteske Seite der Sache. Aber die Groteske hat ein erschütterndes Gegenbild. Sie kommt am deutlichsten zum Ausdruck in der Gründung eines „Staatsrates für die Angelegenheiten der Orthodoxen Kirchen“, der am 8. Oktober 1943 vom Rat der Volkskommissare ernannt wurde. Diesem Staatsrat unterstehen der Patriarch und die Metropoliten direkt, alle Geistlichen indirekt. Der Patriarch kann nichts sagen, tun oder beschließen, was nicht die Billigung des Staatsrates hätte. Die Leitung des Staatsrates aber liegt in den Händen von Georgi Karpow, einem erklärten Atheisten und langjährigen Mitglied der NKWD. Durch diesen Staatsrat lenkt und beaufsichtigt die NKWD, bzw. heute das KGB, die Russisch-Orthodoxe Kirche. Durch diese Abhängigkeit erst sinkt die Russisch-Orthodoxe Kirche auf den Tiefpunkt der Servilität, auf den die Kunst, die Wissenschaft, die Philosophie schon seit langem herabgesunken sind.

Denken wir noch einmal zurück an den Huldigungsgruß des Biologen-kongresses an Stalin:

„Es lebe die fortschrittliche Mitschurinsclte Biologie! Es lebe der große Stalin, der Führer des Volkes, die Koryphäe der fortschrittlichen Wissensdnaft!“

Dieser kriecherische, byzantinische Geist zieht nun auch in die Kirche Jesu Christi ein. Nach dem Siege über Deutschland sagte der Patriarch Alexei, der Nachfolger Sergius:

„Vor allem laßt uns Gott danken, daß er uns kluge Eeute zur Führung unseres Landes gesdtickt hat und den göttlidi erwählten Führer Jossif Wissarinowitsch Stalin, der bisher unser Land zum Erfolg geführt hat und es in Zukunft zu nie dagewesenem Ruhm führen wird.“ — Der Metropolit Nikolai schreibt 1944:

„In unserem Führer erkennen wir Gläubigen mit allen übrigen des Landes den größten Mann, den Rußland jemals geboren hat . . . In ihm vereinigt sich das Beste und das Höchste, die tiefste Weisheit mit einem väterlichen Herzen und dem Genius des Herrschers.“

Es ist selbstverständlich, daß der Patriarch alle Gemeinden aufforderte, „für das Wohlergehen und Gedeihen des gottgesandten Führers der Völker unseres christlichen Landes zu beten“. Es ist ganz selbstverständlich. daß alle diese Äußerungen auf Bestellung, Anregung und sicherlich in direkter Abstimmung mit dem von der NKWD geleiteten „Staatsrat für die Angelegenheiten der Orthodoxen Kirche“ zustande gekommen sind. Das Blut der russischen Märtyrer war in Freiheit vergossen. Aber alle diese Worte sind in der tiefsten Versklavung des Glaubens gesprochen. Die äußerliche Duldung der Kirche und ihrer Einrichtungen ist von Seiten des sowjetischen Staates aus gesehen eine Art NEP auf dem Gebiet der Religionspolitik. NEP nennt man die Periode der neuen ökonomischen Politik, in der Lenin im Jahre 1921 nahezu alle Maßnahmen und auch alle Grundsätze der vorausgegangenen Periode des sogenannten „Kriegskommunismus“ aus opportunistischen Gründen aufgab. Der Handel, die kleine und mittlere Industrie wurden reprivatisiert. Das Geschäftsleben wurde dem privaten Kapital freigegeben. Alle Lasten, die auf den Bauernwirtschaften lagen, wurden bis auf eine geringe Naturalsteuer aufgehoben. Grundsätzlich galt das bolschewistische Programm weiter, und es wurde später in der Periode der Fünfjahrespläne und der Kolchosiwierung weitergetrieben. Aber im Jahre 1921 machte sich eine opportunistische Schwenkung notwendig. Genauso ist der „Friedensschluß" mit der Orthodoxen Kirche während des „Vaterländischen Krieges“ und in der Nachkriegszeit reiner Opportunismus, durch welchen sich kein westliches Auge trüben lassen sollte.

Als Grundsatz gilt selbstverständlich weiter, was Stalin 1927 einer amerikanischen Arbeiterdelegation gegenüber geäußert hat:

„Die Partei kann sidt in religiösen Fragen nicht neutral verhalten. Sie madtt antireligiöse Propaganda gegen alle religiösen Vorurteile, da sie auf dem Boden der Wissenschaft steht ... Es gibt Fälle, wo Parteimitglieder die volle Entfaltung der antireligiösen Propaganda brüskiert haben. Es ist gut, daß man diese Mitglieder ausgestoßen hat.“

Trennung von Staat und Kirche?

Man bedenke auch, daß der § 4 der sowjetischen Verfassung von 1936 die „religiöse Propaganda" nicht erlaubt. Der in Frage kommende Abschnitt lautet:

„Um den Arbeitern wirkliche Gewissensfreiheit zu sichern, wurde die Kirdte vom Staate und die Sdtule von der Kirche getrennt. Freiheit des religiösen Kultus und der antireligiösen Propaganda ist allen Bürgern garantiert.“

Das klingt so paritätisch und gerecht. Wie den Christen der Kultus, so ist den Atheisten die antireligiöse Propaganda verbürgt. Bedenkt man aber, daß der orthodoxe Gottesdienst Feier ist und nicht Verkündung und Lehre, wägt man die Bereiche gegeneinander ab, in welchen in der Sowjetunion antireligiöse Propaganda getrieben wird, erwägt man, daß der Verfassungsparagraph einem Verbot gleichkommt, dieser antireligiösen Propaganda in Schule, Presse, Film, Theater, Rundfunk, Komsomolzen-und Pionierorganisation entgegenzutreten, bedenkt man, daß das Verbot religiöser Propaganda auch die Unterweisung Jugendlicher bis zum 18. Lebensjahr trifft, dann weiß man, was diese Zusage der Verfassung bedeutet. Ich war mit vielen russischen Brüdern im Lager zusammen, die wegen der Verletzung dieser Bestimmung zu 2 5 Jahren Zwangsarbeit bestraft worden waren.

Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in der Sowjetunion ist also außerordentlich kompliziert. Man versteht es nur, wenn man es unter drei verschiedenen und sich scheinbar widersprechenden Aspekten zugleich betrachten lernt. Sobald man nur einen dieser drei Aspekte allein sieht, muß man zu Feklschlüssen kommen.

Betrachtet man das Verhältnis von Staat und Kirche allein auf Grund der Verfassung, so muß man zu dem Ergebnis kommen, daß in der Sowjetunion Staat und Kirche die Rechte einer „Körperschaft öffentlichen Rechts“ genießt, so scheint uns die Grundkonzeption der sowjetischen Verfassung doch in der Grundstruktur die gleiche zu sein wie in den meisten europäischen Staaten, in denen ein konfessionell ungebundener, weltanschaulich neutraler Staat den Religionsgemeinschaften gegenübersteht, ihre Glaubensfreiheit sichert, sie aber in den Ansprüchen gegenüber dem einzelnen Bürger auch begrenzt. Doch wie schief würde eine Betrachtung des Verhältnisses von Staat und Kirche in der Sowjetunion liegen, die sich darauf beschränken wollte, dieses Verhältnis allein aus Bestimmungen der Verfassung abzulesen.

Bei etwas gründlicher Betrachtung des realen Verhältnisses von Staat und Kirche ergibt sich ein ganz anderer, dem ersten scheinbar diametral entgegengesetzter Aspekt. Denn die verfassungsmäßig ausgesprochene Trennung von Staat und Kirche bedeutet nicht, daß die Kirche ihre Angelegenheiten selbständig und ohne Einmischung des Staates regeln könnte. Die angeblich vom Staat getrennte Kirche wird vielmehr vom Staat gelenkt und beherrscht. Sie ist also nicht getrennt. Ihr Status erinnert auffällig an den Status einer Staatskirche. So wie in der zaristischen Zeit die Kirche durch einen Staatsrat gelenkt wurde, so wird sie heute genauso durch den „Staatsrat für die Angelegenheiten der Orthodoxen Kirche“ gelenkt. Und doch dürfen wir nun wiederum nicht den Fehlschluß begehen, die sowjetische Kirche als eine Staatskirche anzusehen. Denn dieser „Staatsrat“ bedeutet keineswegs, daß der sowjetische Staat die Kirche bejahe, daß er den christlichen Glauben für ein wichtiges und unaufgebbares Wesensmerkmal des staatlichen Lebens hielte, sondern, so belehrt uns nun ein dritter Aspekt, der Leiter des „Staatsrates für die Angelegenheiten der Orthodoxen Kirche“ ist ein Atheist, der aus seiner Überzeugung nicht den geringsten Hehl macht. Der Sinn dieser kirchlichen Lenkung liegt klar und eindeutig darin, die Orthodoxen Kirche in ihrer Gesamtheit unter die Kontrolle der NKWD bzw. KGB zu stellen. Die Errichtung des Staatsrates für die Angelegenheiten der Orthodoxen Kirche bedeutet nicht, daß der Staat als gerechter Makler zwischen der atheistischen kommunistischen Partei und der gläubigen Kirche handeln will, sondern daß er die Kirche für seine politischen Zwecke nutzbar zu machen sucht. Der Staat, der die Kirche leitet, ist der gleiche Staat, der sich aus dogmatischen Gründen zum antireligiösen Kampf in Schule, Propaganda, Jugendorganisationen und Roter Armee verpflichtet weiß. Nur wenn die Kirchenmänner Deutschlands und der von der Sowjetunion abhängigen Staaten dieses in drei Farben schillernde Changeant des Verhältnisses von Staat und Kirche fest im Auge behalten, werden sie den sowjetischen Staatsrepräsentanten gegenüber feste Tritte tun. Die immer wiederholte Forderung einer kirchlichen Loyalitätserklärung gegenüber der Regierung der DDR soll eine Bindung schaffen. Die Loyalitätserklärung soll ihr später einmal eine Handhabe sein, Geistliche und Kirchenführer aus ihren Stellungen zu entfernen oder sie sogar in Haft zu nehmen. Doch richten wir unsere Blicke auf die Sowjetunion. Wenn sich dort immer noch zwei Drittel der Landbevölkerung zum Gottesglauben bekennen, wenn der christliche Glaube immer noch lebt, oftmals verkümmert, verkürzt, verzerrt und entstellt, wenn er in diesem Staate und trotz dieses Staates, in dieser Kirche und trotz der Versuchlichkeit, Schwäche und Armut ihrer Priester, Metropoliten und ihres Patriarchen noch lebt, dann ist das eines der größten Wunder, das Gott in unserer Zeit getan hat.

Ich hörte, was die Hunde heulen. Ich versuchte, in einem ersten Teil die armen Hunde zu schildern, die im Verliese des sowjetischen Staates leben. Ich versuchte, in einem zweiten Teil eine Aufzählung und Analyse ihrer Leiden, keineswegs aller Leiden, aber der wesentlichsten Leiden zu geben, derjenigen Leiden, die nicht mit abrupter Gewalt den Leib dieses Volkes schüttelten, sondern der Leiden, die dieser Leib Jahre und Jahrzehnte hindurch tagaus und tagein mit sich herumträgt, mit denen zu leben er sich beinahe gewöhnt hat mit einem eigenartigen, echt russischen, schwermütig-leichtfertigen Fatalismus.

Wenn man die Frage stellt, ob es eine böse gemeinsame Wurzel gibt, aus der alle diese Ruten entspringen, so will mir scheinen, die gemeinsame Wurzel sei die Austreibung Gottes, die in diesem System vollzogen ist. Zwar gibt es keine Gottlosenprozessionen mehr. Es werden keine lästerlichen Plakate mehr durch die Straßen getragen, die das Geheimnis der Trinität, die Gottessohnschaft Christi und die Mutter Maria verhöhnen. Man gräbt die Heiligen nicht mehr aus und streut ihre Gebeine nicht mehr unter dem Johlen und Lachen der Menge umher, aber es ist ein Staat geschaffen, der mit der Existenz Gottes nicht mehr rechnet. Es wird ein Recht gesprochen, das jeder heiligen Unverbrüchlichkeit verlustig gegangen ist. Es wird eine Wissenschaft getrieben, die ohne Ehrfurcht vor dem Geheimnis ist, es wird eine Kunst gepflegt, die die Kategorie der Bedeutung nicht mehr kennt. Es wird mit Menschen umgegangen, mit einzelnen und mit Massen, als seien es Kohlen, die man in einem überdimensionalen Kessel verheizt, um auf dem Manometer einen bestimmten Zeigerstand zu erreichen. Die Gottlosigkeit wird nicht mehr johlend demonstriert, aber sie wird gelebt, sie wird praktiziert.

Ich weiß nicht, auf wen das tiefe Wort zurückgeht: „Wo kein Gott ist, da walten die Gespenster." Ja, die Gespenster des Mordes, der Unmenschlichkeit, des gegenseitigen Mißtrauens, der Angst, des Verrates und grauenhafter Herzenskälte gehen um, weil nicht nur der offenbare Gott, den wir als Christen verehren, sondern auch der verborgene Gott, der auch den Heiden bekannt ist, nicht mehr gewußt, geahnt und gefürchtet wird.

Koexistenz und ihre Grenzen

Ich hörte, was die Hunde heulen. Aus dem Bericht, den Nikita Chruschtschow gegeben hat, können wir alle das Heulen der Hunde vernehmen. Wir vernehmen, wie ein Volk trauert, weil man ihm den Glauben entwinden will, in dem es mehr als ein Jahrtausend gelebt hat, wie ein Volk weint, weil man ihm den Boden und die Heimat genommen hat. Wir hören, wie ein Volk um den Mangel an Gerechtigkeit trauert, während seine Richter nur Grundsätze revolutionärer Opportunität kennen. Wir hören sie um Tausende, um Millionen nichtwiedergutzumachender Verbrechen klagen.

Aber was sollen und was können wir tun? Wir können nicht einen einzigen ermordeten Mönch oder Priester, nicht einen einzigen dem sibirischen Frost ausgesetzten Kulaken, nicht einen der 1940/41 im Eismeer ertränkten Polen wieder zum Leben erwecken, und wir können auch keinen der heute noch in den Lagern am nördlichen Eismeer schmachtenden Gefangenen befreien. Ja, wir müßten bereit sein, alles, auch das Schrecklichste, was vergangen ist, zu verzeihen, in dem Augenblick, wo der ehrliche Wille erkennbar würde, dieselbe Dinge in der Gegenwart und in der Zukunft niemals wieder zuzulassen. Aber, das ist das Schrecklichste an der gegenwärtigen Situation: dieser ehrliche Wille zu einem Bruch mit der Vergangenheit, soweit diese Vergangenheit ein Unrechtszustand war, ist nicht erkennbar. Das grauenhafte Unrecht am ungarischen Volk erneute und bestätigte noch einmal alle Verbrechen, die in der Vergangenheit geschehen sind.

Es darf uns aber auch nicht einmal der Gedanke kommen, die Unrechtssituation, die die Sowjetunion an jedem Tage, an dem sie vergangenes Unrecht nicht wieder gut zu machen sucht, erneut durch das Mittel des Krieges und der Gewalt zu lösen. Die Ausmaße des Leides, die ein Krieg erzeugen würde, würden um ein Vielfaches die Leiden übersteigen, die der Bolschewismus seinem Volk und all den Völkern angetan hat, die er unter seiner Gewalt brachte. Die dämonischen Gewalten liegen in der Welt nur an einer sehr schwachen Kette. Sobald sie sich aus den Fesseln sehr schwacher Ordnungen, die sie nur knurrend und und grollend ertragen, losreißen, werden sie den ganzen Erdraum besetzen.

Die Koexistenz der Nationen ist nicht mehr in unsere freie Wahl gestellt. Durch die Entwicklung der Technik ist über Nacht eine Art Zwang zur Koexistenz entstanden. Jeder Versuch, die Koexistenz aufzuheben, gefährdet jede der beiden miteinander ringenden Staaten-gruppen und Systeme. Jede Gefahr, die einer dem anderen androhen könnte, ist äberdroht von einer größeren Gefahr, die beide miteinander vernichten kann. Die beiden miteinander ringenden Machtblöcke gleichen zwei Menschen, die tief und sehr grundsätzlich verstritten und einander bitter Feind sind, die sich aber miteinander auf einem Floß be-finden, das in rasender Fahrt an Klippen und Felsen vorbei einen überaus gefährlichen Bergstrom hinabschießt. Sobald einer gegen den anderen den Arm erheben würde, sobald beide ihre volle Aufmerksamkeit ihrem Streite schenken würden, wäre es um sie geschehen. Sie sind gezwungen, ihrem unversöhnlichen Streit nur einen Teil der Aufmerksamkeit zu schenken. Den größeren Teil brauchen sie, um der gemeinsamen Gefahr zu entgehen. Sie müssen koexistieren, wenn anders sie existieren wollen.

Aber diese mürrische und feindselige Ko-existenz hat ihre Gefahren. Sie ist überaus kostspielig, weil beide Kontrahenten einen großen Teil ihrer Kraft auf ihre Rüstung verwenden müssen. Sie hindert beide, die eigentliche Aufgabe zu leisten, die jeder Regierung gesetzt ist, den Wohlstand der lebenden Generation zu heben. Beide müssen dieser Aufgabe einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit entziehen, um auch jede Bewegung des anderen scharf zu beobachten. Wie kann aus dieser verbitterten und mürrischen Koexistenz, die durch eine Fülle bestrittener Fragen und Gebiete belastet ist, echte Koexistenz, ja echte Kooperation werden?

Das kann selbstverständlich nicht dadurch geschehen, daß man über die umstrittenen Gebiete nicht mehr spricht. Man kann nicht einfach die Frage des geteilten Korea, des geteilten Vietnam, die Frage des widernatürlichen und gegen seinen Willen gespaltenen Deutschland, die Frage der Volksdemokratien und der baltischen Staaten ausklammern. Ja, wir dürfen nicht einmal die Frage der Handhabung des Rechtes und der sowjetischen Religionspolitik ausklammern. Andererseits kann man von der Sowjetunion nicht verlangen, daß sie ihren Widerspruch gegen den Kapitalismus und gegen den Kolonialismus der westlichen Staaten einfach ausklammert. Eine Einigkeit, die auf der Ausklammerung so grundsätzlicher Gegensätze besteht, kann niemals Bestand haben.

Menschliche Koexistenz ist niemals beziehungslose Koexistenz, wie sie zwischen Dingen besteht, die in einem Raum beieinander sind. Menschliche Koexistenz ist geistige Koexistenz. Das heißt: sie hat ihr Element in der Sprache und im Gespräch. Die beiden Kontrahenten dürfen nicht aufhören, miteinander über die strittigen Probleme zu sprechen und sich bemühen, sie einer Lösung zuzuführen.

Noch bleibt das Mißtrauen

Die Koexistenz, das läßt sich, so wie die Dinge liegen, leider nicht ändern, wird noch auf lange Zeit mit Mißtrauen belastet sein. Dieses Mißtrauen ist einerseits in den negativen Erfahrungen begründet, die die Sowjetunion mit dem Deutschland Adolf Hitlers gemacht hat. Wir Deutsche werden gut daran tun, in vielen Schwierigkeiten der Gegenwart und der Zukunft nicht zu vergessen, daß sie nichts als die späten Tatfolgen unserer Taten sind. Aber ebenso unbillig ist es, vom Westen zu verlangen, daß Mißtrauen gegenüber der Sowjetunion von heute auf morgen abzubauen. Denn erstens steht die Sowjetunion grundsätzlich auf den Erkenntnissen Lenins, und es bereitet ihr, wie wir gesehen haben, große Schwierigkeiten, auch nur einen Satz Lenins preiszugeben.

Andererseits hat die Sowjetunion die moralischen Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen unterschrieben, ohne diese Rechtsgrund-sätze wirklich innerlich zu teilen. Man kann aber nicht die moralischen Grundsätze der Vereinten Nationen bejahen und zugleich die terroristischen Grundsätze Lenins. Die Zukunft der Koexistenz und Kooperation aller Völker hängt davon ab, ob und wann sich eine sowjetische Regierung dazu entscheidet, die Rechtsgrundsätze der Charta der Vereinten Nationen wirklich zu den ihrigen zu machen. Im Falle Ungarns hat der Terrorismus Lenins über die Bejahung des Friedens und über die Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht der Völker den Sieg davongetragen. Lenin hat in seiner 1917 erschienenen kleinen Schrift „Militärprogramm der proletarischen Revolution“ jeden Pazifismus, jede Abrüstung und jede Kriegsverhütung durch Übereinkunft zwischen den Nationen grundsätzlich abgelehnt. Für ihn sind die Kriege der Bourgeoisie „beutegierig, verbrecherisch und tief verabscheuungswürdig". Die Kriege der Kommunisten aber sind für ihn „notwendig", „fortschrittlich“ und „revolutionär“: „Der in einem Lande siegreiche Sozialismus schließt keineswegs alle Kriege überhaupt aus. Im Gegenteil, er setzt soldte voraus". — Die Kriege des siegreichen Sozialismus sind „gerechte“

und legitime Kriege: „In soldten Fällen wäre ein Krieg unsererseits legitim und gerecht. Er wäre ein Krieg für die Befreiung anderer Völker von der Bourgeoisie." — „Erst nachdem wir die Bourgeoisie der ganzen Welt und nidrt nur in einem Lande niedergeworfen, vollständig besiegt und expropriiert haben, werden die Kriege unmöglidt werden.“ — „Die Sozialisten", so sagt er an anderer Stelle, „können nicht gegen den Krieg sein, ohne aufzuhören, Sozialisten zu sein“. Die Sozialdemokraten aber und alle pazifistisch gesonnenen Demokraten verhöhnt Lenin als „Sozialpfaffen“ und „weinerliche Kleinbürger“. Wenn also einer von dem Zehnpunkte-Programm des XX. Parteikongresses bis in den Grund hinein verlogen ist, so ist es der Punkt 3:

.. Weiter auszubauen ist die marxistisch-leninistische Theorie über ai die friedlid'ie Koexistenz der beiden Systeme, b) die Möglichkeit der Verhütung des Krieges im modernen Zeitalter, und c) Formen des Übergangs zum Sozialismus in den versdtiedenen Ländern.“

In all diesen drei Punkten, die der Programmpunkt 3 beinhaltet, kann sich die KPdSLI nidrt auf Lenin berufen. Lenin hat nur einen Übergang zum Sozialismus in den verschiedenen Ländern gekannt, nämlich den terroristischen Weg bewaffneter Gewalt. Lenin hat jede Verhütung des Krieges durch übernationale Abmachungen verlacht und verspottet. Lenin hat nichts von der „friedlichen Koexistenz der beiden Systeme“ gewußt. Wenn Stalin nach dem letzten Kriege die Welt überraschte durch sein Bekenntnis zur Aufrüstung und durch die Ankündigung neuer Kriege, wenn zwischen 1945 und 1950 die Neigung bestand, auf den Bajonetten der Roten Armee die Weltrevolution weiter-zutragen, so war Stalin in diesen Fragen ein echter Schüler Lenins.

Wenn es der Sowjetunion also mit der echten Koexistenz ernst ist, so müssen die Grundsätze in Lenins Schrift „Militärprogramm der proletarischen Revolution“ ausdrücklich aufgegeben werden. Es müssen andererseits alle Maßnahmen, die den moralischen Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen widersprechen, ausdrücklich aufgegeben werden. Veranlaßt durch die einschneidende Erfindung des Hinterladers und die militärisch ebenso einschneidende Erfindung und Einführung der Eisenbahn, beschäftigte sich Engels mit der Frage der Möglichkeit gewaltsamer Erhebung. Er erklärte die Vorstellung der Revolution in der Form einer Erstürmung von Barrikaden als eine antiquierte romantische Vorstellung. Was für Engels die Veränderung des militärischen Gewichts durch die Erfindung der Eisenbahn und durch das Aufkommen des Hinterladers war, das ist heute die Veränderung jeder kriegerischen Auseinandersetzung durch die Nutzbarmachung der Atom-kraft. Die Klassiker des Sozialismus hatten den Mut, auf Grund einer veränderten Lage auch neue Erfahrungen zu machen und ihre Erkenntnis von gestern heute zu revidieren. Der Kommunismus dagegen ist in einer epigonenhaften Bewunderung gegenüber jedem Wort, das Lenin jemals geschrieben hat, erstarrt.

Das tatsächliche Dilemma, in dem der Kommunismus zwischen den Rechtsgrundsätzen der Vereinten Nationen und den terroristischen Grundsätzen Lenins steht, hat er bisher „gelöst“, indem er gewisse ideale Forderungen lediglich zur Tarnung sehr massiver materieller Macht-interessen benutzte. Viele Begriffe, die unzähligen Menschen ernst und heilig sind, tragen in dem Gebrauch, den die Sowjetunion von ihnen macht, reinen Kulissencharakter. Man braucht sie, um einen ideologischen Nebel über seine wahren Ziele zu decken. Man gebraucht sie aus taktischen Gründen, um bestimmte Dinge zu erreichen, und man ist bereit, sie ebenso schnell wieder fortzuwerfen. Da spricht man von „Friede“, „Freiheit“, „Souveränität“, „Selbsbestimmungsrecht der Völker“, „Sozialismus“, „Gerechtigkeit“, „Nation", „Vaterland“, ,, Patriotismus“ und meint doch immer nur dasselbe, die eigene Macht bzw. die Macht derjenigen, die als „Suki“ ihre Dienste an die Machthaber der Sowjetunion verkauft haben. Auch das Wort „Koexistenz“ steht in dem dringenden Verdacht, zu diesen Kulissenbegriffen zu gehören. Die neuen Machthaber der Sowjetunion stehen in der sehr ernsten und echten Entscheidung, ob sie diesen Begriffen den Tarnungs-und Kulissencharakter nehmen wollen. So lange sie das nicht tun, ist das Mißtrauen der westlichen Welt nicht nur berechtigt, sondern es ist eine Pflicht, die sie Europa und der Welt gegenüber hat. Diejenigen, die dieses Mißtrauen vernachlässigt haben, die Regierungen der drei Baltenstaaten zum Beispiel, Präsident Roosevelt, Averell Harriman, Dr. Benesch, haben viel, viel mehr Unglück über die Welt gebracht als eine Armee von Bösewichtern. Lenin sprach, schrieb und druckte das, was er dachte. Seine Nachfolger sprechen von lauter schönen und idealen Dingen und handeln terroristisch. Wann werden in der sowjetischen Regierung Menschen erscheinen, die tun wollen, was sie sagen? Erst mit ihnen würde mehr als die wachsame Koexistenz des ringenden Gesprächs möglich. Mit ihnen wäre — mögen sie überzeugte Kommunisten sein! — europäische Kooperation wieder möglich.

„Die Bourgeoisie muß eingeschläfert werden"

Die Rote Armee hat auch die militärischen Unterhändler der ungarischen Armee zur „Koexistenz des Gesprächs“ eingeladen. Unter dem Vorgeben, mit ihnen über den Abzug der Roten Armee aus Ungarn verhandeln zu wollen, hat sie sie gefangen genommen und verschwinden lassen. Die Sowjetunion wird verstehen müssen, daß Europa, das eine ehrliche Koexistenz sucht, nicht die gleiche Gefahr laufen möchte, und daß es jedes Gespräch mit ihnen gleichsam mit der Hand an der Waffe führen muß, um nicht ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie die verratenen Ungarn. Es schreckt auch heute noch das Wort, das der Vorsitzende des Vollzugsausschusses der Kommunistischen Internationale Dimitrij Manuilki im Jahre 1931 sprach: „Die Bourgeoisie muß eingesdiläfert werden. Zu diesem Zwedz werden wir die wirkungsvollste Kampagne in die Wege leiten, weldte die Welt je gesehen hat, mit elektrisierenden Parolen und unerhörten Konzessionen. Die dummen und dekadenten Kapitalisten werden nur allzu bereit sein, an ihrer eigenen Vernichtung mitzuwirken. Siewerden uns ihre Freundsdiaft direkt aufhalsen. Wenn sie dann ungeschützt dastehen, werden wir sie mit geballter Faust niederschlagen.“

Für uns Deutsche aber gibt es noch einen weiteren Grund, der uns zum äußersten Mißtrauen spornt. Das ist die Faustpfandpolitik, die die Sowjetunion mit dem von ihr besetzten und beherrschten Teil Deutschlands treibt. Wir ehemaligen Gefangenen müssen bei dieser sowjetischen Faustpfandpolitik an die vielen Fälle denken, in denen ein Mensch von der NKWD verhaftet worden war und im Gefängnis gehalten wurde, damit er eine Aussage mache, ein Geheimnis enthülle, einen Treuebruch begehe, einen Brief schreibe, der einen Menschen in die Hand der NKWD spielen sollte, kurz, damit er irgend etwas tue, was gegen seine Überzeugung, gegen sein Gewissen, sein Rechtsgefühl, seine Lebensart verstößt. So hält die Sowjetunion alle Satelliten in ihrer Faust, um sie zu zwingen, anders zu denken, zu handeln, als sie wollen und für Recht halten. Es ist eine Politik der NKWD-Methoden. Der gleiche Staat, der die „Selbstbestimmung der Nationen“ zum feierlichen Prinzip erklärt, enthält dem deutschen Volk gegen alle politische Vernunft dieses Recht vor, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Die Sowjetunion muß verstehen, wie schwer es dem Beraubten fallen muß mit dem Räuber, dem Unterdrückten mit dem Unterdrücker, dem Entrechteten mit dem ihn Entrechtenden, in echter Koexistenz zu leben. Wohl ist der Wunsch und die Sehnsucht nach echter Koexistenz in den Herzen fast aller Deutscher lebendiger, als es die Kremlregenten glauben. Aber sie, sie selbst sind es, die die Hoffnung einer solchen Koexistenz unterdrücken. Die Einheit aller Deutschen, das sollten sich die Faustpfand-politiker deutlich machen, ist für uns keine Ware, für die wir einen Preis bieten oder zahlen könnten, sie ist unser Redtt. Ein Recht aber kauft man nicht, man kann es nur fordern. Die Sowjetunion kann für die Beteuerung des Friedens, von denen jede Rede und jede Erklärung überfließen, erst dann bei den westlichen Völkern Vertrauen erwarten, wenn sie ihre heuchlerische und verlogene Politik aufgibt. Stalin hat einmal das, was er unter Diplomatie versteht, mit den Worten gekennzeichnet: „Worte dürfen keine Beziehungen zu Handlungen haben — wäre das Diplomatie? Worte sind eine Sache, Handlungen eine andere. Gut klingende Worte sind eine Maske, hinter der sich schlechte Taten verbergen. Aufrichtige Diplomatie ist ebenso unmöglidt wie trod^enes Wasser oder hölzernes Eisen.“

Wenn dieses Wort auch eine Kennzeichnung bürgerlidter Diplomatie sein soll, so ist doch deutlich, daß Stalin damit sein Verständnis von Diplomatie und zugleich die beste Kennzeichnung sowjetischer Politik gegeben hat. Solange die Grundhaltung das politische Geschehen zwischen den Staaten bestimmt, ist jede Hoffnung auf Koexistenz umsonst. Macht sie doch das Mindestmaß an Koexistenz zunichte, indem sie auch die Koexistenz der Sprache und des Gesprächs aushöhlt. Die neuen Machthaber sollten bedenken, wie sinnlos die Lüge als politisches Mittel geworden ist, wenn auch der einfache Mann, der sich das Vertrauen zum Wort eines Mnschen am längsten bewahrt, von vorne-herein jeder sowjetischen Erklärung mit wachem Mißtrauen begegnet.

Wenn es zu einer echten europäischen Solidarität zwischen der Sowjetunion und den übrigen Staaten Europas kommen soll, so müssen wir bereit sein, mit den neuen Machthabern der Sowjetunion neue Erfahrungen zu machen, aber wir sind aus den oben angeführten Gründen zur äußersten Wachsamkeit verpflichtet. Die erzwungene Koexistenz, in der die Völker des Westens im Augenblick mit der Sowjetunion leben, kann nur durch eine neue Haltung der Sowjetunion einerseits und durch die Bereitschaft, neue Erfahrungen zu machen auf Seiten der westlichen Völker zu einer echten, von allen Seiten freudig bejahten, beziehungsreichen Koexistenz führen. Wer könnte eine solche Koexistenz, die des Namens würdig wäre, mehr herbeisehnen als die Völker, die unter dem jetzigen Zustand am meisten leiden?

Wenn die Menschheit eine Einheit ist über alle Unterschiede der Rasse, der Nation und des Glaubensbekenntnisses hinweg, dann tragen die Leiden der russischen Menschen und die Opfer des ungarischen Volkes einen exemplarischen, einen paradigmatischen und darüber hinaus einen stellvertretenden Charakter. Sie tragen diese Leiden für uns. Verstehen wir diesen stellvertretenden Charakter der Leiden, die unbekannte, namenlose Menschen für uns erlitten, so ersparen wir damit Europa neue Leiden. Verstehen wir diesen stellvertretenden Charakter nicht, so bringen wir damit neues Leiden über Europa. Die Leiden der östlichen Völker fordern von uns eine Entscheidung. Sie nötigen uns zu einer Besinnung, zur Besinnung darüber, an welchem Punkt für uns Europäer der Status confessionis dem Kommunismus gegenüber gegeben ist. Dieser Besinnung sei der letzte Abschnitt unserer Betrachtung gewidmet. Wir werden bei dieser Besinnung eine uns vielleicht überraschende Entdeckung machen. Wir werden erkennen, daß einige wesentliche Konzeptionen, die dem Kommunismus der Sowjetunion das Gepräge geben, auf deutschem, französischem, englischem Boden entstanden, und daß sie mitten unter uns im Schwange sind. Das Zeugnis, das wir dem sowjetischen Kommunismus entgegenstellen, kann darum nicht einen reinen Anticharakter tragen. Wir werden unsere eigenen Gedanken in seinem Denkgebäude, unsere eigene Welt in seiner Welt, unsere eigene Sinnentleerung in der Sinnentleerung seiner Welt wiedererkennen. Und wenn wir ihm gegenüber in den Status confessionis gefordert sind, so werden wir erkennen, daß wir es in gleicher Weise dieser Haltung, diesen Konzeptionen, diesen Gedankengängen unserer Welt gegenüber sind. Mit einem Blick und mit einem Urteil werden wir die europäische Konzeption und die kommunistische Ausprägung umfassen müssen.

Der Mensch in der Welt

Im Märchen der Gebrüder Grimm erlöste das tumbe Grafensöhnlein nicht nur die Hunde, sondern das ganze Schloß von dem Grauen, das über ihm lag, weil es das Geheul der Hunde verstand, und weil es die verborgene Ursache aufdeckte, welche das schreckliche Wehklagen der Hunde und die marternde Schlaflosigkeit des ganzen Schlosses bewirkte. Diese Aufdeckung der letzten Ursachen ist auch unsere Aufgabe, wenn wir die notwendige Antwort auf die Hilferufe geben wollen, die aus den zutage liegenden Leiden der Sowjetunion zu uns dringen. Welches sind diese Ursachen? Welches sind diejenigen Punkte, in welchen wir dem Kommunismus gegenüber in den Status confessionis gesetzt sind?

Hat Europa noch eine gemeinsame geistige Mitte, aus der heraus es lebt, aus der heraus es denken und handeln kann? Die Idee des christlichen Kaisertums, die einmal alle Völker des Abendlandes gebunden hat, ist tot. Die Idee des Papstes und der Kirche als der Einheitsmacht, die alle Völker Europas zusammenfaßt, lebt noch unter uns, aber sie bindet längst nicht mehr alle Menschen Europas. Die dritte Leitidee, die im Ausgang des Mittelalters entstand, ist die Sicht des Abendlandes als corpus christianum. Corpus christianum ist nicht die Kirche als mystischer Leib Christi, sondern ist „omnum credentum res publika", d. h. die Gesellschaft aller Glaubenden, die durch zwei Dinge, durch Bildung und christlichen Glauben, gekennzeichnet ist. Ein gewisser gemeinsamer Bildungsstand und eine durch christliche Glaubensvorstellungen geprägte Kultur bestimmen aber auch heute noch die Völker und Nationen, die Kirchen und Konfessionen über alle Unterschiede hinweg. Europa wird um so stärker sein, je stärker diese geistige Mitte wieder bewußt wird.

Von dieser geistigen Mitte aus scheint mir der Status confessionis gegenüber dem Kommunismus an vier Punkten gegeben zu sein, nämlich erstens gegenüber einer mechanistischen Betrachtung der Welt der Natur, zweitens gegenüber einer mechanischen und rein kausalen Betrachtung der Geschichte, drittens gegenüber jeder instrumentalen Betrachtung des Menschen, viertens gegenüber jeder utilitaristischen Betrachtung des Rechts. Diese vier Betrachtungsweisen, so werden wir erkennen, sind nicht in der Sowjetunion entstanden. Alle diese Betrachtungsweisen sind nicht auf die Sowjetunion beschränkt. Europa hat sie hervorgebracht. Sie sind überall unter uns im Schwange. Was hat die Sowjetunion diesen in Europa entstandenen Betrachtungsweisen hinzugefügt? Nur eines? sie hat ihnen eine totalitäre, eine ausschließliche Wirksamkeit gegeben. Sie hat sie zu einem scholastischen System erhoben, und sie hat sie mit terroristischen Maßnahmen ins Werk gesetzt. Und siehe da, mit einemmal beweisen diese von Europa gedachten Gedanken, von Europa gefundenen Gesetze ihre erschreckende Furchtbarkeit. Die Sowjetunion hat aus freischwebenden Überzeugungen einen Staat entwickelt, in dem diese Überzeugungen alleinige Geltung haben. Diese Feststellung ist nicht in dem Sinne gemeint, den viele willig aufzugreifen bereit sein dürften, daß der Marxismus mit Notwendigkeit das Debakel der Sowjetunion hervorbringe. Nein! Dese vorschnelle Meinung übersieht einmal den tiefen Graben, der zwischen den Anschauungen von Karl Marx und denen Lenins liegt, und zweitens verkennt sie, daß alle gedanklichen und lebensmäßigen Fehlentwicklungen, die den Kommunismus kennzeichnen, im Mutterboden bürgerlichen Denkens entsprungen sind. Wir empfinden die Blutsverwandtschaft sehr vertrauter geistiger Haltungen mit dem Kommunismus nur darum nicht, weil im westlichen Teil Europas diese Haltungen und Gedanken durch eine Fülle anderer, ihnen widersprechender, mit ihnen konkurrierende neutralisiert, ergänzt, überboten werden. Nur weil in der Sowjetunion jeder andere Gedanke, jeder andere way of life als Ketzerei empfunden und verfolgt wird, offenbaren gewisse europäische Gedanken dort ihre grausigen Konsequenzen. LInsere nun folgende Betrachtung kann also nicht den Charakter eines selbstgerechten Urteils über einen anderen haben, sie wird vielmehr an jedem Punkt ein Selbstbekenntnis und ein Selbst-gericht einschließen müssen.

Wir zeigten schon, daß der Leninismus die Intention hat, eine geschlossene Weltanschauung zu sein, während man im gesamten Schrifttum von Karl Marx den Begriff der „Weltanschauung“ überhaupt nicht findet, da dieser ein viel bescheideneres Ziel hat, nämlich eine wissenschaftliche Analyse der Struktur der Gesellschaft zu sein und die Gesetzmäßigkeiten geschichtlicher Veränderung zu erhellen. Dagegen bietet der Leninismus Erkenntnistheorie, Sinnesphysiologie, naturwissenschaftliches Weltbild, Geschichtsphilosophie, Anthropologie, Gesellschaftslehre, Staatslehre und Ökonomie zugleich. Für diejenigen, die auf diese Lehre eingeschworen sind, enthält die Welt kein Geheimnis mehr, keine Problematik, keine ungelöste Frage. Gewiß gibt es da oder dort noch die eine oder andere terra incognita, einen größeren oder kleineren weißen Fleck auf dem Globus des allgemeinen Wissens. Aber man hat ihn schon eingekreist, begrenzt und in das Ganze des schon Gewußten eingeordnet.

Das Unbekannte ist nicht Geheimnis, sondern es ist das noch nicht Erkannte. Das Geheimnis als Mysterium ist aufgehoben. Alles Irrationale ist bereits grundsätzlich in Rationales verwandelt. Die ganze Tätigkeit der Wissenschaft besteht nach dieser Auffassung darin, Geheimnis in nationale Begrifflichkeit zu verwandeln. So wie der Magen mit Hilfe bestimmter Fermente Speisen verdaut, so verdaut die Ratio des Menschen die Wirklichkeit der Welt. Doch diese Verwandlung des Geheimnisses, aus dem die ganze Schöpfung in jedem Augenblick ihrer Existenz lebt, wird dadurch erreicht, daß alle Qualitäten der Wirklichkeit, die Individualität jeder Erscheinung, ihre Farbe, Form, ihr Geruch, ihr Geschmack, ihre lebendige Gestalt die Ordnungsprinzipien aus denen sie lebt, auf Meß-und Wägbarkeiten, das heißt auf Quantitäten zurückgeführt werden. Farbe, Geschmack, Geruch werden zu verschiedenen Wellenlängen, Gestalten werden zu Elementen, Lebensvorgänge werden zu chemischen Formeln. Nun sind freilich alle Qualitäten mit Meß-und wägbaren Quantitäten verbunden. So wie eine Symphonie von Beethoven mit einer Summe von Streich-und Blasinstrumenten, mit Körpern aus Holz und Blech, mit Saiten aus Darm und Metall und mit den Bewegungen verbunden sind, mit denen Musiker diese Instrumente zum Erklingen bringen, so ist die Gestalt und Ordnung der Welt und der Natur mit materiellen Vorgängen aufs engste verknüpft. Aber die Symphonie Beethovens ist mehr als das, womit sie unzertrennlich verbunden ist. So ist auch die Schöpfung bis in das Atom hinein geprägte Gestalt von geheimnisvoller Ordnung und Gesetzmäßigkeit. Klammert man alle geistigen Elemente der uns umgebenden Welt, klammert man die geprägte Form, den Gestaltcharakter, Ordnung und Zuordnung, Individualität, Schönheit und Zweckmäßigkeit aus, so ist es kein Wunder, daß man schließlich nichts in Händen behält als trostlose tote Materie.

In Europa ist der naive Wissenschaftsglaube des vorigen Jahrhundert überwunden. Man wird es Marx und Engels nicht verübeln, ihn mit allen oder nahezu allen bürgerlichen Denkern und Wissenschaftlern der damaligen Zeit geteilt zu haben. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, auf die sich der Wissenschaftsglaube des vorigen Jahrhunderts gründete, waren im Verhältnis zu den heutigen Erkenntnissen bescheiden. Trotz eines enormen Zuwachses an tatsächlichem und begründetem Wissen, trotz des revolutionären Umdenkens, das auf vielen Gebieten der Wissenschaft seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts stattgehabt hat, ist der Anspruch der Wissenschaft hinsichtlich der Deutung der Gesamtwirklichkeit wesentlich bescheidener geworden. Das Geheimnis der Schöpfung ist trotz all der großen neuen Erkenntnisse nicht kleiner, sondern mächtiger und bedrohlicher geworden. Was man aber Marx und Engels zugute halten muß, kann man Lenin und der heutigen sowjetischen Wissenschaft nicht nachsehen. Lenin hat die Forschungen und Ergebnisse der Sinnesphysiologen und der Phänomenalisten gekannt. Ebenso hatte er die Auflösung der noch im vorigen Jahrhundert geltenden Materievorstellung, den Siegeszug der Elektrophysik und die Anfänge der Feldphysik miterlebt. Sein Buch „Materialismus und Empiriokritizismus“ ist der V ersuch, eine ins Wanken geratene Position noch zu halten. Es ist bemerkenswert durch die doppelte Unverfrorenheit, mit der ein philosophischer Dilettant den bedeutendsten Philosophen von den Vorsokratikern bis zur Gegenwart gute und schlechte Zensuren erteilt, und durch die gleichsam zum philosophischen Prinzip erhobene Unverfrorenheit, mit welcher der Welt ihr Geheimnis entrissen wird, damit Gott auch nicht das kleinste Versteck finden könne, sich darin zu verbergen. In der Geschichte vom Sündenfall, wie sie uns die Bibel erzählt, kommt Gott in den Garten Eden und ruft Adam bei seinem Namen, während dieser sich zitternd vor Gottes An-gesicht verbirgt. In Lenins Philosophie haben wir die Umkehrung dieses Vorgangs vor uns. Gott sitzt gleichsam ängstlich in einem der wenigen Gebüsche, auf welche die prallen Scheinwerfer der dialektisch-materialistischen Philosophie gerichtet sind, und Lenin geht mit drohender Gebärde durch das magere, ausgerodete Gelände und ruft: „Gott wo bist Du?“ — Und wie Gott Adam und Eva aus dem Paradies vertrieb und zwei Engel mit flammendem Schwert an die Pforte des Gartens Eden stellte, so meint Lenin, Gott aus der Wirklichkeit seiner Welt vertreiben zu können. Er stellt seine Weltanschauung an die Pforte der Wirklichkeit, damit Gott es sich gar nicht einfallen lasse, sie je wieder zu betreten. Bedenken wir, daß in der Sowjetunion alle Institutionen des Staates und Organisationen der Partei, dazu Regierung und Oberster Sowjet, Schulen und Forschungsinstitute, Pioniere und Komsomolzen, Rote Armee und MWD, Presse, Film und Theater zu Wächtern bestellt sind, um die Behauptungen Lenins aus „Materialismus und Empiriokritizismus“ im Baß, Tenor und Diskant zu wiederholen, so kann man sich von der geistigen Öde des Bezirks, aus dem Gott und das Geheimnis seines Schaffens ausgetrieben wurden, ein zureichendes Bild machen.

Die Wissenschaft vermag nicht die Natur als Schöpfung und Gott als ihren Herrn und Schöpfer zu erweisen. Als Zeichen zukommender menschlicher Demut und überschwänglicher Dankbarkeit stehen vor dem Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer die beiden Worte: „Ich glaube“. Die Wissenschaft kann sie nicht überflüssig machen wollen, und die Theologie kann nicht wünschen, daß sie sie überflüssig mache. Doch der europäische Mensch gewinnt erst dann eine unüberwindliche Position gegenüber der „marxistisch-leninistischen Weltanschauung“, wenn er die Ewigkeitsdimension des Wirklichen wieder als die Mitte seines geistigen Daseins erkennt.

Der Mensch in der Geschichte

Zum modernen Denken, aus dem der Bolschewismus genauso lebt wie unser eigenes wissenschaftliches Denken, gehört neben dem Reduzierungsvorgang von Qualitäten auf die sie begleitenden Quantitäten der andere Denkvorgang, jeden Vorgang in Natur und Geschichte auf einen anderen, ihn bedingenden zurückzuführen. Die Ereignisse der Geschichte sind in der kausalen Betrachtung zwar alle untereinander so verbunden, daß ein Ereignis die Bedingung des anderen ist. Die Geschichte wird so als Einheit erkannt, als ein zusammenhängender Prozeß. — Doch was das Wesen dieser Einheit „Geschichte“ ausmacht, bleibt dennoch im Dunkel.

Wie aber, wenn es möglich wäre, in der Geschichte die durchhaltende Kraft des Bewegungsprozesses zu entdecken, wie das in der Naturwissenschaft in bezug auf viele Erscheinungen gelungen ist? So richtet sich die letzte Tendenz der modernen Geschichtswissenschaft auf die durchhaltende Kraft, die alle kausal aufeinander folgenden Stadien miteinander verbindet, in der Hoffnung, damit nicht nur die Einheit des Geschichtsvorganges, sondern auch die Verwandlung eines Zustandes in den nächstfolgenden erklären zu können. Erst wo die verschiedenen Momente eines fallenden Körpers durch das Gesetz der Anziehung der Massen erklärt sind, ist sowohl der Gesamtvorgang des Falls als auch der Übergang jedes Moments in den nächstfolgenden verstanden. Erst wo die Entstehung der Arten entweder mit Lamarck durch die Anpassung der Organe an die Bedingungen der Umwelt oder mit Darwin durch die natürliche Auslese auf dem Wege der Zuchtwahl im Kampfe ums Dasein oder durch irgendein anderes Prinzip gedeutet wird, gilt ein Prozeß der Natur, gilt eine geschichtliche Bewegung aus einem einzigen Prinzip erklären können, um sie zu verstehen? Für Herder ist Geschichte die Geschichte des pluralistisch gedachten „Geistes der Völker“. Für Hegel ist die universale Geschichte aller Völker und Nationen die Geschichte von Ideen. Sie ist in letzter Sicht „Selbstentfaltnng des objektiven Geistes“. Der Historiker Friedrich Meinecke sagt: „Geschichte ist nichts anderes als Kulturgeschichte.“ Für Lamprecht ist „Geschichte . . . nichts als angewandte Psychologie“. Für Ranke ist Geschichte die Geschichte der letzten metaphysischen Entscheidungen einer Epoche. Für Treitschke ist die Geschichte Kriegsgeschichte, Rassengeschichte, politische Geschichte unter dem Gesichtspunkt des Machtstrebens der Völker. Für Oswald Spengler ist Geschichte „das Sdtidisal von Daseinsströtuen in Gestalt von Mann und Weib, Gesdtlecht, Volk, Stand, Staat, die sich im Wellensd-ilag der großen Tatsachen verteidigen oder gegenseitig überwältigen wollen“. Bei Spengler unterscheidet sich Menschengeschichte nur durch die Mittel von einem Kampf einer Gruppe von Raubtieren um die Beute.

Für den Staatsrechtler Ihering ist Geschichte dagegen der Kampf von Rechtsvorstellungen, die mit dem Einsatz der Person bzw. eines ganzen Volkes ausgetragen werden. Max Scheler stellt der phänomenologischen Analyse eines Ameisenkampfes die eines Krieges zwischen Völkern gegenüber und führt den Nachweis, daß es selbst in Kriegen um geistige Vormacht und nicht um Beute, nicht um Vernichtung des anderen gehe.

Auch Karl Marx versuchte die Geschichte aus einem einheitlichen Prinzip zu erklären, wie die Naturwissenschaft Vorgänge der Natur aus einheitlichen Bewegungsmechanismen erklärt hatte. Er beantwortete die Frage nach dem Motor geschichtlicher Veränderungen damit, daß er zeigte, daß das Bewegungselement der Geschichte in der stetigen Veränderung der Produktionsmittel und der gesellschaftlichen Organisation dieser Produktionsmittel liege. Diese Organisation der Produktionsmittel verändert die Kooperation der Menschen von Tag zu Tag, ohne daß ihnen dieser Vorgang bewußt zu werden braucht. Sie schafft Reichtum und Armut, sie schafft Abhängigkeitsverhältnisse und Mächtigkeiten, Rechtsanschauungen, Rechtsverhältnisse, Kulturen, Ideologien, sie bringt bevorrechtigte und minderberechtigte Klassen hervor, sie erzeugt Spannungen und Konflikte, Klassenkämpfe, Besitzkämpfe zwischen Geschlechtern, Stämmen, Fürstenhäusern, Staaten und Staaten-gruppen, mit einem Wort: sie ist die durchhaltende Kraft aller Bewegungsvorgänge der Geschichte, die in den Änderungen der materiellen Verhältnisse auf dem Grunde der Gesellschaft ihre Ursache hat. Die Aufdeckung allgemeiner Bewegungsmotoren kann für die Erklärung geschichtlicher oder naturgeschichtlicher Vorgänge sehr fruchtbar sein, und ich stehe nicht an, zu behaupten, daß der Beitrag, den Karl Marx geleistet hat, seine außerordentliche Fruchtbarkeit längst unter Beweis gestellt hat. Durch den Beitrag von Karl Marx erhält die hochfliegende Geschichtsphilosophie Hegels eine notwendige nüchterne Richtigstellung, insofern die Geschichte durch ihn wieder die Geschichte wirklicher leiblicher Menschen wird, die um materielle Interessen ringen und materielle Bedürfnisse befriedigen müssen.

Aber die große Gefahr der Erklärung der Geschichte durch solche Bewegungsmotive liegt darin, daß sie zu Mechanismen werden und die Geschichte zu einer Automatenstraße. Sicherlich hat die ökonomische Geschichtsbetrachtung des Marxismus den durch den einseitigen Logismus Hegels „auf den Kopf gestellten“ Menschen wieder auf seine Füße und mit seinen Füßen auf den Boden der Wirklichkeit gestellt. Aber auch der auf die Füße gestellte Mensch muß der ganze Mensch sein.

Die Geschichte ist die Geschichte des Menschen. Darum ist eine gründliche Anthropologie die Voraussetzung aller Geschichtsbetrachtung. Wird der Mensch wirklich nur von einem einzigen Antrieb beherrscht? Liegen in ihm nicht viele Antriebe recht widersprüchlicher Natur? Liegen nicht neben dem Antrieb der ökonomischen Sicherheit emotionale Antriebe wie Liebe und Haß, der Antrieb des Machtwillens, der Vernunft, der Erkenntnis, des Rechtsgefühls, der Schutzbedürftigkeit und der Schutz-gewährung? Ja, muß nicht auch die Frage gestellt werden, ob nicht alle diese Antriebe in einem Punkt zusammenlaufen, in der Verantwortung gegenüber einem Sinnhaften des Lebens, das der Mensch dauernd suchen muß? Diese Sinnmitte des Seins transzendiert aber alle seine Interessen und alle seine Ideen und kulturellen Schöpfungen. Weil Karl Marx das große Verdienst hat, den Menschen wieder in die Mitte des wirtschaftlichen Geschehens gestellt zu haben und die Geschichte aus einer Geschichte von Ideen, oder von Kulturen oder von abstrakten National-begriffen zu einer Geschichte des Menschen gemacht zu haben, darum kommt so außerordentlich viel darauf an, daß das Wesen des Menschen allseitig beschrieben wird.

Nun hat die ganze Generation, zu der Karl Marx gehörte, die Frage nach dem Menschen mit einer naiven Verwegenheit beantwortet. Erst in den letzten Jahrzehnten ist der Mensch immer tiefer in ein Fragen nach sich selbst, nach sich selbst als dem Erkennenden, nach sich selbst als dem sinnesphysiologich Empfindenden, nach sich selbst als dem durch Macht-und Liebestrieb mächtig bestimmten, und schließlich in der Existenzphilosophie nach sich selbst, als einem jenseits von Erkennen, Empfinden und Getriebensein „Existierenden“ hineingeraten.

Der Mensch ist nur da allseitig erfaßt, wo er in seiner Geist-Leiblichkeit erfaßt wird. Dazu mag die ökonomische Geschichtsbetrachtung Karl Marx ein wichtiger, nicht zu übersehender Beitrag sein. Aber dieser Beitrag versperrt in dem Augenblick den Blick auf den Menschen und den Blick auf die Geschichte, wenn er mehr als ein Beitrag, wenn er das heuristische Prinzip aller Geschichtsbewegung sein will. Den Menschen in seiner Geist-Leiblchkeit erfassen, das bedeutet für die Geschichte, daß in, mit und unter seinen ökonomischen Bedürfnissen höchst geistige Anliegen wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Verantwortung, Gerechtigkeit, Sorge, Fürsorge, Achtung vor der Personhaftigkeit, Menschlichkeit, Fairness, legitime Macht, illegitimer Zwang auf dem Spiele stehen. Nach der Auffassung der Bibel hat nicht der Mensch eine Seele, sondern er, dieser leibliche Mensch, ist eine lebendige Seele. Viele leiblichen Vorgänge sind zugleich geistige Vorgänge, in allen ökonomischen und politischen Fragen entscheiden sich zugleich die höchsten geistigen Fragen. Alles geschichtliche Handeln ist zugleich Daseinserfüllung oder Daseinsverfehlung. Das bedeutet: Geschichte ist nicht nur ein kausaler Ablauf aus einem Ehegestern über das flüchtige Heute in ein unbekanntes Morgen, sondern sie ist ein geistiges Wagnis gegenüber einem jedes Gestern, Heute und Morgen transzendierenden Sinn des Seins selbst. Niemand hat so streng wie Ranke Geschichtswissenschaft als das Fragen danach bestimmt, „wie es eigentlich gewesen ist“, und niemand hat so deutlich wie er erkannt, daß „jede Generation unmittelbar ist zu Gott“.

Gewiß, Geschichtsschreibung im engeren Sinne als Erforschung eines begrenzten Zeitraums auf Grund bestimmter historischer Quellen braucht von allen diesen Fragen nicht bewegt zu sein. Der Historiker sammelt historische Tatsachen aus Quellen und Unterlagen wie der Naturwissenschaftler, der sich mit Käfern beschäftigt, Käfer sammelt und wie der sich mit Schmetterlingen Beschäftigende, Schmetterlinge. Der Käfersammler kann mit der Sammlung von Käfern einer bestimmten Art an ein Ende gelangen und ebenso der Schmetterlingssammler mit der Sammlung und Darstellung von Schmetterlingen. Ebenso vermag der Historiker, der sich bestimmte Grenzen für seine Arbeit gesetzt hat, an ein Ende zu kommen. Aber dieses Ende ist im Grunde willkürlich gesetzt. In Wirklichkeit drängen alle Fragen über sich selbst hinaus. Für den, der wirklich nach der Geschichte fragt und nicht nur nach Fakten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort geschehen sind, sind Fragen nach dem Sinn des Geschehens und dem Sinn der Vergänglichkeit, Fragen nach dem Wesen des Menschen und seinem Verhältnis zum Sein, Fragen nach der Rangordnung der Werte, um die wir in der Geschichte die Menschen und die Völker ringen sehen, die Fragen nach dem Sinn der Ordnungen und Gemeinschaften, in denen die Menschen leben, Fragen nach dem rechten Verhältnis zwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft — ich sage für den, der wirklich nach der Geschichte fragt, sind alle diese Fragen unvermeidlich. Stellt er sie aber, so spürt er, wie auch die Geschichte, genau wie die Welt der Natur, überall in das Geheimnis hineingehalten ist.

Der Christ hat über das Phänomen der Geschichte noch anderes zu sagen. Er weiß, daß vom Erscheinen des Menschen auf der Erde an die Geschichte des Menschen von Gott als dem Herrn der Geschichte in Anspruch genommen ist. Er weiß, daß aller Blutgeruch, alles Leiden, alles Grauen, das über der Geschichte liegt, seinen Grund darin hat, daß der Mensch sich in seiner Geschichte vor dem Anspruch Gottes als seines Herrn verschließt. Er weiß, daß die Geschichte des Menschen an der Sünde teilhat und daß sie der Erlösung bedürftig ist. Die Erlösung der Geschichte ist das Gottesreich. Für den Christen hat das blutige, verworrene, leidenschaftliche und Leiden schaffende Bild der Geschichte sein Gegenbild im Reiche Gottes, das in Jesus Christus „nahe herbei-gekommen ist“. Nicht als habe Jesus Christus eine geschichtliche Tat getan, durch welche der Charakter der Geschichte verändert wurde, nicht als habe er eine neue Geschichtsepoche eingeleitet. Aber Jesus Christus lebte aus der Liebe des Schöpfers zu seiner Schöpfung und zu jedem Geschöpf seiner Schöpfung. Darin, daß er nicht aus der Selbsthilfe, sondern aus der Liebe zur vom Schöpfer geliebten Schöpfung lebte, ist das Reich Gottes als der künftige Äon der Geschichte in ihm sichtbar geworden. Die Geschichte der Menschen, die etwas von der Unruhe und der Qual eines Fieberkranken hat, hat im Reiche Gottes ihr Ziel erhalten. Die Christen aber haben in der Geschichte die besondere Aufgabe, die Hoffnung und die Sehnsucht nach dem Reiche Gottes als eine tätige Sehnsucht lebendig zu erhalten.

Auch diese Erkentnisse haben, wie die über den Schöpfungscharakter der Natur, die Prämisse, die in den beiden Worten: „Ich glaube . .

enthalten ist. Der Historiker vermag sie weder zu behaupten noch zu beweisen. Aber was er von den Voraussetzungen seiner Wissenschaft aus wohl kann, ist dieses: er kann die Kurzschlüssigkeit, die Gefährlichkeit, die mangelnde Allseitigkeit der einzelnen sich anbietenden Bewegungsmechanismen der Geschichte aufzeigen. Im Leninismus ist durch die völlige Ausschaltung jeder anderen Perspektive die ökonomische Geschichtsbetrachtung zum Fetisch geworden. Unaufhaltsam und notwendig, so verkündet man täglich allen Gläubigen und allen Zweiflern gegenüber, gehe die Geschichte ihren Weg zum Kommunismus.

Unaufhaltsam und notwendig gingen alle anderen Geschichtsbetrachtungen, Gesellschaftsverfassungen, Philosophien und Religionen ihrem Untergang entgegen. Die Geschichte selbst ist zum Gott geworden, und die Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei sind seine Priester. Sie allein wissen, was dieser Gott heute, morgen und in alle Zukunft hinein will. Auf Grund der dialektisch-materialistischen Geschichtsbetrachtung wissen sie, wie alles sich entwickeln wird. Zwar hat die Geschichte seit der Revolution von 1917 für die Auguren des Zentralkomitees manche Überraschung gebracht, die sie keineswegs eingeplant hatten. Die vorausverkündete Weltrevolution ist nicht eingetreten. In keinem der hochindustrialisierten Länder Europas sind die Verhältnisse zu einer kommunistischen Revolution gediehen. Auch die Völker, die sich von der Vorherrschaft der Kolonialmächte freimachen, denken nicht daran, kommunistisch zu werden. Die Wirtschaft der kapitalistischen Länder ist nicht zusammengebrochen, sie hat vielmehr sehr interessante Strukturveränderungen vorgenommen und sieht nicht im geringsten so aus, als ob sie in Kürze zu sterben gedächte. Die Sowjetunion ist ihrerseits zu einer imperialistischen Macht ersten Ranges geworden. Mit Hilfe ihres äußersten Antipoden, des nationalsozialistischen Deutschland, hat sie Polen geteilt, Litauen, Lettland und Estland annektiert. Daß sich der Nationalsozialismus vorübergehend zum Herrn von Europa machen würde, hat man im Kreml nicht vorausgesehen. Auch den Wortbruch und plötzlichen Liberfall Hitlers auf die Sowjetunion hat man nicht eine Woche vorausgesehen. Die Geschichte, die die Paradoxien liebt, wollte es, daß die Sowjetunion Seite an Seite mit den hochkapitalistischen Staaten, England und Amerika, den Faschismus besiegte. Auch daß die in Jalta geschlossene Freundschaft und die auf der Freundschaft der großen Vier errichtete Weltorganisation der UNO so schnell ihre Risse und Sprünge offenbaren würde, hat man nicht vorausgesehen. Daß die Feinde von gestern so schnell verläßlichere Freunde untereinander sein würden, als die Freunde von gestern es waren, haben die Männer des Kremls kaum erwartet. Daß ein kleines, selbst dem Kommunismus ergebenes Land wie Jugoslawien der großen Sowjetunion so zähen Widerstand entgegensetzen würde, haben die Vogelschauer des Zentralkomitees nicht voraussagen können, und daß die nach allen Regeln der sowjetischen Kunst gefesselten Satellitenstaaten Polen und Ungarn sich „entsatellisieren" können, muß für die gelernten Mechaniker der Geschichte eine schockierende Überraschung gewesen sein. Mit einem Wort, die Geschichte selbst wehrt sich gegen die mechanische Lenkung durch das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei. Sie wehrt sich gegen alle Voraussagen und Vorausberechnungen. Sie wehrt sich dagegen, sich einplanen zu lassen. Aber die Geschichtsauguren wollen diese Diskrepanz zwischen ihren Vorausberechnungen und den wirklichen Geschehnissen nicht wahrhaben. Ihrem eigenen Volk und den Völkern, die unter ihrem Einflußbereich leben, gegenüber halten sie an dem Anspruch fest, allein zu wissen, was die Geschichte will. Indem sie die Geschichte vergewaltigen, vergewaltigen sie die Völker. Indem sie die Völker vergewaltigen, vergewaltigen sie die Geschichte.

Der Mensch in den Ordnungen der Gesellschaft

Es gibt einen weiteren Punkt, an welchem die christliche Welt dem Kommunismus nur in statu confessionis gegenübertreten kann. Der sowjetische Staat ist dabei, eine neue Ordnung, nämlich die „kommunistische Gesellschaftsordnung“, aufzurichten. Um dieser Ordnung willen hat die Sowjetunion Jahre eines furchtbaren Bürgerkrieges auf sich genommen, um dieser Ordnung willen ist gehungert und gedarbt, sind Hekatomben von Menschen, ja ganze Klassen liquidiert worden, um ihretwillen wurden Völkerschaften aus ihren angestammten Wohnsitzen vertrieben, wurden alte Traditionen und Denkgewohnheiten zerstört, wurden Familien und Dorfgenossenschaften zersprengt, Dorfgemeinschaften in Kolchosen verwandelt, um dieser Ordnung willen muß Gott aus dem Leben und Denken der Menschen vertrieben werden. Zu jedem Opfer an Gut und Sicherheit, an Wohlbehagen und Lebensfülle, an Blut und Menschen ist man um dieser Ordnung willen entschlossen. Der Ruf nach einer völlig neuen, anderen gesellschaftlichen ökonomischen und juristischen Eigentumsordnung war notwendig, weil die alte Ordnung, die kapitalistische, wesentliche Elemente der Unordnung enthielt. Das Bürgertum hat selbst einmal eine mehr als tausendjährige Ordnung zerstört, jene Ordnung nämlich, die auf den Privilegien der Geburt, der Herkunft und des Standes beruhte. Auch in der feudalistischen Ordnung, die die Vorgängerin der bürgerlichen war, gab es Gerechtigkeit und Gleichheit, aber es gab Gerechtigkeit nur unter Gleichen und für Gleiche, es gab Gleichheit nur unter Menschen gleicher Geburt. Die Stände, in denen die Menschen vom Augenblick ihrer Geburt an lebten, standen nicht nebeneinander, sondern sie waren hierokratisch geordnet. — Im emporstrebenden Bürgertum wird das Privileg der Geburt und des Standes plötzlich als Unrecht empfunden. Das Bürgertum spricht ein entschiedenes Nein zu der Auszeichnung, die in der hochwohlgeborenen Geburt liegen soll. Es legt an den Menschen einen anderen Maßstab als den der Abkunft. Es entdeckt unter Menschen aller Stände, aller Berufe und jeglicher hoher oder niedriger Geburt eine übergreifende Einheit. Es proklamiert einen neuen Adel, nämlich den der potentiellen Vernunftfähigkeit und den der Leistung. Auch der Gedanke, daß Gott der Vater aller Menschen sei und alle Menschen gleich geschaffen habe, spielte vor allem in den Gedanken, die zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung führten, eine maßgebende Rolle. Die Grundgedanken der bürgerlichen Revolution schlossen zwei Möglichkeiten ein. Der Gedanke der „Gleichheit aller Menschen vor Gottes Angesicht“, der Gedanke der gottgeschenkten Freiheit und Personhaftigkeit des Menschen mußte, wenn man ihn in soziologische Ordnungsprinzipien umsetzte, zu einer egalitären demokratischen Ordnung führen. Auch der in der Französischen Revolution vorherrschende Gedanke der gleichen potentiellen Vernunftfähigkeit „aller Menschen, die Menschenantlitz tragen“, hätte zu den gleichen Ordnungsprinzipien führen müssen. Es setzte sich geschichtlich aber weder der Gedanke der Solidarität aller Menschen auf Grund der gleichen Vernunftfähigkeit durch noch der christliche Gedanke der Solidarität aller Menschen, weil sie vom Schöpfer mit gleicher Freiheit, gleicher Personhaftigkeit ausgestattet wurden, weil sie in gleicher Weise durch Gottes Gnadenwort angesprochen und durch Christi Leiden und Sterben in gleicher Weise erlöst wurden. Die geschichtsbildende Kraft des aufklärerischen Gedankens der Vernunftwürde war ebenso gering wie die geschichtsbildende Kraft der Gotteskindschaft des Menschen. Geschichts-und ordnungsbildende Kraft bewies dagegen der Gedanke der Leistung. Vom Leistungsgedanken her wird die Stellung und Würde des Menschen in der Gesellschaft, werden sein Einkommen, sein Vermögen, seine Ehre, seine politischen Rechte und Verantwortungen interpretiert. Denn sein Besitz, sein Enkommen, sein Vermögen, seine Stellung, sein Titel, seine Ehren, sein Bildungsstand, seine Kleidung, das alles sind sichtbar gewordene Resultate und Symbole seiner Leistung oder der Leistung seiner Voreltern. Wer aber mehr geleistet hat und infolgedessen mehr besitzt, muß logischerweise auch mehr Rechte innerhalb des politischen Gemeinwesens genießen. Es ziehen also in die durch das Bürgertum revolutionierte Gesellschaft neue Privilegien, neue Vorrechte, eine neue „Ständegliederung", eine neue Erbfolge ein, die nur im Unterschied zur mittelalterlichen nicht auf der höheren oder iederen Geburt, sondern auf dem Besitz beruht. Die bürgerliche Gesellschaft beginnt auch gleich, diese neue Ordnung zu verabsolutieren und mit einer religiösen Weihe zu umgeben. Ein erstes Versagen der Christenheit zeigte sich in der Unkraft, die moderne Demokratie, an der der christliche Glaube so großen Anteil hat, nicht aus der Haltung des christlichen Glaubens begründen zu können. Ein zweites noch viel tieferes Versagen aber offenbart sich in der bereitwilligen religiösen Verklärung der bürgerlichen „Leistungsordnung“ durch die Kirchen beider Konfessionen . Christlicher Glaube und christliches Leben schrumpfen zusammen zur „Legitimität“. Die bürgerlichen Leistungsordnungen achten und legitim in dem gebührenden Respekt vor Thron und Altar in ihnen leben, das wird zum dürftigen Inhalt des christlichen Glaubens. Wie es aber nur eine Tugend gibt, die Legitimität, so gibt es auch nur eine Sünde, nämlich den Widerspruch gegen die Legitimität, die Revolution. Revolution ist in dieser Vorstellung nicht gewaltsame Erhebung gegen eine Herrschaft, sondern jeder Widerspruch gegen die herrschenden Vorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft. Die Revolution wird zur LIrsünde, die durch alle Zeiten hindurchgeht. Sie hat ihr LIrbild in dem Ungehorsam Adams und Evas im Paradies gegen den Befehl, von einer Frucht im Garten nicht zu essen. Von da ab reicht diese LIrsünde quer durch alle Zeiten bis zu der besserwissenden Aufsässigkeit sozialdemokratischer Arbeiter, die in der Zeit des Sozialisten-gesetzes in die Gefängnisse wanderten. Ja, im Gehorsam eines Bauernknechtes, im Widerwort eines Kindes liegt schon die furchtbare Ursünde der Revolution. Die Revolution trägt viele Namen: Aufklärung, Zweifel, Liberalismus, Demokratismus, Frauenemanzipation, Sozialismus, Kommunismus, von der unehelichen Geburt eines Kindes bis zur anarchistischen Gewalttat reicht für den pseudochristlichen Legitimismus die Sünde der Revolution. Die christliche Kirche ahnte nicht, in welchem Maße sie ihre wunderbare und reiche Verkündung durch einen Mann hatte verballhornen lassen, durch die Gedankengänge des konservativen Staatsrechtslehrers Friedrich Julius Stahl. Durch die Verabsolutierung dieser Leistungsordnung hat die Kirche die Arbeiterschaft weithin verloren und haben große Teile des Bürgertums nur sehr, sehr langsam die Unordnungen erkennen gelernt, die sich unter der Oberfläche dieser Besitzordnung breitmachen.

Wie kann es geschehen, daß sich innerhalb einer imponierenden Ordnung grassierende Unordnung ausbreitet? Es geschieht immer auf die gleiche Weise, nämlich dadurch, daß die Ordnung zum Selbstzweck wird und die Liebe stirbt. Anders ausgedrückt, daß im Namen und unter dem Deckmantel der Ordnung Menschen als Mittel benutzt werden. Die Ordnung, die ihren Sinn darin hat, daß sie instrumentalen Charakter trägt und daß sie den Menschen dient, gewinnt Zwangscharakter und erniedrigt die Menschen, denen sie dienen sollte, zum Instrument. Die Blüte des Früh-und Hochkapitalismus war aufgebaut auf der Armut, der Dürftigkeit, dem Elend der Massen, die diese Blüte aus ihrer Kraft nährten. Der Dichter Gerhart Hauptmann, die Malerin Käthe Kollwitz und der Zeichner Heinrich Zille hat das historische Verdienst, das Antlitz und das Milieu der Menschen ein für allemal festgehalten zu haben, die für die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft geopfert wurden.

Die Kommunistische Ordnung der Sowjetunion ist im Protest zur Kapitalistischen Ordnung, durch die Aufhebung jedes Privatbesitzes an industriellen oder landwirtschaftlichen Produktionsmitteln entstanden.

Aber was sehen wir? Wiederum geschieht das gleiche wie zuvor in der feudalistischen und in der diese ablösenden bürgerlich-kapitalistischen Ordnung! Wieder werden Menschen der Ordnung in Hekatomben geopfert. Ja, in einem in der ganzen Weltgeschichte noch nicht dagewesenen Ausmaß werden Menschenkraft und Menschenglück einer Ordnung zum Opfer gebracht. Diese Ordnung aber besitzt einen in der ganzen Weltgeschichte noch nicht dagewesenen Zwangscharakter. Niemals hatte der Mensch so geringen Wert, war sein Leben, sein Wille, seine Personhaftigkeit so billig. Mögen Menschen, Generationen, Völker und ihre Traditionen über dem Aufbau der neuen kommunistischen Heilsordnung zugrunde gehen, mögen Ehen zerstört werden, Liebende auseinandergerissen, Eltern und Kinder getrennt werden, mögen Millionen ihre Heimat verlieren, mag ihr Hab und Gut verloren gehen, mögen Menschen glücklos werden, Charaktere zerbrechen oder verderben, wenn nur diese Ordnung entsteht, die einmal als Heilsordnung die ganze Menschheit beglücken soll. Wir sehen, alle diese Dinge geschehen nicht aus Bosheit, sondern aus einem Idealismus, „der das Beste will“. Menschen müssen zugrunde gehen, damit Menschen glücklich werden. Der Terror, und zwar nicht ein in den Notwendigkeiten eines Notstandes, sondern der permanente Terror muß herrschen, damit die Menschen frei werden. Eine Klasse von Bürokraten regiert mit Zwangsgewalt im Namen der klassenlosen Gesellschaft. Unrecht muß geschehen, damit das Recht daraus erstehe. Alle diese Notwendigkeiten dürfen das Herz der Menschen auch nicht mit einem Schatten des Pessimismus überschatten, denn alle diese Dinge sind ja nur die unvermeidliche Begleiterscheinungen eines unverwüstlichen, noch nie dagewesenen Kulturoptimismus.

Dieser ständigen Aufopferung des Menschen an eine Ordnung, die noch obendrein so problematisch ist wie die Zwangsordnung der Sowjetunion, muß Europa seinen eindeutigen Protest entgegensetzen. Nicht das, was wir uns gemeinhin als Protest zu verstehen gewöhnt haben.

In seiner ursprünglichen Bedeutung meint das Wort „pro-testare" nicht die Negation von etwas, sondern ein Zeugnis, das für eine Sache abgelegt wird. Das Zeugnisgeben für eine Sache macht auch dem Gegner viel deutlicher, um was es eigentlich geht, als die Ablehnung, die er nur allzuleicht als „Reaktion" abzutun bereit ist.

Welches ist dieses Für-Zeugnis, das dem kommunistischen Zeugnis entgegenzusetzen ist? Es kann nicht ein Zeugnis sein für die Ordnung von gestern oder vorgestern, die in ihrer Unordnung erkannt ist, sondern ein Zeugnis für den Menschen, ein Zeugnis dafür, daß die Freiheit, das Recht, die Personhaftigkeit, das Glück des Menschen durch keine Besitzordnung gefährdet werden darf. Freilich ist der moderne Humanismus nicht einheitlich in der Kraft, aus der er lebt. Noch heute fließen stoische, aufklärerische und christliche Elemente ineinander in der Begründung wie in der Zeit der Amerikanischen Unabhängigkeitskriege und der französischen Revolution. Doch trotz seiner Uneinheitlichkeit ist der westliche Humanismus durch eine klare und tiefe Kluft geschieden von dem antihumanistischen, terroristischen Ordnungsfanatismus der Sowjetunion. Natürlich kann auch an diesem Punkt die Blickwendung nicht ausschließlich gegen die Sowjetunion gehen. Denn der Hang der Ordnungen, sich selbst zu verabsolutieren, ist immer und überall der gleiche, wenn er auch noch niemals mit so massiver äußerlicher Gewalt gepaart war wie in der Sowjetunion. Selbst wenn Kirchen sich eine „Kirchenordnung“ schaffen zur Regelung des Lebens der Gemeinde, wohnt in ihnen die gleiche Gefahr, wie in allen anderen Ordnungen. Auch Kirchenordnungen sind nicht frei von der Gefahr, zu Zwangsordnungen zu werden, wen der Mensch im Bereich dieser Ordnungen vergeblich nach Liebe sucht, die seine Not sieht und die ihm hilft. Auch das, was Ordnungen bedeuten und was sie niemals werden dürfen, hat Christus vorgelebt. Denn er zerbrach die als unverbrüchliches Gesetz angesehene jüdische Sabbatordnung, da am Sabbat ein Mann mit einer verdorrten Hand zu ihm kam und ihn darum bat, ihn zu heilen. Das Wort Christi, der Sabbat sei um des Menschen und nicht der Mensch um des Sabbat willen gemacht, enthält das Vernichtungsurteil über jede Ordnung, die den Menschen zu einem Instrument, zu einem verfügbaren Gegenstand erniedrigt. Das härteste Schwert gegen die Vergötzung jeder Ordnung und der sicherste Schild für den Menschen gegen die Gefahr, um einer Ordnung willen geopfert zu werden, ist das erste Gebot: „Ich bin der Herr, Dein Gott, Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!“

In den Ordnungen ist ein Schatz verborgen, der gesehen werden muß, wenn nicht unermeßliches Leid, wie ich es am Beispiel der Sowjetunion aufgezeigt habe, über die Menschen kommen soll. Der Schatz, der in den Ordnungen liegt, ist ihre Schutzkraft für den Menschen und für alle mensch-menschlichen Beziehungen. Damm gegen die Willkür, Schutzwall gegen das Unrecht zu sein, ist die Aufgabe aller Ordnung. Die kommunistische Ordnung ist nicht Damm und Schutzwall. Sie ist ein dunkles und schmutziges Verlies, in dem die Hunde heulen.

Der Mensch und das Recht

Die Frage der Ordnung aber leitet uns zu einer tieferen Frage, in welcher ebenso wie in der Frage der gesellschaftlichen Ordnung die praktische Gesprächs-Koexistenz mit der Sowjetunion mit einem sehr bewußten und klaren geistigen Widerstand gepaart sein muß. Es ist die Frage des Rechts.

Jede Ordnung will im Grunde Rechtsordnung sein, und sie hat das Bedürfnis, sich als mit dem Gehalt und der Würde des Rechts in Einklang befindlich darzustellen. Auch wo eine neue Ordnung mit einer alten im Streite liegt oder sie gar überwindet, liegen zwei Auffassungen von Recht miteinander in Streit. Eine Ordnung wird erst durch ihren Einklang mit dem Recht erfüllte Ordnung. Erst der Anspruch, daß sie gerechte Ordnung ist, daß sie mehr Gerechtigkeit verwirkliche als die alte, vergangene, gibt ihr Autorität auch gegenüber den Widerstrebenden. Ist eine Ordnung gerecht, so hat sie eine Seinsmächtigkeit, die den Zwang überflüssig macht. Je weniger sich eine Ordnung auf Recht und Gerechtigkeit gründet, desto weniger kann sie des Zwanges entbehren. Sie muß den Menschen durch äußere Maßnahmen zwingen, die Ordnung anzuerkennen, die der Mensch in der Freiheit seiner Personhaftigkeit nicht annehmen will oder gar nicht annehmen kann. Er kann dieser Ordnung gehorchen, aber dieses Gehorchen bleibt ein äußerliches Tun, das im Grunde das Gegenteil von Gehorchen ist, nämlich ein Sich-Entziehen. Obwohl Karl Marx um die Seinsmächtigkeit des Rechtes wußte, hat er die Frage des Rechtes willentlich und bewußt vernachlässigt. Der Grund dafür liegt darin, daß alle utopischen Sozialisten sich für ihre Theorien und für ihr Programm auf Grundsätze der Gerechtigkeit beriefen. Da er sah, daß sie mit ihren Theorien entweder nicht weiterkamen oder unter Berufung auf Recht und Gerechtigkeit Unglück anrichteten, schien ihm die Berufung auf das Rechtsgefühl ein zu ungesicherter Boden, und er suchte nach den historischen Gesetzen einer revolutionären Entwicklung. Sein Kampf gegen den utopischen Sozialismus ist vergleichbar mit dem Kampfe Luthers gegen die Schwärmer, die dieser auch aus lauter guten und christlichen Absichten törichte und verhängnisvolle Dinge tun sah. So kommt es, daß durch Karl Marx die Frages des Rechtes nicht in einer speziellen Untersuchung behandelt wurde, obwohl das Pathos der Gerechtigkeit allen seinen Schriften den Stempel aufdrückt.

Im Leninismus gibt es überhaupt kein im Sein selbst begründetes Recht-sein mehr, sondern Recht ist nichts als die jeweilige gesellschaftlich bestimmte Rechtsregelung. Diese Rechtsregelung des „formalen Rechts" hat auch gar keinen Beziehungspunkt mehr in einem ihm vor-geordneten Rechtsein. Sein einziger Beziehungspunkt ist ein Mittel zum Zweck, ein Werkzeug in der Hand der herrschenden Schicht der Gesellschaft. Is die herrschende Schicht die Bourgeoisie, so ist das Recht ein Mittel zur Unterjochung des von ihr abhängigen Proletariats. Ist dagegen die herrschende Schicht die Arbeiterklasse, so ist das Recht Mittel und Werkzeug, um die Schicht der Ausbeuter zu vernichten und die Revolution des Proletariats vorwärtszutreiben. Der sowjetische Jurist T. P. Trainin sagt in einer Arbeit „Zur Frage der Wechselbeziehungen zwischen Staat und Recht“: „Es ist die Politik, die allein das Wesen, den Charakter, die Richtung und die Form des vom Staate geschaffenen Redrtes bestimmt." Wie sehr aber der Staat selbst nicht von einem allen Staatsbürgern geschuldeten Recht, sondern von einem politischen Zweck her denkt und handelt, illustrieren zwei Worte aus Stalins Schrift „Über die Grundlagen des Leninismus“. Das eine erklärt: „Der Staat ist eine Maschine zur Niederhaltung der Bourgeoisie.“ Das andere sagt: „Die Diktatur des Proletariats ist die durch kein Gesetz beschränkte (!) und sidt auf Gewalt stützende Herrschaft des Proletariats über die Bourgeoisie.“

Doch müssen wir auch an diesem Punkt erkennen, daß diese Deutung des Rechts nicht genuin kommunistisch ist, sondern die bürgerliche Schule des „Rechts-Positivismus“ hat sie geschaffen. Der Kommunismus hat sie übernommen und für seine revolutionäre Praxis sinnentsprechend verändert. Linser Protest im Sinne eines „Für-Zeugnisses“ darf sich also auch hier nicht im Sinne des üblichen Schlagwortkrieges nur gegen den Kommunismus richten, sondern wir müssen erkennen, wie europäisches Denken Gehalte schuf, über die wir erschrecken, nachdem der Kommunismus sie zur allein herrschenden Doktrin erhoben hat. Denn ob der deutsche, französische und italienische Positivismus das Recht auf den Staat als den Setzer und Schöpfer des Rechtes in einem zuvor rechtfreien Raum zurückführt, oder ob der Kommunismus das in der Gestalt des Exekutivkomitees angeblich herrschende Proletariat zum Schöpfer, Setzer und Garanten der „revolutionären Gesetzmäßigkeit“ macht, bedeutet nur einen Unterschied hinsichtlich des Nutznießers, nicht hinsichtlich des Charakters dieses „Rechtes“. Das Recht hat in beiden Fällen keine ontologische, sondern eine voluntaristische Grundlage. „Was Völker-rechtist, bestimmen wir!“ erklärte Ludendorff während des ersten Weltkrieges. „Recht ist, was dem deutschen Volke nützt“, erklärte Adolf Hitler. „Revolutionäre Gesetzlichkeit hat gegenüber revolutionärer Zweckmäßigkeit zu weichen“, erklärt der sowjetische Generalstaatsanwalt Wyschinsky. Es ist amüsant zu sehen, wie einig sich die Voluntaristen der verschiedenen Lager sind, die an den ontologischen Ursprung und an die ontologische Mächtigkeit des Rechtes nicht mehr glauben. Der Bruch mit dem ontologischen Verständnis des Rechtes als einer dem Sein innewohnenden Macht ereignet sich also nicht erst bei Lenin, sondern er liegt schon bei Friedrich Nietzsche, Spengler, Hans Kelsen u. a. vor.

Unrecht stört den Frieden der Welt

Solange wir den Weg der Menschheit in der Geschichte zurückverfolgen können, waren in der Vorstellung der Menschen „die'Ältesten“ einer Gens, die Priester, die örtliche Rechtsgemeinde, der König oder der Rat des Landes, waren der Staat oder die oberste Rechtsinstanz des Staates niemals Schöpfer und Herren, sondern Diener, Vollzieher, Vollstrecker, Garanten des Rechtes. Die Frommen und die Gläubigen aller Religionen ehren den Seinscharakter des Rechtes, indem sie es als das höchste Geschenk der Götter achteten. Niemals war das Recht ein verfügbares Kampfmittel in der Hand eines Mächtigen, sondern es war das Friedensmittel, das Gott oder die Götter den Menschen anvertraut haben. Die Welt bzw. die Schöpfung kann nicht leben ohne Frieden, aber die Menschen können nicht miteinander leben, ohne nicht über diese oder jene Sache, über Großes oder Kleines in Unfrieden zu geraten. Jedes Unrecht stört den Frieden der Welt. Recht und Gesetz sind die Mittel der Weisheit, um den Friedenszustand, den die Schöpfung braucht, den die menschliche Gemeinschaft, den der Verletzer und der in seinem Recht Verletzte braucht, wiederherzustellen. Jedes Ding, jeder Mensch und jede Gemeinschaft haben ihr Recht nicht kraft eines Gesetzes, sondern kraft des Daseins selbst. Richten heißt, diesen jedem eigene Recht schützen und bewahren. Das Gesetz ist nur Ausdruck des erfahrenen Rechts. Richten und Schlichten sind ursprünglich synonyme Begriffe. Denn Richten heißt auch dem deutschen Sprachsinn nach das, was krumm, schief, eingerissen, angestoßen, zerstört, zerbrochen ist, wieder ins richtige Sein, wieder ins rechte Lot zu bringen. Ist zwischen einem Menschen, dem ein Unrecht widerfuhr, und einem anderen, der im Unrecht zufügte, Recht gesprochen, so ist, jedenfalls der Intention des Rechtsvorganges nach, der ursprüngliche Friede wiederhergestellt.

Alle anderen Erscheinungen, die zur Rechtsprechung gehören, das Recht-sprechen, das Urteilen, Verurteilen, die Sühne, das Aussprechen einer Strafe, der Vollzug der Strafe, sie alle bilden nicht die Mitte des Rechtes. Sie sind notwendige und dienende Momente. Sie haben alle ihren Sinn darin, den gestörten Rechtsfrieden wiederherzustellen. Sie dienen alle dazu, ein Unrecht, soweit das angängig ist, wiedergutzumachen.

Wer diese friedenschaffende, seinserhaltende, gemeinschaftserhaltende Kraft im Recht, die alle seine zeitlichen Ausdrucksformen übergreift, nicht sieht, der macht das Recht zum Büttel der jeweils herrschenden Macht. Im Leninismus ist dieser Mißbrauch des Rechts durch die Macht und im Interesse der herrschenden Schicht so weit getrieben, daß auch die Gleichheit vor dem Gesetz aufgehoben wird. Angehörige der Bourgeoisie werden strenger und härter bestraft als Angehörige der arbeitenden Bevölkerung. Der Gegner des Systems hat überhaupt kein Recht mehr. Er ist vogelfrei. Das heißt aber, daß hier nur noch das Wort „Recht“ die sowjetische Rechtstheorie mit der abendländischen verbindet. An die Stelle der Kategorie „Recht“ ist eine andere getreten, nämlich die der Freund-und Feindsetzung. In den Gebieten, die einmal von den Sowjets besetzt waren, konnte man alsbald bemerken, daß der, der ihr Freund war oder es verstand, sich als solcher auszugeben, ein Dieb, Betrüger, Mörder oder Zuhälter sein konnte, er bekam Recht, und er war aus ihrem Vertrauen nicht zu stürzen. Dagegen der, der ihr Gegner war oder den sie für ihren Gegner hielten, konnte der beste, sauberste, edelste Mensch sein, er bekam Unrecht. Alle die Schandurteile, die auf sowjetischem, deutschem, österreichischem, polnischem, ungarischem, rumänischem Boden gefällt wurden und die für die Bevöl-kerung dieser Gebiete meist völlig unverständlich blieben, weil sie mit der Kategorie des Rechts und Unrechts zu rechnen gewöhnt war, haben hierin ihren zureichenden Grund. Verständlich werden alle diese LIrteile, die mit Recht nicht das geringste zu tun haben, erst, wenn man klar und deutlich sieht, daß die Freund-Feindsetzung an die Stelle der Recht-findung getreten ist. Hier wird nicht durch das Recht der Seinsfrieden wiederhergestellt, sondern der Mächtige diktiert dem Unterlegenen die Bedingungen der LInterwerfung. Die Göttin des Rechtes, die eine Binde vor ihren Augen trägt, weil die Gerechtigkeit kein Ansehen der Person kennen darf, die die Waage trägt, um Recht und Unrecht so genau wie möglich abzuwägen, und die ihr Schwert trägt, um das gefundene Recht kraftvoll durchzusetzen, hat in der Sowjetunion die Würde einer Göttin abgelegt, um eine Komsomolzin zu werden. Sie hat sich die Binde von den Augen gerissen, weil man die Feinde erkennen muß. Sie hat die Waage als überflüssiger Plunder fortgeworfen, und sie führt ein scharfes Schwert gemäß den Aufträgen und Richtlinien, die sie vom Zentralkomitee der Partei empfängt. Chruschtschow bedauert die Kommunisten, die dieser Komsomolzin zum Opfer gefallen sind, aber seine Rede enthält kein Wort, das uns erkennen ließe, daß er die schmutzige und unwürdige Rolle erkennt, die die Gerechtigkeit in der Sowjetunion spielt.

Wie der Sinn für das Geheimnis der Natur, wie der Sinn für die Unverfügbarkeit der Geschichte und für die metahistorischen Voraussetzungen der Geschichte vergraben ist, wie der Sinn für die Heiligkeit des Menschen und für den Schutzcharakter der gesellschaftlichen Ordnungen verschüttet ist, so ist auch der Sinn für die Kategorie des Rechtes und der Gerechtigkeit verscharrt. Die armen Hunde aber heulen, heulen und klagen so lange, bis der vergrabene Schatz gehoben und dem Volke einmal wieder geschenkt wird.

Ich hörte, was die Hunde heulen! Wie wir alle uns eine Vorstellung vom Nordpol machen können, nicht aus eigener Anschauung, sondern auf das Zeugnis einiger Arktisforscher hin, so möchte meine Darstellung der Kenntnis des Landes dienen, das als Versuchung und als Bedrohung eine so große Rolle für die Völker der Welt gewonnen hat.

Es gibt zwei falsche Haltungen der Sowjetunion gegenüber. Die eine entspringt aus der Furcht, die andere aus einer zu großen Vertrauensseligkeit. Jede Vertrauensseligkeit ist unangebracht und höchst gefährlich, wenn wir erkennen, daß der Partner, mit dem wir zu koexistieren genötigt sind, alle unsere moralischen Maßstäbe nicht teilt und nicht teilen will. Seine Unterschrift, die er unter die Charta der Vereinten Nationen gesetzt hat, und seine Zugehörigkeit zu der Vereinigung der Vereinten Nationen, verdunkelt nur diesen Tatbestand. Jeder flüchtige Blick in das leninistische Schrifttum beweist uns das ebenso deutlich wie das Vorgehen der Sowjetunion im Falle Lingams.

Die hysterische Furcht, in der viele Menschen, insbesondere viele Intellektuelle leben, ist aber ein ebenso gefährlicher Ratgeber wie die naive Vertrauensseligkeit. Die Furcht wäre nur dann begründet, wenn die Gehalte unseres Lebens, Denkens und Glaubens, denen des Kommunismus nicht gewachsen wären. Wir, die wir Jahre, ja, oftmals mehr als ein Jahrzehnt unseres Lebens in der Welt hinter dem Eisernen Vorhang verbringen mußten, möchten allen denen, deren Leben glücklicher war als das unsere, allen denen, die in Ruhe und Stetigkeit ein natürliches Leben auf dem Boden des Vaterlandes und im Verein mit ihren Angehörigen leben durften, bezeugen, daß sich in allen Leiden und in allen Verbrechen, deren Zeugen wir geworden sind ein Urverbrechen ausdrückt: die Zerstörung des Menschenbildes. Der russische Mensch hat Augen und Ohren und alle Sinne wie wir. Er spricht mit seiner Zunge und er gebraucht seine Hände wie wir. Er lacht und weint wie wir. Aber das, was den Gebrauch der Augen und Ohren und aller Sinne, was den Gebrauch der Zunge und der Hände zu einem menschlichen macht, das personhafteigene, verantwortliche Sein, ist ihm geraubt Er darf nicht frei glauben und denken, was er will. Er darf nicht sprechen, wie es ihm ums Herz ist. Er darf mit seinen Händen nicht tun, was er für gut hält. Es ist die letzte praktische Konsequenz des leninistischen Denkens, daß der Mensch nicht sein Leben lebt, sondern daß sein Leben gelebt wird durch einen allmächtigen Staat in einer allmächtigen Zwangs-ordnung. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei ist das Hirn, die Kommunistische Partei das Herz, ihre Propaganda die Zunge und der schreiende Mund, das Spitzelsystem des MWD ist Auge und Ohr, die Rote Armee ist Hand und Maschinenpistole dieses bombastischen Über-menschen, der jedem einzelnen die Freiheit der Personhaftigkeit gestohlen hat, um sie auf sich zu übertragen.

Freilich sollten wir keinen Augenblick vergessen, daß der Bolschewismus eine Re-aktion ist auf einen Mißbrauch, daß er die Antwort auf einen Schaden ist, der mit dieser Freiheit angerichtet wurde, weil diese Freiheit der Bindungen und Verantwortungen nicht eingedenk war, durch die der Mensch dem Mitmenschen nach Gottes Willen verbunden ist. Die unbegrenzte, ungebundene Freiheit, die Freiheit des Egoismus und der Willkür, die Freiheit der Gott-und Nächstenlosigkeit ruft nach dem Kommunismus so notwendig wie die Rattenplage nach dem Rattengift. Die Aufgabe Europas liegt darin, Freiheit in der Bindung durch Liebe und Gerechtigkeit zu verwirklichen.

Das Leiden, das wir wollend und widerstrebend, fröhlich und traurig, verzweifelt und gefaßt, keineswegs wie Helden und keineswegs wie Heilige getragen haben, erweist seinen Sinn, wenn es von denen, für die es getragen wurde, als ein stellvertretendes Leiden verstanden wird.

Anmerkung:

Aurel von Jüchen, geb. 20. Mai 1902 in Gelsenkirchen. Studium der Theologie in Münster, Tübingen und Jena. 1929 ordiniert und als Pfarrer in Möhrenbach/Thüringer Wald angestellt. 1940— 1945 Wehrdienst. Anschließend Pfarrer an der Schelfkirche Schwerin. Als altes Mitglied der SPD in die SED überführt. 1950 wegen kirchlicher Jugendarbeit aus der SED ausgeschlossen und vom NKWD verhaftet. Zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und nach Workuta verschickt. Im Oktober 1955 amnestiert. Heute Pfarrer an der Jugendstrafanstalt Plözensee/Berlin.

Fussnoten

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