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Uber traditionelle Eliten, Machtkonkurrenz und öffentliche Verwaltung in Lateinamerika | APuZ 25/1965 | bpb.de

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APuZ 25/1965 Zur politischen und sozialen Geschichte der lateinamerikanischen Staaten Uber traditionelle Eliten, Machtkonkurrenz und öffentliche Verwaltung in Lateinamerika Sozialrevolutionäre Strömungen und Nationalismus in Lateinamerika Ökonomische Anpassungsprobleme in Lateinamerika

Uber traditionelle Eliten, Machtkonkurrenz und öffentliche Verwaltung in Lateinamerika

Frank L. Tannenbaum

Die Politik der lateinamerikanischen Staaten gilt weithin als ein in üblicher Weise lösbares Problem, als eine Sache, die wie eine Uhr auseinander genommen, gereinigt, geölt und wieder zusammengefügt werden kann, um danach zur Genugtuung der ausländischen Kritiker besser zu funktionieren als zuvor. Diese Betrachtungsweise wird jedoch den Dingen nicht gerecht. Wie überall, ist Politik in Lateinamerika Bestandteil des Lebens in seiner Gesamtheit und nicht etwas Gesondertes, das vom Nationalcharakter und den örtlichen Sitten und Bräuchen getrennt werden könnte. Besser ist es, die lateinamerikanische Politik als ein Phänomen des Gesamtkomplexes der dortigen Kultur zu sehen. Sie kann sich nur ändern, wenn die Gesellschaft sich als ganze ändert und ist der Erklärung mit den vereinfachenden Begriffen des ökonomischen Determinismus nicht zugänglich.

Mangelnde Loyalität gegenüber der Nation

Denn ungeachtet der gesteigerten Bedeutung, die man den Dingen der Wirtschaft und der Wirtschaftsentwicklung heute allenthalben beimißt, liegen die eigentlichen Schwierigkeiten Lateinamerikas im politischen Bereich. Sofern und solange es keine sichtbare Wandlung der politischen und gesellschaftlichen Umweltbedingungen gibt, muß auch der perfekteste Plan zur Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse die Erwartungen enttäuschen, die unter dem Eindruck der gegenwärtig sehr intensiven Bemühungen um die industrielle Entwicklung in ihn gesetzt werden. Mehr noch:

Wer es unternimmt, die gesellschaftlichen und politischen Institutionen zu ändern, hat größere Risiken und subtilere Schwierigkeiten zu gewärtigen als derjenige, der nur die wirtschaftlichen Verhältnisse ändern will. Der Wirtschaftler kann immerhin daran glauben, daß — ausreichende Investitionen vorausgesetzt — die Wachstumsrate der Wirtschaft vorhersagbar ist und daß eine bestimmte Wachstumsrate es gestattet, menschliches Glück zu prophezeien. Wie aber kann der Politologe einen Rojas Pinilla oder einen Peron oder Trujillo daran hindern, an die Macht zu gelangen? Wie kann er den örtlichen „caudillo" ausschalten und im Indianer das rechte Gefühl für politische Vorgänge und die Qualitäten eines verantwortlichen, nationalbewußten Staatsbürgers wecken? Wie kann der Soziologe erreichen, daß sich der „senorito" als gewöhnlicher Bürger fühlt? Wie kann er die starke Bindung an die Gemeinschaft der Sippe in Loyalität gegenüber der Nation als ganzem umwandeln?

Wenn man von der lateinamerikanischen Politik und Regierungsform allgemein spricht, wird man trotz der starken Unterschiedlichkeiten zwischen den einzelnen Ländern in diesem Gebiet auf eine Anzahl Fragen stoßen, die für alle gemeinsam gelten. Eine dieser Fragen ist, wie man es anfangen muß, zunächst einmal eine Nation zu schaffen, in der sich alle ethnischen Elemente gleichermaßen zu-hause und zur Loyalität verpflichtet fühlen.

Worin besteht die psychologische Identität beispielsweise des peruanischen Quechua-Indianers mit seiner Nation, um von der Regierung zunächst noch gar nicht zu sprechen?

Was muß man tun, um den 18 oder mehr indianischen Stämmen in Guatemala ein guatemaltekisches Nationalgefühl zu geben? Dies sind nur wenige Beispiele aus dem umfänglichen Fragenkatalog. Wer, um beim Beispiel Guatemala zu bleiben, wäre befugt, für die Nation als ganzes zu sprechen? Sind es die Kreolen oder die Mestizen, sind es die Indianer, ist es die Kirche, die Armee, die politische Partei, oder ist es der „caudillo"? Würde man die Masse des einfachen Volkes, die fast überall in Lateinamerika noch des Lesens und Schreibens unkundig und des modernen Lebens kaum teilhaftig ist, nach ihrer politischen Rolle fragen, würde sie vermutlich außerstande sein, auch nur den Sinn der Frage zu verstehen. All dies ist unbequem für diejenigen von uns, die meinen, daß man mit dem Zaubermittel allgemeiner Theorien höchst speziellen Schwierigkeiten zu Leibe rücken könne. Ich zweifle nicht daran, daß in Lateinamerika das gesellschaftliche und politische „ambiente" der für das Wohl oder Wehe jedweder Staatsverwaltung entscheidende Faktor ist.

Fragwürdige Legitimität der Regierung

Bevor wir uns die Frage stellen, wie wirksam die öffentliche Verwaltung ist, sollten wir vielleicht erst einmal zu klären suchen, was man sich unter einer lateinamerikanischen Regierung vorzustellen hat. Wessen Regierung ist sie? Ist sie die Regierung Trujillo oder Peron oder die von Perez Jimenez oder Batista? Das ist eine durchaus ernste Frage für jeden, der sich für das Regierungsproblem in Lateinamerika interessiert. Denn die Frage reicht über die genannten Individuen hinaus und rührt an einen geschichtlichen Prozeß, an eine Tradition zentralisierter Regierungen, die sich stets mit einer Einzelpersönlichkeit oder einem Parteiführer identifizierten, dessen Verhalten dem des Oberhauptes einer großen und weitverzweigten Familie entspricht. Das Ober-haupt dieser Familie kann auch der Landes-präsident sein. Man kann dieser Frage auf keine Weise ausweichen. Der gewalttätige und tyrannische „caudillo" ist nur eine extreme Verkörperung der traditionellen Auffassung, daß der oberste Beamte alle Macht haben, sich um alle Kleinigkeiten kümmern und daß er im Namen der Partei, d. h.der politischen Familie regieren muß. Deshalb hängt die Antwort auf die Frage, um wessen Regierung es sich handelt, von der Gruppenzugehörigkeit des Befragten ab. Er wird von „seiner" Regierung sprechen, wenn seine Partei an der Macht ist, und von der Regierung „der anderen", wenn seine Partei nicht an der Macht ist. Es gibt immer nur die Regierung der eigenen Partei oder der anderen Partei, aber kaum eine Regierung, die sich aut einen allgemeinen Konsensus stützt. Hinter dieser politischen Tatsache verbirgt sich ein gerüttelt Maß an geschichtlicher Erfahrung.

In Spanien gestehen die Basken bis auf den heutigen Tag nicht zu, daß die Franco-Regierung irgendwie zu ihnen gehört. Mit den Bewohnern Kataloniens ist es nicht anders. So ist es dort schon lange, und es trifft wohl zu, daß die schmerzliche Geschichte Spaniens sich zum Teil aus dieser mangelnden Bereitschaft vieler Bewohner des spanischen Territoriums zur Anerkennung der Regierung als Sachwalterin aller Glieder der Nation erklärt. Im Lateinamerika der Kolonialära sprach man von der Regierung des Königs oder der Regierung der „Peninsulares". Die Kreolen waren nicht immer der Meinung, daß es ihre Regierung sei. Und die Mestizen, die „Castas", die Neger und die Indianer identifizierten sich noch weniger mit der Regierung, als die Kreolen es taten. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit wurden die Dinge nicht viel besser. Bei den Bürgerkriegen in Argentinien, Kolumbien, Venezuela, Mexiko und in noch anderen lateinamerikanischen Ländern ging es letztlich immer darum, daß die Regierung der einen Partei den Anhängern der anderen Partei nicht akzeptabel war. Es gab kein universales, für alle verbindliches Symbol. Für einen allgemeinen Konsensus fehlten die Grundlagen, und die Legitimität der neuen Regierung wurde stets von irgendeiner Seite in Frage gestellt. Eine Regierung aber, die nicht die Legitimität besitzt, ist eine Regierung auf Zeit.

Die Einigung zwischen den Konservativen und den Liberalen, die der Tyrannei von Rojas Pinilla in Kolumbien ein Ende setzte, glich einem Wunder, und Alberto Heras Camargo, der sie zustande brachte, wird in Kolumbien noch lange als Wohltäter und Volksheld gefeiert werden. Doch selbst dort gibt es nach so vielen Jahren noch immer eine „Violencia", die uns ständig daran erinnert, daß es Landesteile und Elemente in der Bevölkerung gibt, die die Regierung nicht als ihre Regierung anerkennen. Ebenso ist es in Argentinien, Bolivien, Guatemala, Ekuador und an noch anderen Stellen. In bestimmten lateinamerikanischen Ländern spielt es für die Ablehnung der bestehenden Regierung durch große Teile der Bevölkerung aus ethnischen und linguistischen Gründen gar keine Rolle, welche Partei an der Macht ist. Und die Peronisten in Argentinien ebenso wie die Oppositionsparteien in Paraguay und Nikaragua weigern sich, die bestehenden Regierungen als legitim anzuerkennen und werfen ihnen vor, durch Gewalt oder unlautere Methoden die Macht an sich gebracht zu haben.

Das Problem der Legitimierung ist vielerorts ungelöst. Auf die Frage, wie man ohne Revolution an die Macht gelangen und das Präsidentenamt ohne Gewalt oder Gewaltandrohung auf einen Nachfolger übertragen kann, gibt es noch keine Antwort. In den letzten 36 Monaten gab es nicht weniger als acht Militärputsche, und zwar in Argentinien, Brasilien, Peru, Guatemala, Santa Domingo, Ekuador, Honduras und Bolivien. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, wofür Chile, Uruguay, Costa Rica, Mexiko, Kolumbien und möglicherweise das heutige Venezuela als Beweise angeführt werden können. Wie lang die Liste der Ausnahmen ist und ob ihr nicht angesichts der früheren Erfahrungen nur zeitweilige Gültigkeit zu-zusprechen ist, vermag niemand recht zu sagen. In anderen Fällen spielt sich der Regierungswechsel immer in einer Atmosphäre drohender Gewalt ab, ja man könnte beinahe sagen, daß der Preis für den Verzicht aut Gewaltanwendung leicht im Scheitern der Regierungsneubildung bestehen kann. Das klassische Beispiel hierfür ist Trujillo, der sich mittels friedlicher Wahlen 30 Jahre lang im Amt hielt und sogar dann stets mit 100 % aller Stimmen und nicht einer weniger herauskam, wenn niemand zur Wahlurne gegangen war. Daß eine Wahl friedlich verlief, beweist nicht unbedingt, daß sie demokratisch und auf der Grundlage eines allgemeinen Konsensus ausgetragen wurde. Eher könnte man verallgemeinernd feststellen, daß nur dort eine friedliche Wahl zu erwarten ist, wo der Präsident die Wahl seines Nachfolgers beeinflussen kann.

Dies erweist sich an einigen jüngeren Beispielen, wo es die Oppositionspartei ablehnte, sich an der Wahl zu beteiligen. Da sie von vornherein wußte, daß sie die Wahl verlieren würde, wollte sie die neue Regierung nicht durch ihren Gang zur Wahlurne moralisch sanktionieren. Es wurde öffentlich erklärt, daß die Regierung zur „anderen" und nicht zur eigenen Partei gehöre und daß die Opposition das bleiben werde, was die politische Opposition in Lateinamerika meist ist, nämlich ein ständiger Hort des Zweifels an der Legalität des Machtanspruches der Regierung und nicht Kritikerin ihrer Politik. Fast überall in Lateinamerika wird das Recht der Regierung, bis zu den nächsten Wahlen an der Macht zu bleiben, fortwährend angefochten.

Furcht vor Revolutionen

Unter diesen Bedingungen hat sich jede Administration vorrangig um die Sicherung ihrer bloßen politischen Existenz zu kümmern. Man muß sich klar machen, daß dies einer der grundsätzlichen politischen Unterschiede zwischen den lateinamerikanischen Regierungen und denen der nordamerikanischen Bundesstaaten ist. In den Vereinigten Staaten ist die Politik der jeweiligen Administration oftmals ständigen und scharfen Angriffen ausgesetzt, aber niemand bestreitet ihr Recht zur Ausübung der Staatsgewalt bis zu den Neuwahlen, und niemand zweifelt daran, daß es danach einen friedlichen Machtwechsel geben wird. In Lateinamerika ist — von wenigen Ausnahmen abgesehen — das Recht und die Fähigkeit der Regierung, bis zum Ende eines Wahlintervalls im Amt zu bleiben, ständigen Zweifeln ausgesetzt. Die Regierung Betancourt in Venezuela war seit der Unabhängigkeit des Landes die erste, der ein normales Leben beschieden war Wo das politische überleben bis zum Ende der Wahlperiode nicht gesichert ist, ist die Wahrscheinlichkeit eines friedlichen Machtwechsels sogar noch geringer.

Diese beiden Momente machen die Zentralisierung und Personifizierung der Regierung unvermeidlich. Immer baut der Präsident seine politischen Zäune, immer argwöhnt er, daß eine Verschwörung entstehen könnte, und immer ist ihm die Loyalität, die „absoluta confianza" seiner Mitarbeiter von größter Wichtigkeit. In der ganzen Geschichte Lateinamerikas hat es an der Notwendigkeit zu eben dieser Wachsamkeit des Präsidenten nie gefehlt. Die Folgen für die Administration sind offensichtlich: Jede Entscheidung, auch in den kleinsten Dingen, wird vom Präsidenten persönlich getroffen. Alle Macht, die er besitzt, muß er zur Sicherung seiner Position verwenden, und all seine Wachsamkeit gilt der Verhinderung von Versuchen, ihn zu stürzen.

Deshalb kümmert er sich um jedes Detail. Entweder er behält alle Macht in den Händen oder er riskiert es, sie gänzlich zu verlieren. In einem Zustand immerwährender politischer Unsicherheit ist die Teilung der Staatsgewalt zwischen Exekutive, Legislative und Gerichtsbarkeit ein unrealisierbarer Traum. Bevor die Gewaltenteilung in der Regierung Platz greifen kann, muß zunächst das Präsidentenamt gegen einen plötzlichen „coup d'etat" oder einen „cuartelazo" oder ein „pronunciamiento" abgesichert werden. Etwas anderes zu erwarten, hieße sich müßigen Hoffnungen hingeben. Wenn aber die Zentralisierung aus traditionellen Gründen und wegen der politischen Unsicherheit die Herausbildung einer Personalregierung unvermeidlich macht, werden alle Dinge einschließlich der Administrative der Sicherung der politischen Existenz untergeordnet. Wir finden uns konfrontiert mit der politischen Hauptfrage, ohne deren Lösung jede Diskussion der Verwaltungsstruktur sinnlos ist: Welches sind die Bedingungen für politische Sicherheit? Daß dies das politische Hauptproblem ist wird deutlich, wenn man die Frage betrachtet, wieviele der gegenwärtigen lateinamerikanischen Regierungen es schon mit kleineren oder größeren Umsturz-versuchen aufnehmen mußten. Besser wäre es zu fragen, wieviele erfolgreiche und erfolglose Versuche zur gewaltsamen Beseitigung von Regierungen es in Lateinamerika in den letzten 15 Jahren zu verzeichnen gab. Eine präzise Antwort auf diese Frage würde erklären, warum der Präsident nur dann regieren kann, wenn er sich mit Personen umgibt, die ihm jene „absoluta confianza" garantieren. Ihre Loyalität zu ihm hat den Vorrang vor allen anderen Erwägungen. Sie ist wichtiger als Sachkenntnis, Tatkraft, Ausbildung, Verständnis für öffentliche Angelegenheiten oder auch persönliche Ehrlichkeit. Ich würde anregen, daß sich eine Verwaltungsakademie in Lateinamerika vorrangig mit dem Studium der Bedingungen befassen sollte, unter denen politische Sicherheit erreichbar ist. Denn ohne sie wird alles andere doppelt schwierig, wenn nicht unmöglich.

Zentralisierte Staatsfinanzen

Bei dem Versuch, die scheinbar nicht auszumerzende politische Unsicherheit und die Zentralisierung der Verwaltung zu erklären, müssen aber noch zwei weitere Faktoren in Betracht gezogen werden. Einer der Gründe dafür, daß sich der Präsident persönlich um alle Dinge kümmern muß, liegt darin, daß er den Geldbeutel der Nation in den Händen hält. Der Löwenanteil des Steueraufkommens fließt der zentralen Regierung zu, während sich die Länder, Provinzen, Städte und Bezirke mit dem Rest begnügen müssen. In einigen Fällen liegt der Anteil der zentralen Regierung bei 80 % oder gar noch höher, während die restlichen 20 0/0 unter allen übrigen politischen Entitäten aufgeteilt werden müssen. Die Bürgermeister ebenso wie die Gouverneure der Staaten und Provinzen müssen oft sogar für die wichtigsten Dinge das Geld buchstäblich zusammenbetteln. Es ist kein Ausnahmefall, wenn der Bürgermeister einer Stadt oder ein Gewerkschaftsführer dem Besucher aus dem Ausland erzählen, daß sie beim Präsidenten waren und 150 000 Dollar von ihm bekommen haben. Es gab für ihr Anliegen keine andere Instanz, und kein anderer könnte oder würde das Geld gegeben haben. Die Folgen liegen auf der Hand: Der Präsident ist mächtiger, die Regierung ist stärker zentralisiert und der Bürgermeister oder Gewerkschaftsführer haben mehr Anlaß, sich verpflichtet und abhängig zu fühlen. Aber gleichzeitig gibt es immer mehr Grund zur Unzufriedenheit, weil es stets viele Bittsteller gibt, die entweder nicht beim Präsidenten vorgelassen wurden oder weniger zugebilligt be-kamen, als sie beanspruchen zu können glaubten.

Wenn die Zentralregierung den Großteil des Steueraufkommens erhält und der Präsident im wesentlichen über die Verteilung der Staatsmittel bestimmt, besteht immer Anlaß zu einer Revolution gegen ihn. Andererseits kann er, wenn er mangels absoluter Legitimität keine Sicherheit genießt, keinen anderen mit der Verteilung der Staatsmittel, der Entscheidung über Beschwerden und Wünsche oder mit der Erledigung außerordentlicher Fragen betrauen. Als General Benavides der Diktator Perus war, wollte ich einmal einige indianische Gebirgsdörfer besuchen. Ich konnte nicht allein reisen, weil die allgewaltige Polizei ein solches Vorhaben unmöglich gemacht haben würde. Der für die indianische Bevölkerungsgruppe zuständige Regierungsbeamte, den ich dazu überredet hatte, mich zu begleiten, brauchte dazu die Genehmigung des Landwirtschaftsministers. Dieser konnte die Genehmigung nicht erteilen, ohne zuvor den Präsidenten zu fragen. Der Präsident schließlich machte seine Erlaubnis davon abhängig, daß ich zuvor noch zehn Tage in Lima blieb, um einer zu seinen Ehren veranstalteten Militärparade beizuwohnen. Erst dann konnte ich mit meinem erwählten Begleiter meine Reise antreten, die täglich wie ein wichtiges Ereignis im peruanischen Rundfunk erwähnt wurde. Man hielt es für politisch zweckmäßig, den Eindruck zu erwecken, als habe die Besichtigungsreise eines ausländischen Professors eine besondere Bedeutung. Man kann eben verschiedenes tun, um sich politisch abzusichern.

Die Rolle der Armee

Zum Erzübel der politischen Unsicherheit trägt neben der Konzentration der Finanzen in der Hand der Zentralregierung auch die Tatsache bei, daß das Militär in Lateinamerika keine rechte Funktion zu erfüllen hat. Für die Existenz der lateinamerikanischen Armeen gibt es keinen militärischen Grund. Es ist ganz unwahrscheinlich, daß Venezuela gegen Kolumbien oder Kolumbien gegen Ekuador zu Felde zieht. Nur Peru und Ekuador haben territoriale Streitfragen, die zu militärischen Maßnahmen Anlaß geben könnten. Ansonsten ist Südamerika einer der friedlichsten Kontinente der Erde und verspricht es auch zu bleiben. Die Zeiten, wo Argentinien daran gedacht haben könnte, die Vereinigung des südlichen Teils des südamerikanischen Kontinents durch Krieg zu erzwingen, gehören der Vergangenheit an. Auch ein Krieg zwischen Argentinien und Brasilien ist heute ganz unwahrscheinlich. Für Mexiko gilt dasselbe. Die USA werden Mexiko nicht angreifen und Mexiko wird weder die USA noch Guatemala angreifen. Nur in Mittelamerika wäre heute eine militärische Invasion eines Nachbarstaates vorstellbar; aber selbst dort erweckt es nicht den Anschein, als sei eine solche Entwicklung zu erwarten. Lateinamerika blickt nicht wie etwa Frankreich und Deutschland oder Polen und Rußland auf Jahrhunderte voller kriegerischer Auseinandersetzungen mit den Nachbarn zurück, und seine Menschen sind nicht daran gewöhnt, sich aus Eroberung, Invasion, Überwältigung des Gegners und militärischen Siegen viel zu machen. Die lateinamerikanischen Armeen haben nur Polizei-funktion. Sie sind zur Verteidigung von Nationen ausgebildet, denen keine Kriegsgefahr droht. Sie sind institutionalisierte Streitmächte ohne Zweck. Das ist der Kern der Sache. Es fehlt die disziplinfördernde Wirkung der ständigen Aussicht auf einen Kampf auf Leben und Tod zur Rettung der Nation, ohne den all die Gewehre, Kanonen, Panzer und Flugzeuge nutzloses, zum Verrosten verurteiltes mechanisches Gerät sind. Ohne die ständige Gefahr für Leib und Leben und ohne die Aussicht, auf dem Schlachtfeld zu sterben oder Ruhm zu gewinnen, sind die Uniformen und Orden, die Goldtressen und Silbersterne ohne Substanz. Auch die vielen Ubungsmärsche ändern nichts daran, daß der Soldat eigentlich keine Aufgabe hat. Die Militärs scheinen sich zu sagen, daß sie die Nation wenigstens führen sollten, wenn sie in Ermangelung sichtbarer Feinde schon nicht die Möglichkeit haben, sie zu verteidigen. Die Armee übernimmt die Rolle des Beschützers, Beraters und Ränkespielers. Der Präsident findet sich der Armee ausgeliefert, obgleich er formal ihr Ober-befehlshaber ist. Keine Regierung ist ihres Lebens sicher, sofern ihr Tun und Lassen nicht die Zustimmung der Militärs findet, und kein Regierungsoberhaupt kann sicher sein, daß es die absolute Loyalität der Streitkräfte, von der es abhängt, auch wirklich genießt.

Die Rolle der Armee hat sich verkehrt. Aus einem Instrument zur Verteidigung der Nation gegen Invasionsdrohung von außen hat sie sich in ein Organ verwandelt, das je nach Lage der Dinge der wichtigste Mentor und Beschützer oder aber der größte Feind der Regierung ist. Damit ist die politische Unsicherheit zur Institution geworden. Den Ruhm, den die Militärs nicht im Kriege gewinnen können, suchen sie sich zu verschaffen, indem sie die zivile Regierung zu Bücklingen vor den Generälen und Obersten zwingen, die sich dafür verantwortlich wähnen, daß die Regierung ihre verfassungsmäßigen Kompetenzen nicht überschreitet. Praktisch leben die meisten lateinamerikanischen Regierungen von der Gnade ihrer eigenen Streitkräfte. Wenn die politischen Parteien oder Gruppen einander nicht tolerieren, machen die Armeen die Politik zum Anhängsel ihrer internen Rivalitäten. Die seit 1930 in Argentinien zu beobachtende Dauerkrise zeigt sehr deutlich, was politische Unsicherheit bedeutet und wie ein Land einer Armee ohne militärische Existenzberechtigung untertan werden kann.

Die soeben skizzierten Verhältnisse entsprechen zwar der Wirklichkeit, aber sie sind noch keine hinreichende Erklärung für die immer wieder zu beobachtende Einmischung der Armee in das politische Leben. Die Armee wird einfach in die politische Arena hineingezogen, weil sie nicht umhin kommt, eine Rolle zu spielen, die keine andere Institution zu spielen vermag. Die Revolution, die Brasilien unlängst erlebte, ist ein illustratives Beispiel dafür. Die wiederholten Klagen des Generals Aramburu, daß er keine verantwortungsbewußte zivile Partei finden könne, die geeignet sei, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen, hätten seit dem Sturz Perons auch in Argentinien nur zu sehr ihre Berechtigung gehabt. Meist sind die Armee und die Kirche die einzigen Institutionen, die über eine funktionierende überregionale Organisation und Nationalbewußtsein verfügen.

Fehlen festgefügter politischer Parteien

Die politischen Parteien sind wegen ihrer Bindung an eine Führerpersönlichkeit meist nur kurzlebig. Sie haben nur regionale Bedeutung und repräsentieren in der Regel besondere Interessengruppen oder traditionelle Familienclans. Natürlich gibt es einige wenige Ausnahmen. Sogar in Venezuela, wo die Regierung trotz großer Schwierigkeiten ihre Fähigkeit zum überleben bewiesen hat, ist die „Acciön Democratica" eine Partei, die Romulo Betancourt allein aufgebaut hat. Ob sie ihn überdauern wird, bleibt abzuwarten. Das gilt auch für die Partei seines Hauptopponenten Dr. Raiael Caldera, die Christlich-Demokratische Partei Venezuelas. Die Partei als unpersönliche, überregionale und repräsentative Organisation, die vielen Interessen Raum bietet, sich auf eine breite Basis stützt und vom Geschick ihres jeweiligen Führers unabhängig ist, ist in den Ländern südlich des Rio Grande nur ganz selten anzutreffen. Die Armee hingegen spielt eine politische Rolle, weil sie im großen und ganzen die einzige nationale Institution darstellt, die in Krisenzeiten in der Lage ist, die Macht auszuüben. Das klingt fast wie ein Loblied, soll aber nur die tatsächlichen Verhältnisse charakterisieren. Nur die Armee konnte Peron zu Fall bringen und Goulart daran hindern, sich zu einem — wahrscheinlich kommunistisch inspirierten — Diktator zu entwickeln. Das durch das Fehlen starker, im Volk verwurzelter Parteien bedingte politische Vakuum ist Erklärung und Ursache für die aktive Beteiligung der Armee an den politischen Angelegenheiten des Landes. Ein bequemer Ausweg aus dieser Situation ist nicht erkennbar. Insbesondere gibt es keinen Zaubertrick, mit dem die Armee von der politischen Bühne entfernt werden könnte, sofern und solange ihre gegenwärtige politische Rolie nicht von einer anderen Institution übernommen wird

Abhängigkeit von persönlichen Loyalitäten

Damit sind jedoch erst einige der Bedingungen für jenes „ambiente" genannt, mit dem sich die Verwaltung allenthalben auseinanderzusetzen hat. Es gibt noch andere, das Zustande-kommen einer gut funktionierenden Verwaltung hemmender Faktoren, die — wenngleich nicht von derselben politischen Relevanz — nicht minder wichtig sind.

Da ist zunächst einmal die unaufhörliche Wanderschaft von Job zu Job und von Ministerium zu Ministerium. Ich möchte dies anhand eines Beispiels aus meinem Bekanntenkreis erläutern. Vor einigen Jahren fragte ich einen meiner mexikanischen Freunde, der heute ein sehr hohes Amt innehat, wo ich ihn wohl bei meinem nächsten Besuch in Mexiko antreffen würde. Bis dahin hatte er jedesmal in einer anderen Regierungsbehörde gesessen. Einmal in der Liegenschaftsabteilung des statistischen Landesamtes, ein anderes Mal in der Eisenbahnverwaltung, dann in der Steuer-abteilung des Schatzministeriums und endlich an einflußreicher Stelle im Volksbildungsministerium. Seine völlig ernst gemeinte Antwort auf meine Frage lautete: „Ich werde entweder im Kabinett oder im Zuchthaus sein. So oder so, es wird reiner Zufall sein."

Die Runde durch die Ministerien zu machen, ist bei den Staatsbeamten vieler Länder durchaus üblich. Dies Verfahren mag unter Bildungsaspekten seine Vorteile haben, aber es ist recht teuer. Zur Hebung des Wirkungsgrades der Verwaltung ist es kaum zu empfehlen. Man kann das Phänomen der Wanderung von Posten zu Posten auf verschiedene Weise erklären, aber irgendwie steht es mit der Instabilität und den ständigen Umgruppierungen des Kabinetts in Zusammenhang.

Bei seinem Streben nach politischer Sicherheit sieht sich der Präsident gezwungen, sich bei jeder heraufziehenden Krisis nach zusätzlicher Unterstützung umzusehen. Dazu nimmt er eine Kabinettsumbildung vor. Jeder neue Minister bringt seinen eigenen Troß loyaler Gefolgsleute mit, weil er ebenso wie der Präsident auf die absolute Loyalität seiner Untergebenen angewiesen ist. Ich habe selbst beobachtet, wie beim Umzug des Landwirtschaftsministers in das Außenministerium sogar der Pförtner mitgenommen wurde. Die große Familie, der „compadre", der Schulfreund — alles, was zu einer solchen vollständigen, bürokratischen Clique gehört, wandert gemeinsam. Wo der eine hin geht, gehen auch die anderen hin. Wenn einer Minister wird, werden alle anderen in seinem Ministerium untergebracht. Wenn ein Minister jäh entlassen wird, was nicht selten passiert, und ein anderes Mitglied des betreffenden Beamtenclans einen wichtigen Posten erhält, dann folgen alle nach — auch das ehemalige Kabinettsmitglied. Irgendwie gelingt es diesen Gruppen immer, für jeden ihrer Leute einen Job zu finden und die Veränderungen in der Verwaltung zu überleben. Voraussetzung ist meist nur, daß die Partei am Ruder bleibt. Bei einem Wechsel der Regierungspartei übernimmt eine andere Besatzung die Posten und Ämter, um ihrerseits das Spiel des Wechsels von Ministerium zu Ministerium zu betreiben.

Die Regierungspartei besteht aus einem großen Führer und einer Anzahl geringerer Führer, deren jeder seine eigene Gefolgschaft hat. Diese repräsentiert die Familie oder den Landesteil und genügt den besonderen Traditionen, die die betreffende Gruppe in die Partei gebracht haben und ihr eine Rolle in der Regierung sichern. Immer handelt es sich um die Bewegung ganzer Gruppen und nicht um die Bewegung von Einzelpersonen. Unter diesen Umständen sind Loyalität und Freundschaft wichtiger als Tatkraft, Fähigkeiten und Beamtenethos.

Die Rolle des Familienclans

In einer Atmosphäre politischer Unsicherheit, die die persönlichkeitszentrierte Regierung unvermeidlich macht, ist dies nur natürlich.

Wollte man sich etwas anderes vorstellen, wäre die herbe Ernüchterung unausbleiblich.

Das ist jedoch nur eine Seite des Problems.

Die andere Seite ist die Familie, die nicht etwa nur die Blutsverwandtschaft, sondern auch die „compadres" und Freunde dieser Gruppe umfaßt. Das Familieninteresse hat Vorrang vor den öffentlichen Belangen oder wird diesen kurzerhand gleichgesetzt. Es ist undenkbar, daß ein bedürftiger Verwandter ohne geeigneten Job ist. Die Familie ist der Anfang und die Grundlage jeder Karriere und jeglicher sozialer Sicherheit. In einer Welt voller Ungewißheit bietet sie den einzig verläßlichen Rückhalt. Wenn die Position in der Regierung verlorengeht, wenn Gefahr im Verzüge oder das Leben selbst bedroht ist, bietet die Familie mit ihren Gliedern und Freunden das allein zuverlässige Bollwerk und Verteidigungsmittel. In einer autoritären, von kleinen Familien-gruppen beherrschten Gesellschaft ist das unvermeidlich. Nur in einem Industriemilieu mit einer fast unbegrenzten Vielfalt an beruflichen Fortkommensmöglichkeiten kann die Familie allmählich die Gewalt über ihre Mitglieder verlieren. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, daß das Industriemilieu Voraussetzung für eine erfolgreich arbeitende Verwaltung ist, in der das Leistungsprinzip gilt. Eine Alternative für die vielseitige Mittel-klasse als Grundlage eines funktionierenden Leistungssystems ist das Vorhandensein wohlhabender Familien, in denen der Dienst am Staat traditionell als Ehrenpflicht und Auszeichnung und nicht so sehr als Erwerbsquelle verstanden wird. Auch unter diesen Bedingungen ist ein ehrbares und redliches Beamtentum möglich. In einer autoritären Gesellschaft mit einer an Land armen Aristokratie hingegen, in der der Staatsdienst fast die einzige gute Verdienstmöglichkeit und die Staatsstellung das Vorrecht und Ziel der Mitglieder der Regierungspartei ist, gewinnt die Familie unweigerlich Einfluß auf den Beamtenapparat.

Außenstehende und Hypokriten mögen dies als Vetternwirtschaft anprangern; für die Betroffenen ist dieser Zustand, gleichgültig ob gut oder schlecht, notwendiges Attribut der Regierung, weil unter den gegebenen Umständen nichts anderes möglich ist. Es ist interessant, darüber zu philosophieren, wie die Regierung eigentlich beschaffen sein sollte, aber bei der gegenwärtigen Sachlage kann sie nur existieren, wenn die Kabinettsmitglieder untereinander loyal und vertrauenswürdig und gleichsam Glieder einer großen Familie sind.

Diese Betrachtungen lassen die Idee einer wissenschaftlich fundierten Verwaltung ziemlich utopisch erscheinen. Aber man muß die Realitäten sehen, wie sie sind, und dann überlegen, was man darauf aufbauen kann. Die Realitäten sind indessen noch komplexer und schwerer durchschaubar, als das bisher Gesagte vermuten läßt.

Die niedrigeren bürokratischen Ränge werden so schlecht bezahlt, daß sie mehrere Funktionen gleichzeitig übernehmen müssen, um ihre steigenden Bedürfnisse befriedigen zu können. Es ist kein Geheimnis, daß ein Universitätsprofessor zusätzliche Einnahmequellen braucht. Er betreibt nebenher eine Anwalts-oder Arztpraxis, er betätigt sich als Buchprüfer oder freier Ingenieur oder hat eine Funktion in der Regierung. Nur in den seltensten Fällen widmet er sich ausschließlich seiner Lehrtätigkeit. Zugegeben, daß die Lage der Universitäten durch ihre Abhängigkeit von nebenberuflichen Dozenten kompliziert wird und daß der Tag herbeizuwünschen ist, an dem sich die Universität einen auskömmlich bezahlten Lehrkörper leisten kann. Grundsätzlich ähnlich, aber noch schlechter liegen die Dinge im öffentlichen Dienst. Viele Beamten sind darauf angewiesen, sich zwei oder drei oder noch mehr Posten zu suchen, um finanziell gesichert zu sein. Im Verlauf eines Tages gehen sie erst ihren Verpflichtungen in zwei Ministerien nach, geben dann an irgendeiner Schule Unterricht und eilen schließlich nochmals ins Amt oder in irgendeine Firma. Derlei Beschäftigungsverhältnisse findet man bei den Beamten in vielen lateinamerikanischen Ländern. Hier eine Änderung zu schaffen, ist ein echtes Problem. Bessere Bezahlung, größere Sicherheit der Anstellung, bessere Fachausbildung und ein gewisser Stolz auf den Staatsdienst würden sich ohne Frage günstig auswirken.

Aber ich bin nicht sicher, daß damit schon eine durchgreifende Änderung bewirkt wäre. In den meisten Fällen scheint nämlich die Sondertätigkeit nicht nur eine Vergünstigung für den Ausübenden, sondern auch ein von ihm gewährter Freundschaftsdienst zu sein. Außerdem spielt wohl auch das Sozialprestige eine Rolle. Es mag auch der Wunsch vorhanden sein, mehrere Rollen zu spielen, viele verschiedene Tätigkeiten auszuüben und überall Freunde und Verbindungen zu haben. Ich bezweifle, ob die Beseitigung der Vielbeschäftigung bereits die gesellschaftlichen Verhältnisse bessern oder das Beamtentum läutern würde. Möglicherweise wäre es nicht richtig, die Konzentration der Beamten auf ein enges bürokratisches Tätigkeitsgebiet allzusehr anzustreben.

Korruption

Dies bringt mich zu dem letzten und zugleich schwierigsten Punkt. Ich meine die Korruption, die in Mexiko als „mordida" und in den Vereinigten Staaten als „graft" bezeichnet wird.

In den Vereinigten Staaten gibt es dagegen ein Heilmittel: Auf Korruption steht Gefängnis. Bei allen Unzulänglichkeiten ist dies eine herzerfrischende Tatsache. Das bedeutet nicht, daß alle Beamten unbedingt redlich sind, aber es bedeutet, daß es ein gerichtliches Nachspiel, eine öffentliche Untersuchung, ein Presseecho und Auswirkungen bei den nächsten Wahlen gibt. Alles in allem ist die Verwaltung in den Vereinigten Staaten relativ sauber und ist in dieser Hinsicht nicht schlechter, sondern besser geworden. Wenn man bedenkt, daß in den USA in den letzten 100 Jahren über 50 Millionen Einwanderer wahlberechtigt wurden, ist dies eigentlich erstaunlich, denn die politischen Maschinen konnten sich mit Leichtigkeit der Einwanderer bedienen, um korrupte Beamte auf ihrem Posten zu halten. Aber die Rechtsprechung hat die Entwicklung zu einer redlichen Verwaltung nachhaltig begünstigt.

Von Lateinamerika in seiner Gesamtheit kann man das leider nicht sagen. Es gibt zwar auch dort einige Länder, in denen Unredlichkeit im öffentlichen Dienst praktisch unbekannt und andere, in denen sie selten ist. Aber im Fall Von Kuba ist seit der Unabhängigkeit die Korruption der Regierungen unter Grau. San Martin und Pio Socarras notorisch, ganz zu schweigen von Batista, unter dessen Herrschaft einige Kabinettsmitglieder per Aktentasche Millionenbeträge außer Lande gebracht und zum Erwerb von Hotels in Miami verwendet haben sollen. Weitere Beispiele sind die Berichte, die wir alle über die Administration unter Peron, Rojas Pinilla und Perez Jimenez gehört haben. Wollte man den Berichten in vollem Umfang glauben, müßte man meinen, daß die Veruntreuung öffentlicher Gelder in manchen Ländern bis hinunter zu den kleinsten Beamten die Regel ist.

Als ich mit dem Präsidenten einer der lateinamerikanischen Republiken über dies Problem sprach, waren wir uns darin einig, daß es vielerorts bestehe und daß die Frage sei, was man dagegen tun könne. Der Präsident erklärte dazu folgendes: „Jeder, der für die Regierung arbeitet, weiß, daß er im Entlassungsfall so schnell keinen neuen Posten finden würde. Folglich handelt er nach der Devise , aprovechar de la oportunidad'. Würde ich sie alle entlassen, würden die neuen Leute sich noch unsicherer fühlen und nur um so mehr stehlen. Deshalb kann ich sie nur ermahnen, mit Maßen zu nehmen, indem ich sage , que roben con conciencia’." öffentliche Untersuchungen von Korruptionsaffären kommen in den lateinamerikanischen Ländern selten vor. Jeder weiß, was gespielt wird und gibt seinen Kommentar, aber niemand geht gerichtlich gegen diese Praktiken vor. Der Grund scheint mir darin zu liegen, daß der Präsident es nicht riskieren kann, sich mit seinen Freunden oder gar mit seinen Familienmitgliedern zu Überwerfen, weil seine Macht von ihrer Loyalität abhängt und weil sie die Stützen seiner Partei sind.

Diese Erklärungen für Korruption und Unredlichkeit im Staatsdienst sind unzulänglich. Man muß sich aus dem bisher Gesagten das ganze Milieu vergegenwärtigen, in dem sich diese Dinge abspielen, und zumindest noch eines berücksichtigen, was bisher nicht erwähnt wurde: Ich meine den unzureichenden Schutz durch das Zivil-und Strafrecht. Nicht daß die Gesetze unzulänglich wären; es liegt nur daran, daß die Gerichtsbarkeit ständig vor den Freunden und Mitgliedern der Regierung Verbeugungen macht. Denken wir nur an die notorischen Fälle von Rechtsbeugung zugunsten der Freunde und Träger des Regimes unter Trujillo, Batista, Peron, Perez Jimenez, Rojas Pinilla usw. Auch in einigen Ländern mit „demokratischen" Regimes liegen die Verhältnisse ganz ähnlich. Die Polizei ist nicht überall der unparteiische Arm des Gesetzes. Nicht selten ist sie statt dessen das Instrument der Regierung zum Schutz der Favoriten und der Mächtigen mit ihren Familien und Freunden.

Regierung muß sieh auf allgemeinen Konsensus stützen

Das bringt uns zurück zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen: Wie kann die Regierung unabhängig von persönlichen Loyalitätsbeziehungen legitimiert werden? Wie kann eine politische Partei geschaffen werden, die nicht vom Staatsoberhaupt kontrolliert wird? Wie kann erreicht werden, daß eine Persönlichkeit auf eine bestimmte Zeit gewählt wird und die Möglichkeit erhält, die Exekutivgewalt auf legalem und friedlichem Wege an einen anderen weiterzugeben? Und wie läßt sich ein wirksames und unabhängiges System politischer Parteien entwickeln? Solange diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, muß die Regierungsgewalt notwendig in den Händen einer Person konzentriert sein, die ihre Wahl erzwingen kann und die Rolle des obersten Administrators übernimmt. Solange es hier keine Änderung gibt, ist die Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative undenkbar. Und ohne eine unabhängige Überwachungsinstanz für die Legislative und eine gleichermaßen unabhängige richterliche Revisionsinstanz wird es sehr schwer sein, zu einem sauberen und wirksamen öffentlichen Dienst zu gelangen. Zur unparteiischen Anwendung der Gesetze und zur wahren Gerechtigkeit braucht es eine Regierung, die sich auf einen allgemeinen Konsensus stützt und von der steten Furcht vor Rebellionen befreit ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In Venezuela gilt dies als bedeutendes Ereignis und als Wendepunkt der politischen Geschichte des Landes.

  2. Die politische Situation im heutigen Mexiko und auch in Kolumbien ist zu kompliziert, als daß man diese Länder in diese Verallgemeinerung einbeziehen könnte.

Weitere Inhalte

Frank L. Tannenbaum, Professor für Wirtschaftswissenschaften und politische Wissenschaften an der Columbia-Universität, New York, mehrfach Gastprofessor in Brasilien, Peru, Mexiko. Veröffentlichungen u. a,: Slave and Citizen, 1947; Mexico, 1948; American Tradition in Foreign Relations, 1955; Ten Keys to Latin America, 1959 (deutsch: Lateinamerika, Stuttgart 1963).