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Zur politischen und sozialen Geschichte der lateinamerikanischen Staaten | APuZ 25/1965 | bpb.de

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APuZ 25/1965 Zur politischen und sozialen Geschichte der lateinamerikanischen Staaten Uber traditionelle Eliten, Machtkonkurrenz und öffentliche Verwaltung in Lateinamerika Sozialrevolutionäre Strömungen und Nationalismus in Lateinamerika Ökonomische Anpassungsprobleme in Lateinamerika

Zur politischen und sozialen Geschichte der lateinamerikanischen Staaten

Richard M. Morse

Wenn es auf der Erde ein Gebiet gibt, das zu dem Begriff „Revolution" eine Dauerbeziehung zu haben scheint, dann ist es Lateinamerika. Seit die meisten der heutigen lateinamerikanischen Länder vor etwa 150 Jahren ihre Unabhängigkeit gewannen, ist kaum einem von ihnen ununterbrochene politische Stabilität und eine zielstrebige Entwicklung zu politischer Reife vergönnt gewesen. In fast jedem dieser Länder kam es statt dessen mehrfach zu ernsten Krisen, die die Legitimität ihrer politischen Führung unterminieren. In den meisten von ihnen gab es lange Perioden des Pendelns zwischen Anarchie und Tyrannei, wobei sich letztere in der landesüblichen Form des caudillismo, d. h., der durch den charakteristischen caudillo oder „Führer" ausgeübten Einmannherrschaft präsentierte. Einige der Länder sind bereits unter einer Unzahl verschiedener Verfassungen regiert worden und mußten nicht minder viele Regierungswechsel über sich ergehen lassen, deren Anlässe vom Volksaufstand bis zum sorgfältig inszenierten cuartelazo, dem Staatsstreich militärischer Prägung, reichten.

Führende Blätter der Weltpresse sind schon lange dazu übergegangen, in ihren Sonntags-beilagen Fieberkurven abzudrucken, in denen die lateinamerikanischen Länder je nach den Augenblickswerten ihrer politischen Temperatur eingestuft werden. Meist läßt der Gang der Ereignisse solche Analysen aber schnell wieder veralten. Ich erinnere mich noch daran, daß die Verhältnisse in Argentinien und Kolumbien einmal längere Zeit hindurch als „gesund" und normal bewertet wurden. Seither erlebte Argentinien die Ara Perön mit ihrem chaotischen Nachspiel, und in Kolumbien gab es eine Periode der Diktatur und heftiger innerer Konflikte, in deren Verlauf Hunderttausende getötet wurden.

Was soll sich nun der normale Zeitungsleser im Ausland darauf für einen Reim machen? Ist der politische Wirrwarr für die lateinamerikanischen Länder der Normalzustand? Sind Juan Perön und Fidel Castro lediglich zeitgenössische Versionen des personalistischen caudillos der Vergangenheit? Besteht denn keine Hoffnung, daß wenigstens einige der dortigen Regimes das Gütesiegel der Legitimität erlangen, das für politische Stabilität, für den friedlichen Wechsel der die politische Macht ausübenden Personen und Gruppen und für die Angleichung der nationalen Politik an die Wünsche und Belange der Menschen unerläßlich ist? Aber nicht nur normale Zeitungsleser stellen diese Fragen, sondern auch diejenigen, die im Ruf stehen, Fachleute zu sein. Ich will in diesem kurzen Beitrag versuchen, zumindest in großen Zügen anzudeuten, wo der Schlüssel zu diesen Fragen möglicherweise liegt.

Aufeinanderprall der Kulturen

Eines muß gleich zu Beginn festgestellt werden: Bei aller Anteilnahme an der Revolutionskrankheit Lateinamerikas wird oft der Umstand übersehen, daß jene Länder sich in ihrer Geschichte drei Jahrhunderte hindurch einer langen Periode relativer Ruhe erfreuen konnten. Ich meine damit die Ara der spanischen und portugiesischen Kolonialherrschaft, die, grob gesagt, von 1500 bis 1800 dauerte. Daß dies tatsächlich eine Zeit relativer Ruhe war, mutet um so erstaunlicher an, wenn man bedenkt, mit welcher Gewaltsamkeit die Besiedelung der mittelamerikanischen Inseln ein-herging. Dort gelangten schlagartig mehrere Millionen Indianer unter die Herrschaft fremder Weltreiche und Kulturen. Nach kurzer Zeit waren die Antillen von Indianern entvölkert. Nach Schätzungen einiger Völkerkundler schmolz die Zahl der eingeborenen indianischen Bevölkerungen Mexikos und Mittelamerikas im Verlauf des auf die Eroberung folgenden Jahrhunderts von ursprüng-lieh 15 Millionen auf nur mehr zwei Millionen zusammen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die europäischen Krankheiten, gegen die die Indianer nicht immun waren, mehr Schaden anrichteten als die Brutalität der Eroberer. Die überlebenden Indianer oder deren Nachkommen gerieten infolge verschiedener offener oder versteckter Maßnahmen größtenteils in unfreiwillige Knechtschaft.

Dieses bewegte und dramatische Bild des harten Aufeinanderprallens der Kulturen bleibt unvollständig, sofern wir nicht die erzwungene Verpflanzung vieler Millionen Afrikaner einbeziehen, die zusätzlich zu dem großen indianischen Arbeitskräftepotential als Sklaven in die Neue Welt gebracht wurden. Während sich die indianische Bevölkerung und die Fragmente ihrer Kultur hauptsächlich längs der großen Gebirgsketten erhalten konnten, die sich fast ohne Unterbrechung von Mexiko südwärts bis nach Peru und Bolivien erstrekken, hat Afrika seine unverkennbaren Spuren überall auf dem weitgeschwungenen tropischen und halbtropischen Gürtel hinterlassen, der die Küstengebiete und Inseln des Karibischen Meeres umfaßt und sich sodann über die Guayanas und längs der brasilianischen Küste bis weit nach Süden erstreckt.

Wir können uns hier nicht im einzelnen mit den verschiedenen Systemen der Sklaverei befassen, unter denen dies enorme Arbeitskräftepotential für die Produktion mobilisiert wurde. Erwähnt seien nur die encomienda, die hacienda und die Plantagen als landwirtschaftliche Organisationsformen, sodann die mita, die zur Rekrutierung von Bergwerksarbeitern diente, und der obraje, dessen sich die Klein-industrien bedienten.

Schmelztiegel der Rassen

Ebensowenig können wir im einzelnen das komplizierte ethnische Bild behandeln, das sich bei der beginnenden Verschmelzung der drei Rassengruppen ergab. Der leicht überschaubare Ausgangszustand — nämlich die Beherrschung der beiden Arbeiterkasten der Indianer und der Neger durch eine kleine Minderheit europäischer Eroberer und Siedler — wurde alsbald durch das Entstehen aller möglichen Rassenkombinationen abgelöst. Um das 18. Jahrhundert waren mindestens hundert Bezeichnungen gebräuchlich, um die verschiedenen Mischrassen zu unterscheiden und jeder von ihnen bestimmte psychologische Dispositionen zuzuordnen. Zudem ergaben sich Unterscheidungen zwischen Personen ein und derselben ethnischen Gruppe, wie etwa zwischen den Einwanderern von der spanischen Halbinsel und den in der Neuen Welt geborenen „Kreolen".

Heute mag diese Vorliebe für eine komplizierte Klassifizierung als Zeichen für die antiquierte Überbewertung rassischer Merkmale erscheinen. Aber es gab auch freundlichere Aspekte. Erstens ist gut vorstellbar, daß das Vorhandensein einer Vielzahl rassischer Kategorien für die Opfer der Diskriminierung weniger bedrückend ist als die krasse Polarisierung der Gesellschaft in zwei Rassengruppen, die in anderen Ländern so oft zu beobachten war. Zweitens war der Status einer Person im kolonialen Lateinamerika nicht ausschließlich von biologischen, sondern auch von sozialen Faktoren abhängig. Wenn es einem Dunkelhäutigen gelungen war, Reichtum oder Bildung zu erlangen, konnte er durchaus dasselbe Ansehen genießen wie eine Person hellerer Hautfarbe.

Das Gebiet der Rassenbeziehungen führt auf eine in Historikerkreisen oft und gern gestellte Frage hinsichtlich der iberischen Kolonialisierung Amerikas. Selbst dann nämlich, wenn man die Grausamkeit der Eroberung und die von den unterdrückten Rassen unter der spanischen und portugiesischen Herrschaft erduldete Ausbeutung zugesteht, kann man die Ansicht vertreten, daß die Kolonialregimes in mancher Hinsicht tolerant und nachgiebig waren. Zumindest teilweise ist die Richtigkeit dieser Auffassung dadurch bewiesen, daß die Einstellungen gegenüber rassischen Gegensätzen im heutigen Lateinamerika — jedenfalls im Vergleich zu den USA oder Südafrika und sogar Teilen von Europa und Rußland — als relativ milde zu bezeichnen sind. Auch müssen wir anerkennen, daß die von der Kolonialherrschaft betroffenen Rassen, so sehr sie auch im Laufe der Jahrhunderte ausgebeutet wurden, nichtsdestoweniger ihre Identität behalten haben. Die Indianer wurden dort nicht nur nicht ausgerottet, sondern wichtige Elemente ihrer Kultur haben sich bis zur Gegenwart erhalten. Heute ist in vielen lateinamerikanischen Ländern die vom Volk akzeptierte und gefeierte Idealfigur ein Mestize oder Mischlingstyp — und nicht ein Europäer.

Stabiles Kolonialregime

Diese Traditionen erklären sich zum Teil aus der Tatsache, daß besonders auf den mittelamerikanischen Inseln die Krone lange Zeit hindurch bemüht war, die Indianer unter ihrer Schutzherrschaft zu halten. Durch Schaffung besonderer Gemeinwesen und rechtlicher Arrangements für die Indianer versuchte die Krone, den auf die Eingeborenen wirkenden sozialen und wirtschaftlichen Druck solange zu mildern, bis sie ganz von der Welt der europäischen Kultur und Religion absorbiert werden konnten. Obgleich sich unter den politischen Ratgebern der Krone von humanitärem Geist durchdrungene Juristen und Theologen befanden, waren die Motive in der Hauptsache wohl eher praktischer Natur. Hätte nämlich die Krone das indianische Arbeitskräftereservoir nicht unter ihre Fittiche genommen, wäre es den kreolischen Kolonialisten und besonders den Grundbesitzern anheimgefallen, die dann ihrerseits kaum noch Anlaß gehabt hätten, ihre loyale Haltung gegenüber der Krone beizubehalten. Sie hätten unschwer ihre eigenen autonomen Gemeinwesen schaffen können.

Eines der zentralen Themen der lateinamerikanischen Kolonialgeschichte war die Spannung zwischen der urbanen Bürokratie einerseits und den örtlichen Oligarchien andererseits oder, was damit gleichbedeutend ist, zwischen der einigenden Kraft der königlichen Autorität und den separatistischen Bestrebungen der kreolischen Grundbesitzer. Die königliche Autorität brach schließlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zusammen, als die lateinamerikanischen Länder ihre Unabhängigkeit gewannen. Damit bewies die Geschichte, daß die alten Befürchtungen der Krone nur zu berechtigt gewesen waren. Der Sieg war auf Seiten der dezentralistischen Kräfte. Jedes der neuen Länder geriet unter die Herrschaft einer aus regionalen Grundbesitzergruppen gebildeten Oligarchie. In diesen sogenannten „Republiken" wurden die indianischen Landarbeiter nun schlimmer und rücksichtsloser ausgebeutet als zuvor unter der drei lange Jahrhunderte währenden Kolonialherrschaft.

Es mag sich für uns lohnen, hier noch etwas tiefer zu schürfen und nach einer Antwort auf die interessante Frage zu suchen, wieso eigentlich das Kolonialregime so stabil sein konnte. Ich muß gestehen, daß ich einer Überzeugung anhänge, die viele zeitgenössische Sozialwissenschaftler nicht zu teilen scheinen. Ich glaube nämlich, daß die Zukunft einer Bevölkerung entscheidend durch ihre Traditionen und ihr kulturelles Erbe bestimmt wird. Vertritt man diese Auffassung in bezug auf die lateinamerikanischen Länder, dann wird man kaum erwarten, daß die politische Rettung für sie in der Nachahmung oder Übernahme fremder Regierungssysteme bestehen kann. Vielmehr wird man erwarten, daß das Heil aus ihrer eigenen Geschichte und ihren eigenen Traditionen erwachsen muß. Und man wird annehmen dürfen, daß sich aus der politischen Stabilität der drei Jahrhunderte währenden Kolonialära wichtige Lehren für die Gegenwart ziehen lassen.

Unsere zentrale Frage muß also lauten: Wie arbeitete die Kolonialregierung? Wir wollen zu Beginn zwei Punkte festhalten. Erstens war die Kolonialregierung trotz des ihr nachgesagten absolutistischen Charakters nicht tyrannisch. Sie verließ sich nicht auf brutale Gewalt, Terror und Furcht. Wenn ein Teil der unfreien Arbeiterschaft in Furcht leben mußte, dann lag das mehr am Mißbrauch des Systems und weniger am System selber. Zweitens waren die Jahrhunderte der Kolonialherrschaft nicht ganz so friedlich, wie ich es bisher angedeutet habe. Während der ganzen Kolonialära gab es hier und da durchaus einmal Proteste und Aufstände im Lager der weißen Kreolen oder bei den unterdrückten Farbigen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren dies aber Proteste gegen bestimmte Gouverneure oder bestimmte Fehlentwicklungen oder Ungerechtigkeiten. Es handelte sich nicht um ideologische Rebellionen gegen das System selbst. Das müssen wir im Auge behalten, wenn wir ergründen wollen, wie dieses Kolonialsystem arbeitete.

Patrimonialistisches Herrschaftssystem

Es wird oft die Ansicht vertreten, daß Spanien und Portugal damals in Amerika ein „Feudalregime" errichtet hätten. Noch heute wird das Wort „Feudalismus" vielfach zur Beschreibung der gesellschaftlichen und politischen Institutionen Lateinamerikas benutzt. Tatsächlich aber läßt sich das vorherrschende System zutreffender durch den Ausdruck „Patrimonia-lismus" beschreiben. Wir können uns hier mit Vorteil der Analyse des großen Soziologen Max Weber bedienen, der bei der Betrachtung gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse eines Landes scharf zwischen Feudalismus und Patrimonialismus unterschied. Nach Weber entsteht Feudalismus aus der politischen Herrschaft einer kleinen militärischen Minderheitsgruppe. Ein Patrimonialstaat hingegen ist ein Staatswesen, in welchem ein Alleinherrscher mittels einer großen Beamtenschaft die Macht ausübt.

Ein Patrimonialherrscher tritt seinen Untertanen nicht als der feudalistische Eroberer und Kriegsheld, sondern vielmehr als „guter König" oder „Landesvater" entgegen.

Die Stärke eines feudalistischen Regimes gründet sich auf den engen Zusammenhalt einer Eliteschicht, die sich einem Führer loyal verpflichtet fühlt. Das Patrimonialregime dagegen gleicht eher einer frühen Version dessen, was wir heute einen „Wohlfahrtsstaat" nennen würden.

Der Patrimonialherrscher muß immer darauf bedacht sein, das Aufkommen einer unabhängigen Feudalaristokratie zu verhindern, die das Land unter sich aufteilt und gewisse Privilegien von einer Generation auf die nächste fortvererbt. Eines seiner Mittel hierzu ist die Unterhaltung einer großen Bürokratie, die ein Gegengewicht zu den örtlichen Feudalaristokratien darstellt. Gleichzeitig muß der Herrscher Wege finden, die es ihm gestatten, diese Bürokratie fest in der Hand zu behalten, damit sie nicht ihrerseits seiner Kontrolle entgleitet und wiederum seine Autorität bedroht. Deshalb begrenzt er die Amtszeit der Beamten der Krone und untersagt es ihnen, innerhalb ihres Wirkungskreises familiäre Bindungen oder wirtschaftliche Engagements einzugehen.

Zur Überwachung des Beamtenapparates auf allen Ebenen setzt er besondere Inspektoren ein. Und schließlich vermeidet er es, die Zuständigkeitsbereiche der verschiedenen Teile der Bürokratie allzu scharf gegeneinander abzugrenzen. Das hat zur Folge, daß viele Konflikte und Kompetenzstreitigkeiten auftreten, die ihm als dem Herrscher ständig vorgetragen werden müssen.

Webers Darstellung des Patrimonialstaates eignet sich recht gut zur Beschreibung der Organisationsform der iberischen Empires — besonders des spanischen — in der Neuen Welt. Tatsächlich wird jeder Kenner des heutigen Lateinamerika zugestehen, daß sich viele Aspekte dieses politischen Modells in jenen Ländern bis auf den heutigen Tag erhalten haben.

Mein Argument mag zur Verdeutlichung in extrem vereinfachter Form dargestellt werden.

Ich bin der Auffassung, daß hinter der augenfälligen Modernisierung Lateinamerikas in politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und technischer Hinsicht dies traditionelle Modell des alten Patrimonialstaates noch fortlebt. Und jene lateinamerikanischen Länder, in denen über längere Zeiträume ein hohes Maß an politischer Stabilität zu verzeichnen ist, sind genau diejenigen, die es verstanden haben, der Grundstruktur dieses traditionellen Regimes eine neue, zeitgemäße Form zu geben. Ich denke dabei besonders an das Chile des 19. Jahrhunderts unter seinem zentralistischen aber desungeachtet konstitutionellen Präsidial-system, oder an das „goldene Zeitalter", das Brasilien im 19. Jahrhundert unter Kaiser Don Pedro II. erlebte, und ebenso auch an Mexiko mit seinem Präsidialregime und seinem Einparteiensystem in der Zeit nach der berühmten Revolution von 1910.

Katholische Naturrechtstradition

Ich möchte betonen, daß der von mir beschriebene Patrimonialstaat mit Despotie oder Tyrannei nichts gemein hat. Seine Regierung ist nicht einmal als willkürlich zu bezeichnen, obgleich der Herrscher jederzeit die Möglichkeit hat, persönlich zu intervenieren. Denn es ist wichtig, daß der Exponent der Obrigkeit in den Augen des Volkes Legitimität besitzt, d. h., daß er sich auf einen „Volkswillen" stützen kann. Oder, um es in älteren Kategorien zu fassen, er muß nach den Prinzipien christlicher Gerechtigkeit schalten und walten.

Andernfalls entspricht sein Regime dem, was Max Weber als „Sultanismus" bezeichnet.

Dieser Punkt wird vollends deutlich, wenn wir die Schriften einiger alter spanischer Staatstheoretiker des 16. und 17. Jahrhunderts nachlesen. Diese Denker bekämpften beispielsweise die Auffassung, daß die Könige ein göttliches Recht zur Herrschaft hätten. Sie glaubten statt dessen, daß politische Macht ursprünglich aus der Gesamtheit einer Gesellschaft und nicht von einem von Gott ernannten Individuum kommt. Weiter vertraten sie die Ansicht, daß eine Gesellschaft sich ihrer ursprünglichen Macht entäußert, um sie in die Hand eines Fürsten oder Herrschers zu legen, der sie dann ohne weitere Einmischung des Volkes ausübt. Dennoch gibt es gewisse Grenzen seiner Machtvollkommenheiten: Wenn die vom Herrscher erlassenen Gesetze ungerecht sind, brauchen die Menschen ihnen nicht länger zu gehorchen. In bestimmten Fällen sind sie sogar berechtigt, gegen ihren Herrscher zu rebellieren.

Hier erkennen wir nun ein wichtiges Charakteristikum des politischen Lebens im heutigen haben Lateinamerika: Einerseits wir im Volk eine ausgesprochene Empfindlichkeit gegenüber obrigkeitlichem Machtmißbrauch gepaart mit der Bereitschaft, dagegen zu revoltieren. Andererseits ist ein Nachlassen des öffentlichen Interesses zu verzeichnen, sobald sich ein revolutionäres Regime legitimiert hat; dann zeigt sich die Bereitschaft zur Übertragung der politisch-administrativen Befugnisse auf den neuen Patrimonialstaat.

Der so in Erscheinung tretende Fatalismus des Durchschnittsbürgers gegenüber der zentralen Regierung hat wiederum sein Vorbild im politischen Denken des mittelalterlichen und spätmittelalterlichen Spaniens. Denn in jener Tradition lebt der Glaube, daß das natürliche Recht wichtiger und weniger fehlbar sei als das Gewissen des einzelnen. Das heißt mit anderen Worten, daß ein Herrscher, der nach den Prinzipien des natürlichen Rechts und der christlichen Gerechtigkeit regiert, verläßlicher zu führen vermag als jene Mehrheitsentscheidungen es tun können, die durch das Ausloten des Privatgewissens der die Gesellschaft bildenden Einzelpersonen zustandekommen. Wo ein solches Denken vorherrscht, kann kaum erwartet werden, daß freie Wahlen und Stimmzettel je die mystische Bedeutung erlangen, die sie in protestantischen Ländern haben. Ich beeile mich hinzuzufügen, daß dies kein Werturteil sein soll. Es steht aber fest, daß in den protestantischen Ländern der Sieg des Gewissens über das natürliche Recht nicht ohne eine gewisse Verarmung unseres politischen Erbes gewonnen wurde.

Ich habe nun zwei Ingredienzien des politischen Erbes der lateinamerikanischen Länder angedeutet, nämlich den Patrimonialstaat und die katholische Tradition des Naturrechts. Wir wollen das im Auge behalten, wenn wir nun einige Voraussetzungen für den künftigen politischen Wandel in den modernen lateinamerikanischen Nationen betrachten. Wir wissen, daß die industrialisierte Welt in ihren westlichen und kommunistischen Ausprägungen künftig nur immer heftiger auf diese Länder einstürmen wird, indem sie das Tempo des Lebens dort erhöht, neue Hoffnungen, Wünsche und Besorgnisse weckt und neue Konzepte, Technologien und Güter einführt. Aber wie stark diese äußeren Einflüsse auch werden mögen, es ist wahrscheinlich, daß die Veränderungen, die sie dort zeitigen, sich in gewisser Weise bestimmten überkommenen Gegebenheiten des politischen Lebens in Lateinamerika werden anpassen müssen. Ich möchte fünf dieser besonderen Gegebenheiten kurz behandeln.

Voraussetzungen für politische Veränderungen

Erstens ist in Lateinamerika der Gedanke, daß der Mensch seine Welt selbst und eigenverantwortlich gestaltet, weniger tiel verwurzelt und weniger weit verbreitet als in vielen anderen Ländern.

Es mag zutreffen, daß der Lateinamerikaner seiner Welt empfindsamer begegnet, daß er sie beredsamer kritisiert und daß er ihr enger verbunden ist. Aber er scheint an der Gestaltung dieser seiner Welt weniger Anteil zu nehmen. In seiner Vorstellung überragt die natürliche Ordnung in ihrer Bedeutung bei weitem das menschliche Gemeinwesen. Das Gewissen des einzelnen gilt als fehlbarer und der Wählvorgäng als weniger konsequent und schlüssig als in den Demokratien des Nordens. Nach anderthalb Jahrhunderten „republikanischen" Lebens in Lateinamerika ist das System des freiwilligen politischen Zusammenschlusses, des Zweiparteienstaates und der quasi-rationalen gesetzgeberischen Prozeduren un-gefestigt und unbeständig.

Zweitens scheinen die Menschen in Lateinamerika noch immer bereit, sich ihrer Macht einfach zu begeben, statt sie den gewählten oder doch von ihnen anerkannten Führern treuhänderisch zu übertragen: ganz im Geist des spanisch-katholischen Denkens aus dem 16. Jahrhundert. Gleichzeitig aber lebt in den Menschen ein waches Empfinden für das Naturrecht und eine Empfindlichkeit gegenüber jeglichem Mißbrauch entfremdeter Macht. Wenngleich sich in der klassischen Vorstellung mit der lateinamerikanischen „Revolution" das Bild des militärischen Staatsstreiches gegen den illegitimen Herrscher verbindet, hat die typische Form des Aufbegehrens doch mehr das Gepräge einer breiten Volksbewegung, deren einziger Programmpunkt die Wiedererlangung der tyrannisch mißbrauchten Souveränität ist. Die wirklich revolutionären Änderungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, die sich anderswo im Gefolge solcher Volkserhebungen einstellen können, werden in Lateinamerika meist unter einer verzweifelt um die Legitimierung ihres Autoritätsanspruches bemühten Führung improvisiert. Deshalb ist die dritte der besonderen Gegebenheiten, daß heute ein Wiederaufleben des Wunsches nach legitimer Regierung zu verzeichnen ist. Die Regimes des letzten Jahrhunderts erlangten zumeist nicht jene Legitimität, der sich die alten Kolonialsysteme erfreuen konnten, die meisten modernen Regimes ebensowenig. Zu einer „legitimen" Revolution bedarf es in Lateinamerika keiner ausgefeilten Ideologie. Um „legitim" zu sein, braucht die Revolution nicht die Klassen zu polarisieren oder die Neuverteilung von Gut und Geld auf ihre Fahnen zu schreiben. Und das von ihr eingesetzte Regime bedarf, um anerkannt zu werden, nicht der Salbung durch die Mehrheitsentscheidung einer allgemeinen Wahl.

Worauf es zur Legitimierung einer Revolution vielmehr anzukommen scheint, ist die Beteiligung der Öffentlichkeit und etwas Gewaltsamkeit, wie immer improvisiert und programmlos die Führung auch sein mag. Weiter muß sich die Revolution durch ein tiefes, wenn auch unartikuliertes Gefühl der Dringlichkeit ankündigen. Sie muß eine von äußeren Mächten unbeeinflußte, aus dem indianisch-stämmigen Volk kommende Bewegung sein. Sie bedarf einer kulturell und psychisch ansprechenden Führerpersönlichkeit. Trotz aller Blenderei verfügen Perön und Castro über diese Qualitäten. Aber auch weniger harte, mehr zum Heiligen tendierende Führertypen können erfolgreich sein, insbesondere wenn sie, wie z. B. Jose Marti und Francisco Madero, in jungen Jahren zu Märtyrern wurden. Reine Tyrannen sind keine akzeptablen Revolutionäre. Warum ist eine wie immer vage Aura von Legitimität heute in Lateinamerika so wichtig? Die Antwort lautet: weil die legislativen und exekutiven Prozesse ihre letzte Anerkennung nicht durch Bekundungen des Volkswillens erhalten. Die Legitimität erwächst nicht aus Gesetzen oder Verfassungen und nicht aus dem bürokratischen Ideal des „Dienens"; sie kommt nicht aus tyrannischer Machtausübung, nicht aus der Gewohnheit und auch nicht aus wissenschaftlichen oder dialektischen Gesetzmäßigkeiten. Otto Gierke bemerkte einmal über das Mittelalter: „Weit mehr gründete sich jede Gehorsamspflicht auf die Gerechtigkeit der Weisung." Das bedeutet, daß in einem Patrimonialstaat, in welchem Weisungen und Dekrete eine so bedeutende Rolle spielen, die Legitimität der Weisung durch die Legitimität der sie erlassenden Obrigkeit bestimmt ist. Daher die Bedeutung des reinen Legalismus in der lateinamerikanischen Administrative als ständige Bestätigung der Legitimität, nicht der Maßnahme, sondern dessen, der sie verfügt. Daher auch das Scheitern des personalistischen Regimes, dem es nicht gelingt, den schwierigen Schritt der Legitimierung in den Augen des Volkes zu vollziehen.

Viertens ist das eingeborene Gefühl der Lateinamerikaner für das Naturrecht gepaart mit einer eher unsicheren Einstellung zu den von Menschen gemachten Gesetzen. Die menschlichen Gesetze gelten oft als zu hart oder als unangemessen und werden im Einzelfall gern mit dem Bemerken abgetan, daß sie einfach nicht paßten. Das erklärt denn auch die Schwierigkeiten bei der Einziehung der Einkommens-steuer, die vielerorts bestehende Notwendigkeit, die Beamten durch Zuwendungen oder Schmiergelder zur Ausübung ihrer Pflicht zu bewegen, den schwungvollen Schmuggel in den Grenzstädten und die Nachsicht gegenüber Verbrechern aus Leidenschaft — so die ganze Skala hinunter bis zur Mißachtung der Rauchverbotsschilder in den Omnibussen.

Eines der Hindernisse, die sich der Schaffung funktionierender Staatswesen in Lateinamerika in den Weg stellen, scheint gerade in der Tatsache zu liegen, daß sich jedermann bei der Beurteilung internationaler Fragen ebenso wie in Familiendingen mit Vorteil seines natürlichen Rechtsempfindens bedient, nur nicht in seinem Verhalten dem eigenen Staat gegenüber. Es ist gewiß kein Zufall, daß sich mancher Lateinamerikaner als Völkerrechtler einen Namen gemacht hat und daß der moderne Städtebau in den Reformplänen der lateinamerikanischen Länder eine so wichtige Rolle spielt.

Hieraus ergeben sich zwei Folgerungen. Erstens ist zu erwarten, daß die lateinamerikanischen Länder in dem Maße wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen zu allen anderen Nationen aufnehmen, in dem sie aus ihrem Schutz-und Abhängigkeitsverhältnis zu den USA herauskommen. Zweitens erscheint es wichtig, daß die Architekten des gesellschaftlichen Aufbaus in Lateinamerika diejenigen Modelle in Frage stellen, die den entpersönlichenden Massenaspekt der „Entwicklung" überbetonen. Jeder Plan, und sei er für die größten Fabriken, die gewaltigsten Bürokratien oder gar für die größten Metropolen geschaffen, muß irgendwie mit der zu neuem Leben erwachten kleinen und überschaubaren Gruppe als dem Angelpunkt der Dinge in Einklang gebracht werden.

Und nun zu der letzten der besonderen lateinamerikanischen Gegebenheiten: Kaum weniger als im 16. Jahrhundert versteht man heute in Lateinamerika die Gesellschaft als Vielzahl von Bestandteilen, die nicht direkt untereinander, sondern über ein patrimoniales Zentrum in Zusammenhang stehen. In dieser Vorstellungswelt wirkt eine Regierung nicht als der Schiedsrichter oder Mittler zwischen dynamischen Einfluß-und Interessengruppen, sondern als eine Quelle der Energie, der Koordinierung und Führung für Berufsgruppen und Syndikate, Körperschaften, Institutionen sowie gesellschaftliche und geographische Lebensbereiche. Wegen des Fehlens der mächtigen inneren Druckwirkungen der widerstreitenden Gruppen und bar aller durchschlagenden Ideologien oder Weltmachtgelüste neigen die politischen Regimes in Lateinamerika nach enthusiastischer Machtergreifung zum Dahinvegetieren. Dahinvegetierende politische Regimes aber werden im 20. Jahrhundert nicht mehr geduldet. Deshalb wird das Modell eines Patrimonialstaates, der in mancher Hinsicht unter der habsburg-spanischen Ära recht brauchbar war, im Lateinamerika des 20. Jahrhunderts zum Nährboden immer neuer Revolutionen. Es scheint also, daß die Läuterung und Aktivierung des lateinamerikanischen Patrimonialstaates nicht als automatische Reaktion auf die Anforderungen einer rasch voranschreitenden technisierten Welt erwartet werden kann. Politische Reife ist nicht die notwendige Folge großangelegter Volksbildungsbemühungen, industrieller Neuerungen, höherer Produktionsziffern, eines höheren Lebensstandards und freier Wahlen, obgleich alle diese Dinge mit ihren Vor-und Nachteilen unausweichlich Platz greifen werden. Was die politische Situation der lateinamerikanischen Länder stärker beeinflussen dürfte, sind der nationalistische Druck von innen und die Einwirkungen der weltpolitischen Entwicklungen von außen. Diese Wirkungen werden die etwas veraltete Pax Americana der westlichen Hemisphäre beenden und die lateinamerikanischen Nationen in steigendem Maße dazu bringen, mit den anderen Nationen und untereinander dauerhafte Beziehungen einzugehen. Die ersten Schritte werden etwas ungelenk, zuweilen schüchtern und zuweilen auch melodramatisch sein. Auf lange Sicht aber dürften sie zu einem höheren Grad der Reife und zu einem ausgewogeneren nationalen Selbstverständnis führen.

Eine protestantische Zivilisation vermag ihre Energien unaufhörlich in der Wildnis zu entwickeln, wie das Beispiel der Vereinigten Staaten gezeigt hat. Eine katholische Zivilisation stagniert, wenn sie sich nicht in dem für sie lebenswichtigen Kontakt mit den verschiedenen Stämmen und Kulturen des Menschen-geschlechts befindet.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Richard M. Morse, Professor für Geschichte an der Yale-Universität, New Haven, Connecticut.