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Hitlers psychologischer Angriff auf Frankreich | APuZ 5/1961 | bpb.de

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APuZ 5/1961 Hitlers psychologischer Angriff auf Frankreich

Hitlers psychologischer Angriff auf Frankreich

Wilhelm Ritter Vonschramm

Das strategische Fernziel

Inhalt I. Das strategische Fernziel II. Die Hitlersche Taktik III. Der Einbruch in die Frontkämpferverbände IV. Die kulturellenTransmissionen V. Nach der Münchner „Gipfelkonferenz" VI. Die militärischen Folgen

Es ist ein Merkmal der modernen Massengesellschaft, daß sie rasch vergißt und vor allem für den Tag und in den Tag hineinlebt. Sie ist „journalistisch" ausgerichtet. Das politische Desinteresse, das für sie charakteristisch ist, wenn es an Brot und Spielen nicht mangelt, resultiert vielfach aus einem Mangel an geschichtlichem Bewußtsein, aus dem Nicht-Wissen was gestern war und dem Nicht-Fragen was morgen sein kann oder sein wird. Infolgedessen haben die Demagogen dieser Massengesellschaft gegenüber immer leichtes Spiel, wenn sie nur Illusionen erregen und Emotionen zu wekken wissen. Massenversammlungen, in denen das kritische Bewußtsein des Individuums mehr oder minder betäubt wird, können dann leicht zu Tagträumen verführen und wie starke Narkotika wirken. Es ist kein Zweifel, daß ihre Technik Hitler noch besser beherrschte als die KPD das getan hat.

Aber die Demagogie war für Hitler immer nur Mittel zum Zweck — genau wie bei Lenin Er hat sich nicht in ihr erschöpft, wie die Anarchisten der Münchner Räterepublik dies z. B. getan haben. Nach der „Machtergreifung" und der sogenannten „Nationalen Revolution“, die ihm die totale Macht im Reiche einbrachten, ging er zu einer systematischen Außenpolitik über, um die damalige Isolierung Deutschlands zu überwinden. Schon während seiner Festungshaft in Landsberg hat er sich grundsätzliche Gedanken darüber gemacht und in „Mein Kampf“ ein ausgesprochenes politisches Programm-Buch geschrieben, das ihm dann zehn Jahre später als Richtschnur dienen sollte. Das darin ent-haltene Programm ist auch tatsächlich zum erheblichen Teil erfüllt worden, zum geschichtlichen Verhängnis nicht nur der Deutschen und Juden, sondern auch aller europäischen Völker. Man hätte also in „Mein Kampf“ jederzeit nachlesen können, was Hitler tatsächlich gewollt hat. So war das Einparteiensystem darin ebenso angekündigt wie die „Endlösung der Judenfrage“. Aus dem 13. Kapitel „Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege" konnte man auch auf Seite 687 wörtlich lesen: „Es kann keine außenpolitische Erwägung von einem anderen Gesichtspunkt aus geleitet werden als aus dent: Nantes unserem \'olkjetztundinderZukunftoder wird es ihm von Schaden sein? (Im Original gesperrt. Anm. d. Vers.). Es ist dies die einzige vorgefaßte Meinung, die bei der Behandlung dieser Frage gelten darf. Parteipolitische, religiöse, humane (!) überhaupt alle übrigen Gesichtspunkte scheiden restlos aus.“

Hitler hatte sich damit bereits „bolschewistischen“ Gedankengängen und kommunistischen Praktiken genähert, denn er hätte bei Lenin in noch schärferer Konsequenz (Ausgew. Werke Bd. 11 Ostberlin 1953 S. 788) lesen können: „Jede soldte Sittlichkeit, die aus einem übernatürlichen, klassenlosen Begriff abgeleitet wird, lehnen wir ab ... Wir sagen, daß unsere Sittlichkeit völlig den Interessen des proletarischen Klassenkampfes untergeordnet ist. Unsere Sittlichkeit entspringt aus den Interessen des proletarischen Klassenkampfes.“

Das Studium von „Mein Kampf“ ergibt aber nicht nur die Hinweise auf die „Ethik“, sondern auch auf die Ziele der deutschen Außenpolitik, wie sie Hitler vorschwebten und wie er sie dann auch zum großen Teil verwirklichte. Das 13. Kapitel des 2. Bandes über „Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege" ist in dieser Beziehung besonders aufschlußveich. So kann man aus ihm z. B. auf Seite 687 erfahren: „Das Ziel einer deutschen Außenpolitik von heute hat die Vorbereitung zur Wiedererringung der Freiheit von morgen zu sein.“

Wie sich Hitler diese künftige Freiheit denkt und wie er sie gewinnen will, das hat er auf den folgenden Seiten 688/89 in Sperrdruck besonders hervorgehoben, so daß einem aus den Worten förmlich der heiße Atem eines fanatischen Willens entgegenschlägt: „Weiter ist zu bedenken, daß die Frage der Wiedergewinnung verlorener Gebietsteile eines Volkes und Staates immer in erster Linie die Frage der Wiedergewinnung der politischen Macht und Unabhängigkeit des Mutterlandes ist, daß mithin in einem solchen Falle die Interessen verlorener Gebiete rücksiditslos zurückgestellt werden müssen gegenüber dem einzigen Interesse der Wiedergewinnung der Freiheit des Hauptgebietes. Denn die Befreiung unterdrück- ter, abgetrennter Splitter eines Volkstums oder von Provinzen eines Reiches findet nicht statt auf Grund eines Wunsches der Unterdrückten oder eines Protestes der Zurückgebliebenen, sondern durch die Machtmittel der mehr oder weniger souverän gebliebenen Reste des ehemaligen gemeinsamen Vaterlandes . . . Denn unterdrückte Länder werden nicht durch flammende Proteste in den Schoß eines gemeinsamen Reiches zurückgeführt, sondern durch ein schlagkräftiges Schwert. Dieses Schwert zu schmieden, ist die Aufgabe der innerpolitischen Leitung eines Volkes, -die Schmiedearbeit zu sichern und Waffengenossen zu sudten, die Aufgabe der außenpolitischen.“

Bei Lenin ist das Bekenntnis zur Anwendung von Waffengewalt folgendermaßen formuliert: „Die revolutionäre Armee ist deshalb notwendig, weil die großen gesd-tichtlidten Probleme nur durch Gewalt gelöst werden können, die Organisation der Gewalt im modernen Kampf aber ist eine militärische Organisation.“

Letzte Absicht: militärische Gewaltanwendung

Der Realist Hitler hat im übrigen eine sehr deutliche Vorstellung von einer imperialistischen Außenpolitik, deren letztes Ziel die militärische Gewaltanwendung ist. Bevor es soweit ist, meint er in dem erwähnten 13. Kapitel: „Eine Diplomatie hat dafür zu sorgen, daß ein Volk nicht heroisch zugrunde geht, sondern praktisch erhalten wird. Jeder Weg, der hierzu führt, ist dann zwedtmäßig, und sein Nichtbegehen muß als pflidttvergessenes Verbrechen bezeidmet werden.“

Mit diesem Satz warf Hitler die klassische Außenpolitik des Ausgleichs zum alten Eisen und bezog den gleichen Standpunkt wie der Kommunismus, der eben nur ein Lebensrecht gelten läßt. Es lag freilich nicht in Hitlers Absicht, etwa eine Weltrevolution zu entfachen, dafür war die völkische Weltanschauung zu national gebunden, aber von Anfang an kommt doch immer wieder die Affinität seiner Gedankengänge mit den bolschewistischen zum Ausdrude, so wenn es z. B. im 11. Kapitel des 2. Bandes S. 654 heißt: „Der durchschlagendste Erfolg einer weltanschaulichen Revolution wird immer dann erfodtten werden, wenn die neue Weltanschauung möglichst allen Mensdten gelehrt und, wenn notwendig, später aufgezwungen wird, während die Organisation der Idee, also die Bewegung, nur so viele erfassen soll, als zur Besetzung der Nervenzentren des in Frage kommenden Staates unbedingt erforderlidt sind.“

Die Hinterhältigkeit dieser Passage liegt in den Worten „wenn notwendig, später aufgezwungen". Denn wenn Hitler und seine Funktionäre vor 1939 immer wieder erklärt haben, der Nationalsozialismus und damit auch die völkische Bewegung seien keine Export-Artikel, so haben die eroberten und besetzten Länder später tatsächlich erfahren, daß ihnen diese, jetzt mit Waffengewalt, siegreiche Weltanschauung doch mehr oder minder überall aufgezwungen wurde, vor allem auch in der . Endlösung der Judenfrage“. Jedenfalls war nach dieser Ankündigung vorauszusehen, daß die Aufoktroyierung dieser Ideologie der völkischen Gewalt an den deutschen Grenzen ebensowenig Halt machen werde wie die Praktizierung des Klassenkampfes an denen der Sowjetunion, nachdem die siegreiche Rote Armee deren Grenzen überschritten hatte. Allerdings setzten in. Machtbereich Hitlers nicht die Soldaten, die sich um Anstand bemühten, sondern die „Amtswalter“ der NSDAP den Sieg der Idee, der völkischen Weltanschauung durch — indem sie sich entsprechend benahmen.

Was sagt nun „Mein Kampf" über Frankreich und die künftige Außenpolitik ihm gegenüber? Diese Frage muß hier vor allem gestellt werden, weil sich die psychologische Offensive Hitlers seit Ende 1933 vor allem gegen Frankreich richten sollte. Nach dem 14. Kapitel gelten ihm nur England und Italien als künftige Bundesgenossen, während sich gegen das Frankreich des Versailler Vertrages Hitlers unauslöschlicher Haß richtet. So heißt es denn auch auf S. 766/767: „Solange der ewige Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich nur in der Form einer deutsdren Abwehr gegenüber französischem Angriff ausgetragen wird, wird er niemals entschieden werden, wohl aber wird Deutschland von Jahrhundert zu Jahrhundert eine Position nach der anderen verlieren . ..

Erst wenn dies in Deutschland vollständig begriffen sein wird, so daß man den Lebenswillen der deutschen Nation nicht mehr in bloß passiver Abwehr verkümmern läßt, sondern zu einer endgültigen aktiven Auseinandersetzung mit Frankreidt zusammenrafft und in einem letzten Entscheidungskampf mit deutscherseits größten Schlußzielen hineinwirft: erst dann wird man imstande sein, das ewige und an sich so unfruchtbare Ringen zwischen uns und Frankreich zum Abschluß zu bringen; allerdings unter der Voraussetzung, daß Deutschland in der Vernichtung Frankreichs nur ein Mittel sieht, um danach unserem Volke endlich an anderer Stelle die mögliche Ausdehnung geben zu können.“ „Mein Kampf“ ist zwar im Laufe der Zeit in Millionen von Exemplaren verbreitet und auch in viele Sprachen übersetzt worden, wie wir wissen; aber von seinem Inhalt, von den politischen Zielen, die Hitler mit aller Offenheit ansprach, wurde kaum richtig Notiz genommen. Verhält man sich indessen Lenin gegenüber anders? Er hat seine Lehre, seine Prinzipien, die Absichten der kommunistischen Weltrevolution wie ihre Verfahren in zahllosen Schriften und Artikeln unmißverständlich dargestellt, und doch ist er von den meisten, denen er den Kampf bis aufs Messer ansagte, nicht ernst genommen worden.

In dem oben genannten Abschnitt hatte Hitler seine außenpolitischen Absichten Frankreich gegenüber verkündet, und die kommenden Jahre zeigten, daß er sie unbeirrt durchführen sollte. Er hat nicht nur den Versailler Vertrag Punkt für Punkt aus eigener Machtvollkommenheit außer Kraft gesetzt, sondern darüber hinaus alle militärischen Voraussetzungen dafür geschaffen, daß er Frankreich vernichten konnte, so wie er sich es vorgenommen hatte. Aber um sicher zu gehen, startete er lange vor der militärischen eine psychologische Offensive gegen den Abwehrwillen der Franzosen und erreichte damit fast sein Ziel. Im Endergebnis kam es dann freilich ganz anders.

Ein Modellfall

Die Vernichtung Frankreichs ist jedenfalls für Hitler seit der Konzeption von „Mein Kampf“ das strategische Hauptziel gewesen, bevor er sich nach dem Osten wandte Aber auf dem Wege dazu, also von 1933 bis 1940, waren noch viele Etappen zuückzulegen und Hindernisse zu überwinden. Es galt dabei auch für Hitler, der 1933 noch ganz in die Verteidigung gedrängt war, wie für Lenin und Sowjetrußland nach 1917, aufzuholen und zu überholen, wirtschaftlich, politisch und militärisch. Es ist kein Zweifel, daß er dies, vom Anfangserfolg her betrachtet, mit einer machiavellistischen Virtuosität gemacht hat, die bei seiner mangelhaften Ausbildung frappiert. Noch frappierender aber ist sein psychologischer Feldzug gegen Frankreich, durch den der militärische Elan der Franzosen gelähmt wird. So ist er einer der aufschlußreichsten Modellfälle, an dem wir die Verfahren studieren können, die Techniken, Tarnungen und psychologischen Einflüsterungen, deren sich Hitler bedient hat.

Woher aber hatte Hitler die Gabe, sich mit einer solchen Geschicklichkeit auf die jeweilige Lage einzustellen, woher das psychologische Wissen? Es ist ihm ebensowenig durch systematische Schulung vermittelt worden wie dem heutigen Ersten Mann der Sowjetunion — Nikita Chruschtschow. So kommt es in beiden Fällen wohl aus einer angeborenen Gabe, aus einer der allerdings völlig wertfreien Intuition, aus einer fast tierischen Witterung für das, was jeweils politisch Vorteil oder dem anderen Lager Schaden bringen kann. Das ergibt in der politischen Praxis eine Wendigkeit ohnegleidien. Ein interessanter Hinweis, wie sich Hitler dieses Gespür erwarb, ist wohl in den Passagen über die Bedeutung der Rede im sechsten Kapitel des 2. Bandes von „Mein Kampf“ enthalten, wo es auf Seite 532 heißt: „Der überragenden Redekunst einer beherrschenden Apostelnatur wird es nun leichter gelingen, Menschen dem neuen Wollen zu gewinnen, die selbst bereits eine Schwächung ihrer Widerstandskraft in natürlichster Weise erfahren haben, als solche, die noch im Vollbesitz ihrer geistigen und willensmäfligen Spannkraft sind ... In diesem Ringkampf des Redners mit den zu bekehrenden Gegnern wird dieser allmählich jene wundervolle Feinfühligkeit für die psychologischen Bedingungen der Propaganda bekommen, die dem Schreibenden fast stets fehlt.“

In der Tat war Hitler im Jahre 1933 bereits mit einer solchen psychologischen Feinfühligkeit ausgerüstet, als er sich im Spätherbst 1933 entschloß, zur Vernichtung Frankreichs mit einer großen Friedens-und Entspannungspropaganda anzutreten, um zugleich hinter dem propagandistischen Nebelvorhang mit allen Kräften zu rüsten.

II. Die Hitlersche Taktik

Hat Adolf Hitler tatsächlich das psychologische Feingefühl besessen, dessen er sich in „Mein Kampf“ rühmte? Frankreich und den Franzosen gegenüber ist dies in bestimmter Weise sicher der Fall gewesen, wenn wir auch lieber von einer psychologischen Gerissenheit sprechen möchten, mit der er sich auf sie einstellte. Die Strategie dem Staat gegenüber, mit dem er kein Bündnis schließen, sondern den er vernichten wollte, hatte er in Landsberg konzipiert; die psychologische Taktik aber war in den Jahren herangereift, in denen er beträchtliche Erfahrungen im politischen Kampf bis zur „Machtergreifung" sammeln konnte.

Es ist heute an der Zeit, nicht nur gegen Hitler zu polemisieren, sondern auch seine Verfahrensweisen zu studieren. Die Kenntnis seiner totalitären Manipulationen, die von vornherein auf die totale Macht abzielen und jeden Kompromiß nur als Durchgang betrachten, kann nämlich auch gegen den anderen, wahrhaft absoluten Totalitarismus immunisieren. So ist es lehrreich zu sehen, wie er sich vor der Berufung zum Reichskanzler, die ganz legal erfolgt ist, einer Art von „Volksfronttaktik“ bedient, indem er sich mit den Deutschnationalen und dem „Stahlhelm" zur Harzburger Front vereinigte. Ganz ähnlich haben auch die Bolschewiki unter Lenin zunächst mit den Menschewiki und den Sozialrevolutionären paktiert — bis sie sie überspielt und die Alleinherrschaft im Staate gewonnen hatten. Damit wurde in Rußland aus der bürgerlichen Kraft der Dynamik Lenins die kommunistische Revolution, und so ist 193 3 aus der nationalen Erhebung die nationalsozialistische Revolution geworden, der allerdings am 30. Juni 1934 die Arme abgeschlagen wurden, so daß nur der Kopf Hitlers übrigblieb.

Immerhin konnte der seit dem Ermächtigungsgesetz vom März autoritär regierende Reichskanzler seiner Sache bereits im Herbst 1933 einigermaßen sicher sein. So hat er sich zu den ersten Schritten entschlossen, die Deutschland nach seinem Konzept wieder volle politische Handlungsfreiheit geben und die Fesseln von Versailles sprengen sollten: Am 14. Oktober 1933 beschloß die Reichsregierung, die damals praktisch schon autoritär von Hitler geführt wurde, die Genfer Abrüstungskonferenz zu verlassen und aus dem Völkerbund auszutreten. Es war scheinbar ein Schritt zurück, der die außenpolitische Isolierung des „Neuen Deutschland“ perfekt machte, aber zugleich einen neuen Anfang bedeutete — vom Ende der Locarno-Politik nämlich. Es war auch der erste Zug in jenem verwegenen außenpolitischen Spiel, das nach einer Unsumme überraschender Gewinne schließlich zum Kriegs-und Vabanque-Spiel werden sollte.

Hinweis auf den Kommunismus als Vorwand

In Frankreich hatte man die Machtergreifung Hitlers, die nach seiner Berufung zum Reichs-kanzler in schnellen Etappen erfolgte, mit unverhohlenem Mißbehagen begleitet. Am 31. Januar 1933 hatte der „Figaro“ geschrieben: „Hitler bedeutet Krieg“. Das ganze Jahr hindurch hatte die Spannung in Frankreich angehalten, nicht zuletzt weil sie immer wieder durch beunruhigende Nachrichten aus Deutschland genährt wurde, und verschärfte sich nach dem Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund noch weiter. „La Prochaine“, der nächste Krieg war das Tagesgespräch. Das wußte natürlich Hitler und so machte er sich als politischer Psychologe daran, Öl auf die Wogen der französischen Erregung zu gießen. Bereits am Abend des dramatischen 14. Oktober sagte er an die Adresse Frankreichs in einer Rundfunkrede:

Mi fasse es als Zeichen eines edleren Gerechtigkeitssinnes auf, daß der französische Ministerpräsident Daladier in seiner letzten Rede Worte eines versöhnlichen Verstehens ge funden hat, für die ihm unzählige Millionen Deutsche dankbar sind ... Wir sind ergriffen bei dem Hinweis auf die leider nur zu traurige Wahrheit, daß diese beiden großen Völker so oft in der Geschichte das Blut ihrer besten Jünglinge und Männer auf dem Schlachtfeld geopfert haben. Ich spreche im Namen des ganzen deutschen Volkes, wenn ich versichere, daß wir alle von dem aufrichtigen Wunsch erfüllt sind, eine Feindschaft auszutilgen, die in ihren Opfern in keinem Verhältnis steht zu irgend einem möglichen Gewinn ... Wenn der französische Ministerpräsident aber fragt, warum denn die deutsche Jugend marsdiiere und in Reih und Glied antritt, dann nicht, um gegen Frankreich zu demonstrieren, sondern um jene politische Willensbildung zu zeigen und zu dokumentieren, die zur Niederwerfung des Kommunismus notwendig war und zur Niederhaltung des Kommunismus notwendig sein wird. Es gibt in Deutschland nur einen Waffenträger, und dies ist die Armee.“

Diese grundsätzliche Erklärung hat in Frankreich Eindruck gemacht. Überhaupt wußte Hitler in den nächsten Jahren die kommunistische Weltgefahr immer wieder als seinen Todfeind Nr. 1 zu bezeichnen und so die Aufmerksamkeit von seinen anderen Vorhaben abzulenken. Im übrigen kam ihm bei den Märzüberraschungen 193 5 (allgemeine Wehrpflicht) und 1936 (Rheinlandbesetzung) zugute, daß das französische Kabinett die Zahl der deutschen Soldaten, die im Kriegsfall zur Verfügung stehen würden, weit überschätzte. Marschall Petain hat sie bereits im Frühjahr 1934 mit der Zahl der noch verwendungsfähigen Kriegsteilnehmer und der paramilitärischen Verbände auf über 3 Millionen angenommen. (Näheres siehe: „Hitler und die deutsche Aufrüstung 1933— 37“ von Gerhard Meinck, Wiesbaden 1959, S. 76.)

Nach seiner Rundfunkansprache vom 14. Oktober fand Hitler bald weitere Mittel und Wege, seine damaligen, gewiß friedlichen Absichten zu unterstreichen. Er bediente sich dazu der großen englischen und französischen Presse, die sich ihm bereitwillig zur Verfügung stellte. So erläuterte er, wie es in der offiziellen Verlautbarung hieß, schon am 19. Oktober Ward Price, dem Sonderkorrespondenten des „Daily Mail", die Friedenspolitik der deutschen Reichs-regierung, unterstrich sie noch einmal am 10, November in einer Ansprache an die Arbeiter von Berlin-Siemensstadt und empfing dann, offenbar nach besonders sorgfältiger Vorbereitung, den angesehenen französischen Publizisten Comte Fernand de Brinon, der Briand und Stresemann persönlich nahegestanden hatte. Am 23. November veröffentlichte die große Pariser Zeitung „Le Matin“ dieses Interview, das auf die deutsch-französische Verständigung abzielte. Es erregte deshalb Aufsehen, weil Hitler, der doch in „Mein Kampf“ wie in der Kampf-zeit kein gutes Haar an Locarno und dem „Erfüllungspolitiker“ Stresemann gelassen hatte, auf einmal diesen selben Stresemann und die Locarnopolitik lobte. Im Hinblick auf das glänzende Ergebnis der Volksabstimmung vom 12. November über die Billigung der Politik der Reichsregierung, das natürlich stark manipuliert war, sagte Hitler wörtlich zu de Brinon: „Ich glaube, daß das Ergebnis der Volksabstimmung meinen Bestrebungen eine ganz neue Kraft gegeben hat. Als Stresemann in verdienstvoller Weise und in großer Klarheit neue Wege für eine Verständigung mit Frankreich zu ßnden versuchte, und als Brüning, der zwar schwach, dessen Absicht aber ebenfalls gut war, dasselbe tat, da hatten sie das deutsdte Volk nicht hinter sich. Ich aber habe ganz Deutschland. Ich habe dem deutschen Volk nicht verheimlicht, was ich will, und es hat mir seine Zustimmung ausgesprochen. ... Ich habe die Überzeugung, wenn die Frage des Saargebiets, das ein deutsches Land ist, einmal in Ordnung kommt, dann gibt es nichts, absolut nichts mehr, was zwischen Frankreich und Deutschland einen Gegensatz sdtaffen könnte. Elsaß-Lothringen? Ich habe es oft genug wiederholt, so daß man mich endlich verstanden haben könnte, daß wir endgültig darauf verzichtet haben .. . Elsaß-Lothringen ist keine Streitfrage.“

Dann kam Hitler auf die Kriegsfurcht und das Sicherheitsbedürfnis des französischen Volkes zu sprechen und erklärte es für baren Unsinn überhaupt wieder an einen Krieg zu denken, der doch nur „das Ende für unsere beiden Rassen bedeuten würde, die an der Spitze der Weltentwicklung stehen. Dann würde es nicht allzulange dauern, und Asien würde sich in unserem Erdteil festsetzen, und der Bolschewismus würde triumphieren.“ Das ist ja dann auch fünf Jahre nach dem triumphalen Blitzsieg Hitlers in Frankreich 1940 buchstäblich so gekommen.

Während Hitler die Aufrüstung vorbereiten ließ, die sich übrigens durchaus in Grenzen hielt, so daß die Gesamtstärke der Reichswehr am 1. Oktober 1933 erst rund 110 000 Mann, ein Jahr später allerdings schon 240 000 erreicht hatte (Meinck a. a. O. S. 89), hatte er natürlich allen Grund, seine Friedens-und Verständigungsbereitschaft zu versichern. Außerdem galt es für die Saarabstimmung Anfang 1935 ein günstiges Klima zu schaffen. Das war für den versierten politischen Taktiker selbstverständlich. Er bediente sich dabei auch der Methode der verteilten Rollen, um noch weitere Stimmen ins Spiel zu bringen. Der erste, der dazu vorgeschickt wurde, war der damalige Vizekanzler v. Papen, der am 1. Januar 1934 in der Berliner Börsenzeitung schrieb: „Wir wünschen an der Wende der neuen Zeit den jahrhundertealten Kampf mit Frankreich zu beenden.“

Bewußte Steuerung inoffizieller Kontakte

Auch andere Wege wurde beschritten, um zu einer baldigen Verständigung zu gelangen. So sind auch die inoffiziellen Kontakte zwischen Deutschen und Franzosen im Jahre 1934 unter bewußter Steuerung durch das Hitler-Regime weiter ausgebaut worden. Vor allem gelang es, mit den großen Frontkämpferverbänden Kontakt aufzunehmen, wie wir im nächsten Kapitel schildern werden. In seiner großen außenpolitischen Rede zum 30. Januar 1934 betonte Hitler von neuem seinen Verständigungswillen, wenn man nur Deutschlands Gleichberechtigung anerkenne. Dann kam im Frühsommer die Rede des „Stellvertreters des Führers“ Rudolf Heß, der mit Nachdruck an die Solidarität der Veteranen aller Völker appellierte, und schließlich eine außenpolitische Friedenserklärung, gleich-falls von Rudolf Heß, die sich speziell an die Franzosen richtete und am 20. September im Pariser „Intransigent“ veröffentlicht wurde. Die Friedensoffensive, die in Anbetracht der Saarabstimmung opportun war, kam allmählich auf Touren.

Ein Meisterstück des politischen Hexeneinmaleins, wie es den Totalitären gemäß ist, lieferte Hitler in der Krisenzeit 1936. Über die Zunahme der deutschen Rüstungen beunruhigt, sie vielleicht auch weit überschätzend, hatte die französische Regierung Rückendeckung gesucht und sie auch bei der Sowjetunion gefunden. Nun stand der Abschluß eines französisch-sowjetischen Beistandspaktes bevor, der Hitler nicht wenig ärgerte. So gab er am 21. Februar 1936 wiederum persönlich einem angesehenen Pariser Journalisten ein Interview, nachdem er schon am 25. Januar Madame Tityana vom Massenblatt „Paris Soir“ empfangen und ihr Friedensbeteuerungen über Friedensbeteuerungen gegeben hatte. Nun aber, am 21. Februar, erklärte er seinem Interviewer Bertrand de Jouvenel gegenüber sich zwar nicht als reuigen Sünder, aber doch als fortschrittlichen Politiker, der seine Meinung völlig geändert habe. De Jouvenel hatte ihn nämlich auf die Abschnitte in „Mein Kampf“ hin angesprochen, die die Feindschaft Hitlers gegen Frankreich so offenkundig machten und seinen Vernichtungswillen zum Ausdruck brachten. Bei dem Augen-und Ohrenzeugen dieses Gesprächs, dem späteren Botschafter in Frankreich während des Krieges, Otto Abetz, ist in seinem Erinnerungsbuch „Das offene Problem“, Köln 1955, folgendes zu lesen: „Idi sehe Hitler noch deutlich vor mir, wie er am 21. Februar 1936 dem Vertreter des . Paris Soir“, Bertrand de Jouvenel, seinen Unwillen über den kurz vor der Ratifikation stehenden französisch-russisdien Pakt äußerte: , Meine persönlichen Bemühungen um eine deutsch-französisdie Verständigung werden weitergehen. Meine politischen Entschlüsse aber, fügte er mit einem Gesichtsausdruck von unerbittlicher Entschlossenheit hinzu, , werden bei Inkrafttreten des Paktes der veränderten Situation Rechnung tragen müssen'. Und nach dem Hinweis auf die Europa von Rußland drohenden Gefahren richtete er einen letzten, fast beschwörenden Appell an die Adresse Frankreichs: , Laßt uns Freunde sein. Soyons amis! ‘ “

Im selben Interview gab Hitler dann eben jene Erklärung, die praktisch einen Widerruf der Frankreich-Thesen von „Mein Kampf“ gleichzukommen schien. Bertrand de Jouvenel hatte ihm nämlich vorgehalten, daß dieses Buch unter den zahlreichen Hindernissen einer Verständigung mit Deutschland das größte sei. Er fragte Hitler, warum er denn sein Werk nicht korrigiere, wenn ihm so viel daran gelegen sei, daß sich das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland normalisiere. Da war der Gefragte um eine geschickte Antwort in keiner Weise verlegen. Er wies auf den französischen Ruhreinfall von 1923 und dessen depremierende Folgen hin, unter deren Eindruck er das Buch niedergeschrieben habe, und sagte dann abschließend mit erhobener Stimme: „Ich bin kein Schriftsteller, sondern ein Staatsmann. Ich werde die Korrektur von . Mein Kampf in das Buch der Geschichte schreiben.“

Weiter sagte er wörtlich: „Mein Buch ist eine Kampfansage, das darum erfüllt ist von den scharfen Ausfällen und Verwünschungen, weil es im Gefängnis geschrieben wurde. Ich schrieb es mit der Empörung eines verfolgten Apostels. Aber zwischen dem politischen Programm dieses Buches und dem des deutschen Reichskanzlers besteht ein grundsätzlicher Unterschied: Es sind Wandlungen eingetreten und Verpflichtungen, wie immer, wenn eine Opposition zur Regierung kommt. Soll ich mich darum berichtigen und die Stellen, die heute überholt sind, aus dem Buche ausmerzen? Der Politiker berichtigt sich nicht durchs Wort, sondern durch sein Verhalten, durch Taten. Ich berichtige . Mein Kampf gegenüber Frankreich am besten dadurch, daß ich mit allem Nadidrude für eine deutsdr-französische Verständigung eintrete.“

Ausbeutung pazifistischer Neigungen

Nach 1936 hat Hitler nur noch selten Interviews gegeben. Er hatte sie kaum mehr nötig. Denn in der Zwischenzeit waren Tatsachen geschaffen, die Deutschland zu einem neuen Machtfaktor machten; vor allem die Aufstellung der Wehrmacht mit einer jungen modernen Luftwaffe und die Achse Berlin-Rom, der Antikomintern-Pakt, dem sich dann auch Japan anschloß. Untätig war Hitler gewiß nicht gewesen, sondern unzweifelhaft schneller und von sehr viel größerer Dynamik als die ihm gegenüberstehenden Staatsmänner. Als die junge Wehrmacht imMärzl 936auf Hitlers Befehl indiebisher neutralisierte Zone des Rheinlands einrückte, blieb es bei bloßen Protesten. Seine Friedens-beteuerungen hatten inzwischen auch in Frankreich erreicht, daß dort die öffentliche Meinung geteilt war, was in einer Demokratie oft dazu beiträgt, einheitliche und energische Maßnahmen zu verhindern. Im ganzen aber hatte sich die Stimmung Deutschland-Frankreich gebessert, nicht zuletzt auch durch die Begegnungen anläßlich der Olympischen Spiele in Berlin 1936. Um in diesem Sinne auch noch einen außenpolitischen Akzent zu setzen, erklärte Hitler am 30. Januar 1937 im Reichstag: „Im übrigen will ich diesen Erklärungen noch eine weitere anschließen, nämlich, daß damit die Zeit der sogenannten Überraschungen abgeschlossen ist. (Beifall und Heiterkeit) Als gleichberechtigter Staat wird Deutschland, seiner europäischen Aufgabe bewußt, nunmehr in Zukunft in loyaler Weise mitarbeiten an der Behebung der Probleme, die uns und die anderen Nationen bewegen.“

Das war etwa ein dreiviertel Jahr bevor Hitler im engsten Kreis seiner Oberbefehlshaber und des Reichsaußenministers seine Entschlossenheit erklärte, zur Kriegspolitik überzugehen, (5. November 1937), kaum vierzehn Monate vor dem Einmarsch in Österreich. Es handelte sich also nur um eine Atempause, um die Aufrüstung auf einen Stand zu bringen, den er für seine weiteren Absichten brauchte. Der Vergleich zwischen der Propaganda des „Tauwetters“ nach dem XX. Parteitag und dem Befehl, den ungarischen Aufstand im Herbst des gleichen Jahres blutig niederzuschlagen, liegt nahe.

Im übrigen hatte der amerikanische Publizist H. R. Knickerbocker recht, als er in seinem Buch „Kommt Krieg in Europa?“ (Berlin 1934) nach einer Rundreise durch die europäischen Hauptstädte 1934 schrieb: „Es wird keinen . Präventivkrieg geben. Frankreich wird nicht, um einen Krieg zu verhüten, von dem es meint, es könnte ihn morgen gegen Deutschland verlieren, einen Krieg an zetteln, von dem es meint, es könnte ihn heute gewinnen . . .

Das ist die wichtigste, für den Frieden sprechende Feststellung, die ... mit aller Unbedingtheit gewagt werden kann. Die Gründe dafür, daß eine derartige Prophezeiung . . . überhaupt gewagt werden kann, sind: 1. Die profunde Friedensliebe, die heute das französische Volk beherrscht.

2. Die französischen Befestigungen.

3. Der polnisch-deutsche Nichtangriffspakt. 4. Die ungewisse Haltung Italiens.

5. Die unmißverständliche Haltung Englands gegen einen soldten Krieg.

6. Die Fortschritte, die Deutschland bereits auf dem Wege zur Aufrüstung gemacht hat.

Der französische Wunsch nach Frieden ist etwas anderes als Pazifismus. Ein französischer sozialistischer Professor sagte mir: . Lieber einen deutschen Gouverneur in Paris als einen Krieg.“ Das ist Pazifismus, radikaler, kompromißloser Pazifismus."

Sechs Jahre später hatte dieser radikale, kompromißlose Pazifismus, nicht zuletzt der der Professoren, Frankreich nicht nur einen deutschen Gouverneur in Paris eingebracht, sondern auch einen Krieg mitsamt einer Okkupation, die vier Jahre lang dauerte, außerdem aber auch noch eine Legion von NS-, Amtswaltern“, die das Land auspowerten — und schließlich zudem einen Bürgerkrieg zwischen den Franzosen selbst, der Zehntausenden von ihnen das Leben kosten sollte.

Die Totalitären verstehen es, jede pazifistische Neigung für ihre Zwecke auszubeuten. Wie dies Hitler bei den französischen Frontkämpfern gemacht hat, ist heute besonders lehrreich.

III. Der Einbruch in die Frontkämpferverbände

1933 hatte Hitler in Frankreich nur wenig Sympathien und wohl kaum französische Parteigänger. Seine Bewegung war ja auch einseitig völkisch und nationalistisch, seine Ideologie für den französischen Rationalismus zu „teutonisch" und sein ganzes Gebaren, wie er es vor der Machtergreifung gezeigt hatte, einfach zu barbarisch. Auch der Drill, der in seiner Partei herrschte, und das fortwährende Marschieren und die Saalschlachten seiner paramilitärischen Sturmabteilungen gefielen dem französischen Individualismus nicht, ganz abgesehen davon, daß man in Frankreich Hitlers Parteiarmee als unmittelbare Bedrohung empfand und sie im übrigen in ihrem militärischen Wert weit überschätzte. Aber gerade darum erhoben sich dort nach der „nationalen Revolution“ in Deutschland bald auch gewichtige Stimmen, die dafür plädierten, daß man Hitler entgegenkomme und ihm legale Möglichkeiten der kontrollierten Aufrüstung verschaffe. Die Friedenserklärungen und -Beteuerungen Hitlers hatten bis zum Jahre 1934 zudem auch schon das Ergebnis, daß der damalige Ministerpräsident Barthou zu H. R. Knickerbocker sagen konnte: „Wenn es auf der ganzen Welt einen Mann gibt, der heute den Frieden will, dann ist es Hitler. Wie seine Lage in der Zukunft sein mag, wenn die deutsche Aufrüstung einmal die Empfindungen seines Volkes geändert hat, zu welchen Folgen die innere Entwicklung in Deutschland führen mag, das kann niemand sagen. Aber heute, glaube ich, müssen wir Hitlers Worten glauben: er will nicht den Krieg.“

So war Hitler bereits im Jahre 1934 ein breiter Einbruch sowohl in die amtliche wie in die öffentliche Meinung Frankreichs gelungen. Es gelang ihm vor allem bei den damals größten Massenorganisationen nach den Gewerkschaften, nämlich bei den französischen Frontkämpferverbänden. Das wird immer ein Phänomen bleiben, denn gerade in ihnen hätte man ja mit einem gesteigerten Nationalismus rechnen können. Aber der französische Rationalismus hatte sich auch in diesem Fall als stärker erwiesen: Der Poilu hatte den deutschen Landser als Gegner achten gelernt; der Nationalhaß, wenn er überhaupt bei den Soldaten eine größere Rolle gespielt hatte, war im Inferno der Materialschlachten verglüht — und auf beiden Seiten ein tiefes Friedens-und Versöhnungsbedürfnis übriggeblieben, bei den Siegern noch größer als bei den Besiegten. Die Mehrzahl der französischen Frontkämpfer war demgemäß Anhänger der Locarno-Politik, so daß sie die Vorgänge in Deutschland auch nach dem 30. Januar 1933 mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte. Es entging vielen alten Frontkämpfern durchaus nicht, daß einer von ihnen, wenn auch von der Gegenseite, mit Hilfe der soldatischen Disziplin einen zum Teil erstaunlich raschen Wieder-aufstieg seines Landes in die Wege zu leiten wußte.

Schon die „erste Welle“ der deutsch-französischen Verständigung in der Zeit der Freundschaft zwischen Briand und Stresemann hatte, wie gesagt, bei den Veteranen ihre Kreise gezogen. Sie hatte ja auch in Deutschland Widerhall gefunden und zwar im „Jungdeutschen Orden", worauf neuerdings wieder in der Schrift von Eberhard v. V i e t s c h : „Arnold Rechberg und das Problem der politischen Westorientierung Deutschlands nach dem ersten Weltkrieg" (Koblenz 1959) hingewiesen wurde. Bereits bei dem Kongreß der Union Federale des Anciens Combattants im Mai 1929 in Brest war es aufgrund französischer Initiative zu einer demonstrativen Verbrüderung zwischen den Front-kämpfern der beiden „Erbfeinde“ gekommen. Das Bemühen um eine endgültige Aussöhnung ging dann auch nach der nationalsozialistischen Machtergreifung weiter.

Erste Mittlerin zwischen deutschen und französischen Frontkämpfern auf breiter Basis war bezeichnenderweise die deutsche Jugend im westlichen allemannischen Grenzland. Vor allem diejenigen, die sich im sogenannten „Sohlbergkreis" zusammengefunden hatten, erwarben sich dabei große Verdienste. Auf dem Sohlberg im nördlichen Schwarzwald waren nämlich bereits seit 1930, nach der Räumung des Rheinlands, regelmäßig junge Deutsche und Franzosen zusammengekommen, um Gedankenaustausch zu pflegen, den man dann auch bei regelmäßigen Treffen in Frankreich fortsetzte. Der aktivste Mann dieses Kreises seit seiner Gründung war Otto Abetz, Zeichenlehrer und Jugendführer aus Karlsruhe, der 1932 auch eine junge Französin heiratete. Das sollte auch sein weiteres Schicksal bestimmen. Ohne eigenes Zutun ist nämlich Abetz, der nicht Pg. war, 193 3 als Frankreichreferent in den Stab der Reichsjugendführung berufen worden, als man sich dort, offenbar auf einen Wink Hitlers, besonders für Frankreich interessierte. Abetz war es dann auch, der offenbar ohne Hintergedanken, nur aus persönlicher Passion, die ersten Kontakte zwischen deutschen und französischen Front-kämpfern vermittelte. Sie sollten weitreichende Folgen haben, auch für ihn selber.

Hitler ein „Friedenskämpfer"

Den NS-Gleichschaltungstendenzen entsprechend, waren im Laufe des Jahres 1933 sämtliche deutsche Kriegsbeschädigte in der Massenorganisation des NSKOV, des nationalsozialistischen Kriegsopferverbandes, zusammengeschlossen worden. An dessen Spitze trat der sogenannte „Reichskriegsopferführer“ Pg. Oberlindober, der durch Vermittlung von Abetz bald die Verbindung nach Frankreich aufnahm. Auch der Kyffhäuser-Bund, die Spitzenorganisation der alten Soldaten, trat auf einen entsprechenden Wink hin mit Franzosen in Kontakt. Die Deutschnationalen in seinen Reihen hatten dabei anfänglich manche Hemmung zu überwinden, da sie längst nicht so pazifistisch dachten wie die Mehrzahl der französischen Frontkämpfer. Aber auch für sie war es ein Politikum erster Ordnung, als Otto Abetz, zunächst auf eigene Faust, den persönlichen Kontakt zu den großen französischen Frontkämpfer-verbänden herstellte, nachdem er in Paris Auszüge der Rede verlesen hatte, die Rudolf Hess, „der Stellvertreter des Führers“, in Königsberg gehalten hatte. Hess sagte darin wörtlich: „An DeutsMamis Ostgrenze garantieren verständnisvolle Pakte den Frieden der Bewohner großer Nadtbarstaaten. Mödtten andt die Regierungen an den anderen Grenzen des Reidies bald eine größere Sicherheit für ihre Volks-genossen in friedlichen Verträgen sehen, statt in angehäuftent Kriegsmaterial ... Im Geden ken seiner Toten wird in Deutschland der Wille zum Frieden stets stark und mächtig sein. Die alten Soldaten der Front und die jungen Kämpfer für ein freies, stolzes und friedfertiges Reidt grüßen ihren Führer Adolf Hitler. Grüßen wir ihn alle zugleich als den Kämpfer für den Frieden.“

Rudolf Hess, heute noch in Spandau gefangen gehalten, gebührt also der Ruhm, den Begriff des „Friedenskämpfers“ geprägt zu haben, nur hieß er damals nicht Ulbricht oder Chruschtschow, sondern Hitler.

Dem Appell von Rudolf Hess, den ihnen Abetz übermittelte, haben sich 1934 die französischen Veteranenverbände aufgeschlossen gezeigt. Sie reagierten zustimmend, sodaß die unmittelbare Verbindung zwischen sechseinhalb Millionen deutschen und dreieinhalb Millionen französischen Frontkämpfern ausgenommen werden konnte. Bereits am 2. August 1934, genau zwanzig Jahre nach dem Ausbruch des ersten Weltkriegs, kam eine erste gemeinsame Arbeitstagung auf deutschem Boden in Baden-Baden zustande, die viele weitere einleitete. Nach dem offiziellen Programm war sie vor allem gemeinsamen Versorgungsfragen, also „technischen Kontakten“ gewidmet. Trotz dieser Abschirmung hatten dann die französischen Teilnehmer allerdings Schwierigkeiten in der Öffentlichkeit, die bis zuPressefehden und Verleumdungskampagnen gegen sie gingen. Sie haben trotzdem unbeirrt an ihrem Verständigungswillen festgehalten.

Hitler wurde natürlich davon unterrichtet — und er sah sofort seine Chancen. So hat er sich noch vor der Saarabstimmung 193 5 in die Kontakte persönlich eingeschaltet und am 2. November 1934 die erste Delegation französischer Frontkämpfer empfangen. Er gab sich dabei ganz menschlich und unpolitisch und gedachte — es war Allerseelentag — in seiner kurzen An-f spräche nur der Millionen Gefallener der beiden Völker. Dann sprach er sachlich und gehalten über die Notwendigkeit eines friedlichen und dauerhaften Ausgleichs zwischen Deutschland und Frankreih. Auf Jean Goy, den Vizepräsidenten der Union Nationale des Anciens Combattants, mähte dieser Empfang einen so starken Eindruck, daß er einen höhst positiven Beriht darüber veröffentlihte. Das war der Auftakt zu einer immer enger werdenden Verbindung zwishen den Frontkämpfern der beiden Völker, die shließlih zu einem Politikum erster Ordnung werden und tiefgreifende psyhologishe Folgen haben sollte.

Bereits sehs Wohen später war wieder eine Delegation von französishen Veteranen in Berlin, diesmal auf Einladung der Hitlerjugend. Sie war von der Union Federale, dem mehr linksstehenden zweiten Veteranenverband entsandt und wurde von dessen Präsidenten Henri Pihot geführt, der sih bald als besonderer Freund der Deutshen erweisen sollte. Audi diese Delegation wurde von Hitler persönlich empfangen. Dabei aber mähte er seine Gäste bereits zu Übermittlern einer wichtigen außenpolitishen Erklärung, die die wegen der deutshen Aufrüstung gespannte Atmosphäre reinigen sollte: Er versicherte ihnen feierlih, daß es von deutsher Seite zu keiner Störung der Saarabstimmung kommen werde. Die Franzosen ihrerseits shlugen vor, Verbände von Front-kämpfern der beiden Länder mit der Überwahung zu betrauen. So weit war die Annäherung shon gediehen. Wenn man manhe Reden aus dieser Zeit nahliest, gewinnt man überhaupt den Eindrude, daß sich die alten Soldaten damals geradezu an Ritterlihkeit überboten. Dabei aber hatten die Franzosen meistens den schwereren Stand, weil die Brüskierungen Frankreihs durh Hitler nah der Rüdekehr der Saar ins Reih sofort wieder einsetzten, um fast in jedem März der kommenden Jahre mit einet neuen Überrashung aufzuwarten, von der Verkündigung der deutshen Wehrhoheit angefangen. In diesem Zusamenhang ist es niht notwendig, die gegenseitigen Besuhe der deutshen und französishen Veteranen im einzelnen aufzuzählen. Wichtiger ist es, zu wissen, wie die Kontakte wirkten und was Hitler mit ihnen bezweckte. Ohne Zweifel hat er sih dabei von einem zum Teil frappanten psychologischen Einfühlungsvermögen leiten lassen. Da das strategische Fernziel feststand, blieb er in der Taktik seiner Außenpolitik immer beweglich und hat es vor allem verstanden, längst beabsichtigte Maßnahmen in dem psychologisch richtigen Augenblick durchzuführen, wo sie als Reaktion oder bloße Verteidigungsmaßnahmen erschienen. Gleichzeitig gelang es ihm, wichtige Persönlichkeiten der französischen Öffentlichkeit, die wir heute Multiplikatoren nennen würden, zu seinen Geschäftsträgern zu machen. So hat er im März 1935 den Sprecher der französischen Kriegsblinden, der selbst blindgeschossen war, den Pariser Abgeordneten und Rechtsanwalt Georges Scapini ausschließlich zu dem Zweck empfangen, ihn als sein Werkzeug zu benutzen. Er traf ihn auch nicht in Berlin, sondern in Bad Godesberg, wo Scapini einen Teil seiner Schulzeit verbracht hatte. Bei der ersten Begegnung hatte Hitler Tränen in den Augen, so schien er von Scapinis Blindheit erschüttert. Dabei hat zunächst der dem Pazifismus zuneigende Abgeordnete mit seinen Bedenken gegen die deutsche Aufrüstung nicht hinter dem Berg gehalten. Aber schließlich wußte Hitler auch ihn zu gewinnen, als er sagte: „Wenn ich zehn Millionen Arbeiterwohnungen baue, werde ich mir den Dank eines Großteils meines Volkes sichern. Wie sollte ich da nicht wünschen, daß die anderen abrüsten, um mir die Aufrüstung zu ersparen? Aber inmitten eines bis an die Zähne bewaffneten Europas kann Deutschland allein nicht unbewaffnet bleiben.“

Dieses Argument hat Hitler auch bei anderen Gelegenheiten vorgebracht, wie er ja überhaupt gleich allen Totalitären durch ständige Wiederholung zu wirken wußte. Es ist dann auch in Frankreich kolportiert und so lange kommentiert worden, bis es sich viele, nicht zuletzt auch die Veteranen, zu eigen gemacht hatten. Sie ahnten ja ebensowenig wie ihre deutschen Kameraden, wohin die Aufrüstungspolitik Hitlers noch führen werde — und dieser kannte dreierlei Geheimhaltung, wie er einmal zu Admiral Raeder gesagt hat: „Ich habe dreierlei Arten von Geheimhaltung. Die erste, wenn wir beide unter vier Augen sprechen; die zweite, die behalte ich für mich; die dritte, das sind Probleme der Zukunft, die ich nicht zuende denke." (Zitiert nach Gerhard Meinck, „Hitler und die deutsche Aufrüstung", 1933-1937, Wiesbaden 1959, S. 173).

Echter Friedenswille der Veteranen auf beiden Seiten

Es gab aber — völlig unabhängig von den Manipulationen Hitlers — einen echten Friedenswillen der Frontkämpfer auf beiden Seiten Am ergreifendsten kam er in der Nacht vom 12. auf den 13. Juli 1936 auf dem Douaumont zum Ausdruck. Damals schworen 30 000 französische Frontkämpfer, in deren Mitte 500 deutsche Verdun-Veteranen angetreten waren, jenen berühmten Eid, mit dem sie sich verpflichteten, „den Frieden, den sie dem Opfer der Gefallenen verdankten, zu bewahren und zu wollen.“ Soweit war der gemeinsame Friedenswillen damals bereits gediehen. Die Märzstürme von 1936 (Rheinlandbesetzung!) waren schon wieder vergessen. Die Hoffnung der beiden Völker auf eine endgültige Aussöhnung hat im übrigen in diesem Jahr 1936 auch durch die Berliner Olympiade neue Impulse erhalten, als die französische Olympia-Mannschaft demonstrativ gefeiert wurde. Dem Gala-Empfang in der Staatsoper am 6. August war der Name „Fest des Friedens und der Freude“ gegeben worden. So hat Hitler alles getan, um der Welt und dem deutschen Volk einen Friedenswillen vorzutäuschen, den man als dauernd betrachtete. Später wußte man, wozu Hitler diese Atempause gebraucht hat.

Das Jahr 1937 kann man wohl als den Höhepunkt der deutsch-französischen Annäherung vor dem zweiten Weltkrieg bezeichnen.

Eine Art Auftakt dazu war die Reise Henri Pichots nach den Hansestädten und jene Ankündigung Hitlers am 30. Januar im Reichstag, daß die Zeit der Überraschungen abgeschlossen sei. Mitte Februar war ein internationaler Frontkämpferkongreß über die Bühne gegangen, dessen führende Teilnehmer selbstverständlich von Hitler empfangen wurden. Der Sommer brachte die Weltausstellung in Paris und damit Begegnungen, die man früher kaum für möglich gehalten hatte. Er sah nämlich auch den Chef des Generalstabs des deutschen Heeres, General der Artillerie Ludwig Beck, in Frankreich. Aber das war kein Akt des psychologischen Krieges, sondern durchaus ein persönliches Anliegen.

Becks Frankreichbesuch

Das Ereignis war ungewöhnlich. Im Frieden hatte noch niemals ein deutscher Generalstabschef Paris und Frankreich besucht. Auch 1937 bestand dazu kein unmittelbarer politischer oder militärischer Anlaß. So machte Beck die durchaus private Reise nur in dem Wunsche, für seine Person und natürlich symbolisch auch für die Kriegsteilnehmer der Wehrmacht aufrichtige Friedensbereitschaft kundzutun und sich mit den führenden Männern Frankreichs und seiner Armee bekannt zu machen. Daß Beck aber mit diesem Besuch mehr bezweckte als nur eine diplomatische Geste zur Beschwichtigung oder gar Täuschung der Franzosen, das sollte sich schon im kommenden Jahr erweisen: Bereits im Sommer 1938, nicht viel mehr als ein Jahr nach dem Besuch in Paris, zu dem die Weltausstellung den willkommenen Anlaß geboten hatte, trat Beck bekanntlich in scharfe Opposition zu der Kriegspolitik Hitlers. Es war ihm Ernst mit der dauernden Aussöhnung mit Frankreich. Daß dieses Ziel auch das gleiche nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges blieb, hat Beck dann eindeutig 1944 durch seine Option für den Westen bewiesen. In der Person seines früheren engsten Mitarbeiters Karl Heinrich v. Stülpnagel, 1942— 1944 Militärbefehlshaber in Frankreich, hatte er ja auch im Kriege einen Verbündeten an der Seine. Beck hat seine unbeirrbare Sympathie für Frankreich und die französische Armee auch noch dargetan in dem letzten Vortrag, den er in der Berliner Mittwochgesellschaft Ende Mai 1944 hielt: Er war Marschall Foch, „unserem großen französischen Gegner, wie ich ihn sehe", gewidmet. (Siehe Ludwig Beck, Studien, herausgegeben von Hans Speidel, Stuttgart 195 5, S. 263— 291. In den „Studien“ auch genaue Angaben über die Pariser Reise.)

Der Aufenthalt Becks in Frankreich, der natürlich mit Wissen Hitlers stattfand, hat von Mittwoch, dem 6., bis Sonntag, dem 20. Juni 1937 gedauert. Ein umfangreiches Programm füllte diese Tage. So besuchte Beck General Gamelin, den Chef des französischen Generalstabs und künftigen Generalissimus der französischen Streitkräfte, und außerdem den damaligen Verteidigungsminister Daladier wie Marschall Ptain. Sie alle sollten in den deutsch-französischen Beziehungen später wichtige Rollen spielen, was damals wohl noch niemand geahnt hat. Über die Gründe seines Pariser Besuchs hatte Beck den „Temps“ folgende Erklärung gegeben: „Mein Besuch ist, wie Sie wissen, rein privater Natur; er gilt dem Besuch der Weltausstellung und meinem Freunde, dem deutschen Militärattache. Bei dem heutigen, erfreulich guten Verständnis unserer Armeen und der soldatischen Kameradschaft ist es eine Selbstverständlichkeit, daß ich den Führern der französischen Armee meinen Besuch gemacht habe, und ich darf feststellen, daß ich von unserer Begegnung sehr beeindruckt und befriedigt bin und mich auf ihre Wiederholung freue.“ In seinem offiziellen Bericht über die Pariser Reise („Studien“ S. 295— 297) schließt Bede mit folgender Schilderung der Begegnung mit Marschall Petain: „Zum Absdtlul? betonte der Marschall noch einmal seine besondere Freude über meinen Besuch, daß er mir die Hand habe schütteln können, wenn auch erst nach zwanzig Jahren und nidtt schon nach zwei Stunden des beendeten Streites, wie es früher in ritterlichen Zeiten üblich gewesen sei.“

Im Juni des gleichen Jahres 1937 hatte im übrigen in Freiburg im Breisgau ein Treffen von deutschen und französischen Frontkämpfern stattgefunden, an dem von deutscher Seite nicht allein Veteranen, sondern auch eine Ehren-kompanie des Inf. Regiments Nr. 75 teilnahmen. Auch das gesamte Offizierskorps dieses Regiments war zugegen. Damals sagte der Bürgermeister von Besanon in seiner Festansprache: „Euer Führer Adolf Hitler hat erklärt, zwischen Deutschland und Frankreich besteht kein Grund mehr zu Rivalität und Haß. Trotzdem klafft aber zwisdren uns noch immer ein tiefer Graben, und wir betrachten uns von hüben und drüben mit Mißtrauen. Wir sind hierher gekommen, dieses Mißtrauen zu zerstreuen, und wir hoffen, daß diese Kundgebung nicht vereinzelt bleiben wird. Wir laden Euch ein, bald nach Besanfon zu kommen und unseren Besuch zu erwidern. Wir waren einst Kämpfer ohne Tadel; laßt uns nun gute Werkleute des Friedens werden. Denn dies ist notwendig zum Heil unserer Vaterländer, zum Heil Europas, zum Heil unserer Kultur ..."

Großkundgebung auf dem Berliner Reichssportteld

Im gleichen Sinne sprach Henri Pichot, der Präsident der Union Nationale des Anciens Combattants, auf einer Großkundgebung des Kyffhäuserbundes am 1. August 1937 auf dem Berliner Reichssportfeld. Er sprach vor über 100 000 alten Soldaten. Die Verständigung zwischen den Kriegsteilnehmern hüben und drüben schien vollendet.

Der deutsche Gegenbesuch in Besanfon hat im Herbst des gleichen Jahres stattgefunden. 1 600 deutsche Veteranen waren daran beteiligt. Auch bei diesem Anlaß wurde der Friedens-schwur von Douaumont erneuert. Um diese Zeit etwa wurde die Volksfrontregierung Leon Blums in Frankreich gestürzt und der Frontsoldat Daladier, bisher Kriegsminister, Ministerpräsident. Die Friedensbewegung der französischen Frontkämpfer war offenbar bereits ein Politikum geworden, das Hitler bewußt gefördert hatte. Er konnte von seinem Standpunkt aus mit dem Erreichten zufrieden sein. Seine „psychologische Feinfühligkeit", d. h., seine psychologische Offensive, mit der er der französischen Friedenssehnsucht immer neue Nahrung gegeben, hatte erreicht, was er wollte. Nach seiner Ansicht, die er allerdings völlig für sich behielt — Geheimhaltung Nr. 2! — war die Aufweichung und Teilung des französischen Widerstandswillens nun so weit fortgeschritten, daß er von der „Notwehr als Recht“ (15. Kapitel des zweiten Bandes „Mein Kampf“) zur aktiven Expansionspolitik übergehen konnte, nachdem durch die „friedliche Koexistenz" seine Wehrmacht die notwendige Stärke und neuzeitliche Ausrüstung gewonnen hatte, ohne gestört zu werden.

Die nach der „Kriegskonferenz“ vom 5. November 1937 folgenden Ereignisse sind bekannt: Die Entfernung von Blomberg und Fritsch aus ihren Stellungen, Hitler machte sich am 4. Februar zum Obersten Befehlshaber der Wehrmacht — und sechs Wochen später der Einmarsch in Österreich. Hitler hatte nun höchst persönlich den Griff des Instruments in der Hand, um nach seinem fanatischen Willen es auf die Ziele anzusetzen, die er sich in „Mein Kampf“ gesteckt hatte. Die angebliche Korrektur des Buches war nur eine Finte. Trotzdem ging auch 1938 die Friedenszweckpropaganda weiter. Daß sie ihr Ziel, nämlich die weitgehende Lähmung des französischen Wehrwillens, tatsächlich zu einem erheblichen Teil erreicht hat, sollte sich von dem Einmarsch in Österreich an bis zum Blitzfeldzug 1940 immer stärker erweisen. Es gab auch in Deutschland nach Hitlers Friedensbeteuerungen kaum einen Partei-oder Volksgenossen, der nicht fest davon überzeugt war, daß Hitler tatsächlich keinen Krieg wollte, sondern daß er mit allen Rüstungen und schließlich den nackten Kriegsdrohungen nur bluffte, um seine politischen Ziele auf dem Wege des kalten Krieges zu erreichen. Dieser Begriff war allerdings damals noch nicht geprägt worden.

IV. Die kulturellen Transmissionen

Es wäre indessen ein Irrtum zu glauben, daß sich Hitler bei seinem psychologischen Angriff auf Frankreich nur der Frontkämpfer und ihrer Organisationen bedient hat. Wenn es ihm um einen politischen Zweck ging, war er ebenso wenig wählerisch wie andere Totalitäre; man muß ihm aber auch zugestehen, daß er viele Einfälle hatte und nie verlegen war, jede sich bietende Gelegenheit zu seinen Gunsten auszunützen. Im Falle Frankreich ist er auch deshalb mit besonderer Geschicklichkeit vorgegangen, weil er hier ganz der Initiative derjenigen Raum ließ, die tatsächlich glaubten, dem Frieden und der Verständigung zu dienen, während sie in Wirklichkeit nur die Geschäfte der Hitlerschen Kriegspolitik besorgten. Gerade die Intellektuellen, die Hitler, der Autodidakt, verachtete, haben neben den versöhnungsbereiten Soldaten der psychologischen Offensive gegen die französische Wehrbereitschaft oft ganz gegen ihren Willen die wichtigsten Handlangerdienste geleistet.

In den Jahren zwischen 1933 und 1939 sind die rasch wechselnden Regierungen in Frankreich ohne Zweifel von Hitler oft überspielt worden — trotz oder gerade wegen des Mißtrauens, das sie gegen ihn hegten. Aber was half es, wenn sie die heraufziehenden Gefahren erkannten? Was war Frankreich damit gedient, daß noch da und dort ein alter Deutschenhaß aufflammte und im Parlament scharfe Worte gegen Hitler fielen? Der jeweiligen französischen Regierung fehlten einfach die Kommunikationsmittel, ihre Einsichten der ganzen Bevölkerung klar zu machen und von der notwendigen Einheitlichkeit der zu treffenden Maßnahmen zu überzeugen. Es war ein Bekenntnis der psychologischen Ohnmacht, wenn ein französischer Regierungspolitiker einmal zu Otto Abetz (Abetz, a. a. O. S. 67) gesagt hat: „In einem autoritären Staat spielt es keine Rolle, wie das Volk über ein Nachbarland denkt und empfindet. Wenn die Regierung will, kann sie das Steuer zu jedem gewünschten Moment und in jeder gewünschten Richtung her umwerfen. Läßt aber eine demokratische Regierung die Verständigungspropaganda mit einem Nachbarland zu stark an Boden gewinnen, so läuft sie Gefahr, daß sie ihr Volk nicht mehr hinter sich hat, wenn das nationale Interesse einen Krieg mit diesem Nachbarland notwendig machen sollte.“

Die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich waren nach 193 3 gewiß noch nicht eindeutig. Es gab auf beiden Seiten Chauvinisten und Pazifisten. Es gab auch diesseits und jenseits des Rheins berechtigte außenpolitische Interessen, die jede Regierung wahren mußte — und es war nicht zu verkennen, daß man noch überall auf Hypotheken aus der Vergangenheit stieß, die das Verhältnis der beiden Nachbar-völker belasteten. Man gab sich redliche Mühe, sie abzutragen. Gewiß, Hitler und der Nationalsozialismus interessierten und faszinierten durch ihre Erfolge. Aber zugleich hatten sie viele Schattenseiten und „Schönheitsfehler“, über die kein freiheitlich denkender Franzose hinwegzusehen vermochte.

Schriftsteller, Künstler und Gelehrte für Aussöhnung

Zahlreiche französische und deutsche Schriftsteller und Publizisten, Künstler und Gelehrte hatten lange vor 1933 ihrer Friedensbereitschaft Ausdruck verliehen. In der Zeit um Locarno hatte der Besuch von Thomas Mann in Paris eine neue Brücke zwischen den beiden Kulturen geschlagen. Wenn sich zunächst auf deutscher Seite Männer wie Ernst Robert Curtius oder eine Schriftstellerin wie Annette Kolb um ein tieferes Verständnis Frankreichs bemühten, so befaßten sich umgekehrt in den dreißiger Jahren immer mehr französische Autoren mit Deutschland und seinen Problemen, Dieses Interesse hat auch nach 1933 nicht nachgelassen, sondern ist eher noch gestiegen. Unter den Büchern, die davon Zeugnis gaben, bleibt das Werk von Jules Romains, „Le Couple France-Allemagne" vielleicht das bedeutendste — nicht umsonst war ja Romains durch seine große Romanreihe „Les Hommes de La Bonne Volonte" bekannt geworden. Nach Erscheinen der deutschen Übersetzung 193 5 hat er auch in Berlin über dieses Thema gesprochen. Aber diente er wirklich damit der endgültigen deutsch-französischen Aussöhnung? Auf weitere Sicht hat er bestimmt dazu beigetragen, im aktuellen politischen Bereich aber nützte er zunächst und vor allem den Hitlerschen Interessen.

Von keiner Partei wurde das damals richtig gesehen. Man wußte noch nichts von der Dialektik, daß jede Sache zwei Seiten haben konnte. Das wußte auch Otto Abetz nicht und hat es wohl nie ganz durchdacht oder durchschaut, sonst hätte er wohl als Mensch guten Willens nicht weiter als Hauptinitiator der deutsch-französischen Verständigung wirken können, wie er es vor allem von 1934— 193 8 mit großem äußeren Erfolg getan hat.

Abetz kannte Frankreich und die französische Kultur und Mentalität. Er hatte wohl eine natürliche Zuneigung für sie, und darum gelang es ihm auch, die Deutsch-Französische Gesellschaft und die Deutsch-Französischen Monatshefte ins Leben zu rufen. Früher, d. h. bis 193 3, hatte es die Deutsch-Französische Rundschau gegeben, die von dem Kunsthistoriker Grautoff herausgegeben wurde. Abetz konnte also an Vergangenes anknüpfen und tat es auch ohne Scheuklappen. Dabei war es aber charakteristisch, daß in Frankreich die Protagonisten der kulturellen Annäherung nach 1933 in der Hauptsache aus bekannten Einzelpersönlichkeiten, mit mehr oder minder großem Ansehen in der Öffentlichkeit, bestanden, während in Deutschland der Deutsch-Französischen Gesellschaff zunächst die großen Organisationen beitraten, meist aufgrund eines Winkes „von oben", daß ihre Mitgliedschaft opportun sei. Ein wirkliches Bekenntnis zur deutsch-französischen Verständigung ist also eigentlich nur der persönliche Beitritt zum Comite France-Allemagne gewesen der sogar einen gewissen Bekennermut erforderte.

Im Herbst 193 5 wurde sowohl die Deutsch-Französische Gesellschaft wie ihr Pariser Gegenstück, eben das Comite France-Allemagne, ins Leben gerufen. Gemeinsames Organ, infolgedessen zweisprachig und von gediegenem Inhalt, wurden die Deutsch-Französischen Monats-hefte, die „Cahiers Franco-Allemands" — heute noch eine Fundgrube von interessantem Material zur deutsch-französischen Verständigung, Präsident der Deutsch-Französischen Gesellschaft wurde ein alter Stahlhelmer, damals Rektor der Technischen Hochschule Berlin, Professor Achim von Arnim, durch den ehrwürdigen Namen seiner Familie im kulturell interessierten Frankreich ebenso legitimiert wie bei den Veteranen durch den hohen Orden Pour Le Mrite, den er sich im Kriege erworben hatte. Eine würdige Repräsentation der Gesellschaft in Deutschland, auf die Hitler offenbar diesmal Wert legte, war damit gesichert. Professor v Arnim ist übrigens — eine besondere Tragik — im Frankreichfeldzug von 1940 als Regiments-kommandeur gefallen.

Auch im Comite France-Allemagne spielten Soldaten und Frontkämpfer eine wichtige Rolle, nachdem der erste Einbruch der psychologischen Offensive ja auch bei den Frontkämpfern erfolgt war. AIs erster Präsident fungierte der ehemalige Adjutant Marschall Fochs, Commandant L’Höpital, dann der Kriegsblinde Georges Scapini, den Hitler in Godesberg für seine Sache gewonnen hatte. Auch das Vizepräsidium übernahm sozusagen ein alter Anhänger, der Graf de Brinon, dem Hitler das erste Interview im Oktober 1933 gegeben. Vizepräsidenten wurden außerdem noch Professor Fournera, Mitglied des Institute Pasteur, und Gustav Bonvoisin, Direktor eines großen Sozialwerks und überzeugter Katholik, der aus christlichen Gründen für eine deutsch-französische Verständigung eintrat — auch unter Hitler. Im Ehrenkomitee saßen außerdem bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, so u. a.selbstverständlich Jules Romains, dann die beiden Mitglieder der Academie Francaise Pierre Benoit und Louis Bertrand, sowie der berühmte Germanist der Sorbonne Henri Lichtenberger. Der französische Hochadel, der in diesem repräsentativen Gremium nicht fehlen durfte, war durch den Marquis de Chambrun und Comte Melchior Polignac vertreten. Es war also dafür gesorgt, daß die politischen Meinungen und Ansichten des Comites in alle Bereiche des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens weitergetragen wurden Abetz hatte gute Arbeit geleistet.

„Der Trojanische Krieg findet nicht statt!"

Die deutsch-französische Gesellschaft wie das Comite France-Allemagne waren vor allem auch im Hinblick auf die Berliner Olympischen Spiele gegründet worden. So brachte diese erste große Propaganda-Veranstaltung des Dritten Reiches von internationaler Bedeutung nicht nur Tausende von sportbegeisterten Franzosen nach Berlin, sondern auch so viele Mitglieder des Comites aus Frankreich nach der deutschen Reichshauptstadt, daß das große Haus der Gesellschaft die vielen Gäste nicht fassen konnte. Auch die beiden Generalsekretäre des Comites in Frankreich hatten also trefflich gearbeitet: es waren übrigens die Präsidenten der beiden großen Frontkämpferverbände Georges Goy und Henri Pichot. So war es gewiß von symbolischer Bedeutung, daß im Olympia-Jahr die deutsch-französischen Monatshefte eine Reihe von Szenen der neuen geistvollen Komödie von Jean Giraudoux veröffentlichten, der der Autor den bezeichnenden Titel gegeben hatte: „D e r Trojanische Krieg findet nicht s t a 11.“ Es war eine Anspielung auf die Entspannung, von der man 1936 und 1937 glauben konnte, daß sie endgültig eingetreten sei, Denn was wußte man damals schon von den Methoden der Totalitären!

Die Entspannung ging noch weiter im Jahre 1937, dem Jahr der Pariser Weltausstellung. Sie wurde nicht nur der Anlaß zum Besuch des Generalobersten Beck in Paris, sondern zog auch Zehntausende von deutschen Besuchern, darunter Tausende von HJ-Führern nach Frankreich, so daß man von einer förmlichen Invasion sprechen konnte. Aber alle diese Reisen dienten zugleich der Propaganda und dem psychologischen Angriff. Denn der Reichsjugendführer Baldur v. Schirach, dem zu Ehren das Comite France-Allemagne einen Empfang gab, kam eben in einer „Mission“ wie die onderen kleineren oder größeren „Götter" vor ihm und nach ihm. Totalitäre Systeme machen immer in „Besuchsdiplomatie", um die verschiedensten Kontakte herzustellen und nachzuweisen, daß „sie gar nicht so schlimm sind". So hat die Pariser Weltausstellung Hitler nach der Berliner Olympiade beträchtlichen Rattenfängerdienst geleistet — und das alles unter der Firma „Deutsch-französische Verständigung“.

Verständigung nicht mehr rückgängig zu machen

Im März des darauffolgenden Jahres kam der Einzug Hitlers in Wien. Das Comite France-Allemagne schien, wie Abetz schreibt, unter diesem Überraschungsschlag auseinanderzubrechen. Aber der Nadiweis, daß Hitler in seinem Heimatland Österreich mit überschwänglichem Jubel empfangen wurde, beschwichtigte offenbar die Gemüter ebenso rasch wie die „Mundpropaganda", daß er nun mit dem Groß-deutschen Reich in der Mitte Europas das Gegengewicht gegen den Bolschewismus geschaffen habe, der immer stärker werde. Zahlreiche Ar. tikommunisten in Frankreich fingen an, den Nationalsozialismus auch als ihre Sadie zu betrachten. Bereits im Mai, also nur zwei Monate nach dem deutschen Einzug, wurde auch in Wien eine deutsch-französische Gesellschaft gegründet; aus diesem Anlaß hielt der französische Germanist Henri Lichtenberger den Festvortrag. Anläßlich der großen deutsch-französischen Kulturtagung, die wenig später stattfand, waren schon kaum mehr Meinungsverschiedenheiten zu spüren. Die Verständigung konnte einfach nicht mehr rüdegängig gemacht werden trotz Hitler, der mit immer neuen Überraschungen aufwartete; aber auch das faszinierte manchen Franzosen sichtlich angesichts der politischen Stagnation im eigenen Lande. Dabei sparte Hitler selbst nicht mit „Wechselbädern“. So gab er, kaum daß man sich über den „Anschluß“ einigermaßen beruhigt hatte, Befehl zum beschleunigten Ausbau der Westbefestigungen. Wenige Monate später lagen sich dann in Eile mobilgemachte deutsche und französische Verbände an den Grenzen gegenüber. Am 1. Oktober beendete dann die Münchner „Gipfelkonferenz“ die Sudeten-Krise. Hitler blieb Sieger.

An seinem Erfolg waren die kulturellen Transmissionen nicht unbeteiligt. Sie hatten direkt und indirekt für ihn Stimmung gemacht und dafür gesorgt, daß er schließlich als eine Art Fatum hingenommen wurde. Zu immer neuen Diskussionen herausgefordert, konnte sich der kritische Geist der Franzosen nicht mehr dazu entschließen, eindeutig Partei zu ergreifen, wie es damals schon notwendig gewesen wäre. Hören wir eine Stimme von vielen. Im Aprilheft 1938 der angesehenen „Nouveaux Cahiers", die von dem Industriellen Auguste Detoeuf, zugleich einem ausgezeichneten Schriftsteller, herausgegeben wurden, schrieb dieser über Frankreich und Deutschland: „Frankreich ist nicht wehr eine Großwacht iw gewöhnlichen Sinne des Wortes, d. h. ein mächtiges und kriegerisch starkes Land. Wenn Frankreich noch Großmacht wäre, so hätte es nicht 15 Jahre angesichts eines abgerüsteten Deutsdtlands gezittert. Es hätte nicht eine Unwenge von Friedensgarantien zu erlangen gesucht und nicht während der letzten Jahre 200 Milliarden für Rüstungen ausgegeben . . . Wenn Frankreich eine Großwacht wäre, hätte es vor dem Ruhrabenteuer, nach dem Ruhrabenteuer und in den Tagen Brünings einen großmütigen Frieden nit dem besiegten Deutschland geschlossen. In der Angst des kleinen Wählers und aus einem Mangel an nationaler Phantasie zog es Frankreich vor, seine Zuflucht zu Phrasen zu nehmen und dem deutschen Geist zur Wiederauferstehung zu verhelfen ... Eine Nation, die den Namen der Großmacht verdient, lebt durch kollektive Opfer. Deutschland zeigt heute außer der Energie, der Einfachheit und jenen großartigen und betörenden politischen Tendenzen, die es an den Tag legt, das Beispiel eines gemeinschaftlichen Opfers, eines Opfers, das trotz ihrer Unzufriedenheit selbst von denjenigen gern getragen wird, die Deutschland schlecht behandelt.“

Keine „Fünfte Kolonne'7, jedoch potentielle Parteigänger

Die psychologische Offensive Hitlers hatte so, wie man sieht, bis zum Jahre 1938 viel erreicht. Sie teilte und herrschte — auch in der öffentlichen Meinung Frankreichs, auf die sie dank ihrer „Transmissionen“ erheblichen Einfluß gewonnen hatte. Hitler verfügte mit der Zeit in Frankreich zwar nicht über eine „Fünfte Kolonne", wie später behauptet wurde, aber doch über potentielle Parteigänger, die glaubten, daß er den Kommunismus entscheidend treffen werde, während er immer „bolschewistischer ‘ wurde, je mehr seine Erfolge zunahmen. Immer mehr menschliche und moralische Rücksichten fielen. Aber das wurde von seinen Parteigängern in Frankreich ebensowenig gesehen wie von der Mehrzahl seiner Parteigenossen in Deutschland. Immer noch hielt man sich an das, was er sagte.

Von den sympathisierenden politischen Gruppen, die Hitler mit seiner politischen Offensive unter den Franzosen gewann, war die Partei Populaire Franjaise (PPF) die wichtigste und geschlossenste. Während die Feuerkreuzler (Croix de Feu) des Obersten De la Rocque etwas ähnliches wie „Der Stahlhelm“ darstellte, war die PPF in der Tat mehr oder minder „nationalsozialistisch", aber ohne „völkische Weltanschauung“, die der französischen Ratio widerstrebte. Ihr Gründer und Führer Jacques Doriot, Sohn eines Schmiedes aus dem Departement Oise, war nacheinander Landarbeiter, Eisendreher, revolutionärer Agitator und kommunistischer Jugendführer. In Frankreichs KP war er bis zum Mitglied des Zentralkomitees aufgestiegen. 1934 hatte er mit den Kommunisten gebrochen und ein Jahr später, offensichtlich von Hitlers Erfolgen angeregt, seine eigene Partei gegründet, die ihn dann auch in die Abgeordnetenkammer schickte. Was für den Nationalsozialismus München war, das war für die PPF St. Denis. Doriot hatte vor dem Abschluß des sowjetisch-französischen Beistands+ paktes 193 5 gewarnt und auf einem Parteitag gesagt: „Die Sowjetunion sucht Annäherung an Frankreich, weil der Nationalsozialismus dem Bolschewismus eine schwere Niederlage beigebracht hat und weil es diese wettzumachen gilt. Ein solcher Plan aber muß Frankreich zum Kriege führen.“

Das war 1936. Bei dieser Linie ist Doriot auch über den Frankreichfeldzug hinaus geblieben, war also auch noch in der Besatzungszeit für Hitler. 1941 hat er die französische Legion gegen den Bolschewismus gegründet und ist selbst mit ihr nach Rußland gezogen, bis er zurückgerufen wurde. Bei dem deutschen Zusammenbruch 1944 mußte er Frankreich verlassen und ist dann in Deutschland Anfang 1945 gestorben — auch eines der zahllosen Opfer Hitlers, die mit seinem Antikommunismus übereinstimmten, aber nicht erkannten, daß er eben den Teufel mit dem Beelzebub austrieb.

Jedenfalls hat Hitler in Frankreich durch eine geschickt getriebene Kulturpropaganda und mit Hilfe der Transmissionen der „Deutschfranzösischen Gesellschaft“ auch eine ganze Anzahl von Intellektuellen gewonnen, die geradezu seine Parteigänger wurden oder gutgläubig seine Geschäfte besorgten. Der „Sozial-Nationalismus" von Gustave Herve ging natürlich auch seine eigenen Wege; aber es stimmt doch nachdenklich, daß ein an sich nobler französischer Schriftsteller wie Alphonse de Chateaubriant sich schließlich vollkommen der Apologie des NS-Regimes verschrieb und in seinem 193 8 erschienenen Bericht über das Neue Deutschland „La Gerbe des Forces“ (Deutscher Titel „Geballte Kraft“, Karlsruhe 193 8) Passagen wie diese veröffentlichte: „Um das heutige Deutschland, das zum großen Teil Hitlers Werk ist, richtig zu verstehen, muß man zuerst Hitler begreifen und deuten. Ich glaube, daß sein Gesicht vier Wesenszüge enthüllt: durch die besondere Höhe der Schläfen einen hohen Idealismus; durch den Bau der harten, forschenden Nase eine bemerkenswerte Schärfe der Intuition; durch den Abstand der Nasenflügel von den Ohren eine Löwenkraft, und gerade dies entspricht ohne Zweifel den Worten von Dr. Goebbels: Er besitzt eine uw bezähmbare Lebenskraft, Nerven aus Stahl, ist jeder großen Situation gewachsen und läßt sich durch keine Krise unterkriegen. — Der vierte Wesenszug ist seine grenzenlose Güte. Jawohl Hitler ist gütig! Seht ihn int Kreis von Kindern, seht ihn am Grabe derer, die er liebte; er ist unendlich gütig, und idt wiederhole dieses Wort , g ü t i g‘ in der festen Überzeugung, daß trotz dieser unerhörten Behauptung die köst lichen, unvergleichlichen französischen Trauben auf den Hängen von Beaugency auch weiterhin reifen werden."

Einen ähnlichen Dithyrambus auf einen grausamen totalitären Despoten, der nur die Macht kannte, ist von einem Ausländer nur noch einmal gedichtet worden: Von dem seinerzeitigen Präsidenten des „Deutschen Kulturbundes", der sich auch sehr geschickt seiner westdeutschen Transmissionen bediente, bis er von Pankows Gnaden Kultusminister der SBZ wurde: von Johannes R. Becher. Auch er hat den „Kinderfreund“ Stalin, den „gütigen Vater der Völker“ überschwänglich verherrlicht — denselben, den aus taktischen Gründen dann der XX. Parteitag der KPdSU als ein Ungeheuer entlarvte.

V. Nach der Münchner „Gipfelkonferenz"

Im Jahre 1938 erreichte die psychologische Offensive Hitlers gegen Frankreich den Höhepunkt ihrer Erfolge. Sie hatte es nicht nur zustandegebracht, daß der ehemalige „Erbfeind“ die Eingliederung Österreichs in das Großdeutsche Reich zwar mit empörten Protesten begleitete, sie dann aber de facto und bald auch de jure anerkannte: Sie hatte auch so trefflich gearbeitet, daß Hitler noch im Sommer gleichen Jahres seine Forderungen weitertreiben und auf der Eingliederung der sudetendeutschen Gebiete bestehen konnte. Inzwischen hatte er aber auch hinter dem Tarnvorhang seiner Friedensversicherungen so ausgerüstet und vor allem eine so starke und neuzeitliche Luftwaffe geschaffen, daß er jetzt wohldosiert in seine Lockungen mit Frieden und Ausgleich massive Drohungen mischen konnte, wie man dergleichen von allen Totalitären gewohnt ist. Dazu kam die völlige Unnachgiebigkeit bei allen Verhandlungen und diplomatischen Aktionen — und so ist von Hitler das Abkommen auf der Münchener Gipfelkonferenz am 1. Oktober erreicht oder durchgesetzt worden, das ihm nun auch die Sudetengebiete überlieferte. Der Frieden schien noch einmal gerettet.

Für den französischen Ministerpräsidenten Daladier hatte München kein leichtes Zugeständnis bedeutet. Aber er mochte sich damit trösten, daß sich das unmittelbare Verhältnis der beiden Nachbarvölker tatsächlich entspannt hatte. Mit und trotz Hitler waren sich Deutschland und Frankreich nähergekommen, und in beiden lebte die gleiche Liebe zum Frieden. Davon konnte sich Daladier durch den Augenschein überzeugen. Denn nach Abschluß des Abkommens wurde er in München ebenso mit freudigen Ovationen überschüttet wie in Paris nach seiner Rückkehr. Nun konnte man wirklich auf die Entspannung, auf die Zusammenarbeit, auf die friedliche Weiterentwicklung hoffen, das hatte ja auch Hitler feierlich versprochen. Noch in München wurde ja auch ein Nichtangriffsabkommen zwischen Deutschland und Großbritannien unterzeichnet.

So war das Bemühen der französischen Regierung nur zu verständlich, auch jetzt mit Hitler zu einer Vereinbarung zu kommen, die kriegerische Verwicklungen ausschloß. Die Auspizien schienen günstig und wohl auch im deutschen Interesse. Am 7. November sagte Reichsaußenminister v. Ribbentrop vor dem Verein der Ausländischen Presse in Berlin mit unverhohlener Anerkennung: „Frankreichs Ministerpräsident Daladier und sein Außenminister Bonnet ... haben in den letzten Wochen Reden gehalten, die in Deutschland einen sympathischen Widerhall gefunden haben.“

Schlußstrich unter die Erbfeindschaft?

Auch Hitler selbst hatte am 22. November über die deutsch-französischen Beziehungen nur Positives gesagt, als ihm der neue französische Botschafter Coulondre, der Nachfolger des in-inzwischen nach Rom versetzten Francois-Poncet, auf dem Obersalzberg sein Beglaubigungsschreiben überreichte. Zwei Tage später brachte das Deutsche Nachrichtenbüro (DNB) die folgende offizielle Mitteilung: „Der Führer und Reidtskanzler hat in den letzten Jahren oft Gelegenheit genommen, zu erklären, daß zwischen Frankreich und Deutschland keine Probleme bestehen, die einem freundschaftlich-nachbarlichen Verhältnis entgegenstehen. Nach dem Mündtner Abkommen haben sich die Wünsche getroffen, dem Streben nach einem solchen Verhältnis konkreten Ausdruck zu verleihen. Die Bedingungen zu einem Übereinkommen zwischen Deutschland und Frankreich im Sinne der in München getroffenen Vereinbarungen zwischen Deutschland und England haben sidt in den letzten Wochen als außerordentlidi günstig gezeigt. Die deutsche und die französische Regierung prüfen deshalb gegenseitig eine gemeinsam vorbereitete Erklärung, betreffend das nachbarliche Verhältnis der beiden Staaten zueinander."

Das war die Ankündigung der deutsch-französischen Vereinbarung, die am 6. Dezember 1938 die Außenminister der beiden Länder in Paris unterzeichneten. Diese Unterzeichnung wurde damals von nicht wenigen Deutschen und Franzosen als der Schlußstrich unter die „Erbfeindschaft" betrachtet. Sie hätte es auch werden können, wenn Hitler eben nicht Hitler gewesen und als totalitärer Politiker nicht ein strategisches Macht-und Fernziel verfolgt hätte, für das auch ein Friedenspakt nur als taktischer Schachzug vorübergehend Bedeutung hatte. Das wußte man in Frankreich wie in der Welt überhaupt damals noch nicht genau auseinanderzuhalten. So war auch diese Vereinbarung nur der Schlußakt des psychologischen Krieges, das letzte Punktfeuer zur Täuschung der französischen Regierung, bevor der kalte Krieg in den heißen überging. Die Zeit aber hat diese Seite des Paktes vom 6. Dezember 1938, der sich sehr leicht zu einem Konsultativ-und Bündnispakt hätte ausbauen lassen, ebenso schnell vergessen, wie dies Hitler in der Praxis des Jahres 1939 getan hat. Aber gerade deshalb muß man daran erinnern: Was damals für Hitler nur „ein Fetzen Papier" war, ist ohne Zweifel von Frankreich politisch ernst genommen worden und entsprach dem Wunsch und der Hoffnung der meisten Franzosen: Sie wollten schon damals mit den Deutschen endgültig ins Reine kommen. So lohnt es sich schon, hier noch einmal den Wortlaut des Paktes genau zu zitieren.

Die deutsch-französische Erklärung war kurz und umfaßte nur drei Punkte. Aber sie hätte ebenso inhaltsschwer werden können wie der Vorfriede von Nikolsburg 1866, der einen noch kürzeren Text hatte: dann allerdings hätte der staatsmännische Entschluß des „Führers und Reichskanzlers" dahinterstehen müssen, auch seinerseits mit der „Erbfeindschaft“ Schluß zu machen und das inzwischen gewonnene „Großdeutsche Reich" zu konsolidieren, wie es Bismarck nach 1871 mit dem Deutschen Reich getan hat. Jedenfalls hätten die drei Punkte der Vereinbarung eine solide Basis für eine neue Epoche der deutsch-französischen Beziehungen ergeben. Sie lauteten:

„ 1. Die deutsche Regierung und die französisdte Regierung sind übereinstimmend der Über-zeugung, daß friedliche und gutnachbarliche Beziehungen zwisdien Deutschland und Frankreidt eines der wesentlichen Elemente der Konsolidierung der Verhältnisse in Europa und der Auf- rechterhaltung des allgemeinen Friedens darstellen. Beide Regierungen werden deshalb alle ihre Kräfte dafür einsetzen, dass eine solche Gestaltung der Beziehungen zwischen ihren Ländern sichergestellt wird. 2. Beide Regierungen stellen fest, daß zwischen ihren Ländern keine Fragen territorialer Art mehr schweben, und erkennen feierlich die Grenze zwischen ihren Ländern, wie sie gegenwärtig verläuft, als endgültig an. 3. Beide Regierungen sind entschlossen, vorbehaltlich ihrer Beziehungen zu dritten Mächten, in allen, ihre beiden Länder angehenden Fragen in Fühlung miteinander zu bleiben und in eine Beratung einzutreten, wenn die künftige Entwicklung dieser Fragen zu internationalen Schwierigkeiten führen sollte.“

Der dritte Punkt war der wichtigste und fortschrittlichste, denn damit zielte die Erklärung auf dauernde Konsultationen. In kaum einer diplomatischen Note waren die beiden Nachbar-völker sich politisch so nahe gekommen, wie in dieser am 6. Dezember 193 8. In diesem Sinn wurde sie auch von der europäischen Öffentlichkeit gewertet. Sie ahnte nicht, daß mit ihr nach dem hinterhältigen Willen Hitlers die Franzosen nur endgültig „eingewickelt“ werden sollten.

Hitlers Absichten in Deutschland kaum durchschaut

Um der Wahrheit willen muß aber hier konstatiert werden, daß die geheime Absicht Hitlers nur ganz wenigen Deutschen bekannt war oder von ihnen durchschaut wurde. Das deutsche Volk als solches hoffte und rechnete auf den Frieden. Es gab keine Kriegshetzer in Deutschland und schon gar nicht im Generalstab, das ist geschichtlich erwiesen. Alles atmete auf, denn nach diesem Pakt dachte niemand mehr an den Krieg, vor allem nicht an den Krieg mit Frankreich, der keine zehn Monate später ausbrechen sollte. Man hätte den politischen Kommentator einfach ausgelacht, der den Pakt von Paris nur als Krönung der vorbereitenden Operationen zur psychologischen Schwächung und Täuschung des Gegners analysiert—und damit ins Schwarze getroffen hätte.

Schon unmittelbar nach München aber hatten aufmerksame Beobachter Gelegenheit, drei Menetekel zu registrieren: Die Rede Hitlers am 9. Oktober am „Westwall“ bei der Einweihung des Saarbrücker Gautheaters, die mit ihren rüden Beschimpfungen Churchills an vergangene Bier-keller-Reden erinnerten; dann die „Reichskristallnacht" vom 9. November, die inszeniert war, samt den anschließenden Judenverfolgungen, und schließlich die franzosenfeindlichen Demonstrationen des faschistischen Pöbels in Rom, die die Abtretung von Nizza, Korsika, Savoyen und Tunis an Italien verlangten. Das geschah an demselben 6. Dezember, in dem die deutsch-französische Erklärung in Paris unterzeichnet wurde, und versprach für die Zukunft nichts Gutes.

Die Politik der Zugeständnisse und Beschwichtigungen des „entfesselten Proleteus" Hitler haben keine Früchte getragen. Hitler ist im Gegenteil in seinen Kriegsabsichten dadurch nur bestärkt worden. Er wollte unter allen Umständen von dem Rüstungsvorsprung Gebrauch machen, den er zuletzt gewonnen hatte. So hat er vor allem den Friedenswunsch der Franzosen nur als sicheres Zeichen dafür betrachtet, daß er bereits den psychologischen Krieg im Vorfeld des Schießkrieges gewonnen hatte. Er hatte auch tatsächlich erreicht, was er wollte, ohne daß ihn eine „Fünfte Kolonne“ zu unterstützen brauchte, wie man später des öfteren gesagt hat. Nach dem Frankreichfeldzug von 1940 fiel dann die letzte Bremse, als sich der psychologische Sieg fast wie selbstverständlich in den militärischen verwandelte.

Der unpopulärste Krieg Frankreichs

Unmittelbar vor dem Kriegsausbruch 1939 wurde Hitler von einem geistreichen französischen Journalisten ein psychologisches Geschenk gemacht, das gut und gern ein Panzerkorps wert war, weil es zu seinem militärischen Sieg entscheidend beitrug: Der Chefredakteur des sozialistischen „Oeuvre“, Marcel D e a t, veröffentlichte nämlich einen Leitartikel, der nichts von einem Krieg mit Deutschland wissen wollte und der allgemeinen französischen Abneigung gegen ein bewaffnetes Eingreifen zugunsten Polens geradezu eine Losung gab, da er unter der Schlagzeile erschien: „Für Danzig sterben?“, „Mourir pour Danzig?“. Die Frage stellen, hieß sie verneinen und kennzeichnete den kommenden Krieg als den unpopulärsten, den die Franzosen jemals zu führen gezwungen waren. So hat sich denn die Frage Deats auch wie ein Lauffeuer verbreitet und das Verhalten des französischen Volkes viel mehr beeinflußt als alle Aufrufe und Proklamationen zur Landesverteidigung, die nach der Kriegserklärung an Deutschland am 3. September folgten. Das französische Volk war ganz im Gegensatz zu 1914 nicht mehr für einen Krieg mit Deutschland zu begeistern, nachdem die Verständigungsbereitschaft schon überall Wurzeln geschlagen hatte. Außerdem fehlte ein psychologisches Kriegsmotiv, das das Volk unmittelbar anging.

Die „psychologische Feinfühligkeit“ Hitlers haßte das offenbar erspürt. Seitdem er das wußte, war er nicht mehr aufzuhalten und menschlich anzusprechen, d. h., er verhielt sich eben genau so wie alle Totalitären, wenn sie die Möglichkeit neuen Machtgewinnes sehen. Das mußte auch der französische Ministerpräsident Daladier erfahren, als er sich Ende August 1939 in einem persönlichen Schreiben an Hitler wandte und ihn beschwor, vom Kriege abzulassen. Noch einmal erinnerte er darin auch an das gemeinsame Kriegserlebnis, das Hitler doch in den ersten Jahren seiner Regierung den Franzosen gegenüber so stark herausstellte. Aber auch diese Erinnerung war ja nur das psychologische Mittel zum politischen Zweck und galt jetzt nicht mehr. So hat das Verhängnis seinen Lauf nehmen müssen, das im Verlauf von etwa sechs Jahren nicht nur das Großdeutsche, sondern das deutsche Reich überhaupt zerstört hat. Daladier hatte am Schluß seines Briefes an Hitler geschrieben: “ Wenn das französische und das deutsche Blut erneut wie vor 25 Jahren fließen wird, wird jedes der beiden Völker im Vertrauen auf seinen Sieg kämpfen. Aber der sicherste Sieg wird der der Vernichtung und der Barbarei sein.“

VI. Die militärischen Folgen

Warum sind die Franzosen 1940 so rasch besiegt worden? Warum hat eine Nation, die über eine so große militärische Tradition verfügte und sich immer tapfer geschlagen hatte, schon sechs Wochen nach Angriffsbeginn kapitulieren müssen? Und warum nutzte sie 1939 nicht die Chance, den längst nicht fertigen deutschen „Westwall" mit ihrer damaligen Überlegenheit anzugreifen und Hitler dadurch zu zwingen, mit seiner Hauptmacht von Polen abzulassen? Diese Fragen sind schon 1940 erhoben worden und werden es noch heute. Auch wir Deutschen selbst, vor allem die Teilnehmer am ersten Weltkrieg, haben einen Blitzkrieg im Westen nie für möglich gehalten, sondern geglaubt, daß es wie'der zu einem langen und blutigen Abringen der Kräfte kommen werde. In der Tat ist der schnelle Sieg über Frankreich 1940 nicht rein militärisch zu erklären. Er gehört zu jenen, von langer Hand planmäßig vorbereiteten Operationen, die, wie die von Bismarck politisch geführten deutschen Einigungskriege „bereits gewonnen waren, ehe sie begonnen hatten.“ (Beck) Dabei war diesmal die politische Absicht Hitlers mißlungen, durch weitere Friedensbeteuerungen Polen zu isolieren, nur einen begrenzten Krieg zu führen und die Großmächte England und Frankreich aus einem bewaffneten Konflikt herauszuhalten. Trotzdem gelang es ihm, in nicht ganz zehn Monaten zwei von dreien seiner Hauptgegner entscheidend zu schlagen und sich zum Herrn von Mittel-, West-und Nordeuropa zu machen. Es waren da also noch Kräfte mit im Spiel, die die reinen Fachmilitärs, aber auch die gegnerischen Politiker nicht genügend bedachten.

Tatsächlich war der Blitzkrieg im Westen 1940 mit die Folge der psychologischen Offen-sive, die Hitler von 1933 bis 1938 gegen die französische Bevölkerung geführt hat. Das hoffen wir dargetan zu haben. Er tat es systematisch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, indem er vor allem die Verständigungsund Friedensbereitschaft der französischen Frontkämpfer ausnutzte und durch Begegnungen und Kontakte aller Art den französischen Wehrwillen nach und nach aushöhlte. Durch seine ständig wiederholten Friedensbeteuerungen war es ihm auch gelungen, die Wachsamkeit der französischen Regierung herabzusetzen, bei manchen Gruppen Entspannungs-Illusionen zu wecken und den überwiegenden Friedenswillen des ganzen Volkes so zu einem Politikum zu machen, daß es ihm in wenigen Jahren gelang, einen entscheidenden Rüstungsvorsprung zu gewinnen. Er hat genau das getan, was Lenin in die Formel: „Aufholen und überholen!“ gefaßt hat.

Die „neuen” totalitären Mittel in der Politik

Wie hat das damals geschehen und wie haben sich erfahrene Politiker so täuschen lassen können? Die Antwort darauf ist einfach. Hitler hat sich eben nicht mehr an die überkommenen politischen Usancen gehalten, sondern mit den „neuen" totalitären Mitteln gearbeitet, die ebenso alt wie primitiv, aber auch immer wieder verblüffend wirksam sind, wenn man sie im richtigen Augenblick einsetzt: Er wußte zu teilen und zu herrschen; er versprach, beteuerte und lockte, um die nötige Zeit für seinen inneren Machtzuwachs zu gewinnen, und hat dann nicht gezögert, als es so weit war, unmißverständlich zu drohen und handfest zu erpressen. Er hat die Unverschämtheit, die die europäische Diplomatie in der Regel aus ihren Händeln verbannt hatte, wieder zum politischen Prinzip erhoben. Das war sein einfaches und, wenn man will, barbarisches Rezept. Er gab sich natürlich, „menschlich“ und sentimental, wenn das zu seiner Propaganda gehörte, aber in seinem absoluten Willen zur Macht war er unmenschlich und unansprechbar und hat sich durch keinen Gewissens-skrupel je von seinen Machtzielen abbringen lassen. Solche Prinzipien sind bei Lenin genau so nachzulesen wie in „Mein Kampf“.

Hitler hat dauernd vom Frieden gesprochen — und er hat auch eine Zeitlang den Frieden gewollt und gebraucht: für seine Kriegsvorbereitungen. Je stärker er wird, um so schärfer werden auch seine Reden. An fünf Beispielen wollen wir das hier deutlich machen:

Hitler am 22. 3. 1933 bei seiner Rede zum Ermächtigungsgesetz: »Es ist der aufridttige Wuttsdt der nationalen Regierung, von einer Vermehrung des deutschen Heeres und unserer 'Waffen absehen ztl können, sofern endlidt auch die übrige Welt geneigt ist, ihre Verpflichtungen zu einer allgemeinen Abrüstung zu vollziehen."

Hitler am 14. Oktober 1933 im Rundfunk:

„Wir und das ganze deutsche Volk würden alle glücklich sein bei dem Gedanken, den Kindern und Kindeskindern unseres Volkes das zu ersparen, was wir selbst als ehrenhafte Männer in bitter langen ]ahren an Leid und Opfern ansehen und selbst erdulden mufften. Es würde ein gewaltiges Ereignis für die ganze Menschheit sein, wenn die beiden Völker einmal für immer die Gewalt aus ihren gemeinsamen Leben verbannen mödtten."

Hitler am 20. Februar 193 8 im Reichstag: „Und so sehr ich der Welt die Versicherung von der aufrichtigen und tiefen Friedensliebe des deutschen Volkes übermitteln kann, ebensowenig möchte ich einen Zweifel daran lassen, daß die Friedensliebe weder mit schwächlichem Verzicht, gar mit ehrloser Feigheit etwas zu tun hat. Sollten jemals internationale Hetze und Brunnenvergiftung den Frieden unseres Reiches brechen, dann werden Stahl und Eisen das deutsche Volk und die deutsche Heimat unter ihren Sdtutz nehmen ... Es gibt nun einmal zwei Sorten von Journalisten: wahrheitsliebende — und verlogene, minderwertige Schwindler, Volks-betrüger und Kriegshetzer.“

Hitler am 26. September 1938 im Sport-palast: „Wir haben vor uns das letzte Problem, das gelöst werden muß. Es ist die letzte Gebietsforderung, die ich an Europa auszusprechen habe. Ich habe Chamberlain versichert, daß das deutsche Volk nur den Frieden will. Künftig gibt es für Deutschland kein territoriales Problem mehr in Europa. Ich erkläre mit Nadtdruck, daß in dem Augenblick, in dem die Tschechen mit ihren anderen Minderheiten sich auseinandergesetzt haben . . . daß ich dann am tschedtischen Staat nicht mehr interessiert bin. Und das wird ihm garantiert. Wir wollen gar keine Tschechen."

Hitler am 1. April beim Stapellauf der „Tirpitz“ in Wilhelmshaven: „Das tschechische Volk wird mehr Freiheit haben als die bedrückten Völker der tugendhaften Nationen. Ich habe, so glaube ich, dem Frieden damit einen großen Dienst erwiesen. Denn ich habe ein Instrument, das bestimmt war, im Kriege wirksam zu werden gegen Deutschland, beizeiten wertlos gemacht. Wenn man nun sagt, daß dies das Signal sei dafür, daß Deutschland nun die ganze Wett angreifen wolle, so glaube ich, das könnte nur der Ausdruck des allerschlechtesten Gewissens sein. Vielleicht glaubt man damit die taktische Voraussetzung zu schaffen für eine neue Einkreisungspolitik? Wie dem auch sei: Ich bin der Überzeugung, daß ick damit dem Frieden einen großen Dienst erwiesen habe. Und aus dieser Überzeugung heraus habe ich mich entschlossen, dem kommenden Parteitag den Namen . Parteitag des Friedens'zu geben.“

Mit der Versicherung, daß das deutsche Volk von einer aufrichtigen und tiefen Friedensliebe erfüllt sei, die sich durch die meisten seiner Reden bis zum 1. September 1939 hindurchzicht, hatte Hitler allerdings recht. Der „Mann auf der Straße“ in Deutschland wollte ebenso wenig einen Krieg wie der französische Poilu. Aber wann nehmen die Totalitären Rücksicht auf ihre Völker und deren menschliche Wünsche? So hat der französische Außenminister Bonnet recht, wenn er in seinem Erinnerungsbuch „Vor der Katastrophe" (Köln 1952) S. 144 über den Pakt vom 6. Dezember 1938 schreibt: „So konnte das französisch-deutsche Einvernehmen der erste Schritt zu den Vereinigten Staaten von Europa sein, von denen Briand geträumt hatte. Eine letzte Chance bot sich der Welt. Hitler brauchte nur feierlich das in seiner Rede betonte Versprechen zu halten: Das deutsche Volk wünscht nichts als den Frieden.“

Frankreich und Deutschland von Hitler betrogen So sind in der Tat Frankreich und Deutschland von Hitler betrogen worden. Der Tiefen-psychologe wird heute einen typischen Selbst-verrat Hitlers darin erblicken, daß er fast immer nur von Friedensliebe des deutschen Volkes sprach und nie von seiner eigenen. Hinter dieser Friedensliebe hat er seine wahren Absichten verborgen, selbst den eigenen Leuten gegenüber. Es hatte schon seinen Grund, daß er nach und nach jede Möglichkeit einer Kontrolle seiner Regierung ausgeschaltet hatte. Dann haben im Lande selbst Nicht-Wissen, Täuschung, Lockung und Drohung in einer Weise regiert, gegen die der einzelne immer ohnmächtiger wurde, während sich an der Spitze mit dieser zunehmenden Ohnmacht die totalitäre Macht akkumulierte.

Niemand hatte so viel vom Bolschewismus gelernt wie Hitler.

Die Zeitgenossen gegen psychologische Angriffe immun machen

Im Spätsommer 1939 hatte die psychologische Offensive des Mannes, der nun das europäische Schicksal bestimmte, erreicht, was er wollte. Der Krieg, den die englische und französische Regierung am 3. September an Hitler-Deutschland erklärten, war de facto zu einem bloßen Kabinettskrieg geworden, an dem vor allem die Franzosen gefühlsmäßig nicht teilnahmen. Das hatten die ständigen Friedensbeteuerungen der deutschen Führung in den Gemütern ebenso erreicht wie die zahlreichen persönlichen Kontakte und Begegnungen zwischen Deutschen und Franzosen, die so systematisch gefördert wurden. In der Zeit von Locarno bis 1938 waren die Motive der Feindschaft, wie sie etwa noch in der Vorkriegszeit herrschten, mehr oder minder einer Entspannung gewichen oder vollends getilgt worden. Nach Jahren der Entfremdung war man auch neugierig aufeinander und hatte sich angefreundet. Mit dieser Verwandlung der psychologischen Situation waren aber auch die französischen Waffen stumpf geworden, weil sie jetzt ohne allen Elan, ohne Enthusiasmus geführt wurden. So fehlte im September 1939, in den Wochen der deutschen Schwäche der Schwung zum Angriff, die seelische Bereitschaft zur Offensive, die Hitler allein hätte zur Räson bringen können. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich die Führung des deutschen Heeres dann mit den Franzosen zum Sturze Hitlers verbündet hätte. Daß diese Absicht bestand, war auch ihrer Regierung bekannt geworden (Bonnet a. a. O.), aber sie hatte nicht die Kühnheit sie zu nützen, weil sie bereits Hitler und das deutsche Volk allzusehr identifizierte.

So steht heute fest, daß Hitler den Westfeldzug 1940 nicht allein mit militärischen Mitteln gewann. Er siegte nicht allein deshalb so rasch, weil er über die neuzeitlichste Luftwaffe, einen durchschlagenden Operationsplan und überraschende Operationsmethoden großer Panzerverbände verfügte, sondern weil auch ein Sieg über die Seelen des Gegners bereits vorausging. Nur durch diesen schon errungenen psychologischen Sieg wurde der Frankreichfeldzug zum »Planspiel". Von deutscher Seite spielte, wie zugestanden werden muß, vor allem bei der mittleren und höheren militärischen Führung auch das psychologische und sportlich-militärische Moment eine Rolle, die Scharte von 1918 aus-zuwetzen — und zu zeigen, was man konnte.

Aber dann ist der deutsche Soldat nicht mehr als „Boche" nach Frankreich gekommen und auch nicht so ausgenommen worden.

Nach dem heutigen Stand unserer Einsichten läßt sich die These jedenfalls nicht mehr aufrechterhalten, der sogenannte „Maginotgeist" sei die Hauptursache für den raschen Zusammenbruch Frankreichs 1940 gewesen. Dieser „Geist" war vielmehr bereits die Folge der Abrüstung seelischer Art, zu der der braune Rattenfänger mit seiner „psychologischen Feinfühligkeit" die Franzosen verführt hatte, wie er die Deutschen noch einmal zu militärischen Abenteuern verführte, die ein europäischer Anachronismus waren, weil die europäischen Völker tatsächlich bereits zusammenrückten. Der militärische Teil des Frankreichfeldzuges gehört heute der Vergangenheit an und ist längst kein „Modellfall" mehr, aber der psychologische ist es, die psychologische Offensive Hitlers mit allen ihren Phasen, die der kriegerischen vorausging. Sie vor allem sollte hier kritisch durchleuchtet werden und zwar nicht um der Historie willen, die doch nicht mehr geändert werden kann, sondern den Lehrbeispielen zu liebe, die uns jetzt und hier die Augen öffnen können.

Wenn man den Nationalsozialismus ernst nimmt, um die Vergangenheit zu bewältigen, dann muß man das erst recht mit dem Weltkommunismus, der bis auf weiteres die Welt-gefahr Nr. 1 ist. Als totalitäre Systeme, die Gott ausmerzen wollen, um absolute menschliche Macht an seine Stelle zu setzen, sind sie sich so ähnlich wie ein nationales und ein internationales System nur eben sein können, vor allem, seitdem es auch einen Sowjetpatriotismus gibt. Nicht umsonst hat v. Ribbentrop gesagt, er fühle sich „wie unter alten Parteigenossen", als er Ende August 1939 in Moskau den deutsch-sowjetischen Pakt unterzeichnete, der das europäische Schicksal besiegeln sollte. Der Nationalsozialismus war in der Tat nur eine Reaktion auf den Kommunismus und ist dem Bolschewismus immer ähnlicher geworden, je mehr er an Macht gewann. Hitler und seine Methoden studieren und zwar mit wissenschaftlicher Gründlichkeit, heißt darum heute nichts anderes, als sich und die Zeitgenossen gegen die psychologischen Angriffe immun machen, die pausenlos gegen den freien Westen gerichtet werden.

Das Studium der Jahre 1933— 1938 hat aber auch noch eine andere Seite. Es führt nämlich auf ein Phänomen hin, das von Hegel als die List der Idee bezeichnet wurde, als die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte. Ungewollt haben nämlich die Jahre, in denen so viele deutsch-französische Kontakte stattfanden oder herbeigeführt wurden, ebenso zu der Vorbereitung der europäischen Integration beigetragen wie die Feldzüge, die den deutschen Soldaten nach Frankreich und dann den französischen nach Deutschland brachten und zwar für Jahre. Es hat sich gezeigt, daß diese Besatzungszeiten nur wenig Ressentiment hinterlassen haben, weil eben die Zeiten des isolierten Nationalismus vorbei sind. Die Völker sind unterdessen zur Kollaboration im kontinentalen wie im Weltmaßstab vorgedrungen, wozu die beiden Weltkriege vorbereiteten.

Die wichtigste Aufgabe, die inzwischen gleichfalls im kontinentalen wie im Weltmaßstab gestellt ist, bleibt die Abwehr der kommunistischen Aggression, die Verteidigung gegen seine psychologischeOffensive, die er allmählich technisch so perfektioniert hat, daß er sich den Schießkrieg damit ersparen will. Tatsächlich sind ihm mit diesem Verfahren auch schon tiefe Einbrüche, nicht zuletzt bei den westdeutschen Intellektuellen gelungen. So müssen ihnen vor allem die Augen geöffnet werden. Nachhaltig und objektiv kann dies m. E. nur dadurch geschehen, daß dem Verfahren Hitlers, des einen Totalitären, die des anderen, Chruschtschows nämlich, gegenübergestellt werden, der der Erste Mann des Weltkommunismus geworden ist, nachdem mit dem Tode Stalins das große Tauwetter im Ost-blöde einsetzte.

Politik und Zeitgeschichte

AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Albertine Hönig: „Fünfzehn Jahre SowjetWirklichkeit"

Klaus Hornung: „Die Etappen der politischen Pädagogik von Bismarck bis heute"

Walther E. Schmitt: „Lenin und Clausewitz"

Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"

Walter Wehe: „Die wirtschaftspolitische Entwicklung Europas seit dem Marshallplan"

Fussnoten

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