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Politische Wissenschaft und Gemeinschaftskunde | APuZ 34-35/1963 | bpb.de

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APuZ 34-35/1963 Versuch oder Versuchung einer Gegenideologie Politische Wissenschaft und Gemeinschaftskunde

Politische Wissenschaft und Gemeinschaftskunde

Kurt Sonstheimer

Ein Wort der Fachwissenschaft

Das Thema dieser Arbeitstagung lautet: Sozial-wissenschaften und Gemeinschaftskunde. Gefragt ist auf der einen Seite nach dem Urteil der verschiedenen Sozialwissenschaften über die Zweckmäßigkeit der Einrichtung und bisherigen Planung dieses neuen Schulfachs, zum anderen nach dem spezifischen Beitrag, den die Sozialwissenschaften für die Ausgestaltung der neuen Unterrichtseinheit zu leisten vermögen. Beide Fragen sind ebenso wichtig wie legitim. Wenn die Voraussetzung gemacht wird, daß der den Sozialwissenschaften zugeordnete sozialkundliche Teil der Gemeinschaftskunde, auf der, wie es in den Rahmen-richtlinien der Kultusministerkonferenz heißt, „sicheren Grundlage der auf der Hochschule betriebenen wissenschaftlichen Fächer" behandelt werden soll, dann erwartet der Lehrer, dem diese Aufgabe zugemutet wird, mit Recht ein Wort von Seiten der Fachvertreter an den Universitäten, und zwar ein Wort darüber, wie er die auch von ihm geforderte Wissenschaftlichkeit zu erfüllen vermag und welche besonderen Lehrgehalte der Fachwissenschaftler für den Unterricht der Gemeinschaftskunde empfiehlt. Leider war es bisher so, daß die Vertreter der Sozialwissenschaften und insbesondere — wie mir scheint — der Politikwissenschaft, sich zu diesen Fragen noch wenig geäußert haben. Im Gegensatz etwa zur Geschichtswissenschaft, in der die Zusammenarbeit zwischen Universität und Höherer Schule sehr viel intensiver im auch d. -und übrigen verbandsmäßig, h. po litisch, unterbaut ist, besteht insgesamt gesehen zwischen Universität und Höherer Schule im Bereich der Sozialkundenur eine sporadische Zusammenarbeit. Diese Arbeitstagung ist ein später, wenn auch vielleicht noch nicht verspäteter Versuch, im Namen von Vertretern der für die Sozialkunde zuständigen wissenschaftlichen Disziplinen ein Wort — und möglicherweise ein gemeinsames Wort — zu der durch die Saarbrücker Rahmenvereinbarung geschaffenen Situation zu sagen und das Gehör der interessierten Öffentlichkeit zu finden.

Als zur großen Überraschung der breiten Öffentlichkeit die deutschen Kultusminister im September 1960 ihre Saarbrücker Beschlüsse faßten, glaubten nicht wenige Historiker und Geographen, die durch das neue Einheitsfach „Gemeinschaftskunde" ihre Autonomie in Gefahr wähnten, diese Vereinbarung sei den politischen Teufelskünsten der Politikwissenschaftler zu danken. Ich möchte annehmen, daß diese Legende heute nicht mehr geglaubt wird, denn wenn es etwas gibt, was die angebliche Entschlossenheit der Politikwissenschaft, die Höhere Schule für sich zu erobern, als Trug erweist, dann die erstaunliche Passivität der Sozialwissenschaftler, verglichen mit den Kollegen von der Historie und der Geographie. Doch sie beweist allenfalls die Unschuld der Politologen und Soziologen, leider nicht ihr Engagement für eine Sache, die auch in ihre Verantwortung gegeben ist.

Schlüsselstellung der Politischen Wissenschaft

Mir ist aufgetragen, über das Verhältnis von Gemeinschaftskunde und Politischer Wissenschaft zu sprechen. Da dem neuen Fach von Seiten der Behörden in ganz besonderer Weise der Auftrag erteilt ist, die, wie es heißt, „Aufgaben der politischen Bildung und Erziehung zu erfüllen", glaube ich richtig zu gehen, wenn ich meine, daß der Politischen Wissenschaft in der Bestimmung und Ausrichtung dieses Faches von Seiten der Universität und von der zur Diskussion stehenden Sache selbst her eine Schlüsselstellung zugewiesen ist, die sie als solche erkennen und wahrnehmen muß.

Halten wir uns zunächst an die Bestimmung und Zielsetzung der neuen Gemeinschaftskunde, wie sie aus den Rahmenrichtlinien der Kultusministerkonferenz vom 5. Juli 1962 her-vorgeht. Es heißt dort in einem bereits viel zitierten Passus:

„In der Gemeinschaftskunde soll der junge Mensch in einem angemessenen Umfang lernen, unsere gegenwärtige Welt in ihrer historischen Verwurzelung, mit ihren sozialen, wirtschaftlichen und geographischen Bedingungen, ihren politischen Ordnungen und Tendenzen zu verstehen und kritisch zu beurteilen. Er soll die Aufgaben des Bürgers unserer Demokratie nicht nur erkennen, sondern auch fähig und bereit werden, sich im praktischen Gemeinschaftsleben der Schule und später in der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Welt zu entscheiden und verantwortlich zu handeln. Hierzu sind sichere Kenntnisse ebenso notwendig wie tiefere Einsichten in Wirkungszusammenhänge und Strukturen menschlicher Lebensformen und in das Wesen politischen Entscheidens und Handelns. Die Gemeinschaftskunde führt so zu philosophischen Fragestellungen." Aus dem Charakter dieser Gemeinschaftskunde ergeben sich fächerübergreifende Aufgaben, für die Geschichte, Geographie und Sozialkunde fach-eigene Beiträge liefern sollen, jedoch unter Beachtung der Ordnung und Fragestellung jener übergreifenden Aufgaben.

Wer die zahlreichen ministeriellen und anderen Kundgebungen zur politischen Bildung liest, die in den letzten zehn Jahren in Deutschland herausgegeben wurden, wird in der hier vorliegenden Bestimmung des Zieles der politischen Bildung kaum etwas Neues finden können. Seit Jahren schon wird vom deutschen Schüler verlangt, daß er lernen soll, sich in die gegenwärtige Welt mit ihren Aufgaben und Problemen einzuleben, ihr historisches Werden und Gewordensein zu erkennen, um die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten seiner Zeit richtig zu verstehen. Stets ist in solchen Programmen auch davon die Rede, daß der Schüler nicht bloß Erkennender bleiben soll, sondern daß Impulse und die Bereitschaft in ihm geweckt werden, demokratische Tugenden zu üben und demokratische Bürgerpflichten verantwortungsvoll zu erfüllen. Auch der Hinweis auf die Erziehung zu kritischem Verhalten ist bereits stereotyp, und manche staatsbürgerlichen Bildungsprogramme, die sich ja oft genug als bloße Reflexe der politisch-gesellschaftlichen Lage enthüllen, scheinen es damit weniger ernst zu meinen, als in den Präambeln zu lesen steht.

Es ist auch nicht weiter verwunderlich, daß Modebegriffe wie „Wirkungszusammenhänge" und „Struktur" innerhalb der ministeriellen Erklärung auftauchen; sie sollen gewissermaßen das Moderne, Neuartige der politischen Bildung kennzeichnen und wollen den modernen Wissenschaften vom Menschen, insbesondere der Soziologie und Politikwissenschaft, eine gewisse Reverenz erweisen. Schließlich entspricht es alter deutscher Übung, in derartigen Unterrichtsprogrammen stets auch die Erforschung von Wesenheiten zur Aufgabe zu machen, wie z. B. hier die Erkenntnis des Wesens der politischen Entscheidung und des Wesens politischen Handelns.

Ziel der Gemeinschaftskunde ist also die politische Bildung. Sie ist erhofftes Ergebnis eines Unterrichts, der auf der Kooperation von Lehrern mit verschiedener fachlicher Spezialisierung beruhen soll und für den die Verbindung verschiedener Forschungsbereiche und ihrer Ergebnisse im Blick auf eine einheitliche Fragestellung charakteristisch sein soll.

Politikwissenschaft konstituiert sich durch ihren Gegenstand

Die neue Idee der Gemeinschaftskunde als eines fächerübergreifenden Faches ist im Prinzip identisch mit der Idee der Politischen Wissenschaft. Die Politische Wissenschaft ist nämlich keine Fachwissenschaft im herkömmlichen Sinne. Ihr zentraler Gegenstand, das Politische, erschließt sich nicht auf dem Wege einer einzigen, sie konstituierenden Methode. Dies macht noch immer die Unsicherheit ihrer Stellung in unserem Wissenschaftsgefüge aus, und daher rührt es auch, daß viele Lehrer, insbesondere die Historiker, noch immer Zweifel in die Wissenschaftlichkeit dieser Disziplin setzen. Ich habe nicht die Absicht, solchen Zweifeln durch die Beteuerung des Gegenteils den Boden zu entziehen. Die Politische Wissenschaft kann ihr wissenschaftliches Ansehen auf lange Sicht nur durch ihre Werke zur Geltung bringen, nicht jedoch durch das theoretische Pochen auf ihre Wissenschaftlichkeit.

Wenn solche zweifelnden Naturen sich einige der Themen ansehen, die ihnen in den Rah-menrichtlinien zu unterrichten aufgegeben sind, und wenn sie sich fragen, wo sie Auskunft darüber finden, um diese Themen richtig behandeln zu können, dann werden sie in sehr vielen Fällen zu Büchern und Arbeiten greifen müssen, die eben nicht von Historikern gemacht worden sind, sondern von politischen Wissenschaftlern oder anderen Vertretern der Sozialwissenschaften.

Nun findet sich freilich in der deutschen Diskussion über die Idee der Wissenschaft noch immer die Vorstellung, daß eine Wissenschaft sich als Fachwissenschaft allein konstituiere durch eine ihr eigene Methode, mit der sie einen Gegenstand erfasse und wissenschaftlich ergründe. Im Blick auf diese Vorstellung von Wissenschaftlichkeit hat die Politische Wissenschaft es naturgemäß schwer, sich zu behaupten, denn es gibt keine ihr spezifische Methode in der Weise, wie etwa die historische Methode eine der historischen Wissenschaft spezifische ist, oder die juristische Methode eine der juristischen Wissenschaft spezifische. Die Methode der Politischen Wissenschaft, falls man überhaupt von einer Methode bei ihr sprechen kann, liegt allein in der Art und Weise, wie sie die Gesichtspunkte, Daten und Aspekte eines politischen Problems, das seiner Natur nach in viele von den einzelnen Fach-wissenschaften speziell erforschte Bezüge hineinreicht, einander zuordnet und sich dabei je nach der Fragestellung der spezifischen Methoden dieser anderen Wissenschaften bedient. Diesem Verlangen nach der einen Methode, das man besonders gern an die Politische Wissenschaft richtet, liegt die Vorstellung zugrunde, allein die Methode verbürge die besondere Wissenschaftlichkeit eines Faches. Die Politikwissenschaft, mag man sie nun für wissenschaftlich halten oder nicht, wird jedoch nicht durch ihre Methode (im Singular) konstituiert, sondern durch ihren Gegenstand. Vielmehr kann man sagen, daß die Politische Wissenschaft unzulänglich bleibt, wenn sie sich ausschließlich als empirische Disziplin im Sinne der sogenannten „scientific method" versteht. Davon wird später noch kurz zu sprechen sein. Wenn in den Schriften einiger Sozialkundelehrer dann erfreulicherweise doch versichert wird, es gebe eine besondere Methode der Sozialkunde und der Sozialwissenschaften, dann meint man nicht die eben angedeutete synoptische Betrachtungsweise der Politikwissenschaft, sondern die generalisierende, strukturelle der Soziologie im Gegensatz zur individualisierenden Betrachtung der historischen Wissenschaft. Die Sozialkunde habe es mit den Gesetzmäßigkeiten, den Regeln menschlichen Handelns zu tun, mit Funktions-und Wirkungszusammenhängen im sozialen und politischen Leben. Dahinter verbirgt sich die Hoffnung, kraft dieser wissenschaftlich erkannten Regelhaftigkeit im sozialen und politischen Leben befähigt zu sein, die sozialen und politischen Probleme richtig zu interpretieren und ihrer Lösung näherzubringen. Man erwartet sich eine Art Reduzierung des komplexen Geschehens auf eine Reihe von Elementarteilchen, aus denen sich die soziale Welt mit ihren Institutionen, Strukturen und den von diesen mitbestimmten behavior patterns aufbaut. Diese Annahme führt insbesondere im Hinblick auf die Sozialkunde als Schulfach zu der Erwartung, die Sozialwissenschaften könnten der Schule, die ja selbst nicht Wissenschaft treibt, sondern nur propädeutisch in sie einführen kann, einen Kanon solcher Generalia oder Universalia — im Hinblick auf die politische und soziale Welt und das Verhalten des Menschen in ihr — offerieren. Diese Erwartungen entsprechen durchaus den Hoffnungen, die man sich in den sich als progressiv und streng wissenschaftlich verstehenden Sozialwissenschaften, vor allem der Vereinigten Staaten macht. David Easton: " The higher the level of generality in ordering (such) facts . . . the broader will be the ränge of explanation and understanding." Man hofft, die Ergebnisse der Wissenschaft so generalisieren und damit simplifizieren zu können, daß allgemeine Erkenntnisse über das Wesen der politischen Entscheidung oder über das Wesen des politischen Handelns sich herausfiltrieren lassen.

Social Studies in den USA

Vielleicht kann am besten ein Blick in die amerikanische Diskussion über diese Fragen uns diese Probleme verdeutlichen: In den Schulen der Vereinigten Staaten gibt es schon seit langem ein dem Titel nach integriertes Fach Gemeinschaftskunde, das man die social studies nennt. Entgegen dem einheitlichen Oberbegriff der social studies ist der amerikanische Unterricht in Gemeinschaftskunde jedoch nicht sehr stark integriert, vielmehr folgt er einem fachlich aufgegliederten Arbeitsplan: amerikanische Geschichte, Weltgeschichte, amerikanisches Regierungssystem, amerikanische Wirtschaft und Gesellschaft. Die amerikanischen social studies haben unserem vergleichbaren Unterricht im Hinblick auf das Ziel einer politischen Bildung insofern einiges voraus, als sie entschiedener in das Leben der Gesellschaft und das Leben der politischen Gemeinschaft einzuführen trachten. Dennoch bildet auch in ihnen die Geschichte einen wesentlichen Bestandteil des Programms. Darüber ist man im Lager der social Sciences in der jüngsten Zeit etwas unruhig geworden, und nicht zuletzt von Seiten der Universitäten ist der Druck stark, die social studies endlich in einem, wie manche meinen, wissenschaftlicheren Sinne zu betreiben, d. h. Ergebnisse und Methoden der modernen Sozialwissenschaften stärker im Unterricht zur Geltung zu bringen. Ein gewisses Ressentiment gegenüber der bisherigen Prädominanz des Geschichtsunterrichts ist da unverkennbar. Hinzu kommt eine gewiß nicht ganz unberechtigte Unzufriedenheit mit der vorwiegend ideologischen, sozialisierenden Funktion der social studies. Sind sie doch wesentlich ein Instrument zur demokratischen Erziehung des Amerikaners im politischen wie im sozialen Sinne, d. h. sie sollen die Zugehörigkeit des Schülers zur amerikanischen Nation und ihren Idealen bewußt machen und das soziale Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe stärken. Die stark soziale Tendenz der amerikanischen Schule ist ja bekannt, und sie führt gewiß auch dazu, daß in den social studies in der Regel keine besonderen intellektuellen Anstrengungen abverlangt werden, sondern im allgemeinen noch immer jene Verherrlichung des american way of life sich reproduziert, die einen weitgehend formalisierten, unkritisch gehandhabten Meinungskonsensus zur Folge hat.

Für die amerikanischen social studies besteht indes das Problem der Umsetzung der in der Wissenschaft sich vollziehenden Forschungen und Methoden auf die Ebene der Schule in der gleichen Weise wie bei uns. Die damit vorhandene Schwierigkeit scheint mir dort insofern noch etwas größer, als die amerikanischen Sozialwissenschaften zu außerordentlich stark spezialisierten Einzelwissenschaften sich entwickelt haben, deren ungemein technisches Vokabular sich einer allgemeinen Verständlichkeit für den Durchschnittsbürger entzieht und offenbar auch entziehen soll. Außerdem hat die heute dominierende amerikanische Sozialwissenschaft für die Formung eines politischen oder sozialen Wertbewußtseins der Schüler wenig zu bieten, ist sie doch ihrer Intention nach eine wertfreie Wissenschaft, die sich allein um die „objektiven" Ergebnisse der Wissenschaft zu kümmern meint. Jedenfalls sehen sich die amerikanischen Schulen heute dem Anspruch konfrontiert, die neuen Forschungen der Sozialwissenschaften stärker in ihren Unterricht aufzunehmen. Aus den social studies sollen social Sciences, zugeschnitten auf das Verständnis des Schülers, werden, d. h.

man will etwas von dem wissenschaftlich-objektiven Geist, der in den Sozialwissenschaften Trumpf ist, in die amerikanische Gemeinschaftskunde übertragen. Auch dort ist neuerdings der Begriff der Integration hoch im Kurs. Gerade der Schulunterricht bedürfe der integrated social Sciences, und Pädagogen und Sozialwissenschaftler arbeiten zusammen, um einen abgestuften Lehrplan von der Grundschule bis zur Oberstufe zu entwickeln. Verglichen mit den Verhältnissen in Deutschland, besteht in den USA eine sehr viel engere Zusammenarbeit zwischen Universität und Schule. Die Universität selbst sieht die Unterrichts-planung und Gestaltung an der Höheren Schule als eine ihrer Aufgaben an.

Die gegenwärtigen amerikanischen Bemühungen, die social studies wissenschaftlicher zu machen, haben, wie ich meine, ihren Grund unter anderem darin, daß bislang die social studies in den meisten amerikanischen Schulen in der Tat von Wissenschaft weit entfernt waren und ihre Hauptfunktion darin hatten, den amerikanischen Mythos lebendig zu erhalten und an der großartigen Legende zu weben, die dieses Land in bezug auf die Demokratie hat. Da dies vom wissenschaftlich-kritischen Standpunkt mitunter zu geschichts-und sinnentstellenden Lehrmeinungen führt, ist es verständlich, daß man nun bestrebt ist, die social studies etwas stärker zu verwissenschaftlichen. Andererseits ist jedoch zu fragen, ob die jetzt anlaufenden Bemühungen, die Ergebnisse der social Sciences auch in den Schulen fruchtbar zu machen, der wohlverstandenen politischen Erziehung wirklich zugute kommen. Sofern eine größere Wirklichkeitsnähe der social studies erreicht werden soll, ist die Forderung sinnvoll und berechtigt. Doch geht es vielen darum, die angebliche Revolution in den Sozialwissenschaften, die im Grunde nur eine solche der neuen Forschungstechniken ist, in den Klassenraum zu übertragen und sozialwissenschaftliche Methoden und Denkweisen für den Schulgebrauch zu servieren.

Ist ein Kanon der gesicherten Ergebnisse der Sozialwissenschaften sinnvoll?

Außerdem wächst der Kreis der Wissenschaften, die beanspruchen, in den Schulen Gehör zu finden, ständig; die Kulturanthropologie will berücksichtigt sein, die Psychologie, die Philosophie qua Logik neben den sich ständig ausbreitenden traditionellen Sozialwissenschaften wie political science und Soziologie. An verschiedenen Orten in den Vereinigten Staaten ist man derzeit bemüht, aus dem Kranz der Sozialwissenschaften die Ergebnisse herauszufiltrieren, die als wissenschaftlich gesichert gelten, und sie für die Schulen zugänglich zu machen. Es handelt sich hierbei um sogenannte generalizations, Generalisierungen, mit deren Hilfe man ein Grundwissen von den sozialen und politischen Gegebenheiten des Menschen und der Welt aufzubauen trachtet.

Ein Ausschuß von Erziehern und Sozialwissenschaftlern hat z. B. in Kalifornien solche Generalisierungen zusammengestellt, und es ist vielleicht ganz sinnvoll, einige davon vorzutragen, damit wir uns ein Bild machen können von den Erkenntnismöglichkeiten, die daraus für die Gemeinschaftskunde erwachsen. Unter solchen Generalisierungen versteht man, wie es heißt, „große zentrale Ideen", auf denen das elementare Wissen in der Sozialkunde beruhen soll. Sie sollen in einem geordneten Zusammenhang dem Schüler die Möglichkeit zu einem umfassenden Verständnis unserer Welt geben.

Aus dem Bereich der Geschichte habe ich u. a. folgende Generalisierungen notiert:

Die Interdependenz ist ein beständiger und wichtiger Faktor in allen menschlichen Beziehungen. Der Wandel ist eine universale Bedingung der menschlichen Gesellschaft. Die Geschichte erweist, daß es ein bestimmtes Maß von Homogenität unter den Menschen aller Zeiten gegeben hat.

Aus dem Bereich der politischen Wissenschaft:

Die Völker der Erde haben mit einer großen Zahl von Regierungsformen experimentiert. Government ist nur eine der Institutionen, die der Gesellschaft dient. Demokratie bedeutet nicht nur eine Regierungsform, sondern auch eine Lebensform.

Aus dem Bereich der Soziologie:

Kommunikation ist wesentlich für die Kultur und für soziale Gruppen. In sozialen Gruppen und Gesellschaften gibt es Assoziierung, Dissoziierung und soziale Schichtung (stratification).

Aus den Beiträgen der Einzelwissenschaften werden dann synthetische Generalisierungen gewonnen, wie z. B.: Die grundlegende Substanz einer Gesellschaft liegt in ihrem Wert-system. Es gehört zu den beständigen und wesentlichen Aufgaben des Menschen, die Natur dieser Werte zu bestimmen. Durch alle Zeiten hindurch und an allen Orten hat der Mensch sich bemüht, seine grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen und alle seine Wünsche und Bestrebungen in irgendeiner Weise zu erfüllen. Als letztes Beispiel: Das organisierte Leben in der Gruppe, und zwar in Gruppen aller Art, muß in Übereinstimmung sein mit den Regeln sozialer Beziehungen und einem System sozialer Kontrollen.

Ich darf es bei dieser Aufzählung bewenden lassen. Aus den angezogenen Beispielen geht m. E.deutlich genug hervor, daß Generalisierungen dieser Art wohl nicht die Erwartungen zu befriedigen vermögen, die von denen gehegt werden, welche von den Sozial-wissenschaften eine Art wissenschaftlich gesicherte Minimalerkenntnis für die Gemeinschaftskunde erhoffen. Es kann, wie mir scheint, gar nicht Sinn und Aufgabe der politischen Wissenschaft, der Soziologie oder der Ökonomie sein, generalisierende Feststellungen dieser Art, die als wissenschaftlich erwiesen gelten, zum Grundbestand eines Unterrichts in der Gemeinschaftskunde zu machen. Vielmehr muß man danach trachten, die wesentlichen Fragestellungen, die diese Wissenschaften leiten, auch in der Gemeinschaftskunde zum Tragen zu bringen, jedoch in einer Weise, daß sie dem Schüler der Oberstufe verständlich werden und daß andererseits auch der Lehrer in der Lage ist, solches Verständnis zu erzeugen.

Die Suche nach universalen Konstanten des politischen Verhaltens, nach einer universalen politischen Anthropologie sozusagen, erbringt nicht nur Trivialitäten, sie verstellt auch das eigentlich politische Phänomen, welches gerade in der Differenz der Menschen und der Gruppen voneinander liegt. Im generalisierenden Zugang der angedeuteten Art wird das Politische auf das bloß Soziale reduziert. Das läßt sich ganz deutlich an der Problematik der Gruppenforschung zeigen, die nach der Soziologie mittlerweile auch auf die politische Wissenschaft Amerikas übergegriffen hat. Hat man nämlich die identischen Gesichtspunkte herausgearbeitet, die das politische Verhalten aller Gruppen betreffen, so bleibt als Gemeinsamkeit nur noch ein Kern von vagen, jedermann einsichtigen Allgemeinheiten übrig, wodurch gerade das politische Problem, nämlich das Gegeneinander von Gruppen und ihr Verschiedensein voneinander, übersehen wird. Aus der Entgegenstellung von Herrschern und Beherrschten, wie es in der politischen Sprache heißt, wird schließlich ein soziales System von mit-und gegeneinander agierenden mechanistischen Teilen. Ganz offenbar kann diese Vorstellung von politischer Wissenschaft, die für immerhin recht bedeutsame Teile der amerikanischen political Science maßgebend ist, nicht Vorbild sein für eine wirkliche Orientierung in den Fragen der Gemeinschaftskunde. Die Frage aber, die sich sofort stellt, ist die: Wie kann eine richtig verstandene politische Wissenschaft der Gemeinschaftskunde dienen und helfen, und was kann sie in diesem besonderen Zusammenhang leisten?

Politikwissenschaft ist die Wissenschaft von der Ordnung

Die politische Wissenschaft kann den von ihr erwarteten Beitrag zur Gemeinschaftskunde an den Schulen dann am besten erfüllen, wenn sie sich wieder im klassischen Sinne als eine Wissenschaft von der Ordnung versteht. Als eine solche Wissenschaft hat sie ihren Ursprung in der Philosophie und befaßt sich von diesem Ausgangspunkt her mit der Existenz des Menschen in der Gesellschaft. Sie bedarf, will sie ihrem Gegenstand gerecht werden, einer Theorie des Menschen, einer Theorie der Gesellschaft und auch der Klarheit über die geschichtliche Entwicklung des Menschen als soziales Wesen. Der Mensch hat seine Würde darin, daß er ein Wissen davon besitzt, wie er leben sollte. Eine Gesellschaft findet gleichermaßen ihre Würde darin, daß sie ein Wissen davon hat, wie sie sich ordnen sollte, um dem Ziel des Menschen, das gute Leben zu führen, gerecht zu werden. Eine Kenntnis dieser Fragestellungen scheint mir unentbehrlich für die Gemeinschaftskunde, weil sie am Anfang oder besser im Zentrum der politischen Bildung stehen. Von ihnen her läßt sich der weite Bereich des geschichtlichen Erlebens des Menschen in Vergangenheit wie auch sein Tun in der Gegenwart ordnen und beurteilen. Die Rahmenrichtlinien haben zwar unter Punkt 6 eine Rubrik über den „Menschen in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat", folgen aber stärker dem üblichen Gliederungsschema, wie z. B. Individuum, Gesellschaft, Staat oder Begriffen wie Rechtsstaat, Selbstverwaltung usw., anstatt eine politisch-philosophische Herleitung anzustreben. Da aber gerade für einen großen Teil der übrigen Themen des Katalogs die richtigen Orientierungsmaßstäbe für das Verständnis der politischen und historischen Ereignisse der Vergangenheit bis hin zur Problematik der Gegenwart erst aus diesem philosophischen Vor-verständnis des Politischen gewonnen werden können, sollte meiner Ansicht nach eine Einführung in die politische Philosophie am Anfang der Gemeinschaftskunde stehen.

Ich verstehe politische Wissenschaft also nicht nur als die Wissenschaft von einem Teilbereich menschlichen Handelns, dem sogenannten politischen Handeln, obwohl natürlich dieser Teilbereich ein wesentliches Stück der politischen Wissenschaft in ihren Forschungsbemühungen darstellt, sondern als eine Wissenschaft vom Ganzen der menschlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Sie stellt die Fragen, die diese menschliche und gesellschaftliche Ordnung betreffen und ohne die politische Bildung oberflächlich und extensiv statt intensiv bleiben müßte. In den Verlautbarungen der Kultusminister ist in bezug auf die politische Bildung ja stets von neuem gefordert worden, daß der junge Mensch zu einem politisch urteilsfähigen Menschen erzogen, daß seine Kritikfähigkeit angeregt werden soll. Diese Fähigkeiten, so scheint mir, können sich jedoch nur entfalten aufgrund einer verläßlichen Orientierung, die aus der Beantwortung der grundsätzlichen Fragestellung nach dem Wesen und dem Sinn des Politischen erwächst. Zweifellos kann man auch bei der Beantwortung konkreter Fragen zu den philosophischen Fragestellungen der angedeuteten Art vorstoßen, wie die Richtlinien das durchblicken lassen, es scheint mir jedoch im Sinne eines richtigen Aufbaues des neuen Faches sinnvoller, diese Fragen vorweg zu behandeln, in einer Art Einleitung in die politische Philosophie. Wenn wir diese besondere Art des Zugangs schaffen, dann sind wir auch in der Lage, in der Gemeinschaftskunde historisch sinnvoll vorzugehen, ohne der Chronologie zu verfallen. Wir können z. B.fragen nach dem Sinn der Legitimität von Ordnung und ihrer Begründung in den verschiedenen Regimen. Wir können fragen nach der Bedeutung von Autorität und ihrem Wandel. Wir können uns den verschiedenen Formen der Herrschaft zuwenden und haben damit Begriffe und mit ihnen auch Maßstäbe an der Hand, die es uns erlauben, Geschichte in einer anderen, als der bloß historisch deutenden chronologischen Weise zu verstehen, wenn auch natürlich in der modernen Geschichtswissenschaft selbst solche Fragestellungen vielfach angelegt sind.

Was die politische Wissenschaft als spezielle Fachdisziplin im einzelnen zur Gemeinschaftskunde beitragen kann, liegt auf der Hand: Sie untersucht die Herrschaftsstrukturen und deren Institutionen und gibt Rechenschaft über den Regierungs-und Willensbildungsprozeß in den verschiedenen Regimen und Ordnungen; sie analysiert Strukturen und Einrichtungen in den Verhältnissen der Staaten zueinander; sie fragt nach den Motivationen und Ursachen politischer Entscheidungen und erörtert sie im Gesamtzusammenhang eines politischen Systems. Sie vergleicht politische Systeme verschiedener Art, um von ihnen her ein Verständnis für die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten politischer Grundfragen zu gewinnen und politische Entscheidungen solcher Systeme angemessen deuten zu können. Sie sucht zu klären, wie im Laufe der Zeiten über Politik, über Macht und Recht gedacht worden ist, und auf welchen geistigen Grundlagen unsere heutige politische Wirklichkeit beruht. Das Politische ist ein komplexes Phänomen, denn der Gesichtspunkt der Ordnung des Gemeinwesens umgreift und übergreift die vielfältigen Aspekte des gemeinschaftlichen Lebens, seine soziale, ökonomische oder rechtliche Seite. Die Daten der Politikwissenschaft kommen aus verschiedenen Gegenstandsbereichen. Nur dann kann mit Recht von übergreifenden geistigen Gehalten für die Gemeinschaftskunde gesprochen werden, wenn man sich eingedenk ist, daß sich das reale Leben in der Welt nicht in der Spezialisierung vollzieht, in der es die verschiedenen Einzelwissenschaften betrachten, sondern wenn es einen übergreifenden Gesichtspunkt gibt, von dem her die verschiedenen Betätigungen der Menschen in einem Zusammenhang gerückt werden können. Dies ist der politische Aspekt. In dieser Forderung drückt sich keineswegs ein Uberheblichkeitsanspruch der politischen Wissenschaft aus, sondern damit soll nur einem angemesseneren und sinnvolleren Verständnis der Probleme, die durch die Gemeinschaftskunde erkannt und bewältigt werden sollen, vorgearbeitet werden.

Ein Handbuch der politischen Wissenschaft ist notwendig

Nun ist freilich die politische Wissenschaft in Deutschland noch keineswegs so fest etabliert und mit einem so festen System von Anschauungen verbunden, daß man von einer einheitlichen Richtung sprechen könnte. Aber die Tatsache, daß es widersprechende Lehrmeinungen gibt, gilt ja nicht nur für die politische Wissenschaft, sondern auch für die Geschichtswissenschaft und für alle anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Die Schwierigkeit, der sich der Gemeinschaftskundelehrer von heute in bezug auf diese besondere Fragestellung der politischen Wissenschaft gegenübersieht, scheint mir vor allem darin zu liegen, daß es noch nicht genügend Beispiele, noch nicht genügend neuere Literatur über diese Form des Zuganges gibt. In der Tat wäre das Problem um vieles leichter, hätte eine sehr viel engere Zusammenarbeit zwischen den Schulen und Universitäten in diesem Bereich schon früher bestanden. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, wo diese Zusammenarbeit, wie mir scheint, sehr viel stärker geübt wird und sich sehr viel glücklicher auswirkt, leiden wir in Deutschland darunter, daß die Universitäten sich weitgehend nicht um das kümmern, was in den Schulen geschieht oder jedenfalls nicht so, wie es möglich und gut wäre. Mit Recht erwartet die Gemeinschaftskunde heute von der politischen Wissenschaft in Deutschland eine Reihe von Darstellungen über das, was in den Schulen gelehrt werden soll.

Nun ist der Weg, den der Unterricht zunächst gehen soll, weitgehend schon durch die Rahmenrichtlinien vorgezeichnet, und ich habe kein Interesse, diese Rahmenrichtlinien im einzelnen zu kritisieren. Ich würde es nur für wichtig halten, daß man zu einer Auffassung darüber kommt, wie man den Schulen dadurch helfen kann, daß man ihnen wirkliche Leitfäden für den politischen Unterricht in der Schule an die Hand gibt. Daß man ihnen von autoritativer Seite Möglichkeiten der Lehre dieses neuen Faches an die Hand gibt, denen sie vertrauen können, und von denen sie die Gewißheit haben, daß sie mit den neueren Entwicklungen in der politikwissenschaftlichen und soziologischen Forschung übereinstimmen. Eine Art Handbuch der politischen Wissenschaft für den Lehrer wie für den Schüler scheint mir darum dringend notwendig. Dann beantworten sich nämlich die vielen Fragen, die von seifen der Schule an die politische Wissenschaft gestellt werden, von selbst, nämlich wie etwa sieht eine politische Struktur-lehre aus, was ist eine politische Urteilslehre, welcher Fähigkeiten und Tugenden bedarf der Mensch, um in bestimmten Gruppen zusammen zu leben, wie sieht die Wirklichkeit aus, die politische und soziale, und was ist wichtig von dieser Wirklichkeit zu wissen und wieviel sollte man den Schülern in diesem Alter zumuten. Man mag über die vielen amerikanischen Textbooks urteilen, wie man will. Mir scheint, daß unsere Schulbücher auch in diesem Bereich immer noch zu sehr Schulbücher sind und zu wenig wissenschaftliches Unterrichts-material, so daß es notwendig wäre, eine Art neuen Typ des Unterrichtsbuches zu schaffen im Sinne des guten amerikanischen Textbooks für das College. Vielleicht gelingt es, zu einer Klärung darüber zu kommen, was in einen solchen Text hineingearbeitet werden müßte; das wäre nur eine andere Antwort auf die Frage, was die politische Wissenschaft zur Gemeinschaftskunde beitragen kann. Die heutigen Lehrer brauchen in der Unsicherheit, mit der sie noch immer der politischen Wissenschaft und den anderen Sozialwissenschaften gegenüberstehen, einen Text, der mit der Autorität des Universitätslehrers geschrieben ist, die Ergebnisse der Forschung zusammenfaßt und zugleich auch die notwendige Einführung in das Wesen des Politischen in einer verständlichen und gut lesbaren Form darbietet.

Von Wilhelm Flitner ist die Idee der Gemeinschaftskunde so verstanden worden: Sie solle sehen lehren, was heute in der politisch-gesellschaftlichen Welt zur Aufgabe geworden ist und wo in dieser Situation die persönliche und kollektive Verantwortung liegt. Ich halte dies für eine sinnvolle Beschreibung des Erziehungsziels, und die Politische Wissenschaft sieht es in der Tat als ihre primäre Aufgabe an, zu beschreiben und zu erörtern, was heute in der politischen Welt zum Problem geworden ist. Hätte man dieses Problembewußtsein zum Ausgangspunkt der Rahmenrichtlinien gemacht, dann wäre m. E. eine in sich geschlossenere, materialmäßig weniger überfrachtete Konzeption entstanden, als sie nun verbindlich vorliegt. Die Rahmenrichtlinien sind ein undurchdachter Kompromiß zwischen den Fächern; sie geben jedem etwas, das wiederum keinem genug zu sein scheint, machen aber nicht völlig ernst mit der Tatsache, daß es um politische Orientierung in unserer Welt geht und daß die Fragen und Probleme dieser unserer Welt auch der Ausgangspunkt für das neue Fach sein müßten. Die Probleme sind maßgeblich, nicht die methodischen Gesichtspunkte der einzelnen Fächer. Wie könnte das Programm für die Gemeinschaftskunde aussehen?

Ein Programm für die Gemeinschaftskunde

i Am Anfang sollte die bereits erwähnte Einleitung in die politische Theorie stehen, die sich mit den Grundfragen der Existenz des Menschen im Gemeinwesen befaßt und Kategorien des Verständnisses für politische Ordnungen entfaltet. Dann kann jedoch bereits der Sprung in die Gegenwart erfolgen. Ausgehend von unseren alltäglichen politischen Erfahrungen und Informationen fragen wir: Was sind eigentlich die drängenden Probleme unserer gesellschaftlichen und politischen Ordnung? Wir gehen aus vom Faktum Bundesrepublik als unserem Staat, betrachten seine Verfassung und die sich innerhalb dieses Rahmens bewegenden politischen Kräfte. Wir entwickeln die Grundzüge des deutschen Regierungssystems. Wir fragen von daher nach den geistigen Gehalten dieser Ordnung und den ideologischen Orientierungen der in ihnen wirkenden Gruppen. Wir vergleichen dieses System unserer Demokratie mit den demokratischen Systemen anderer Länder und den politischen Regimen, die wir totalitär nennen, und verstehen durch diesen Vergleich nicht nur unser eigenes System gründlicher, sondern auch die Institutionen der Länder, mit denen wir Politik treiben.

Wir fragen nach den großen Problemen unserer Innenpolitik, den Gruppen, die unseren Pluralismus ausmachen, und gewinnen auf diese Weise einen Zugang zu den Hauptproblemen der Wirtschafts-und Sozialpolitik und der Methoden des politischen Kampfes. Das alles klingt zunächst wie eine Absage an den Beitrag der Historie, ist es aber keineswegs. Die Historie ist es, die uns verstehen lehrt, wie es zu diesen Situationen und Problemstellungen gekommen ist. Behandeln wir etwa die politischen Ideenkreise der Gegenwart, so gehen wir z. B. beim Sozialismus zurück auf Karl Marx, beim Liberalismus auf Adam Smith oder John Stuart Mill, beim Demokratismus auf Rousseau und so fort. Desgleichen beim Vergleich der verschiedenen Regierungssysteme. Die Bonner Bundesrepublik fordert unmittelbar den Vergleich und die historische Anschauung der Weimarer Republik, und jede Tageszeitung belehrt uns darüber, daß der Nationalsozialismus, obwohl vergangen, in unsere politische und geistige Situation hinein-ragt. Wir wenden uns sodann nach außen, machen eine Bestandsaufnahme unserer außenpolitischen Situation, analysieren unsere Stellung in der Welt, unsere Situation in Europa. Wir berühren die Teilung unseres Landes, fragen, wie es dazu gekommen ist, vergegenwärtigen uns die Situation und Struktur der SBZ. Wir stoßen auf die besondere Lage Berlins, ihren prekären Charakter, und wir kommen schließlich auf die weltpolitische Auseinandersetzung zu sprechen, die unsere Gegenwart bestimmt, einschließlich der Situation der zur Staatlichkeit erwachenden Völker Asiens und Afrikas, und diskutieren die Chancen und Widerstände einer dauernden Friedenssicherung. Dieser Plan ist sehr simpel und mehr als verbesserungsbedürftig, aber er hat immerhin einen klaren Bezugspunkt, und darum konkretere Chancen, zu einem wirklich politischen Verständnis unserer Welt anzuleiten, als die Addition von Lehrgegenständen, wie sie in den Rahmenrichtlinien zu finden sind. Man kann dort zwar alle von uns berührten Gegenstände behandeln, aber es sollte angestrebt werden, daß die einzelnen Gegenstände kein Eigenleben gewinnen, sondern uns allein helfen, die Struktur und das Gewordensein unserer heutigen Welt zu erklären. Nur dann sind wir auch wirklich offen für die Fragen und Probleme der Zukunft, die uns als Bürger angehen.

Nach diesem nur ungern unternommenen Exkurs in den Lehrplan ein letztes Wort noch zur Ausbildung der Lehrer für die Gemeinschaftskunde. Die Idee der Gemeinschaftskunde nach den Richtlinien der deutschen Kultusminister kann auf lange Sicht nur dann fruchtbar realisiert werden, wenn die akademische Ausbildung der Lehrer für dieses Fach gesichert ist. Der geeignete Ansatzpunkt dafür wäre das Studium der politischen Wissenschaft in Verbindung mit Geschichte unter angemessener Berücksichtigung der Soziologie und der Volkswirtschaftslehre.

Die Gefahr dieses Studiums liegt in einem Zuviel an Anforderungen und Ansprüchen. Wie dem zu steuern ist, sollte besprochen werden. Politische Wissenschaft muß reguläres Schulfach werden können. Die technischen Voraussetzungen (z. B. Sozialkunde auch in der Mittelstufe) wären zu prüfen.

Was darf man von der Gemeinschaftskunde erwarten?

Ich habe insgesamt den Eindruck, daß es jetzt sehr stark unserer Bereitschaft und unserer helfenden Unterstützung als Universitätslehrer bedarf, wenn man die relativ ungeklärte und auch schwierige Situation, die durch das neue Fach in unseren Schulen entstanden ist, in einer Weise überwinden will, die zum Besten der Sache ausschlägt. Wir sollten darum alle Bemühungen unternehmen, soweit es geht, zu einer gewissen Einheitlichkeit und Klarheit über die möglichen Forderungen an die Schule und an die Universität, d. h. zum Teil an uns selber, zu gelangen und wir sollten vor allem bereit sein, dieser Einsicht entsprechend zu handeln. Wir können uns nicht auf die „reine" Wissenschaft zurückziehen, in einer Situation, in der Hilfestellung und Orientierung gerade von uns erwartet wird.

Doch sollten wir uns im Hinblick auf die Gemeinschaftskunde einer gesunden Skepsis nicht entschlagen. Sie lehrt uns, daß die Idee der Gemeinschaftskunde im Sinne politischer Bildung zwar für eine demokratische Gesellschaft unabdingbar ist, daß man aber von ihr nicht so ausschließlich, wie es vielfach betont wird, die Sanierung oder Gesundung unserer Demokratie erwarten darf. Die Gemeinschaftskunde wird im großen und ganzen Reflex unserer gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sein, und so groß die Chancen zu einer besseren politischen Bildung in unseren Höheren Schulen durch die Saarbrücker Rahmenvereinbarung und die stärkere Berücksichtigung der Sozialkunde auch sein mögen, diese Chancen selbst sind in ihrer Wirkung auf das Ganze unserer politischen Ordnung gesehen doch relativ gering. Aber Erziehung im demokratischen Sinne ist mit gutem Grunde auch Erziehung für eine mögliche bessere Zukunft, die uns als Menschen aufgegeben ist. Es wäre unverantwortlich, wollte man sich als Wissenschaftler, und insbesondere als politischer Wissenschaftler, der damit gestellten Aufgabe verschließen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Kurt Sontheimer, Dr. phil., o. Professor für Politische Wissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, geb. 31. Juli 1928 in Gernsbach/Baden. Veröffentlichungen: Thomas Mann und die Deutschen, München 1961; Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962.