Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Rolle der Vereinten Nationen in der Weltpolitik | APuZ 11/1961 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 11/1961 Der ideologische Konflikt zwischen Moskau und Peking Die Rolle der Vereinten Nationen in der Weltpolitik

Die Rolle der Vereinten Nationen in der Weltpolitik

ideologischen Gebiet. Diese ideologische Offensive diente der theoretischen Begründung von Maßnahmen, die es China aus eigener Kraft ermöglichen sollten, den Abstand zum bolschewistischen Rußland auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet zu verringern. Schließlich war die Volkskommunenkonzeption dazu bestimmt, den Entwicklungsländern und vor allem den kommunistisch regierten Staaten zu zeigen, daß es neben dem sowjetischen Vorbild noch ein anderes Modell gab, an dem sie sich orientieren konnten. Bereits anläßlich des 30. Jahrestages der Gründung der KPCh 1951 ist die chinesische Revolution als .der klassische Typus der Revolutionen in kolonialen und halbkolonialen Ländern" bezeichnet worden.

Nicht umsonst verbindet sich die Volkskommunenkampagne mit der Betonung der weltrevolutionären Aspekte der marxistisch-leninistischen Ideologie. Diese Entwicklung zeigt, daß Peking die Voraussetzungen, die „anti-imperialistische Revolution“ in den afroasiatischen Entwicklungsländern und insbesondere Südostasien voranzutreiben, weitaus günstiger beurteilt als das an der Erhaltung und Zementierung des Status quo stärker interessierte Moskau.

Die Vereinten Nationen entstammen so wie ihr Vorgänger, der Völkerbund, einem an sich sehr verständlichen Wunsch, Gesetz und Ordnug in dem Dschungel der internationalen Beziehungen zu schaffen, um den Krieg zu vermeiden. Es ist kein Zufall, daß beide am Ende von zwei schrecklichen Kriegen entstanden sind.

Man muß zugeben, daß bis jetzt in den internationalen Geschäften vor allem die Macht maßgebend ist. Der Stärkere glaubt auch das Recht zu haben, seinen Willen durchzusetzen. Es gibt natürlich Unterschiede. Die älteren Mächte, die schon ihre maximale Ausdehnung gefunden haben — die gesättigten Mächte, wie man sie manchmal nennt —, sind in ihren Wünschen zuweilen etwas gemäßigter als die jüngeren; sie wollen eher behalten als erobern, so wie ein Mann, der schon viel Geld verdient hat, nicht so geldgierig sein kann wie einer, der seine Karriere noch vor sich hat. Aber Tatsache bleibt, daß zwischen einem schwachen Land und einem starken Land das stärkere doch mehr Möglichkeiten hat, sein Recht zu behaupten, als das schwächere, und daß das Leben einer kleinen Macht in der Welt sehr oft nicht besonders bemerkenswert ist.

Dieser Wunsch nach Gesetz und Ordnung ist an sich nicht neu. Was waren eigentlich im Mittelalter der Heilige Römische Kaiser und der Papst anderes als eine Art von Richtern, die das Gesetz und die Gerechtigkeit der nackten Macht gegenüber zu verteidigen versuchten? Und als ein Otto der Große Kaiser war, oder ein Gregor VII. Papst, ist es ihnen auch manchmal gelungen, die Schwachen gegen die Mächtigen zu verteidigen. Auch in den Verträgen des Westfälischen Friedens findet man den Versuch, eine Art von internationaler Organisation zur Abschreckung des Angreifers zu schaffen.

Man versucht eigentlich in den internationalen Beziehungen das zu erreichen, was man in den inneren Beziehungen erreicht hat. Es gab eine Zeit, wo ein jeder sein Recht oder seine Ansprüche durch das Schwert durchsetzen wollte. Die feudale Anarchie hat man überwunden, als es dem König, dem damaligen Vertreter der Autorität des Staates, gelungen war, alle Untertanen, die großen wie die kleinen, zu zwingen, ihre Beschwerden vor sein Gericht zu bringen und seine Entscheidungen zu befolgen.

Internationale Institutionen brauchen Machtmittel

Aber um dieses Ziel zu erreichen, genügte nicht allein die moralische Autorität des Königs; er mußte auch die Macht haben, die widerspenstigen Feudalen zum Gehorsam zu zwingen. Darum waren nur die Kaiser und die Könige mächtig, die über soviel eigene Kraft verfügten, die jener der Feudalen überlegen war. Der Sieg des königlichen Gerichts war nur dann sicher, wenn ein jeder wußte, daß der Richter die königliche Macht in Bewegung setzen konnte, um die Streitenden zum Gehorsam zu zwingen: nur wenn der König den Willen und die Macht hatte, den Widerstrebenden den Kopf abzuschlagen. So ist es auch in den internationalen Beziehungen, und darin liegt die große Schwierigkeit aller internationalen Einrichtungen, wie die der Vereinten Nationen. Wie kann man einen Staat zwingen, die Entscheidungen einer höheren internationalen Instanz anzunehmen? Wo ist die Polizei, die im Namen der internationalen Behörde die widerspenstigen Mitglieder zum Gehorsam zwingen kann?

Zur Zeit des Konflikts um Korfu, im Jahre 1923, stellte England seine Flotte dem Völkerbund zur Verfügung, um Italien zum Gehorsam zu zwingen: und es ist gelungen. Aber hätte sich der Völkerbund gegen England durchsetzen müssen, wer hätte damals die britische Flotte zum Gehorsam zwingen können? Daher war der Erfolg von Korfu an sich kein Erfolg der Institution: England verteidigte Griechenland; Italien wollte Griechenland zur Unterwerfung zwingen. Unter anderen Umständen hätte England lediglich offen oder insgeheim Italien ein Ultimatum gestellt. In der neuen Atmosphäre hat England es vorgezogen, als Vollstrecker der Entscheidung des Völkerbundes, wo sein Einfluß doch maßgebend war, aufzutreten. Die Form war eine andere, aber die Substanz dieselbe. Das war die Frage, vor die der Völkerbund gestellt war und die er nicht zu lösen vermochte. Der Druck des Völkerbundes als Druck der öffentlichen Meinung, unterstützt von den Kräften einer oder mehrerer interessierter Großmächte konnte ausreichen, um eine kleine Macht zum Gehorsam zu zwingen. Aber was dann, wenn es sich um eine größere Macht handelte?

Ein klassisches Beispiel dafür war der italienisch-abessinische und chinesisch-japanische Krieg. Über Italien wurden die Sanktionen verhängt, aber nicht hundertprozentig, weil Frankreich mit England nicht einverstanden war. Der Versuch, die Autorität des Völkerbundes zu bewahren, wurde jedoch gemacht. Aber ein energisches Auftreten gegen Japan hat man nicht gewagt; die Seekräfte Japans waren zu groß, um auch nur einen Versuch von Sanktionen zu unternehmen. Nur England und die Vereinigten Staaten hätten es gemeinsam wagen können, aber die Vereinigten Staaten waren damals nicht Mitglied des Völkerbundes.

Fine neue Ära in den Beziehungen der Völker

Der Völkerbund ist in einer idealen Atmosphäre von gutem Willen geboren worden. Seine großen Gründer -nicht Wilson allein -glaubten wirklich an die Möglichkeit einer neuen Ära in den Beziehungen der Völker zueinander. Und in den ersten Jahren seines Bestehens ist es auch möglich gewesen, in dieser Atmosphäre der Hoffnung und des Vertrauens, eine Menge Probleme zu lösen. Die Vereinten Nationen aber wurden in einer Atmosphäre von Zynismus geboren. Man ist von der Voraussetzung ausgegangen, daß die Großmächte über dem Gesetz stehen, oder, wenn man es anders sagen will, daß sie nicht sündigen können. Da sie für die Freiheit und die Demokratie gekämpft hatten, sollte man ein für allemal auch annehmen, daß sie auch für die Gerechtigkeit waren. Darum hat man den Großmächten nicht nur einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat gegeben — einen permanenten Sitz hatten sie auch im Völkerbund —, sondern auch das Veto-Recht zugestanden.

Hierin liegt der große Unterschied zwischen Vereinten Nationen und Völkerbund. Im Völkerbund hatte jede Macht, auch die kleinste, das Veto-Recht: in Fällen wie bei den Sanktionen gegen Italien hat man wohl einen Weg gefunden, um das Veto-Recht zu umgehen, aber die juristische Gleichheit aller Staaten blieb gesichert. Bei den Vereinten Nationen haben nur die anerkannten Großmächte das Veto-Recht.

Das ist zwar zynisch, aber realistisch. Wenn es den Großmächten — und besonders Amerika und Sowjetrußland — gelungen wäre, ein gutes Einverständnis untereinander zu erreichen, so hätten beide gemeinsam Ordnung in der Welt schaffen können. Wohl Ordnung, wenn auch nicht immer Gerechtigkeit: aber auch nur Ordnung kann schon etwas sein. Wer würde sich einer Entscheidung der Vereinten Nation entziehen können, wenn diese Entscheidung durch die vereinten Kräfte der Russen und der Amerikaner unterstützt werden könnte? Aber dieses Einverständnis zwischen Rußland und Amerika war eine Illusion. Durch die Feindseligkeiten zwischen beiden Über-Großmächten sind die Vereinten Nationen, in bezug auf die Vollstrekkung ihrer Entscheidungen, in eine Ohnmacht-stellung gesunken, die nicht geringer ist als die des Völkerbundes. Alles wie früher, und noch ein bischen schlimmer.

Der Völkerbund besaß keine eigenen Verteidigungskräfte. Bei den Vereinten Nationen hingegen wurde die Errichtung einer internationalen Streitkraft vorgesehen, was theoretisch ganz gut sein mag, aber in der Praxis? Wenn es darum geht, einen Konflikt zwischen Paraguay und Bolivien zu schlichten, können wohl die Streitkräfte, die die Vereinten Nationen mobilisieren können, dafür eingesetzt werden, um das eine oder das andere widerspenstige Mitglied zum Gehorsam zu zwingen, jedoch nur dann, wenn die größeren Mächte mit der Entscheidung der Vereinten Nationen einverstanden sind; denn wenn sie nicht einverstanden sind, und jede Großmacht einen der zwei Streitenden unterstützt, wird ein Eingreifen der Streitkräfte der Vereinten Nationen viel problematischer. Wenn sich aber Amerika oder Rußland einer Aggression schuldig machen, was kann man dann tun? Um sie zum Gehorsam zu zwingen, sollte man über eine Kraft verfügen können, die der ihrigen überlegen ist, so daß die Vereinten Nationen, theoretisch, eigene Streitkräfte zur Verfügung haben sollten, die mächtiger sein müssen als die Streitkräfte Amerikas oder Rußlands. Das ist natürlich ausgeschlossen. Daher müßte man praktisch, um Rußland zu zwingen, die Kräfte Amerikas und seiner Verbündeten mobilisieren. Das könnte nur einen allgemeinen Krieg bedeuten. Mit anderen Worten: Die Politik der Vereinten Nationen führt in ernsten Fällen zu den gleichen Konsequenzen wie eine Politik ohne die Vereinten Nationen.

Das haben wir im Fall von Korea gesehen: Der Korea-Krieg war ein Krieg Amerikas unter der Flagge und mit einem kleinen Kontingent der Vereinten Nationen. Und die Entscheidung ist doch nicht gefallen, weil Amerika es nicht gegewagt hat, Rußland weiter als bis zu einem gewissen Punkt herauszufordem.

Man sagt oft, daß es die kleineren Staaten sind, die die Verantwortung für den Krieg tragen. Ein Jahrhundert lang hat man vom Balkan als dem Pulverfaß Europas gesprochen. Die kleinen Mächte können aber nur kleine Schwierigkeiten bereiten. Es sind nur die Groß-mächte, die großen Schaden anrichten können. Der Balkan war an sich nicht das Pulverfaß Europas: das Pulverfaß waren die Groß-mächte, die diesen oder jenen Balkanstaat als ihren Satelliten aufhetzten oder verteidigten. Es war ein politischer Kampf und manchmal auch ein Krieg durch Strohmänner. Etwas, was wir auch ganz klar heutzutage beobachten können.

Garantie für den Status quo?

Eine andere große Schwierigkeit: Was soll dieses System der internationalen Sicherheit garantieren? Die Geschichte ist Entwicklung, Bewegung. Eine Macht steigt auf, entwickelt sich, und dann setzt die Dekadenz ein. Das ist immer so gewesen und wird auch so weitergehen. Und Kriege und Revolutionen sind an sich nur die Mittel, um diese Bewegung der Geschichte zu vollziehen, weil die Staaten, so wie die Klassen, ihre privilegierten Stellungen nicht gutwillig aufgeben wollen. Dieses ständige Sichentwickeln und Sichbewegen ist nicht zu vermeiden; es wäre bloß antihistorisch. Jegliche Organisation der allgemeinen Sicherheit ist dagegen geneigt, eine Garantie für einen gewissen Status quo vorzustellen. Jedes Land soll das Recht haben, von der internationalen Gemeinschaft Schutz und Garantie für seine rechtmäßigen Grenzen von heute zu beanspruchen. Völkerbund und Vereinte Nationen sind beide nach einem Krieg entstanden: und sie sollten beide jene Grenzen und jene Machtbeziehungen garantieren — das heißt verewigen —, die als Folge des Krieges entstanden waren. Aber der Sieg in einem Krieg ist nicht immer und nicht ganz der Sieg des Rechtes gegen das Unrecht, es ist der Sieg einer Macht oder einer Mächtegruppe, die den anderen ihre Auffassung der Grenzen und Machtbeziehungen aufzwingt. Muß das wirklich auch so bleiben, wenn sich die Umstände im Laufe der Jahre oder der Jahrzehnte verändert haben?

Wie kann man den Status quo und die geschichtliche Entwicklung miteinander vereinbaren? Der Völkerbund hat es versucht: Auf der einen Seite garantierte er die Grenzen seiner Mitglieder; es gab aber in der Verfassung des Völkerbundes auch einen Artikel, der die Möglichkeit einer Revision der Verträge vorsah.

Im Sinne der Gründer des Völkerbundes hatte dieser Artikel nur einen begrenzten Zweck: die Möglichkeit einer bescheidenen Revision der Grenzen Deutschlands, Ungarns und Bulgariens. Aber dennoch war es ein Prinzip. Dieser Artikel ist aber nie angewendet worden. Die ersten Jahre des Völkerbundes waren ein Kampf zwisehen Frankreich, das das Prinzip der heiligen Unantastbarkeit der Friedensverträge verteidigte, und England, das dagegen das Prinzip der Revision vertrat.

Frankreich hat gewonnen. Aber damit hat der Völkerbund die Chancen, die er hätte haben können, einigermaßen zu einer Realität zu werden, verspielt.

Die Vereinten Nationen waren nicht an einen Friedenvertrag gebunden wie der Völkerbund, und obwohl sie die jetzigen Grenzen ihrer Mitglieder ebenfalls garantieren, ist die Form nicht so präzis wie beim Völkerbund; auch hat die Entwicklung der allgemeinen politischen Lage es zu Anfang nicht erlaubt, die Vereinten Nationen zu einem Verband von beati possedentes zu machen. Zur Zeit des Völkerbundes sagte man — und mit Recht —, daß, hätte er zu Anfang des 19. Jahrhunderts bestanden, dann hätten die Länder Lateinamerikas ihre Selbständigkeit nie erlangen können. Dagegen wurden unter dem Schutz der Vereinten Nationen fast alle Kolonialreiche tatsächlich liquidiert: manchmal mit der vollen Zustimmung der ehemaligen Kolonialherren, manchmal etwas anders. Aber im allgemeinen ist diese große geschichtliche Umwälzung, die sich vor unseren Augen abgespielt hat, bei den Vereinten Nationen nicht auf Widerstand gestoßen. Aber das ist nicht geschehen, weil die Vereinten Nationen etwa ihren Willen durchgesetzt haben: es ist geschehen, weil die ehemaligen Kolonialherren sich der Befreiungsbewegung nicht widersetzen wollten oder konnten.

Wenn aber die Herrscher nicht nachgeben wollten, dann haben sich die Vereinten Nationen als ohnmächtig erwiesen.

Da ich ein amtierender Diplomat bin, ziehe ich es vor, keine Beispiele zu bringen: aber Sie können selbst sehr leicht einige dafür finden. Übrigens ist auch die Frage der Entwicklung der Geschichte eine Frage der Macht. Nehmen wir den Völkerbund: Es ist immer leicht, von der Vergangenheit zu sprechen. Beinahe alle hatten verstanden, daß eine Revision der Friedensverträge unumgänglich war, um eine friedliche Entwicklung Europas zu ermöglichen. Hätte man wirklich zu einer Abstimmung über diese Frage kommen können, so hätte die übergroße Mehrheit sich zweifellos für eine weitgehende Revision entschieden. Aber Frankreich und seine Verbündeten waren absolut dagegen. Wer hätte sie zwingen können? Eine Entscheidung des Völkerbundes wäre nur ein platonischer Beweis guten Willens gewesen.

Die Vereinten Nationen und ihr Vorgänger haben das gestechte Ziel, Gerechtigkeit und Ordnung in den internationalen Beziehungen zu schaffen, nicht erreicht. Hoffen wir, daß eine Zeit kommen wird, wo in den internationalen Beziehungen das Recht und nicht die Macht ausschlaggebend sein wird. Hoffnungen muß man immer haben: aber fest damit rechnen, und eine Politik auf solche Träume aufzubauen, wäre nur eine gefährliche Illusion. Ich fürchte, daß noch auf Jahrzehnte hinaus — und vielleicht noch länger — in den internationalen Beziehungen das Dschungel-Gesetz ausschlaggebend bleiben wird.

Kann man daher zu der Schlußfolgerung kommen, daß die Vereinten Nationen ganz unwichtig sind? Das wäre ein ebenso großer Fehler wie der Gedanke, daß die Vereinten Nationen die Gerechtigkeit einführen können. Die Vereinten Nationen besitzen eine gewisse Bedeutung, sogar eine ziemlich große, als Forum für die Formulierung und die Äußerung der öffentlichen Meinung und des Weltgewissens.

Die UNO als Forum des Weltgewissens

Denn es gibt ein Weltgewissen. Es mag angenehm oder unangenehm sein, aber es ist so. Dieses Weltgewissen hat immer existiert. Wie sich dieses Gewissen formt, ist nicht leicht zu analysieren, aber daß es existiert, ist nicht zu leugnen. Und eine internationale Versammlung wie der Völkerbund oder die Vereinten Nationen ist ein mächtiges Mittel, um diesem Welt-gewissen seine Äußerungsmöglichkeit zu geben. Das Weltgewissen existiert, und es ist politisch sicher kein Vorteil, sich gegen dieses Weltgewissen zu stellen. Zu Beginn des italienischen Feldzugs gegen Äthiopien sagte Mussolini: Was tun wir Italiener anders als was schon jahrhundertelang die anderen Kolonialmächte — Frankreich und besonders England — getan haben? An sich hatte Mussolini Recht: der Krieg Italiens gegen Äthiopien war nicht schlimmer als die englische Eroberung Indiens oder die französische Eroberung Marokkos. Aber der Unterschied lag darin, daß zur Zeit des Abessinien-Krieges das Gewissen der Welt mit den kolonialen Erobe-rungennicht mehr einverstanden war. Mit diesem Krieg hat sich Italien gegen das Weltgewissen gestellt — und das hat es auch teuer bezahlt. Für die Einigung Deutschlands hat Preußen zwei Kriege geführt: den einen gegen Österreich, den anderen gegen Frankreich. An sich waren es zwei typische Aggressionskriege: aber das Weltgewissen war damals für Preußen. Später hat Deutschland noch zwei Kriege geführt. Wenn die Schuld Deutschlands und Italiens am zweiten Weltkrieg nicht zu leugnen ist, so ist die Verantwortung für den ersten Krieg geschichtlich sehr geteilt. Aber in beiden Fällen hat Deutschland gegen das Gewissen der Welt verstoßen. Die Niederlage Deutschlands war militärisch: aber man darf auch nicht die Wirkung, die solch ein Weltgewissen haben kann, unterschätzen.

Es ist immer besser, wenn möglich, einen Krieg zu vermeiden. Aber wenn er unumgänglich ist, st es immer besser, diesen Krieg nicht gegen das Gewissen der Welt zu führen. So gewinnt man ihn leichter und verliert man ihn leichter, wenn er eben zu verlieren ist.

Das Weltgewissen wird zwar oft von einer gedickten Propaganda beeinflußt. Propaganda hat man schon immer, wenn auch mit verschiedenen Mitteln, getrieben. Sie wirkt jedoch nicht immer und überall in der gleichen Weise. Es kommt nicht allein auf eine gescheite Propaganda an, sondern auch darauf, ob sie den Strömungen und Tendenzen des Weltgewissens entspricht oder nicht. Bismarck war ein vortrefflicher Propagandist, ebenso Cavour. Aber die Propaganda von Bismarck und Cavour hat ihren Erfolg haben können, weil die Tendenz zur nationalen Befreiung, zur nationalen Einigung, den Weltbestrebungen und dem Weltgewissen von damals entsprach. Österreich und gewissermaßen auch Frankreich, die für den Status quo kämpften, hatten nicht das Gewissen auf ihrer Seite. Von dem Habsburgischen Österreich kann man sagen, daß es nie verstanden hat, für sich Propaganda zu treiben. Im Gegensatz zu den Habsburgem war Napoleon III. ein großer Journalist und hatte für die Probleme der Propaganda ein fast modernes Verständnis: aber gegen den Geist seiner Zeit konnte auch er nicht ankämpfen.

Das Weltgewissen ändert sich ständig, und in den letzten Jahrzehnten hat es sich nicht zu Gunsten des Westens entwickelt.

Man könnte sagen, daß es heute kein einheitliches Weltgewissen gibt, wie im vorigen Jahrhundert, oder noch zur Zeit des Abessinien-Krieges. Heute gibt es mehrere Weltgewissen. Wir haben das ganz deutlich erkannt zur Zeit der Diskussionen bei den Vereinten Nationen über den Ungarn-Aufstand und die französisch-englische Suez-Expedition, die, durch Zufall oder nicht, praktisch zur selben Zeit stattgefunden haben. Für uns traditionelle Europäer war es an sich nicht vorstellbar, daß diese zwei Fragen auf der gleichen Ebene behandelt werden konnte . Wir sind in einer Welt geboren und ausgewachsen, wo es als Verbrechen gilt, jemanden zu töten. Uns erschien es aber noch schlimmer, einen es viel schlimmer ist einen Araber oder Neger umzubringen. Wenn wir den Atlantik überqueren, sieht die Sache schon etwas anders aus. Für den Amerikaner bedeutet es ein und dasselbe, einen Araber oder einen Ungarn zu töten. Aber es gibt einen bedeutenden Teil der Weltmeinung — Milliarden heute —, der der Ansicht ist, daß es viel schlimmer ist, einen Araber oder Neger zu töten als einen Ungarn. Vor einigen Jahrzehnten existierte dieser Teil der Menschheit politisch noch nicht. Im Völkerbund war es ganz anders: die ausschlaggebende Mehrheit bestand aus Europäern. Nur lateinamerikanische Staaten, in ihren antikolonialistischen Tendenzen, mochten unser ein wenig überdrüssig sein. Die Russen, mit ihrer Befreiungspolitik der Kolonialvölker, waren uns auch sehr unangenehm. Aber im Grunde genommen vertrat die ausschlaggebende Mehrheit der politischen Meinung den europäischen Standpunkt, und der Völkerbund als Spiegel der damaligen Machtbeziehungen wurde von dieser Konzeption beherrscht.

Entwicklungsländer haben die Mehrheit

Heute ist es anders. Es mag für uns Europäer unangenehm klingen, gewissermaßen eine Min derheit geworden zu sein, aber es ist so. Und in diesem Sinn kann man sagen, daß die Entwicklung der letzten fünfzehn Jahre wirklich umwälzend gewesen ist. Zum Zeitpunkt ihrer Gründung war das Wesen der Vereinten Nationen derjenigen des Völkerbundes sehr ähnlich, Europa war wohl an zweite Stelle gerückt; Amerika, obwohl keine europäische Macht im strikten Sinne des Wortes, war doch ein beständiges Element der westlichen Welt und der europäischen Kultur; ebenso England mit seinem Commonwealth. Die Russen waren natürlich viel mächtiger als vorher, und das China von Tschang-Kai-Schek war zur Großmacht promoviert. Aber diese Änderungen waren nicht radikaler Natur, so daß die ganze Organisation der Vereinten Nationen — Sicherheitsrat, Sekretariat, usw. — noch zweifellos unter dem Einfluß des Machtbereichs von damals standen. Unter den 51 Staaten, die ihr damals angehörten, waren nur 7 asiatische und 3 afrikanische. Heute ist es anders. Heute besteht die Mehrheit der Vereinten Nationen nicht mehr aus westlichen Staaten, sondern aus jenen, die wir die Entwicklungsländer nennen, das heißt, die ehemaligen Kolonialländer. Heute sind es 21 asiatische und 25 afrikanische Staaten. Allein im Jahre 1960 sind 16 afrikanische Staaten unabhängig geworden und den Vereinten Nat nen beigetreten. Alles Entwicklungsländer, und das wird noch weitergehen. Es gibt noch eine Reihe von Ländern in Afrika, die auf der Schwelle der Selbständigkeit und somit vor ihrer Aufnahme in die Vereinten Nationen stehen. Was die Europäer betrifft, besteht nur die Hoffnung, daß eines Tages Deutschland Mitglied der Vereinten Nationen sein wird: aber das wäre nur eine Stimme. Eine Vermehrung um eine Stimme ist alles, was wir Europäer uns erhoffen können.

Es ist nicht angenehm, aber es ist eine Tatsache, mit der man sich abfinden muß, so wie es nicht angenehm ist, 60 Jahre anstatt 20 Jahre alt zu sein. Was kann man tun? Die Dekadenz ist immer ein bitterer Weg, aber man kann sie nicht vermeiden. Wir können, wenn wir wollen, ein jeder für sich oder gruppenweise, aus den Vereinten Nationen heraustreten; wir können auch die Vereinten Nationen zum Scheitern bringen; aber das ändert nichts an der Tatsache, daß der Kontinent Europa nicht mehr das Zentrum der Welt ist, und daß die westliche Welt, das heißt Europa plus Amerika, Kanada, Australien, usw., nicht mehr die allein entscheidende Macht in der Welt ist. Und was die öffentliche Weltmeinung, das Weltgewissen betrifft, dieses Weltgewissen wird nicht mehr nur im Westen geformt.

Das ist eine der Schwierigkeiten unserer Zeit. Es gibt nicht eine öffentliche Meinung, es gibt verschiedene öffentliche Meinungen; es gibt nicht e i n Gewissen der Welt, es gibt mehrere Weltgewissen.

In seiner letzten Äußerung vor den Vereinten Nationen hat Herr Chruschtschow eine neue Ordnung des ganzen Apparats vorgeschlagen: Der Sekretär der Vereinten Nationen sollte nicht mehr ein einzelner Mann sein, sondern ein Drei-gestirn: ein Vertreter der kapitalistischen oder westlichen Welt, ein Vertreter der kommunistischen Welt und ein dritter Vertreter der soge-nannten neutralen Welt, das heißt der Entwicklungsländer, die zumeist nicht engagiert sind und sich nicht engagieren wollen. Der Vorschlag war natürlich ein Vorwand, um die Vereinten Nationen zum Werkzeug der russischen Bestrebungen werden zu lassen. Wir haben jedoch eigentlich nicht das Recht, Rußland zu scharf für diese seine Tendenz zu verurteilen. Wir haben ebenfalls unter den damaligen Umständen versucht, die Vereinten Nationen zugunsten der Anschauungen des Westens zu formen, in einem Moment, als sie noch ausschlaggebend erschien; und es ist fraglich ob Roosevelt ein so leidenschaftlicher Verfechter der Vereinten Nationen gewesen wäre, wenn er ihre Entwicklung hätte voraussehen können.

Wie dem auch sei, diese Aufteilung der Welt in drei Gruppen, in drei Religionen möchte man fast sagen, entspricht den Tatsachen. Es gibt eine westliche Welt, es gibt eine kommunistische Welt und es gibt eine neutrale Welt: neutral in dem Sinn, daß sie es ablehnt, sich sowohl der westlichen wie der kommunistischen Welt anzuschließen.

Die psychologischen Folgen der Kolonialherrschaft

Diese Idee der neutralen Welt ist am schwierigsten zu definieren. Und sie ist auch die Welt, die für uns — den Westen — das größte Interesse in der Politik wie in der Propaganda darstellt — insoweit Politik und Propaganda voneinander zu trennen sind. Diese neutrale Welt besteht aus ehemaligen Kolonialländern — direkten Kolonialbesitzungen oder indirekten (die Kommunisten nennen sie halbkolonial). Sie haben sich von ihren westlichen Herrschern befreit. Obwohl in vielen Fällen ihre Befreiung mit vollem Einverständnis der ehemaligen Herrscher vor sich gegangen ist, bleibt doch das Gefühl zurück, daß diese Freiheit in einer Art gemeinsamem Welt-kampf zur Eliminierung der Kolonialmächte errungen worden ist: und es ist auch wahr, wenigstens zum Teil. Kulturell sind sie gespalten. Die meisten der heutigen Leader haben, mit geringen Ausnahmen, französische und englische Universitäten besucht. Sie haben gegen ihre Kolonialherren die geistigen Waffen angewandt, die sie auf ihren Schulen oft durch ihre Stipendien erhalten haben. Sie wollten die politische Freiheit und auch die ökonomische Freiheit, aber kulturell waren sie zu Westlern geworden.

Am ausgegrägtesten sieht man das bei Nehru, der ein überzeugter indischer Patriot ist, ein großer Kämpfer für die Freiheit der Kolonialvölker, ein Neutralist, der aber zu gleicher Zeit kulturell völlig der englischen Welt angehört: er ist, unter anderem, einer der besten heutigen Schriftsteller in englischer Sprache. An sich sind sie nicht gegen uns; sie sind das perfekte Ergebnis der Kulturarbeit des Kolonial-systems.

Aber die Fremdherrschaft hinterläßt tiefe Spuren. Hier in Europa waren wir alle in den letzten Jahren mehr oder weniger besetzt und befreit. Somit können wir die Gefühle dieser Leute verstehen. Es ist nie angenehm, fremde Herrscher im eigenen Land zu haben und fremde Befehle anzunehmen. Bei uns hat das nur einige Jahre gedauert, in Indien zum Beispiel aber eineinhalb Jahrhundert.

Dann die Frage der Rasse, der Farbe. Wenn man vom Rassismus spricht, denkt man unwillkürlich an die Übertreibungen des Nationalsozialismus. Aber es gibt auch andere Formen von Rassismus: und in einer gemilderten Form besteht der Rassismus noch überall in der westlichen Welt. Wenn ein Deutscher eine Italienerin heiratet, oder ein Amerikaner eine Französin, kann das gewissermaßen in der Familie und im engen Kreis als etwas Fremdes erscheinen. Es gibt aber kein Rasseverbot, keine Rassen-Barriere: die öffentliche Meinung akzeptiert das als etwas Normales. Bernhard Shaw hat gesagt, die Eliminierung der Klassen in einer Gesellschaft bestehe vor allem in der Berechtigung zur Eheschließung. Wenn es an sich ganz normal erscheinen wird, daß die Tochter eines Betriebsdirektors einen Arbeiter heiratet, dann, aber nur dann, sind die Klassenunterschiede wirklich überwunden. Solange eine Art von sozialem Tabu der Tochter eines Herzogs verbietet, einen Commoner zu heiraten, sind die Klassenunterschiede nicht überwunden. Die Klassenunterschiede sind sehr schwach geworden, aber sie existieren noch in unserer Gesellschaft. Nationalitätshindemisse im Rahmen der westlichen

Welt sind fast gänzlich verschwunden. Eine Barriere der Farbe existiert jedoch, und nicht nur in den Vereinigten Staaten. Wir alle hier sind ohne Zweifel sehr fortschrittliche Leute: aber was würden wir sagen, wenn einer unserer Söhne uns eine schöne Negerin als Schwiegertochter vorstellen sollte? Und man darf nicht vergessen, daß die Inschrift „Eintritt verboten für Hunde und Chinesen“ keine propagandistische Erfindung war; eine solche Inschrift hat tatsächlich existiert.

Dann der Mangel an politischem und ökonomischem Vertrauen. Sie sind nicht überzeugt, daß die alten Kolonialländer auf ihre ehemalige Machtstellung wirklich verzichtet haben. Sie glauben und befürchten, daß sie noch irgendwelche Mittel ersinnen, um ihre alte Herrschaft direkt oder indirekt wieder herzustellen. Sie haben nur ein beschränktes Vertrauen zu uns anderen, weil wir mit ihren alten Kolonialherren im Bündnis stehen und dieselbe Hautfarbe haben.

Ich glaube, wir unterschätzen die Intelligenz dieser neuen Länder, wenn wir sagen, daß sie die kommunistische Gefahr nicht verstehen. Aus meiner Erfahrung in diesen Ländern kann ich sagen, daß sie viel mehr und viel klarer verstehen als wir denken. Sie wissen ganz gut, daß die Kommunisten sie gänzlich für ihr System gewinnen wollen, aber sie sind auch überzeugt, daß die Russen wirklich nicht wollen, daß diese Länder unter die westliche Herrschaft zurückkehren. Und da für diese Länder die westliche Gefahr bedeutend greifbarer ist — noch eine Sache der jüngsten Vergangenheit —, betrachten sie den Russen als ein mögliches Verteidigungsmittel gegen uns, mit welchem sie sich gegen die westlichen Forderungen zur Wehr setzen. So könnte man ein wenig vereinfachend sagen, daß die meisten dieser Länder kulturell dem Westen zugewandt und in der Innenpolitik weder kapitalistisch noch kommunistisch sind. Sie versuchen einen dritten Weg für ihre politische und ökonomische Entwicklung zu finden. Außenpolitisch blicken sie aber nach der russischen Seite mit weniger Mißtrauen — nicht mit Vertrauen — als in unsere Richtung.

Somit gibt es wirklich jetzt drei verschiedene Kreise der öffentlichen Meinung, oder drei verschiedene Äußerungen des Weltgewissens: eine westliche, eine kommunistische und eine nicht engagierte. Daß Chruschtschow diese Tatsache ausnützen möchte, um jede mögliche Aktivität der Vereinten Nationen zu lähmen, ist eine andere Sache; aber diese neue Teilung der Welt bleibt eine Tatsache.

Sowjetischer Versuch einer Erweiterung des Vetorechts

Was will eigentlich Herr Chruschtschow? Im Sicherheitsrat hatte Rußland von Anfang an sein Vetorecht, und mit diesem Vetorecht konnte es jede Aktivität der Vereinten Nationen lähmen, wenn sie gegen die Interessen von Ruß-land gerichtet war. Die Russen haben ihr Vetorecht ein bißchen zu oft angewandt, deshalb versuchten die Westler sich über den Umweg der Vollversammlung durchzusetzen, weil es in der Vollversammlung kein Vetorecht gibt und der Generalsekretär immer selbständig handeln kann, wenn er von einer Mehrheit der Vollversammlung unterstützt wird. Die Vollversammlung ist kein Exekutiv, wie es bis zu einem gewissen Punkt der Sicherheitsrat ist: sie ist eher einem Parlament ähnlich. Aber wenn die Vollversammlung, als Äußerung der öffentlichen Meinung der Welt, sich für oder gegen eine gewisse Politik einsetzt, dann kann man wenigstens etwas versuchen. Juristisch betrachtet, ist nur eine ZweidrittelMehrheit exekutiv; aber auch eine einfache Mehrheit ist nicht ohne Wert. Die persönliche Politik des jetzigen Generalsekretärs, Herrn Hammarskjöld, ist immer dahingehend gewesen, in gewissen Fällen die Handlung persönlich und direkt in die Hand zu nehmen, gestützt auf die öffentliche Meinung der Welt. Die Handlungen von Mister Hammarskjöld haben nicht immer das Glück gehabt, allen zu gefallen. Wenn man versucht überparteiisch zu sein, kann man nicht allen gefallen. Aber offenbar haben sie den Kommunisten noch weniger gefallen als den Kapitalisten. Durch diese Verdreifachung des Postens des Generalsekretärs will man einfach das Vetorecht dort einführen, wo es bis jetzt noch nicht existierte.

Was war eigentlich die Politik von Hammarskjöld? Soweit ich ihn kenne, ist er ein intelligenter Mann und ein großer Realist. Er macht sich zweifellos keine Illusionen über die Möglichkeiten der Vereinten Nationen: er sieht deutlich ihre Grenzen. Aber er denkt — und meiner Meinung nach hat er völlig Recht —, daß die Vereinten Nationen nützlich sein können, um Konflikte zu entschärfen, um zu verhüten, daß aus einem kleinen Streitfall ein allgemeiner Konflikt entsteht. Darum hat er die Politik der persönlichen Intervention erfunden. Und er hat damit auch einige Erfolge gehabt: Ohne Zweifel hat er zur Zeit der Suez-Krise den Franzosen und Engländern die Möglichkeit gegeben, sich mit einen Minimum an Prestigeverlust aus der Affäre zu ziehen.

Noch größer war sein Erfolg im Falle der Landung der Engländer und der Amerikaner in Jor-danien und im Libanon. Ob sein Erfolg ebenso groß im Kongo sein wird, kann man noch nicht sagen: die Kongo-Krise ist noch nicht beendet, und — wie die alten Römer sagten — es ist immer besser bis respice finem zu warten.

Bis heute kann man nur sagen, daß Herr Hammarskjöld mit seiner Politik im Kongo die Welt vor der Möglichkeit einer Katastrophe bewahrt hat. Ob Lumumba wirklich Kommunist war, werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Es gibt bei uns eine gewisse Tendenz, alle, die uns nicht gefallen, als Kommunisten zu bezeichnen, so wie für die Kommunisten jemand, der ihnen nicht gefällt, immer nur ein Faschist ist. Die Lage im Kongo ist noch sehr verwirrt, und keiner von uns kann die künftigen Entwicklungen voraussehen. Tatsache bleibt jedoch, daß es bis jetzt gelungen ist, einen direkten Konflikt zwischen Amerika und Rußland in der Kongo-Angelegenheit zu vermeiden. Und das ist keine Kleinigkeit. Die Tatsache, daß Herr Chruschtschow in New York gegen Herrn Hammarskjöld seinen Zorn ausgelassen hat, sollte für uns ein Beweis dafür sein, daß die Politik von Herrn Hammarskjöld im Kongo zumindest nicht den Wünschen und Erwartungen der Kommunisten entsprochen hat. Andernfalls hätten die Russen nicht versucht, den Befugnissen des Generalsekretärs Grenzen zu setzen: sie hätten im Gegenteil vorgeschlagen, diese Befugnisse zu erweitern. Und wir hätten an ihrer Stelle natürlich dasselbe versucht.

Wie gesagt, haben die Vereinten Nationen, als mögliches clearing-house der schwierigsten Konflikte, als Entschärfungskammer, wenigstens heute, ihre einzige — nicht zu unterschätzende — Möglichkeit.

Chruschtschows Begriff der Koexistenz

Die friedliche Koexistenz — oder der kalte Krieg, ganz gleich wie Sie es nennen wollen — hat ihre Gesetze. Chruschtschow hat sie glänzend definiert als den Kampf zweier entgegengesetzter Weltanschauungen, der mit allen Mitteln — politischen, wirtschaftlichen, sozialen — geführt wird, mit Ausnahme der militärischen Mittel. General Wedemeyer hat in seinem Buch eine meiner Meinung nach vortreffliche Definition der großen Strategie gegeben: „Die Kunst und die Wissenschaft vom Einsatz aller Mittel einer Nation, um die von einer nationalen Politik bestimmten Ziele zu erreichen: und diese Mittel sind politische, wirtschaftliche, psychologische und militärische Mittel“. Setzen Sie anstelle von national, kommunistisch, und Sie haben fast gänzlich die sehr exakte Chruschtschow’sehe Definition von der friedlichen Koexistenz.

Diese friedliche Koexistenz ist dem brinkmanship sehr ähnlich: man kann so weit gehen bis man bei der Kriegsgefahr angelangt ist. Das bedeutet aber, daß man immer die Bremsen fest in der Hand halten muß. Aber auf bei-den Seiten gibt es nur Menschen, in beiden La-8ern kann manchmal die Reaktion der öffent'dien Meinung ausgelöst werden — es gibt ine Art von öffentlicher Meinung auch in en totalitären Ländern —, so daß es möglich 5 nur hier und da ein bißchen zu weit zu ge-

en. Dann wird es gefährlich: wie kann man zurückgehen? Hier spielt die öffentliche Meinung noch eine gewisse Rolle und leider auch das Prestige. Die größten Dummheiten in der Geschichte hat man immer nur um des Prestige willen gemacht. Hierbei können die Vereinten Nationen, durch ihre Anonymität, noch eine wichtige Rolle spielen. Einem bestimmten Gegner mit Namen und Gesicht nachzugeben, verletzt das Prestige; vor einem anonymen Areopag von tausend Namen und Gesichtern zurückzuweichen, kann etwas anderes sein. Dieser anonyme Areopag kann keinen Richtspruch fällen: er kann uns zu einem hinkenden Kompromiß verhelfen: la plus jolie jeune fille du monde ne peut donner que ce qu'elle a: aber auch das kann wichtig sein.

Eine sehr wichtige Rolle, wenn auch nicht die große Richter-Rolle, von der wir träumten. Das heißt, so betrachtet, können die Vereinten Nationen eine wichtige Instanz sein in der friedlichen Koexistenz.

Die Kompromisse, die in den Vereinten Nationen zu erreichen sind, können nur hinkende Kompromisse sein. Ob sie in unserer Richtung mehr hinken oder in der Richtung unserer Gegner, das hängt von der Stimmung der Vollversammlung, von der öffentlichen Meinung der Welt, von dem Gewissen der Welt ab. Darum müssen wir danach trachten, mit Wort und Tat, uns dem Gewissen der Welt anzupassen und die öffentliche Meinung der Welt auf unsere Seite zu bringen. Mit anderen Worten müssen wir mit Wort und Tat Propaganda treiben, und zwar eine gute Propaganda.

Ich glaube, es wäre ein Fehler zu behaupten, daß die letzte Sitzung der Vereinten Nationen ein Fehlschlag für die sowjetische Politik gewesen sei: wohl haben die Russen nicht alles erreicht, was sie wünschten; wohl haben die soge-nannten neutralen Länder mehr Widerstandskraft gezeigt als wir glaubten oder befürchteten;

und wohl sind viele Abstimmungen zuungunsten der russischen Pläne ausgefallen. Von einem Fehlschlag zu sprechen, wäre aber ein wenig verfrüht. Die neue Taktik der Russen bei den Vereinten Nationen sowie einige ihrer Vorschläge haben Strömungen ausgelöst, die nicht leicht zu kontrollieren sein werden. Und ich glaube, man muß sich mit der Möglichkeit abfinden, daß bei künftigen Sitzungen und auf anderer Ebene die Russen bedeutend mehr Erfolg haben werden als man erwartet.

Die Lage in den Vereinten Nationen hat sich in fünfzehn Jahren zum Nachteil des Westens entwickelt; wie weit und wie stark, kann jetzt noch nicht gesagt werden: das hängt auch von unserer Politik, von unserer Haltung und von unserer Propaganda ab. Vor fünfzehn Jahren konnte man meinen, daß, ideologisch wenigstens, die Vereinten Nationen fest in unseren Händen lagen: heute sind wir Westler in den Vereinten Nationen zu einer Minderheit geworden. Der Gedanke, daß das kleine Togo den gleichen Stimmwert hat wie die Vereinigten Staaten, mag natürlich sehr unangenehm sein. Aber das war auch früher so: wir sollten Togo nicht mit den Vereinigten Staaten vergleichen, sondern mit Island oder Luxemburg. Keiner hielt es für anstößig, daß Island oder Luxemburg eine gänzlich unabhängige Stimme hatten wie England oder die Vereinigten Staaten. Der einzige Unterschied liegt daher darin, daß es noch vor einigen Jahren sehr wenige kleine Länder mit farbiger Haut gegeben hat; und heute gibt es eine Menge. Es ist die Entwicklung der Welt, daß die Vereinten Nationen sich den Veränderungen der politischen Geographie der Welt anpassen. Eine Periode der Geschichte geht zu Ende; es mag unangenehm sein, aber, wie gesagt, es ist eine Tatsache, mit der man sich abfinden muß.

Die Vereinten Nationen können keine große Entwicklungsmöglichkeit haben, bis wir alle, groß und klein, nicht wirklich bereit sind, die Vereinten Nationen als übernationales Gericht anzuerkennen: übernational im vollsten Sinne des Wortes. Ein Kommunist wird aber nie an die Unparteilichkeit eines kapitalistischen Richters glauben, in einem Konflikt, in dem kommunistische Interessen verwickelt sind, und umgekehrt. Für unseren Stolz ist es fast unerträglich zu denken, daß ein Inder oder ein Ghaner über einen Streitfall zwischen — sagen wir — Norwegen und Schweden entscheiden kann. Die farbigen Leute ihrerseits sind überzeugt, daß im Falle eines Konflikts zwischen einem Westler und einem Neutralen die Entscheidung eines westlichen Richters nicht unparteiisch ausfallen würde. Es wird lange dauern, zweifellos Jahrzehnte, bis wir uns alle an die neue Lage angepaßt haben werden. Die Vereinten Nationen können sehr von Nutzen sein, um aus einer sehr komplizierten Lage einen erträglichen, wenn auch hinkenden, Ausweg zu finden. Das ist natürlich nur so lange möglich, bis die zwei Hauptgegner, Russen und Amerikaner, — und bei jedem noch so kleinen Konflikt findet man direkt oder indirekt Russen und Amerikaner — nicht entschlossen sind, bis zu den letzten Konsequenzen zu gehen. Es ist das Gleichgewicht der Schrecken und der Zerstörungen, das die beiden Gegner zu dieser Vorsicht zwingt. Dieses Gleichgewicht der Schrecken hat seine Regeln: Die Spannung muß nicht über einen gewissen Grad hinausgehen, sonst läuft der Kalte Krieg Gefahr, nicht mehr kalt zu bleiben. Solange die beiden Hauptgegner entschlossen sind, einen Krieg zu vermeiden, muß man zu einem gewissen Punkt entspannen. Die Vereinten Nationen können, ich wiederhole es, eine indirekte Entspannung erleichtern, wenn eine direkte schwieriger ist.

Sollten die zwei großen Hauptgegner zum Krieg entschlossen sein, dann können alle Vereinten Nationen der Welt nichts mehr tun. Aber das ist zweifellos bis jetzt nicht der Fall: und die Vereinten Nationen bieten eine bescheidene, doch wichtige Politiksmöglichkeit.

Aber wir müssen darum bei den Vereinten Nationen mit Wort und Tat Politik und Propaganda treiben.

Vor allem sollten wir die Vereinten Nationen nicht beschimpfen und verachten.

Für viele, viele Staaten — besonders in Lateinamerika, Afrika und Asien — sind die Vereinten Nationen das einzige Fenster in der Weltpolitik. Wenn man zu Hause bleibt, wird man von den zahlreichen kleinen heimatlichen Schwierigkeiten überhäuft. In New York hat man dagegen den Eindruck, an den Bewegungen der Weltgeschichte aktiv beteiligt zu sein: man glaubt, höhere und bessere Luft zu atmen. Etwas ähnliches wie zu Beginn der Parlamente, wo der kleine Rechtsanwalt aus der Provinz in der Hauptstadt eine Rolle in der großen Politik seines Landes zu spielen glaubte. Wenn man diese ihnen angenehme Tribüne schmäht, oder wenn man sie zu ihren Ungunsten ändern will, dann reagieren sie. Wir haben das auch jüngst gesehen: die Reaktion auf die russischen Schmähungen der Vereinten Nationen war kein großer Erfolg. Jedes dieser Länder hat seine eigenen Wünsche, Bestrebungen und Befürchtungen. Die öffentliche Meinung der Welt — das, was ich das Weltgewissen nenne — besteht aus dem Zusammenströmen dieser individuellen Bestrebungen. Sie ändern sich, sie lassen sich beeinflussen. Wir können sie mehr in unsere Richtung lenken. Es ist nicht leicht: die Russen haben es zweifellos leichter als wir: ich habe schon gesagt, warum. Aber man muß auch zugeben, daß die ganze westliche Politik auf dieser Ebene bisher keine große Geschmeidigkeit gezeigt hat. Wir stehen in Verteidigungsstellung, ja, wir sitzen auf der Anklagebank — wir waren die Richter und sind es nicht mehr. Warum? Weil wir noch nicht sehen wollen, wie die Welt wirklich heute ist. Wir wollen uns nicht den neuen Umständen anpassen. Die Zeiten der Größe Europas sind vorbei: aber sie sind eine Sache der jüngsten Vergangenheit. Ich habe vor kurzem ein Buch gelesen über das Ende der Habsburgischen Monarchie. Es schien mir etwas wie die Geschichte der staufischen Kaiser: dann, fast mit Bestürzung, wurde ich mir bewußt, daß das Ereignisse meiner Jugend waren; daß ich noch den Kaiser von Deutschland, den Kaiser von Österreich, den Kaiser von Rußland mit eigenen Augen, wenn auch als Kind in der Menge, gesehen hatte. Der Umsturz in den Weltbeziehungen war zu scharf und zu groß. Wir können die Vergangenheit nicht vergessen: aber auch die nicht engagierten Länder können die Vergangenheit nicht vergessen. Diese zweiseitige Reaktion wirkt sich gegen uns aus. Aber wir müssen uns mit der heutigen Weltlage abfinden.

Die kommunistische Welt ist eine Welt für sich, in ihrem eigenen festen Glauben eingeschlossen. Solange diese Welt kommunistisch ist, solange sie an ihren dialektischen Materialismus glaubt, können wir keinen Einfluß auf sie haben. Politisch kann man sowieso zeitliche Entspannungen haben: eine wirkliche Verständigung ist nicht möglich. Sie wollen unseren Standpunkt nicht verstehen; sie können es nicht. Darum ist es an sich nutzlos, sie zu überzeugen versuchen: man kann sie nicht eigentlich propagandieren. Man könnte sagen, daß beinahe dasselbe für den Westen gilt. Solange wir keine Kommunisten geworden sind, haben die kommunistischen Argumente auf uns nur sehr geringen Einfluß, manchmal erreichen sie gerade das Gegenteil.

Aber es gibt eine dritte Gruppe, die Neutralen, die Entwicklungsländer, die ehemaligen Kolonialländer, die nicht engagiert sind. Es sind diese Länder, die die Mehrheit der Vereinten Nationen bilden können; der öffentlichen Meinung der Welt: sie können sich für unsere Konzeption des Gewissens der Welt entscheiden oder für das Gewissen der kommunistischen Welt. Sie sind noch zu gewinnen, wenigstens zum Teil; wir müssen sie gewinnen. Aber um das zu erreichen, müssen wir unsere Haltung, unsere sen wir unsere Haltung, unsere Stellungen, unsere Propaganda völlig ändern.

Bei dieser Propaganda genügt es nicht, jenen Ländern Geld zu geben: wie man das Geld gibt, kann wichtiger sein als das Geben an sich. Und Politik ist wichtig: psychologische Handlung, psychologische Anpassung sind nötig. Es gibt bei uns noch eine gewisse Tendenz, diese nicht engagierten Länder als nicht völlig erwachsene Kinder zu betrachten. Es mag, bis zu einem gewissen Grad, auch wahr sein, aber diese Haltung verletzt und verstimmt sie und dadurch werden sie dem Sirenengesang unserer Gegner zugänglicher.

Die Vereinten Nationen können kein erhabener Weltrichter sein: wir, die ganze Welt, sind noch nicht reif dafür.

Die Vereinten Nationen können nicht mehr ein Werkzeug der Politik des Westens sein: diese Zeiten sind vorbei und kommen nicht wieder.

Wir können diese unangenehm gewordenen Vereinten Nationen verlassen und zu zerstören versuchen. Aber damit wäre das Problem für uns nicht gelöst: die öffentliche Meinung der Welt, das Gewissen der Welt, besteht auch ohne die Vereinten Nationen, mit seinen Tendenzen. Es ist fraglich, ob es für uns leichter zu gewinnen wäre ohne den New Yorker Sammelpunkt.

Die Vereinten Nationen können nützlich sein, um Konflikte zu entschärfen — das heißt, um den Frieden zu erhalten: wie ich soeben zu erklären versucht habe, in gewissen Grenzen und Möglichkeiten. Um dieses politische Clearing house mehr zu unseren Gunsten zu bewegen, dürfen wir nicht von Änderungen der Charta träumen. Vereinte Nationen, für uns nach Maß, sind nicht mehr zu schaffen. Wir müssen uns mit dem Möglichen begnügen: wir müssen nur versuchen, bei den Vereinten Nationen eine bessere Propaganda zu treiben, als wir es bisher gemacht haben.

Die Vereinten Nationen und ihre Möglichkeiten sind ein Teil der friedlichen Koexistenz: die friedliche Koexistenz ist, an sich, Politik und Propaganda. Wir müssen auch bei den Vereinten Nationen Politik und Propaganda treiben: und so weit wie möglich versuchen, geschlossen aufzutreten — wir, der Westen — so wie unsere kommunistischen Gegner geschlossen auftreten.

Politik und Propaganda, und zwar mit Worten und Taten, wie ich vorhin gesagt habe. Die beste Propaganda taugt nichts, wenn sie nicht von politischen Taten, der Propaganda entsprechend, begleitet ist. Ein Sprichwort sagt, daß Lügen kurze Beine haben. Das sagen wir den Kindern, aber das gilt auch für Erwachsene und auch in der Politik.

Das dürfen unsere Gegner nicht vergessen, aber wir dürfen das ebenfalls nicht vergessen.

Fussnoten

Weitere Inhalte