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Der ideologische Konflikt zwischen Moskau und Peking | APuZ 11/1961 | bpb.de

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APuZ 11/1961 Der ideologische Konflikt zwischen Moskau und Peking Die Rolle der Vereinten Nationen in der Weltpolitik

Der ideologische Konflikt zwischen Moskau und Peking

BORIS MEISSNER

I. Die geistig-ideologische Auseinandersetzung im kommunistischen Herrschaftsbereich

I. II. III. IV. INHALT Die geistig-ideologische Auseinandersetzung im kommunistischen Herrschaftsbereich Der innere Aspekt der ideologischen Differenzen Der äußere Aspekt der ideologischen Differenzen Die grundsätzliche Bedeutung der politisch-ideologischen Auseinander-\

Die Entwicklung in dem kommunistisch beherrschten Teil der Welt ist seit einigen Jahren durch die Auseinandersetzung dreier geistiger Strömungen gekennzeichnet, die sich vor allem um die Pole Moskau, Belgrad und Peking gruppieren. Auf der einen Seite gibt es den ideologischen Konflikt zwischen einer universalistisch-totalitären und einer reformistischen Deutung des Kommunismus. Er tritt uns in der Auseinandersetzung zwischen dem Sowjet-und Reform-kommunismus entgegen.

Auf der anderen Seite machen sich ideologische Differenzen zwischen der westlichen und östlichen Metropole der „rechtgläubigen" kommunistischen Lehre bemerkbar, die erkennen lassen, daß das universalistisch-totalitäre Konzept des Marxismus-Leninismus keineswegs einheitlich ist, sondern zwei Auslegungen zuläßt. Damit bahnt sich eine Auseinanderentwicklung im kommunistischen Herrschaftsbereich an, die nicht nur für die weitere Entwicklung des Weltkommunismus, sondern auch des Sowjetimperiums von schicksalhafter Bedeutung sein kann.

Die Auswirkungen des 20. Parteikongresses der KPdSU und insbesondere die Anti-Stalin-Rede Chruschtschows im Jahre 1956 haben gezeigt, daß das sogenannte „sozialistische Lager“ keineswegs als monolithische Einheit anzusehen ist. Das erste Moskauer Kommunistenkonzil, das im November 1957 anläßlich der 40-Jahr-Feier der Oktoberrevolution stattfand, bemühte sich vergebens, durch eine Verpflichtung der regie-renden kommunistischen Parteien auf die zehn „Allgemeine Gesetzmäßigkeiten der proletarischen Revolution und des sozialistischen Aufbaus“ und vor allem auf den hegemonial-imperialen Grundsatz des „proletarischen Internationalismus" die verlorengegangene ideologische Einheit der „sozialistischen Familie" wiederherzustellen. Tito-Jugoslawien war nicht bereit, sich dem ideologischen Führungsanspruch Moskaus zu unterwerfen.

Dem Dekalog des Moskauer Konzils setzte es seine reformistischen Thesen entgegen, die im Parteiprogramm der jugoslawischen KP von 195 8 näher begründet wurden. Diese häretischen Auffassungen wurden am entschiedensten von den kommunistischen Chinesen zurückgewiesen. Diese sollten aber bald darauf selbst die mühsam wiederhergestellte ideologische Einheit des Ostblocks, der sich auch Gomulka-Polen gebeugt hatte, durch eigenwillige Maßnahmen erschüttern. Die ideologische Auseinandersetzung zwischen Peking und Moskau betrifft einerseits den inneren, andererseits den äußeren Aspekt der marxistisch-leninistischen Ideologie, die bekanntlich ihrem Wesen nach eine Revolutionstheorie darstellt.

Auf der einen Seite geht es vor allem um die Frage des Überganges vom Sozialismus zum Kommunismus und um den zweckmäßigsten und schnellsten Weg zur Erreichung des kommunistischen Endziels. Dem Wohlfahrtskommunismus Chruschtschowscher Prägung, der durch Förderung des persönlichen Gewinnstrebens eine Steigerung der Arbeitsproduktivität und damit die Erreichung eines Warenüberflusses als wichtigste Voraussetzung zum Eintritt in den kommunistischen Endzustand erstrebt, standen die Chinesen von vornherein skeptisch gegenüber. Sie traten für eine gegenteilige Auffassung ein, die dem revolutionären Geist gegenüber dem materiellen Interesse den Vorrang einräumte. Unter Ausmerzung aller bourgeoisen Attribute und eines vulgärmaterialistischen Gewinnstrebens sollte mittels der Volkskommunen ein kämpferisch-revolutionärer kommunistischer Menschentyp herangezogen werden.

Bei der ideologischen Begründung der Institution der Volkskommunen setzte sich Mao Tse-tung in wesentlichen Teilen der von ihm vertretenen Konzeption in einen deutlichen Gegensatz zur bisherigen marxistisch-leninistischen Staats-und Gesellschaftslehre.

Bei dem äußeren Aspekt der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Moskau und Peking war es genau umgekehrt. Hier traten ein-deutig die Chinesen als die Verfechter einer orthodoxen Auslegung des marxistisch-leninistisehen Dogmas auf.

Der widersprüchliche Charakter des chinesischen Vorgehens wurde durch zeitweilige reformistische Bestrebungen, wie z. B. die Hundert-Blumen-Kampagne, verstärkt. Den Sowjetrussen mußten alle diese Wendungen als eine linke Abweichung von dem von Moskau gewiesenen Kurs erscheinen.

II. Der innere Aspekt der ideologischen Differenzen

Die Schaffung der Volkskommunen in der Volksrepublik China bedeutete einen tiefgehenden Eingriff in die Rechte des Einzelnen sowie der individuellen Familie als soziale Institution. Als unterster Zelle der staatlichen Organisation fiel den neuerrichteten Kommunen die Aufgabe zu, für die Kollektivierung des Volkslebens in China schlechthin zu sorgen. Ihr Aufgabenbereich erstreckte sich auf sämtliche öffentlichen Angelegenheiten, d. h. sie waren gleichermaßen für die Landwirtschaft, die Industrie, das Verkehrswesen, das Dienstleistungsgewerbe, das Erziehungswesen, kulturelle Angelegenheiten, Sport, soziale Fürsorge, Gesundheitswesen, Polizei und militärische Fragen zuständig.

Auf dem Lande stellt die Volkskommune eine umfassende Wirtschafts-und Sozialeinheit dar, die sich aus der Verschmelzung aneinandergrenzender landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften und durch Aneignung allen Privateigentums der Bauern, das ihnen nach der Kollektivierung verblieben war, herausgebildet hat. Jede Kommune setzt sich aus mehreren Dörfern und etwa 5000 bis 10 000 Haushalten zusammen, wobei ihre Größe im allgemeinen einem hsian oder Verwaltungsbezirk entspricht. Bis zum 29. September 1958 sind insgesamt 640 000 Produktionsgenossenschaften zu 23 397 Volks-kommunen mit einer Mitgliedschaft von 112, 24 Millionen Haushalten, d. h. 90, 4 Prozent aller Bauernhaushalte des Landes, zusammengeschlossen worden Die Eingliederung der Frauen in das kommunale System wurde durch die Übernahme der Hausarbeiten durch kommunale Unternehmen wie Verpflegun Prozent aller Bauernhaushalte des Landes, zusammengeschlossen worden 1). Die Eingliederung der Frauen in das kommunale System wurde durch die Übernahme der Hausarbeiten durch kommunale Unternehmen wie Verpflegungsstätten, Kinderheime, Wäschereien, Schneiderwerkstätten usw. ermöglicht.

Die ideologische Bedeutung der den Volks-kommunen zugrundeliegenden Konzeption läßt sich am besten an Hand der sogenannten Zwei-Phasen-Lehre, die gleichsam das Gerippe der sowjetischen Staats-und Gesellschaftslehre darstellt, erfassen.

Die klassenlose Gesellschaft, die von kommunistischer Seite als der Zustand totaler Gerech-tigkeit und ewigen Friedens hingestellt wird, bildet nach Marx den Endpunkt einer als notwendig empfundenen geschichtlichen Entwicklung, deren dialektischer Ablauf durch die ökonomischen Realfaktoren (Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse) bestimmt wird. Dieser Zustand der Glückseligkeit setzt die Gewaltlosigkeit und damit die Überwindung aller Formen der Herrschaft des Menschen über den Menschen sowie der mit dieser Herrschaft verbundenen Klassenspaltung und der Arbeitsteilung voraus.

Dieses Endziel, das von Marx sonst nicht näher beschrieben worden ist, soll in zwei Phasen erreicht werden. In Übereinstimmung mit Marx unterscheidet daher die marxistisch-leninistische Ideologie in der Entwicklung vom Kapitalismus zum Kommunismus eine sozialistische Vorphase und eine kommunistische Endphase.

Beide Phasen, von denen die eine durch das Leistungsprinzip, die andere durch das Bedürfnisprinzip bestimmt wird, werden durch bestimmte Merkmale voneinander abgegrenzt 2).

Der Eintritt in diesen utopischen Endzustand setzt auf Grund dieser Merkmalsunterschiede vor allem einen außerordentlich hohen Produktionsstand und eine weitgehende Umerziehung des Menschen im kommunistischen Sinne voraus.

Der Überfluß an Konsumgütern soll ihre Verteilung nach Bedürfnissen ohne Waren-und Geldzirkulation ermöglichen.

Gleichzeitig soll das veränderte Verhältnis des Menschen zur Arbeit auf der Grundlage der Polytechnisierung und der Schaffung eines einheitlichen „Volkseigentums" zur endgültigen Aufhebung der Gegensätze zwischen geistiger und körperlicher Arbeit und zwischen Staat und Land führen.

Auf diese Weise soll unter Beseitigung der noch bestehenden, angeblich „nicht antagonistischen“ Klassenunterschiede mit der klassenlosen Gesellschaft die in der Theorie enthaltene Endverheißung ihre praktische Erfüllung finden.

Abweichung vom sowjetischen Modell

Von den Sowjetrussen wurden innerhalb der Phasen-Lehre, ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen, beim sozialistischen Durchgangsstadium drei Etappen unterschieden: 1. Die Errichtung des Fundaments bzw.der Grundlagen des Sozialismus (1928— 1932), 2. die Errichtung des Sozialismus „im wesentlichen" (1933— 1938), 3. die Vollendung des Aufbaus des Sozialismus und der allmähliche Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus (1938— 1958).

Die Chinesen setzten sich mit der Volkskommunenkonzeption sowohl über die deutliche Abgrenzung der beiden Hauptphasen als auch über die Untergliederung der sozialistischen Vor-phase hinweg 3).

Sie behaupteten, in den Volkskommunen, die zahlreihe Merkmale der kommunistischen Endphase aufwiesen, einen besseren und schnelleren Weg zum kommunistischen Endziel gefunden zu haben als die Russen 4).

Diese Abweihung der Chinesen vom sowjetishen Modell war um so bemerkenswerter, als sie im völligen Widerspruh zu der vom 8. Parteitag der KPCh (1956) bestätigten Generallinie von 1952 stand, die in „einer verhältnismäßig langen Zeit schrittweise" die Industrialisierung des Landes sowie die Vollendung der sozialistishen Umgestaltung der Landwirtshaft, des Handwerks, der kapitalistischen Industrie und des kapitalistishen Handels vorsah.

In dem von Liu Shao-Tshi erstatteten Politishen Beriht des Zentralkomitees (15. September 1956) wurde festgestellt, daß die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus einen „Zeitraum von drei Fünfjahrpianen, vielleicht noh mehr, benötigt.“ Die Errihtung der sozialistischen Gesellschaftsordnung sollte im ersten Fünfjahresplan (195 3 bis 1957) „im wesentlichen" erfolgen, um im zweiten Fünfjahresplan (1958 bis 1962) auf den wihtigsten Gebieten vollendet zu werden. Die chinesische Parteiführung erwartete offenbar, daß die Volksrepublik China 1962 etwa die gleiche Etappe der sozialistishen Vorphase erreihen würde, in der sih die Sowjetunion 1939, d. h. am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, befand.

Liu Shao-Tshi warnte nachdrücklich vor einer Linksabweihung, die er wie folgt harakterisierte „Sie fordert, den Sozialismus „über Nacht“ zu verwirklichen; sie fordert, die nationale Bourgeoisie in unserem Lande einfach durch Enteignung zu liquidieren oder die kapitalistische Industrie und den kapitalistischen Handel durdt Verdrängung zum wirtschaftlichen Bankrott zu führen; sie gibt nicht zu, daß wir nur schrittweise zum Sozialismus gelangen können; sie glaubt nicht daran, daß wir das Ziel der sozialistischen Revolution auf friedlidtem Wege er-reihen können.“

Der von Mao Tse-tung mit Zustimmung des Zentralkomitees der KPCh 1958 proklamierte „große Sprung nah vorne“ entsprah voll und ganz dieser Tendenz, die auf dem 8. Parteitag so sharf verurteilt worden war.

Wirtshaftlihe Gründe mögen bei diesem Entshluß, eine „Revolution von oben“ nach dem Vorbild Stalins auszulösen, maßgebend gewesen sein; niht zuletzt die Erkenntnis, daß das bisherige Entwicklungstempo niht aus-reihte, um China in ein modernes Industrie-land zu verwandeln und zugleih den wahsenden Bedürfnissen einer sih ungeheuer schnell vermehrenden Bevölkerung zu genügen. Die Erfahrungen mit der Umerziehungskampagne, die von der „Hundert-Blumen-Rede“ Mao Tse-tungs im Februar 1957 ausgelöst wurde, mögen bei diesem Beshluß ebenfalls eine wesentlihe Rolle gespielt haben. Jedenfalls scheint sih Mao Tsetung bereits im Winter 1957/58 zum Volkskommunenexperiment entshlossen zu haben Dieses sollte unter anderem dazu dienen, seiner Lieblingsidee, ganze soziale Shihten, wie die „nationale Bourgeoisie“, das „Kleinbürgertum und die „wohlhabenden Bauern" zum Kommunismus zu bekehret!, durh intensivere Gedanken-kontrolle und stärkere Anwendung der Arbeitstherapie, zum Durhbruh zu verhelfen. Die Volkskommunen boten ihm für diesen Zweck einen besonders geeigneten organisatorischen Rahmen. Im April 195 8 wurde nachweislich mit den ersten Experimenten begonnen. Als das Zentralkomitee der KPCh am 28. August 1958 den Beschluß über die Bildung der Volkskommunen faß wurde nachweislich mit den ersten Experimenten begonnen. Als das Zentralkomitee der KPCh am 28. August 1958 den Beschluß über die Bildung der Volkskommunen faßte, war die „Kommunisierung" im wesentlichen bereits abgeschlossen.

Neben den innenpolitischen Motiven dürften aber auch außenpolitische Gründe eine wesentliche Rolle bei dieser welthistorischen Entscheidung gespielt haben. Die Volkskommunenkonzeption sollte sich im Verlauf der weiteren Entwicklung gleichsam als die ideologische Unabhängigkeitserklärung Pekings erweisen. Mao Tse-tungs Lehre von der „neuen Demokratie" (1940), die 1949 sich als „volksdemokratische Diktatur" entpuppte, hielt sich durchaus im Rahmen der sowjetischen Staats-und Gesellschaftsichre. Die Lehre von den antagonistischen und nicht-antagonistischen Widersprüchen (1937) bedeutete den theoretischen Ausbau von Gedankengängen Lenins. In der Fassung der Hundert-Blumen-Rede enthielt sie allerdings Elemente, wie den Gedanken der nicht-antagonistischen Widersprüche von Führung und Volk, die für die Sowjets unakzeptabel erscheinen mußten.

Aber erst mit der Volkskommunenkonzeption haben die Chinesen in ideologischer und organisatorischer Hinsicht einen originären eigenen Weg beschritten.

Mit dieser Abweichung vom Moskauer Vorbild bahnte sich eine unterschiedliche ideologische Entwicklung der beiden kommunistischen Großmächte an, die — von ihren außenpolitischen Auswirkungen ganz abgesehen — Chruschtschow als Vorkämpfer des weitaus begrenzteren Gedankens einer Agrarkommune in eine prekäre Lage versetzen mußte.

Versuch einer Überbrückung der Gegensätze

Nachdem es Chruschtschow bei seinem Besuch in der Volksrepublik China im August 1958 nicht gelungen war, Mao Tse-tung von seinem gewagten Vorhaben abzuhalten, waren die sowjetischen Parteiideologen fieberhaft bemüht, die ideologische Kluft, die sich zwischen Moskau und Peking aufgetan hatte, durch eine Kompromißformel zu überbrücken.

Im Zuge dieser Bemühungen kam es zu jenem aufsehenerregenden Aufsatz des sowjetischen Parteiphilosophen Stepanjan im Oktoberheft der „Woprossy Filosofii" (Fragen der Philosophie), in dem er die ungleichmäßige Entwicklung des Sozialismus zugab und innerhalb des „sozialistischen Weltsystems“ auf einmal eine besondere europäische und eine asiatische Gruppe unterschied, die, jeweils getrennt, zum Kommunismus gelangen würden 6).

Stepanjan ging zwar davon aus, daß die europäische Gruppe aufgrund ihrer technischen Überlegenheit mit einem weiten Vorsprung vor der asiatischen Gruppe das kommunistische Endziel erreichen würde. Seine Ausführungen konnten aber leicht als die ideologische Rechtfertigung einer Interessensphärenabgrenzung zwischen den beiden kommunistischen Großmächten aufgefaßt werden, die Peking freie Hand im asiatischen Raum ließ.

Chruschtschow brauchte die für Moskau höchst gefährliche Zwei-Zonen-Theorie Stepanjans nicht zu übernehmen, da die Chinesen durch innere wirtschaftliche Schwierigkeiten zu einem zeitweiligen Rückzug veranlaßt wurden, der in der sogenannten Wuhan-Resolution seinen ideologischen Ausdruck fand 7). In diesem am lo. Dezember 1958 gefaßten Beschluß des chinesischen Zentralkomitees kamen die Chinesen den Sowjetrussen sowohl in der Frage des Aufbautempos als auch der längeren Zeitdauer des etappenmäßigen Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus entgegen.

Dagegen waren die Chinesen nicht bereit, den Kommunismus „in die ferne Zukunft zu verweisen'und auf die Entwicklung der in den Volkskommunen enthaltenen „Keime des Kom-munismus" zu verzichten 8). Die Volkskommunenkonzeption wurde so zwar äußerlich der so-wjetrussischen Linie stärker angepaßt, sie wurde aber in ihrer Substanz nicht preisgegeben.

Das chinesische Einlenken ermöglichte es Chruschtschow auf dem 21. Parteikongreß der KPdSU sich mit einer versteckten Kritik der chinesischen Volkskommunenkonzeption zu begnügen und die ideologischen Differenzen zu bagatellisieren Er stellte die chinesischen Volkskommunen als „nationale Besonderheit" auf die gleiche Stufe mit den jugoslawischen Arbeiterräten. Er betonte sodann, daß sich die niedere und höhere Phase des Kommunismus nicht sdiarf voneinander trennen ließen und erklärte schließlich, daß es allen Ostblockländern auf dem von Moskau gewiesenen Wege gelingen würde, „mehr oder minder gleichzeitig“ das kommunistische Endziel zu erreichen.

Chruschtschow bemühte sich vor allem, den Eintritt der Sowjetunion in die Phase des „entfalteten Aufbaus des Kommunismus“ und die damit verbundene „ökonomische Hauptaufgabe“, die Vereinigten Staaten einzuholen und zu überholen, ideologisch zu unterbauen. Er setzte damit den mit einem großen Aufgebot sowjetischer Wissenschaftler und Ideologen unternommenen Versuch fort, die in der kommunistischen Endverheißung enthaltene gesellschaftliche Utopie näher zu umreißen und zu konkretisieren

Erneute Vertiefung der Kluft seit 1959

Mit der Behauptung, daß die Sowjetunion mit Beginn des Siebenjahresplans 1959 als erster „sozialistischer“ Staat in die kommunistische Endphase eingetreten sei, trug Chruschtschow nicht wenig dazu bei, die ideologische Kluft zwischen Moskau und Peking, die eben nur notdürftig zugedeckt worden war, wieder aufzureißen. Sie wurde dadurd. vergrößert, daß die ideologische Auseinandersetzung im Verlauf der Besuchsreise Chruschtschows in die Vereinigten Staaten von den Chinesen auch auf den Bereich der außenpolitischen Theorie ausgedehnt wurde.

Die Verschärfung des ideologischen Streitgesprähs zwischen Peking und Moskau kam auch in dem Beschluß des Nationalen Volkskongresses im April 1960, die Bildung von den Volks-kommunen in den Städten, die aufgrund der Wuhan-Resolution verlangsamt worden war, zu beschleunigen, zum Ausdruck. Nach den 500 Millionen Landbewohnern sollten jetzt 150 Millionen Städter in die Volkskommunen hineingepreßt werden. Auf dem Nationalkongreß wurde betont, daß dieser Beschluß nicht nur das politische und wirtschaftliche Gesicht der Städte sowie die ideologische Weltanschauung der Stadtbevölkerung „radikal verändern“, sondern auch günstige Bedingungen zur Beschleunigung des sozialistischen Aufbaus und zum Übergang zum Kommunismus schaffen würde. Diese Begründung zeigt, daß die Wuhan-Resolution von der chinesischen Parteiführung nur als ein zeitweiliger Rückzug angesehen worden ist. Mit ihrer Ausdehnung auf den städtischen Bereich werden die Volkskommunen zum Unterbau der gesamten chinesischen Staats-und Gesellschaftsordnung. Wenn auch dem menschlichen Bedürfnis nah ein wenig persönlichem Eigentum inzwischen sowohl auf dem Lande als auch in den Städten Zugeständnisse gemäht worden sind, so ist doh vieles von den düstern Zügen der ursprünglihen Konzeption erhalten geblieben Bisher ist es Chrushtshow, der auf dem 21. Parteikongreß der KPdSU zum „großen Theoretiker“ des Marxismus-Leninismus aufgestiegen ist, niht gelungen, den von ihm mittelbar kritisierten „sehr großen Theoretiker" Mao Tse-tung auf den rehten Pfad zurückzuführen. Bemerkenswert ist, daß der bedeutsame innere Aspekt der ideologishen Differenzen zwishen Peking und Moskau und die damit verbundene Problematik des Überganges vom Sozialismus zum Kommunismus in der Deklaration des zweiten Kommunisten-Konzils in Moskau im Dezember 1960 keinen Ausdruck findet. Das neue Parteiprogramm, das auf dem bevorstehenden 22. Parteikongreß der KPdSU angenommen werden soll, droht bei dieser Sahlage die ideologishe Spaltung zu vertiefen.

III. Der äußere Aspekt der ideologischen Differenzen

Die ideologische Auseinandersetzung zwischen Moskau und Peking sollte nach der Besuchs-reise Chruschtschows in die Vereinigten Staaten offen zu Tage treten.

Der Schwerpunkt dieser Auseinandersetzung richtete sich jetzt auf die Fragen von Krieg und Frieden, Revolution und Koexistenz, d. h. die zentralen Fragen der marxistisch-leninistischen außenpolitischen Theorie.

Chruschtschow hatte auf dem 20. Parteikongreß der KPdSU im Februar 1956 die Behauptung aufgestellt, daß der „Sozialismus“ im Zuge der Nachkriegsentwicklung ebenso wie seinerzeit der „Kapitalismus“ zu einem Weltsystem aufgestiegen sei. Das „sozialistische Weltsystem" würde mit den neutralistischen Mächten eine ausgedehnte „Friedenszone“ bilden. Seine Stärke würde ein Gleichgewicht mit der kapitalistischen Welt gewährleisten und eine langfristige friedliche Koexistenz der beiden antagonistischen Systeme ermöglichen, die sich allerdings nicht auf den ideologischen Bereich erstrecken würde. Zwecks besserer Unterbauung des Koexistenz-Begriffs und unter Berücksichtigung der sich aus dem atomaren „Gleichgewicht des Schreckens“ ergebenden Schlußfolgerungen verzichtete er dabei auf zwei Grundthesen Lenins, die sich auf die Unvermeidbarkeit von Kriegen in der imperialistischen Epoche und kriegerischer Gewaltanwendung bei der kommunistischen Machtübernahme bezogen

Die Verneinung der Unvermeidbarkeit von Kriegen und die Anerkennung vielfältiger Übergangsformen zum Sozialismus bedeuteten an sich noch keine prinzipielle Absage an die Notwendigkeit eines revolutionären Umsturzes. Es wurde nur die Möglichkeit bejaht, die Revolution auch mit Hilfe „friedlicher Mittel“, günstigenfalls auf parlamentarischem Wege, zu verwirklichen.

Die neue These von der Vermeidbarkeit kriegerischer Auseinandersetzungen bedeutete somit keinen Verzicht auf nicht-kriegerische Gewaltanwendung und damit auf die Intervention als Mittel der Politik. Dies wurde durch die auf dem 20. Parteikongreß genannten Beispiele Reval (1940), d. h.den Fall der baltischen Staaten, und Prag (1948) sehr deutlich illustriert.

Auf der ersten Gipfelkonferenz der kommunistischen Parteien nach Auflösung der Komintern (1943) und Kominform (1956) im November 1957 wurde die Chruschtschowsche These von der Vermeidbarkeit von Kriegen im atomaren Zeitalter bestätigt und der Wettbewerbs-charakter der Koexistenz besonders hervorgehoben. Eine Akzentverschiebung ergab sich durch eine stärkere Betonung der Bedeutung der gewaltsamen Machtergreifung. Durch die eingehende Behandlung des Prinzips des proletarischen Internationalismus wurde die Führerrolle der KPdSU und des Sowjetstaates innerhalb des Weltkommunismus und des Ostblocks besonders unterstrichen.

Chruschtschows Betrachtungen über den Krieg waren auf dem 21. Parteikongreß der KPdSU (Januar/Februar 1959) weniger allgemein gehalten als in seinem Rechenschaftsbericht vor dem 20. Parteikongreß

Sie bezogen sich eindeutig nur auf die Möglichkeit der Vermeidbarkeit eines atomaren Weltkrieges. Auf die Problematik lokaler „begrenzter Kriege“ ging er auch jetzt nicht ein.

Die weiteren Äußerungen Chruschtschows ließen erkennen, daß er die Koexistenz als einen Zustand von langer Dauer auffaßte, wobei er ihre klassenkämpferisch-revolutionären Züge gegenüber ihrer Charakterisierung als wirtschaftlicher Wettbewerb zurücktreten ließ.

Verschiedene Auffassungen über die Vermeidbarkeit von Kriegen

Diese Konzeption mußte in Verbindung mit einer gewissen Abschwächung der ideologischen Auseinandersetzung mit dem Reformkommunismus und der kapitalistischen Welt das Mißtrauen Pekings wecken, das durch das Treffen von Camp David noch verstärkt wurde.

Die Chinesen gingen unter Berufung auf Lenin gegen die generalisierende Anwendung der Chruschtschowschen These von der Vermeidbarkeit des Krieges und gegen die Überbetonung des wirtschaftlichen Wettbewerbcharakters der Koexistenz an. Die abweichende Position Pekings läßt sich wie folgt charakterisieren 1. Nicht nur Krieg und Revolution, sondern auch die friedliche Koexistenz sind Ausdrudesformen des Klassenkampfes;

2. die Koexistenz würde nur einen kurzfristigen Waffenstillstand darstellen, der eine aktive Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Welt nicht nur im Sinne eines rein propagandistischen „ideologischen Kampfes“, sondern gegebenenfalls auch des Kalten Krieges erfordere;

3. die These von der Vermeidbarkeit des Krieges beziehe sich unter bestimmten Voraussetzungen auf den atomaren Weltkrieg, nicht aber auf den begrenzten lokalen Krieg oder den Bürgerkrieg;

4.dem bewaffneten Aufstand und dem Bürgerkrieg komme als Mittel der kommunistischen Machtergreifung, insbesondere in den Entwicklungsländern, eine weitaus größere Bedeutung zu als nichtkriegerischen Metho-den. In jedem Fall sei der außerparlamentarischen Aktion vor der legalen parlamentarischen Betätigung der Vorzug zu geben; 5. die nationale Bourgeoisie sei in ihrer Masse unzuverlässig, daher sei die Einheitsfrontpolitik mit größter Vorsicht zu betreiben.

Auf zwei Konferenzen, der Ostblockkonferenz in Bukarest (Juni 1960) und der kommunistischen Gipfelkonferenz in Moskau (November 1960), ist um einen Kompromiß zwischen beiden Standpunkten gerungen worden.

Das Revirement im Kreml im Mai 1960 und die damit verbundene Umformulierung der sowjetischen Innen-und Außenpolitik hatten zunächst nur eine stärkere Betonung der klassen-kämpferisch-revolutionären Züge der Koexistenz zur Folge In einem Artikel der sowjetischen Parteiideologen Ponomarjow, Konstantinow und Andropow im Mai-Heft des „Kommunist“ (Nr. 8) wurde in Einklang mit der chinesischen Auffassung erklärt: „Friedliche Koexistenz schließt unter keinen Umständen den Klassenkawpf innerhalb der kapitalistischen Länder sowie int internationalen Maßstab aus."

Chruschtschow wandte sich in seiner Rede in Bukarest zum erstenmal auch eindeutig gegen den „lokalen Krieg“, „weil er sich zu einem Weltkrieg ausweiten kann“, er machte aber die Vermeidbarkeit des Krieges von dem verstärkten Kampf gegen den „Imperialismus“ und dem Druck der Völker auf ihre Regierungen abhängig. In Bukarest erfolgte ferner eine Akzentverschiebung zugunsten des bewaffneten Aufstandes und des Bürgerkrieges als Mitteln kommunistischer Machtübernahme

Der in Bukarest erzielte Kompromiß sollte die Chinesen nicht befriedigen. Es erwies sich immer mehr, daß hinter den ideologischen Differenzen, die zweifellos auch prinzipiellen Charakter besaßen, konkrete Streitpunkte zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China standen.

Folgende Punkte dürften als besonders bedeutsam anzusehen sein 1. Das Streben Pekings nach einem Mitspracherecht in der Führung sowohl des Ostblocks als auch der kommunistischen Weltbewegung; 2. das Bemühen Pekings, seine Hegemonie auf ganz Südostasien auszudehnen und seinen Einfluß in der Pufferzone gegenüber der Sowjetunion (Sinkiang, Äußere Mongolei Nord-Korea) zu verstärken;

3. die Ansicht Pekings, daß die kommunistische Taktik in den Entwicklungsländern eine stärkere Anwendung kriegerischer Methoden erfordert und in erster Linie auf die Schaffung kommunistischer Machtpositionen im Zusammenwirken mit den Massen gerichtet sein muß und sich nicht mit der Errichtung neutralistischer Regime zu begnügen habe; 4. die Absicht Pekings, auf dem schnellsten Wege Atommacht zu werden, sowie seine Abneigung gegen eine beschleunigte Abrüstung; 5. die Forderung Pekings nach einer verstärkten sowjetischen Wirtschaftshilfe.

Nach Meinung amerikanischer Wissenschaftler hat China auf dem Gebiet der Kernphysik und der Raketentechnik bedeutende Fortschritte gemacht. Es ist daher zu erwarten, daß es in verhältnismäßig kurzer Zeit in der Lage sein wird, eine Atombombe zur Explosion zu bringen oder eine eigene Rakete zu starten.

Die sowjetische Wirtschaftshilfe an die Volksrepublik China ist größer als meist angenommen wird. Insgesamt hat die Sowjetunion China von 1950 bis Ende 1959 Maschinen und Ausrüstungen im Werte von 10 Mrd. Rubel und kom. plette Industrieanlagen im Werte von 5 Mrd» Rubel geliefert. Der prozentuale Anteil des gesamten sowjetischen Exportes von Maschinen und Ausrüstungen — ohne komplette Industrieanlagen — an China, der in der Zeit von 1956 bis 1958 von 49 ’/o auf 40% gefallen war, ist 1959, wohl als Folge des chinesischen Einlenkens in der Frage der Volkskommunen nach der Wuhan-Resolution vom Dezember 1958, mit 51, 2 % jäh angestiegen.

Mehr als die Hälfte des gesamten sowjetischen Maschinenexports ist somit 1959 nach China gegangen.

Anscheinend sahen die Chinesen auch diese verstärkte Wirtschaftshilfe, die von sowjetischer Seite, wie eine Bemerkung Chruschtschows aus dem Jahre 1957 zeigt, als schwere Belastung empfunden wird, als nicht hinreichend an.

Dieser chinesische Standpunkt ist verständlich, wenn man bedenkt, daß die Sowjetunion in der Zeit von 1956 bis 1959 von der Sowjetzone mehr Menschen und Ausrüstungen bezogen hat, als sie der Volksrepublik China zukommen ließ (7, 14 Mrd. Rubel zu 5, 97 Mrd. Rubel).

Koexistenz „bis aufs Messer"

Das Ergebnis des Moskauer Kommunisten-Konzils zeigt, daß die Sowjetrussen den Chinesen nicht nur in den ideologischen Streitfragen, sondern auch in den strittigen Fragen der praktischen Politik, ohne ihren eigenen Standpunkt gänzlich aufzugeben, weiter entgegengekommen sind. Die Betonung der führenden Rolle der Sowjetunion ist in der Erklärung von 1960 gegenüber der Deklaration von 1957 abgeschwächt worden Die Erklärung begnügt sich damit, die KPdSU als Vorhut der kommunistischen Weltbewegung zu bezeichnen, ohne sich mit dem Prinzip des proletarischen Internationalismus, der im Mittelpunkt der Deklaration von 1957 gestanden hatte, näher zu befassen. Dagegen wird die Unabhängigkeit und Gleichberechtigung der einzelnen kommunistischen Parteien besonders betont. Der Einfluß der KP Chinas wird in der Erklärung von 1960 erstmalig mit den Worten anerkannt: „Indem sie der nationalen Befreiungsbewegung einen mächtigen Anstoß gab, übte sie einen gewaltigen Einfluß auf die Völker aus, besonders in Asien, Afrika und Lateinamerika.“ Die Koexistenz wird in der Erklärung ausdrücklich als eine „Form des Klassenkampfes“ bezeichnet. War bei der näheren Erläuterung der Koexistenz 1957 nur von „Wettbewerb" die Rede, so wird 1960 von „Kampf" und „Weltrevolution“ gesprochen. Die Möglichkeit einer solchen „Koexistenz bis aufs Messer“ und der Vermeidbarkeit des Krieges halten sich gemäß der Erklärung von 1960 mit der Kriegsgefahr die Waage

Die Schicksalhaftigkeit eines atomaren Weltkrieges wird verneint, gleichzeitig aber betont, daß die Gefahr eines neuen Weltkrieges nicht vorbei ist, sondern vielmehr größer geworden ist. Der Krieg könne nur durch einen „aktiven und entschlossenen Kampf gegen die aggressiven Kräfte des Imperialismus“ vermieden werden. Dieser Kampf müsse mit „größerem Elan“ (!) geführt werden. Die Verpflichtung der Ostblockstaaten, „ihre Verteidigungsfähigkeit auf dem notwendigen Niveau zu halten", wird besonders unterstrichen. Zweideutig ist die sich auf die lokalen „begrenzten Kriege“ beziehende Bemerkung:

„Die Erfahrung bestätigt, daß man die von den Imperialisten entfesselten lokalen Kriege wirksam bekämpfen, die Brandherde solcher Kriege erfolgreich austreten kann“.

In der Erklärung von 1960 ist ein ganzer Abschnitt über die revolutionäre Aktion in den Entwicklungsländern enthalten, der 1957 fehlte. Im Einklang mit der chinesischen Auffassung wird bei der Machtergreifung in den Entwicklungsländern der „bewaffnete Kampf“ eindeutig als Methode dem „friedlichen Wege“ vorgezogen. Auch die Unzuverlässigkeit der nationalen Bourgeoisie im Stadium der sogenannten „Nationalen Demokratie“ wird im chinesischen Sinne mit folgenden Worten charakterisiert: „Je mehr sich die sozialen Gegensätze verschärfen, desto mehr neigt die nationale Bourgeoisie dazu, mit der inneren Reaktion und dem Imperialismus zu paktieren.“

Abhängigkeit der Sowjetpolitik von den Interessen des internationalen Kommunismus

ln der Erklärung von 1960 wird ein strafferes System interner Beratungen über gemeinsame politische und ideologische Fragen, das besonders von den Chinesen propagiert worden war, befürwortet, von der Bildung einer neuen Komintern, für die sich Chruschtschow im Dezember 195 5 ausgesprochen hatte, dagegen abgesehen. Die multilateralen Konferenzen sollen in Zukunft den bilateralen Beratungen vorgezogen werden.

Es fällt auf, daß nicht nur der innere Aspekt der ideologischen Differenzen zwischen Peking Moskau, sondern auch Chruschtschows und außenpolitische Aktivität der letzten Jahre, insbesondere die von ihm angewandten Formen der Besuchsdiplomatie usw., in der Erklärung von 1960 mit Stillschweigen übergangen werden.

Durch den Ausgang des zweiten Moskauer Konzils ist die führende Rolle Moskaus im Rahmen des Ostblocks und des Weltkommunismus bestätigt worden. Dieses Ergebnis, dem ein deutlicher Kompromiß zugrunde liegt, konnte erst dann erzielt werden, nachdem die Sowjetrussen gegenüber den Chinesen in den entscheidenden Streitpunkten, welche die Strategie und Taktik der kommunistischen Machtexpansion in der Welt betrafen, auf mehr als dem halben Wege entgegengekommen waren.

Durch diesen Vorgang wird nicht nur das weltrevolutionäre Element in der sowjetischen Außenpolitik verstärkt, sondern auch eine erneute Abhängigkeit dieser Politik von den Interessen des internationalen Kommunismus geschaffen, die Stalin dadurch beseitigte, daß er die Komintern zu einem gefügigen Werkzeug der Moskauer Zentrale degradierte. Dies wäre heute bei dem Gewicht, das einzelnen kommunistisch regierten Staaten neben der Sowjetunion zukommt, nicht möglich. Insofern ist das Ergebnis des zweiten Moskauer Konzils gleichsam als ein Pyrrhussieg Moskaus anzusehen, der weitere Erpressungsversuche Pekings in keiner Weise ausschließt.

Die Verschiebung des 22. Parteikongresses der KPdSU auf den Oktober 1961 dürfte teils durch diese inneren wirtschaftlichen Schwierigkeiten, vor allem aber durch die politisch-ideologische Auseinandersetzung zwischen den beiden führenden kommunistischen Mächten bedingt worden sein. Fällt doch dem kommenden Parteitag die äußerst schwierige Aufgabe zu, ein neues Parteiprogramm der KPdSU zu formulieren, das nicht nur für die bolschewistische Staatspartei, sondern auch für die gesamte kommunistische Weltbewegung in einem längeren Zeitabschnitt als ideologische Richtlinie dienen soll.

IV. Die grundsätzliche Bedeutung der politisch-ideologischen Auseinandersetzung

Die oben geschilderte Entwicklung läßt bewußt werden, daß das marxistisch-leninistische System von der gleichen Grundspannung erfüllt ist, die bereits vor der Russischen Revolution für den europäischen Marxismus bezeichnend war — der Grundspannung zwischen Analyse und Weissagung Eine Relativierung des Marx’schen Weltbildes mußte in der europäischen sozialistischen Bewegung zwangsläufig zur Preisgabe der Endverheißung der klassenlosen Gesellschaft und damit der revolutionären Zielsetzung führen. Dies war der Weg, der von den „Revisionisten“ beschritten wurde. Die Konservierung der utopischen Vision bedeutete dagegen eine Steigerung des revolutionären Aspekts bei gleichzeitigem Verzicht darauf, durch Analyse der Wirklichkeit die Richtigkeit der Weissagung dauernd zu überprüfen. Das war der Weg, der von allen denjenigen beschritten wurde, die sich am revolutionären Urkommunismus des Kommunistischen Manifestes von 1848 orientierten. Dies war vor allem der Weg Lenins, Trotzkijs und in begrenztem Maße auch Stalins.

Es gab aber noch eine dritte Variante. Es war die Linie der „Radikalen", die im allgemeinen in der II. Internationale die Führung hatten. Sie lehnten Reformen als Selbstzweck ab und berauschten sich an revolutionären Phrasen. Sie dachten dabei aber an keine revolutionären Taten und fanden sich im Grunde genommen mit der „reformistischen“ Taktik ab.

Drei ähnliche Entwicklungstendenzen erleben wir heute in der kommunistischen Weltbewegung. Der Revisionismus ist in Gestalt des Reformkommunismus wieder aufgelebt. Seine Hochburg ist Tito-Jugoslawien, doch seine Wirkungen lassen sich bei fast allen kommunistischen Parteien innerhalb und außerhalb des Ostblocks feststellen. Die revolutionäre Richtung wird heute in erster Linie durch den chinesischen Kommunismus, die Mittellinie der „Radikalen" durch den russischen Kommunismus vertreten.

Die zwiespältige Politik Chruschtschows liegt darin begründet, daß er als ein Gläubiger der revolutionären Richtung verbunden ist, als Pragmatiker jedoch zum Revisionismus neigt. Seinen eigenen Zwiespalt sucht er daher durch einen betonten propagandistischen Radikalismus zu verdecken.

Die sich aus dieser divergierenden Grundeinstellung der beiden Mächte zwangsläufig ergebenden ideologischen Unstimmigkeiten werden durch die nationale Komponente verschärft. Sowohl beim russischen als auch beim chinesischen Kommunismus handelt es sich um eine Amalgamierung kommunistischer und nationalistischer Elemente, ohne Aufgabe der in der marxistischleninistischen Ideologie verankerten universalistischen Zielsetzung.

Diese beiden Elemente weisen aber in Ruß-land und China -wesentliche Unterschiede auf. Ihre Verbindung hat sich außerdem unter sehr verschiedenen Bedingungen vollzogen.

In Rußland war es der in der abendländischen Kulturtradition wurzelnde Marxismus, der sich mit dem russischen nationalen Erbe verband und im Stalinismus seine totalitäre Ausprägung fand. Die Entstalinisierung bedeutet so neben einer Auflockerung des totalitären Regimes eine stärkere Betonung des geistigen Zusammenhangs mit der westlichen Welt.

In China dagegen, wo der russische Marxismus in seiner stalinistischen Form reziptiert worden ist, bedeutet die Herausarbeitung einer Ideologie Mao Tse-tungs, daß eine immer stärkere Rückbesinnung auf das nationale chinesische Erbe stattfindet. Liu Mo-han schreibt in Jen Min Jih Pao am Januar 1960 21): „Wir wenden uns sowohl gegen die Loslösung von der Cesdtichte und den Verzicht auf die Tradition als auch gegen eine unzulässige Bevorzugung des Alten gegenüber dem Neuen sowie gegen eine unnötige Verehrung der Tradition. Genosse Mao Tse-tung empfiehlt uns eindringlich, alle nützlichen Dinge fremder Länder kennenzulernen und kritisch zu assimilieren. Was wir aber vom Ausländer gelernt haben, muß mit unserem nationalen Erbe verschmolzen werden und einen nationalen Charakter erhal« ten.

Im Einklang mit dieser Grundeinstellung wird heute bereits an den chinesischen Parteischulen die Ideologie Mao Tse-tungs als das Kernstück des Studiums des Marxismus-Leninismus angesehen. Erst neben der Unterrichtung der Werke von Mao Tse-tung ist ein Studium der Schriften von Marx, Engels, Lenin und Stalin vorgesehen. Bemerkenswert ist, daß Stalin, obwohl er in der Sowjetunion als „Klassiker" entthront worden ist, in China nach wie vor den gleichen Rang wie Marx, Engels und Lenin genießt. Noch kürzlich wurden im Rahmen der jüngsten Schulungskampagne seine Werke in größerem Umfange veröffentlicht.

Mao Tse-tungs Die Ideologie

Auf die Frage, warum bei der Schulung in der oben erwähnten Reihenfolge vorgegangen werden soll und was eigentlich unter der Ideologie Mao Tse-tungs zu verstehen sei, erteilte die „Shansi Ji Pao" vom 1. Februar 1960 folgende Antwort „Welche Theorie sollen wir gegenwärtig studieren? In erster Linie das Denken Mao Tse-tungs. Während des Studiums der Werke Mao Tsetungs kann man darüber hinaus die marxistischleninistische Theorie studieren. Warum müssen wir so vorgehen? Weil das Denken Mao Tsetungs chinesischer Marxismus ist. Das Denken Mao Tse-tungs ist ein Denken, das die Theorie des Marxismus-Leninismus mit der Praxis der chinesischen Revolution verbindet. Es ist chinesischer Kommunismus und chinesischer Marxismus ...

Wir müssen die drei großartigen Dinge studieren: die Generallinie, den großen Sprung nadt vorn und die Volkskommune. Sie verkörpern Mao Tse-tungs Denken. Sie sind das Produkt der schöpferischen Anwendung des Marxismus, die Genosse Mao Tse-tung in Übereinstimmung mit den konkreten Bedingungen der sozialistischen Revolution und des sozialistischen Aufbaus in China vorgenommen hat. Die Volkskommune ist die beste gesellschaftliche Organisationsform für die unaufhörliche Entwicklung unseres sozialistischen Aufbaus und unseres künftigen allmählichen Übergangs zum Kommunismus.“

Aus diesen Ausführungen sieht man, daß die von den Russen abgelehnte chinesische Volkskommunenkonzeption das Kernstück der soge-nannten „Ideologie Mao Tse-tungs“ bildet. Die Herausstellung des Maoismus, als eine zeitgemäße Fortentwicklung des Marxismus-Leninismus, enthält somit den unüberhörbaren chinesischen Anspruch auf Gleichberechtigung mit der Sowjetunion als Weltmacht. Dieser Anspruch wird erhoben, da sich Mao Tse-tung als Ideologe Chruschtschows überlegen fühlt und weil die Sowjets seit 1956 nicht bereit sind, dem militärisch und wirtschaftlich schwächeren China in der Führung der weltpolitischen Geschäfte eine gleiche Rangstellung einzuräumen wie ihrem eigenen Land.

Nach dem Tode Stalins schien in der Sowjetführung zunächst eine andere Tendenz vorzuherrschen. Man war damals einer Duumvirats-Konstruktion der Führung innerhalb des Ostblocks und des Weltkommunismus, vielleicht verbunden mit einer entsprechenden Interessensphärenabgrenzung, nicht ganz abgeneigt. Molotow sprach in seiner bekannten außenpolitischen Rede im Februar 1955, in der er Tito-Jugoslawien scharf angriff, von dem „sozialistischen Lager unter Führung der Sowjetunion und der Volksrepublik China“.

Diese Formel, die dem-Prestigebedürfnis Pekings entgegenkam, ist 195 5 noch des öfteren gebraucht worden.

Seit dem 20. Parteikongreß der KPdSU, und der damit verbundenen begrenzten Abkehr vom Stalinismus, wurde sie von russischer Seite fallen-gelassen. Die Weiterentwicklung der Widerspruchslehre 1957 und die Proklamierung der Volkskommunenkonzeption 195 8 bildeten 50 einen chinesischen Gegenschlag auf dem geistig-

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Bräker H.: Volkskommunen tragen Chinas Wirtschaftsentwicklung. Der Volkswirt. 14 Ja., 1960, S. 107.

  2. Vgl.den Beschluß des chinesischen Zentral-komitees vom 29. August 1958, Peking Review vom 16. September 1958, deutsche Übersetzung, Ost-Probleme, 10. Jg., 1958, S. 695— 698.

  3. Der 8. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas, Bd. 1, Peking 1956, S. 21.

  4. Vgl. Meissner, a. a. O., S. 251/2.

  5. Vgl. Meissner, a. a. O., S. 253/4.

  6. Vgl. Meissner, a. a. O., S. 254 ff.

  7. Vgl. Meissner, B.: Das Ende des Stalin-Mythos, Frankfurt/Main 1956, S. 44 ff. und 106 ff.

  8. Vgl. Meissner, Rußland unter Chruschtschow, a. a. O., S. 260/1.

  9. Vgl. Zagoria, D. S.: Strains in the Sino-Soviet Alliance, Problems of Communism, 9. Jg., 1960, Nr. 3, S. 1— 11; Brzezinski, Z., Pattom and Limits of the Sino-Soviet Dispute, Problems of Communism, 9. Jg., 1960, Nr. 5, S. 1— 7; deutsche Übersetzung: Ost-Probleme, 12. Jg., 1960, S. 610— 614 (siehe auch S. 615 ff.).

  10. Vgl. Meissner, B.: Die Innen-und Außenpolitik Chruschtschows, Osteuropa, Januar 1961'

  11. Wortlaut: Prawda vom 22. Juni 1960: deutsche Übersetzung, Ost-Probleme, 12. Jg., 1960, S: 418— 422.

  12. Diese Akzentverschiebung entsprach der vom Agitpropapparat unter Sosslow nach den Ereignissen in Polen und Ungarn vertretenen Linie, zur abweichenden Position Koslows siehe Aufsatz des Verfassers „Die Innen-und Außenpolitik Chruschtschows".

  13. Vgl. das Sonderheft „Peking und Moskau , „Osteuropa“, Nov. /Dez. 1960.

  14. Wortlaut der . Deklaration'von 1957, Inter-n

  15. Vgl. die von Harry Hamm durchgeführte instruktive Gegenüberstellung der beiden Erklärungen in der FAZ vom 28. Dezember 1960.

  16. Vgl. Boettcher, E.: Die sowjetische Wirtschaftspolitik am Scheidewege, Tübingen 1959, S. 212 ff.

  17. Ost-Probleme, 12. Jg., S. 306— 308.

  18. Ost-Probleme, 12. Jg., 1960, S. 303.

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