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Plädoyer für eine neue atlantische Allianz | APuZ 39/1966 | bpb.de

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APuZ 39/1966 Plädoyer für eine neue atlantische Allianz

Plädoyer für eine neue atlantische Allianz

Henry A. Kissinger

Überprüfung der NATO-Konzeption unvermeidlich

Die gegenwärtige Krise der NATO wurde ausgelöst durch eine einseitige, kategorische Forderung Frankreichs. Es wäre falsch, daraus zu folgern, daß die Verhältnisse so hätten bleiben können, wie sie sich nach dem Kriege herausgebildet hatten. Der Austritt Frankreichs aus den integrierten Kommandos erzwang eine Überprüfung der Struktur und der Ziele des Bündnisses, die in jedem Falle unvermeidlich war — wenn auch Frankreichs Taktik sicherlich die Atmosphäre verschlechterte.

Es ist gut, sich zunächst dreierlei klarzumachen. Erstens: Die augenblickliche Krise ist eine Familienangelegenheit. Es geht dabei um interne Abmachungen zwischen eng miteinander verbundenen Völkern. Frankreich ist nicht grundsätzlich unser Gegner in der Welt; die Wirklichkeit setzt der Zwietracht unter den Bundesgenossen objektive Grenzen, sofern nicht die Staatsmänner überall ihr Urteil von ihren Leidenschaften übertönen lassen.

Zweitens: Die augenblickliche Krise bezeichnet das Ende einer Phase der amerikanisch-europäischen Beziehungen, die mit dem Hilfsprogramm für Griechenland und die Türkei begann und über den Marshall-Plan zum Ab-

Schluß des atlantischen Bündnisses führte. Nichts kann den früheren Zustand wiederherstellen. Das sollte in vieler Hinsicht ein Anlaß zu Freude sein und nicht zu Verbitterung. Ziele, die Ende der vierziger Jahre visionär erschienen, sind im wesentlichen erreicht. Europa hat sich wirtschaftlich erholt und viel an politischer Vitalität gewonnen. Der Gedanke an einen drohenden Überfall beherrscht nicht mehr das Denken der Menschen.

Drittens — und das steht in einem gewissen Widerspruch zu dem eben Gesagten —: Europa hat sich zwar erholt, steht aber noch nicht ganz fest auf den Beinen. Viele halten seine Vitalität für beständig und sehen das Hauptproblem darin, sein Selbstbewußtsein zu zügeln. Es ist jedoch noch nicht lange her, da herrschte in Europa statt der Tatkraft, die heute so ins Auge fällt, der Nihilismus; das europäische Selbstvertrauen ist noch labil. Sowohl die Gefahr eines übersteigerten Nationalismus als auch die einer neuen Form von Neutralismus zu vermeiden, das ist die Aufgabe, vor welcher die Allianz steht.

Die Außenpolitik kennt keine Hochebene. Wo nicht nach neuen Wegen gesucht wird, da beginnt bald der unerbittliche Abstieg. Es wäre ein Phänomen ohne geschichtliches Beispiel, wenn eine in den späten vierziger Jahren entwickelte Politik für die siebziger Jahre gültig bliebe. Die ursprüngliche Konzeption der NATO war richtig für die damalige Lage. Den gegenwärtigen Aufgaben wird sie nicht mehr gerecht. Was wir heute brauchen, ist eine ähnliche Kühnheit der Phantasie wie damals vor zwei Jahrzehnten.

Der amerikanische Standpunkt

Jeder Versuch, die amerikanische Politik in ein paar Sätzen zusammenzufassen, verzerrt zwangsläufig die Dinge. Hier soll nur eine herrschende Richtung gekennzeichnet werden, an die man sich bald mehr, bald weniger konsequent gehalten hat. 1. Bekenntnis zu einer atlantischen Gemeinschaft auf der Grundlage gleichberechtigter Partnerschaft.

Die Vereinigten Staaten unterstützten den Gedanken einer gleichberechtigten Partnerschaft zwischen sich und Europa. Dieser „Große Plan" — mitunter durch das Bild der „Hantel" oder der „zwei Pfeiler" veranschaulicht — beruht auf der Annahme, daß eine atlantische Partnerschaft unsere europäischen Verbündeten in den Stand setzen würde, einen gerechteren Anteil unserer weltpolitischen Verantwortung mitzuübernehmen. 2. Unterstützung eines Vereinigten Europas auf föderativer Grundlage.

Als Voraussetzung für die Bildung einer atlantischen Gemeinschaft betrachten die Planer der amerikanischen Politik die europäische Einheit. Ein politisch und wirtschaftlich integriertes Europa würde ein gleichberechtigter Partner der Vereinigten Staaten werden und mit uns die Lasten und Verpflichtungen der weltpolitischen Führungsrolle teilen. Nach Ansicht ihrer amerikanischen und europäischen Befürworter kann eine solche Partnerschaft nur in der Weise zustande kommen, daß sich ein politisch geeintes Europa eng mit den Vereinigten Staaten zusammenschließt. Um die Einheit Europas zu verwirklichen, gibt es nach dieser Ansicht gleichfalls nur eine Lösung: supranationale föderative Institutionen, die von einem europäischen Parlament kontrolliert werden. Von amerikanischer Seite ist oft erklärt worden, weniger Einheit sei überhaupt keine Einheit. 3. Integrierte Verteidigung.

Während die Vereinigten Staaten auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet das Zwei-4

Pfeiler-Konzept vertreten, bestehen sie auf integrierter militärischer Verteidigung. Dieses Verhalten ist teils Ausdruck der Überzeugung, daß angesichts der modernen Waffen die Verteidigung unteilbar ist, teils entspringt es unserer besonderen Verantwortung auf dem Gebiet der Kernwaffen: fünfundneunzig Prozent des nuklearen Arsenals der Allianz gehören den Vereinigten Staaten. Nur diejenigen Verbündeten, auf deren Gebiet Kernwaffen stationiert sind, nehmen an ihrer Kontrolle teil, und auch sie nur in negativer Form: Sie können verhindern, daß diese Waffen abgefeuert werden, aber weder können sie die Amerikaner veranlassen, sie abzufeuern, noch können sie sie daran hindern, auf anderswo stationierte Kernwaffen zurückzugreifen.

Schließlich bestehen die Vereinigten Staaten auf zentraler Kommandoführung und zentraler Kontrolle der Kernwaffen in der Allianz. Sie haben sich bemüht, den wirklichen oder eingebildeten Sorgen ihrer Verbündeten durch verschiedene Mittel abzuhelfen, von der Schaffung einer neuen nuklearen Streitmacht (entweder in Form einer multilateralen oder einer atlantischen Streitmacht) bis zum NATO-Sonderausschuß, dem sogenannten McNamara-Ausschuß. (Das Kernwaffenproblem wird weiter unten ausführlich behandelt.)

Die Politik der Vereinigten Staaten hat den Vorteil, ein klar umrissenes Konzept zu bieten. Im Anfangsstadium der atlantischen Allianz gab sie den entscheidenden Anstoß zur Gesundung Europas. Ihr Hauptmangel liegt nicht darin, daß sie falsch wäre, sondern daß zuweilen ein Modell, neben dem noch andere denkbar sind, als das einzig mögliche hingestellt wurde. Geht man zu theoretisch und schematisch an die Dinge heran, so läuft man Gefahr, die Fühlung mit der heutigen europäischen Wirklichkeit zu verlieren.

Bei allem Idealismus ist dem amerikanischen Standpunkt von jeher eine gewisse Inkonsequenz eigen. Die Vereinigten Staaten betrachB ten den Nationalstaat in den Entwicklungsländern als etwas Natürliches und setzen große Hoffnungen darauf, daß der Nationalismus in Osteuropa sich als Gegengewicht zum Kommunismus erweisen möge. Aber in Westeuropa, wo der Begriff des Nationalismus seinen Ursprung hat, verdammt die amerikanische Politik den Nationalstaat als überholt und rückständig.

Wenn ferner die Vereinigten Staaten ihre föderativen Institutionen als Beispiel hinstellen, das überall nachgeahmt werden könne, so ignorieren sie damit jene Faktoren, die der amerikanischen Entwicklung ihren ganz besonderen Charakter verleihen. Die amerikanische Union entstand auf einem neuen Kontinent und wurde von Staaten mit gemeinsamer geschichtlicher Erfahrung gebildet. Die amerikanischen Kolonien hätten zusammen für ihre Freiheit gekämpft. Sie waren ungefähr gleich groß. Sie kannten nicht die Tradition einer souveränen Außenpolitik. Ihre Bewohner wurzelten in der gleichen Kultur und sprachen die gleiche Sprache.

Ganz anders sieht es in Europa aus. Jeder europäische Staat ist das Produkt einer viel-hundertjährigen Geschichte. Oft wurde sich eine Nation ihrer Identität in dem Maße bewußt, wie sie sich von ihren Nachbarn unterschied. Viele Ländern mußten sich ihre Unabhängigkeit in langen Kämpfen gegen die Vorherrschaft anderer europäischer Staaten erringen. Mit anderen Worten: Die geschichtlicht Entwicklung prägte die Sonderzüge jeder europäischen Nation sehr stark aus. Es ist kein Zufall, daß ein föderativer Aufbau hauptsächlich von kleineren Ländern befürwortet wird, die daran gewöhnt sind, unter dem Schutz einer größeren Macht zu leben, sowie von Ländern wie Westdeutschland und Italien, die ihrer Vergangenheit entfliehen möchten. Frankreich und Großbritannien, die Länder mit der längsten Geschichte als Nationalstaaten, streben folgerichtig keine föderative, sondern eine konföderative Lösung an. Es ist eine weitere Inkonsequenz der amerikanischen Politik, daß sie mit großem Eifer den Anschluß Großbritanniens an Europa, zugleich aber eine föderative Struktur empfiehlt, die für London ebenso unannehmbar ist wie für Paris.

Ohne Präsident de Gaulle wären diese Probleme vielleicht noch viele Jahre in der Schwebe geblieben; freilich hätte man ihnen, das ist meine Überzeugung, früher oder später doch zu Leibe rücken müssen. Bewußt, rücksichtslos, oft zynisch die amerikanischen Inkonsequenzen ausnutzend, hat Präsident de Gaulis eine ganz andere Auffassung von atlantischen Beziehungen und europäischer Einheit proklamiert.

Die gaullistische Konzeption

De Gaulles Methoden mögen herausfordernd, seine Taktiken rücksichtslos sein, aber mehr als andere Staatsmänner muß man ihn in historischer Perspektive sehen. Denn seine Politik spiegelt eine tiefe Kenntnis der Leiden seines Volkes im Zeitraum einer Generation wider. Wenige Länder haben so viel erdulden müssen wie Frankreich, seit es im Ersten Weltkrieg einen großen Teil seiner jungen Generation verlor. Das siegreiche Frankreich wußte 1918 besser als irgendeiner seiner Bundesgenossen, wie nahe es der Niederlage gewesen war. Die überlebenden jener Katastrophe ahnten, daß Frankreich eine zweite Prüfung wie die, die es eben hinter sich gebracht hatte, nicht bestehen konnte. Seiner Jugend beraubt, voll Furcht vor dem geschlagenen Gegner und in dem Gefühl, von seinen Verbündeten mißverstanden zu werden, erlebte Frankreich in der Zeit zwischen den Kriegen eine fast ununterbrochene Kette von Enttäuschungen. Der Zusammenbruch von 1940 war ebensosehr moralischer wie militärischer Natur. Aus dem Zweiten Weltkrieg ging Frank-B reich zwar als eine der Siegermächte hervor, aber seine Führer wußten trotz aller Rhetorik, vielleicht gerade deswegen, daß es im wesentlichen durch die Anstrengungen anderer gerettet worden war.

Abermals brachte der Friede keine Atempause. Die Regierungen der Vierten Republik waren ebensowenig stabil wie die der Dritten; hinzu kam diesmal noch der peinvolle Prozeß der Dekolonisierung. Die 1940 gedemütigte französische Armee war kaum wiederaufgestellt, als sie sich in zwei entmutigende Kolonial-kriege einlassen mußte, die zusammen fast zwei Jahrzehnte dauerten und beide mit Niederlagen endeten.

Präsident de Gaulles barsche Taktik erweckt manchmal den Eindruck, als gehörte ein mächtiges, selbstbewußtes Frankreich seit eh und je zum Bild der Nachkriegslandschaft. Es ist fast vergessen, daß Frankreich zwischen 1958 und 1962 dreimal am Rande des Bürgerkriegs gestanden hat. So erfolgreich war de Gaulles Tour de force, daß man, nach dem Verhalten seiner Kritiker zu urteilen, annehmen könnte, für Europa gebe es nur das eine Problem, Frankreich in seinem übersteigerten Selbstgefühl zu zügeln — ein Gedanke, auf den vor fünf Jahren kein Mensch gekommen wäre. In einem gewissen Sinne könnte man also sagen, daß de Gaulle ein pädagogisches Ziel verfolgt: Er will sein Land und seinen Kontinent lehren, unabhängig und voll Selbstvertrauen aufzutreten. Das ist ein Akt von historischer Bedeutung, der vollkommen in Einklang mit den langfristigen Interessen Amerikas steht, wie schroff und ärgerlich die Methoden auch sein mögen, durch die er vollzogen wird.

Das Streben, sich mehr auf die eigene Kraft zu verlassen, macht de Gaulle mißtrauisch gegen Integration auf jedem Gebiet, besonders aber auf dem militärischen. Er glaubt, daß Länder, die für ihre Verteidigung nicht unmittelbar selbst verantwortlich sind, auf längere Sicht nicht die notwendigen Anstrengungen unternehmen. Dieser Zustand führt seiner Meinung nach zu einem wachsenden Gefühl der Ohnmacht und der Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten. Während die Vereinigten Staaten den Nationalstaat für überlebt halten, bekräftigt de Gaulle leidenschaftlich seine ungeschmälerte Bedeutung. Während die Vereinigten Staaten und viele Europäer ein geeintes Europa mit föderativem Aufbau schaffen wollten, denkt de Gaulle, wenn er von Europa spricht, an Vereinbarungen zwischen Regierungen. Während die Vereinigten Staaten geneigt sind, Einheit mit formalen juristischen Verpflichtungen gleichzusetzen, legt de Gaulle den Akzent auf Interessen und Gleichgewicht. Er besteht auf Autonomie in nuklearen Fragen, und seit kurzem ist er nicht mehr weit davon entfernt, Handlungsfreiheit im Gesamtbereich der Verteidigung zu beanspruchen. Einst Fürsprecher eines zwar autonomen, aber konföderierten Europas, scheint er jetzt die Möglichkeit einer deutsch-französischen Zusammenarbeit, die für dieses Projekt entscheidend wäre — und für deren Scheitern viele hochgestelle Franzosen amerikanischen Druck verantwortlich machen —, nicht mehr sehr hoch einzuschätzen. Er hat deshalb erste Andeutungen im Sinne der klassischen russisch-französischen Verständigung gemacht. Welches auch seine Motive sein mögen — statt für die Einheit Westeuropas einzutreten, verkündet de Gaulle jetzt die Vision der Einheit ganz Europas. Er macht sich zum Wortführer einer Lockerung der Spannungen zwischen Ost und West.

De Gaulles schroffe, einseitige Taktik verführt seine Gegner oft dazu, sich nur mit den Symptomen herumzuschlagen, die eigentlichen Probleme aber zu übersehen. Ganz gleich, was wir von seinen Antworten halten, so hat er doch Fragen gestellt, die der Westen nicht umhin kann zu beantworten.

Sein Satz, daß ein politisches Gebilde erst einmal sich selbst etwas bedeuten muß, ehe es anderen etwas bedeuten kann, ist richtig.

Es wäre überdies verkehrt, de Gaulle als völlig isoliert hinzustellen. Viele Europäer sind der gleichen Meinung wie er — besonders in Fragen der NATO und der Ost-West-Beziehungen —, sagen es aber nicht offen, weil sie zu sehr an den alten Zustand gewöhnt sind. Einige seiner Kritiker bekämpfen ihn aus innen-, nicht außenpolitischen Gründen; das zeigen zum Beispiel die jüngsten Aktionen seines Herausforderers bei den Präsidentschaftswahlen, Francois Mitterrand. Andere vertreten eine Form von Atlantizismus, die nahezu darauf hinausläuft, alle Verantwortung den Vereinigten Staaten aufzubürden. Man kann wohl der Ansicht sein, daß es ohne de Gaulle beim früheren Zustand geblieben wäre; jetzt jedoch ist dieser nicht mehr wiederherzustellen, auch wenn de Gaulle einmal abgetreten sein wird.

Zugleich schadet de Gaulle durch seinen herrischen Stil häufig seinen eigenen Bestrebungen. Der Mensch wird nicht allein von Vernunft regiert. Aus der Rückschau mag die Geschichte unvermeidlich erscheinen, aber sie wird von Menschen gemacht, die nicht immer ihre Emotionen und ihre Analyse klar von-voneinander zu trennen wissen. Die Schärfe, mit der de Gaulle auf geistiger Unterwerfung unter seine Grundsätze besteht, und die Starrheit, mit der er einen extremen Begriff von Souveränität verteidigt, haben ihm selbst jene zu Gegnern gemacht, die gleich ihm nach größerer Selbständigkeit Europas streben. Seine Taktik erweckt den Eindruck, als wünsche er die Selbständigkeit nicht, um die Einheit des Westens zu fördern, sondern um eine Politik betreiben zu können, die der Politik der Vereinigten Staaten zuwiderläuft, wenn nicht gar feindlich ist. De Gaulle mag recht haben mit seiner Forderung nach einer größeren Rolle für Europa; aber seine Weigerung, über den Rahmen des Nationalstaats hinauszugehen, hindert ihn daran, diese Einsicht in die Wirklichkeit umzusetzen. Das kann sich als die Nemesis seiner Politik erweisen.

Das Deutschland-Problem

Das eigentliche Opfer der gegenwärtigen Spaltung in der atlantischen Allianz ist die Bundesrepublik Deutschland. Frankreich sucht sie auf einen „europäischen" Kurs zu drängen, Amerika auf einen „atlantischen"; der Einheit zu-liebe soll sie sich bald fest, bald nachgiebig zeigen; man erwartet von ihr Hilfe beim Ausgleich der Zahlungsbilanzen; sie ist der tragende Pfeiler in jedermanns Konstruktion und für viele ein Gegenstand der Sorge. Bei alledem ist die Bundesrepublik in Gefahr, die seit dem Krieg so mühsam und so verantwortungsbewußt errungene Stabilität wieder zu verlieren. Denn der Schein der Ausgeglichenheit und Solidität, dem es Nachkriegsdeutschland verdankt, daß es ständig umworben wird, dieser Schein trügt. Jeder Deutsche, der älter als fünfundfünfzig Jahre ist — und das gilt für alle führenden Persönlichkeiten —, hat drei Revolutionen erlebt. Er hat vier verschiedene Regimes kennengelernt, von denen sich jedes als moralischen Gegensatz seines Vorgängers verstand. Er hat zwei verlorene Welt-kriege und zwei katastrophale Inflationen mitgemacht. Jeder Deutsche über vierzig hat die Nazizeit, den Zweiten Weltkrieg und den Zusammenbruch miterlebt. Deutschland hat zu viele Schocks, zu viele Brüche in seiner historischen Kontinuität erlitten, als daß es anhaltenden Druck ertragen könnte. Zur gleichen Zeit, da sich großer nationaler Wohlstand entwickelte, ging die nationale, politische und territoriale Integrität verloren. Die Ungereimtheit dieser Situation trägt bei zur Unsicherheit der deutschen Führungsgruppen, hinter deren Legalismus in der Politik sich oft ein Mangel an Selbstvertrauen verbirgt.

Dieses Unsicherheitsgefühl ist von zentraler Bedeutung. Die Deutschen sehnen sich danach, der Qual der Wahl enthoben zu sein. Ihr Alpdruck ist, daß Deutschland wieder in jene Isolierung geraten könnte, die zur Folge hatte, daß es sich fast während seiner ganzen nationalen Geschichte an allen seinen Grenzen, im Osten wie im Westen, feindseligen Mächten gegenübersah. Sollte diese Situation wiederkehren, so könnte die deutsche Unruhe dramatische Formen annehmen. Wenn die Bundesrepublik zum Brennpunkt aller europäischen Spannungen wird, dürfte sich die Enttäuschung der Deutschen gegen denjenigen Luft machen, der ihnen als Urheber ihrer Isolierung erscheint. Es ist von entscheidender Bedeutung, daß nicht die Vereinigten Staaten in diese Lage geraten. Das, und nicht die Kerwaffenfrage, ist das wirkliche deutsche Problem.

Das deutsche Problem wird nicht nur durch die Geschichte kompliziert, sondern auch durch politische Schwierigkeiten. Als einzige unter den Westmächten kann sich die Bundesrepublik nicht mit dem territorialen Status quo zufriedengeben. Ein Hauptziel jeder vorstellbaren deutschen Regierung, gleichgültig welcher Partei, wird die Wiedervereinigung des deutschen Volkes sein. Bis 1961 nahm man an, dieses Ziel könne durch immer engere Integration in die atlantische Allianz erreicht werden. Die Berliner Mauer zerschlug diese Hoffnungen. Auf welche Weise die deutsche Einheit auch kommen mag — wenn sie überhaupt je kommt —, eines ist klar: es wird nicht dadurch geschehen, daß die Grenzen der NATO nach Osten vorschoben werden. Alle deutschen politischen Parteien suchen nach „neuen Wegen" zur Lösung eines Problems, das unter der gegenwärtigen weltpolitischen Konstellation vielleicht unlösbar ist und dessen Unlösbarkeit das deutsche politische Leben mit einer weiteren Hypothek belasten dürfte.

Diese Entwicklung hat zur Folge, daß Versuche, eine Ost-West-Entspannung herbeizuführen, in Deutschland eine besondere Bedeutung erlangen. Die deutschen Führer begrüßen es, wenn der auf ihnen lastende Druck nachläßt; aber sie befürchten, daß dabei auch alle anderen Aspekte der deutschen Situation einfrieren könnten. Sie machen einen Unterschied zwischen „peripheren" Regelungen, die sie begrüßen, und „zentralen" Abmachungen, die sie bekämpfen, wenn sie nicht einen sichtbaren Fortschritt in der deutschen Frage mit sich bringen. Das erklärt, weshalb die Verhandlungen über die Nichtweitergabe von Atomwaffen viele deutsche Politiker so tief beunruhigten.

Kurz, die Bundesrepublik befindet sich in einer äußerst schwierigen Lage. Frankreich droht, wegen des Prinzips der Integration seine Truppen abzuziehen; Großbritannien und die Vereinigten Staaten geben zu verstehen, daß sie die ihrigen eventuell reduzieren müssen, falls nicht die Bundesrepublik ihnen beim Ausgleich ihrer Zahlungsbilanz hilft. Die Sowjetunion stempelt die Bundesrepublik zum internationalen Bösewicht. Selbst innerhalb des westlichen Bündnisses benutzt man gern eine von der Bundesrepublik ausgehende potentielle „Bedrohung", um irgendwelche Projekte zu rechtfertigen, von der multilateralen Atomstreitmacht bis zur gesteigerten Integration.

All das droht das labile Gleichgewicht des deutschen politischen Lebens zu zerstören. Es setzt die Bundesrepublik gefährlichen Pressionen und Versuchungen aus. Deutschland ist zum Zünglein an der Waage der westlichen Allianz geworden. Der exponierteste westliche Verbündete, von dessen Volk sich siebzehn Millionen als Geiseln in der Hand der Kommunisten befinden, steht im Mittelpunkt aller Streitigkeiten. Es könnte sein, daß die innere Struktur der Bundesrepublik dieser Beanspruchung nicht gewachsen ist. Schon gibt es Anzeichen, daß der Konflikt die regierende Christlich-Demokratische Union, die in erster Linie die prowestliche Orientierung der Bundesrepublik herbeigeführt hat, auseinander-sprengen könnte. Das würde in den anderen Parteien Tendenzen freisetzen, die jetzt durch den Wunsch dieser Parteien, als verantwortungsbewußte Sachwalter eines anerkannten gemeinsamen Standpunktes zu erscheinen, im Zaume gehalten werden. Die gegenwärtige Situation enthält also mehrere Zeitbomben. Das politische Leben der Bundesrepublik hat einen schizophrenen Zug.

Viele dieser Schwierigkeiten sind unlösbar, wenigstens in absehbarer Zeit. Viele liegen außerhalb des Einflußbereichs der Vereinigten Staaten. Aber die Labilität der Situation ver8 langt von der amerikanischen Politik sehr große Umsicht. Aus Unsicherheit und in dem Wunsch, gute Verbündete zu sein, befolgen die deutschen Führer amerikanische Vorschläge, nicht unbedingt deshalb, weil sie selbst es so wollen, sondern weil sie glauben, daß es von ihnen erwartet wird. Das bedeutet aber nicht, daß die Bundesrepublik die Konsequenzen aller derartigen Handlungen tragen kann. Ein Bruch mit Frankreich, der sich auf amerikanischen Druck zurückführen ließe, könnte leicht unangenehme Rückwirkungen auf die Vereinigten Staaten haben. Und ich muß sagen, daß amerikanische Aktionen der letzten Jahre uns in dieser Hinsicht schon in eine prekäre Lage gebracht haben. Avancen gegenüber Ostdeutschland, die in der Annahme gefördert werden, daß sie Ansatzpunkte für die Wiedervereinigung bieten, könnten einen Nationalismus aus enttäuschter Hoffnung erzeugen, wenn sich herausstellt, daß sie die Teilung Deutschlands nicht mildern, sondern verhärten. Was die Bundesrepublik vor allem anderen braucht, sind solide, zuverlässige, standfeste Bundesgenossen. Was sie nicht aushalten kann, ist Druck von allen Seiten. Es wäre tragisch, wenn Deutschland, dessen nationale Katastrophen in diesem Jahrhundert teilweise von dem Versuch herrühren, im Zentrum des europäischen Kontinents eine isolierte Politik zu treiben, jetzt Schaden nähme, weil es zu entgegenkommend gegenüber Verbündeten ist, deren Konflikte in sein politisches Leben übergroße Spannungen bringen. Gewiß trägt Präsident de Gaulle ein gut Teil Verantwortung für diesen Stand der Dinge. Aber wenn wir seine Schroffheit mit Beschimpfungen erwidern, wird die Geschichte die Unangemessenheit der Antwort nicht mit der Größe der Herausforderung entschuldigen.

Das nukleare Problem

In den letzten Jahren stand das sogenannte nukleare Problem im Mittelpunkt der Debatte innerhalb der NATO. Als hauptsächliche Antwort auf de Gaulles Herausforderung propagierten die Vereinigten Staaten die multilaterale Atomstreitmacht, bis Präsident Johnson das intensive Drängen in dieser Richtung einstellte, was meiner Ansicht nach eine kluge Entscheidung war. Das MLF-Projekt wird nicht mehr aktiv verfolgt, aber der Glaube, die Schwierigkeiten der NATO könnten durch eine neue nukleare Streitmacht im Eigentum und unter Kontrolle der Allianz gemindert werden, ist zählebig. Die augenblicklichen Pläne — im Fachjargon „hardware-Lösung" *) genannt — sehen vor, einige vorhandene Kern-waffensysteme (besonders amerikanische und britische Unterseeboote) an die NATO zu verkaufen; sie sollen der gemeinsamen Kontrolle der NATO unterstehen und eventuell gemischte Mannschaften aus den beteiligten Nationen erhalten. Diese „hardware-Lösung" erscheint mir aus folgenden Gründen falsch:

1. Das Grundproblem, vor dem die Allianz steht, ist politischer, nicht militärischer Natur.

Es ergibt sich aus der Notwendigkeit, die Beziehungen zwischen Europa und Amerika und die zwischen Ost und West neuen Bedingungen anzupassen. Selbst die Kernwaffen-frage ist keine technische, sondern eine politische;

ihre Lösung — sofern es eine gibt — hängt ab von der Fähigkeit einer aus souveränen Staaten bestehenden Allianz, soviel gegenseitiges Vertrauen zu entwickeln, wie erforderlich ist, um angesichts einer Technik von beispielloser Zerstörungskraft gemeinsam zu handeln.

2. Der Versuch, die NATO-Politik auf nicht offiziell geäußerte deutsche Wünsche abzustimmen, war ein Fehler. Als die MLF erstmalig vorgeschlagen wurde, gab es in Deutschland keine nennenswerte Forderung nach dem Besitz von Kernwaffen. Außerhalb sehr enger offizieller Kreise haben andere „hardware-

Lösungen" keinen nennenswerten Rückhalt.

Noch nach drei Jahren der Diskussionen und Pressionen bekennen sich nur wenige deutsche offizielle Persönlichkeiten — und sonst niemand, der im öffentlichen Leben eine Rolle spielt — zur „hardware-Lösung“. 3, Das Problem der Kernwaffenkontrolle wird durch keine der „hardware-Lösungen", die jetzt zur Diskussion stehen, gelöst, und etwaige Abwandlungen helfen auch nicht weiter. Würde eines der bisher vorgeschlagenen Projekte auf der Basis gemeinsamen Eigentums angenommen, so ergäbe sich folgende Lage:

— Kein Land, das gegenwärtig unfähig ist, einen Atomkrieg zu führen, wird durch die „hardware-Lösung" dazu befähigt; die bestehenden Vetorechte bleiben in Kraft.

— Kein Land, das gegenwärtig fähig ist, einen Atomkrieg zu führen, kann durch Teilnahme an einer „hardware-Lösung" gehindert werden, es zu tun.

— Kein Land, das gegenwärtig unfähig ist, einen Atomkrieg zu führen, kann auf Grund einer „hardware-Lösung" seinen Atomwaffen besitzenden Verbündeten zwingen, einen Atomkrieg zu führen.

Die Teilnahme an einer Streitmacht auf der Basis gemeinsamen Eigentums bringt nur eines ein: ein Vetorecht gegen den Einsatz des sehr kleinen Teils des gesamten nuklearen Arsenals, den diese Streitmacht darstellen würde (etwa fünf Prozent), aber kein Vetorecht gegen den Einsatz der übrigen Kernstreitkräfte. Würde eine „handware-Lösung" angenommen, so könnte sich daraus kein Dauerzustand ergeben, besonders wenn schwere finanzielle Opfer damit verbunden wären. Im Rahmen einer Streitmacht in gemeinsamem Eigentum würden sich wahrscheinlich alle die Streitigkeiten wiederholen, die sie gerade abstellen sollte. Pressionen zur Änderung des Kontrollmechanismus wären unvermeidlich. Eine Streitmacht in gemeinsamem Eigentum brächte keine Lösung, sondern eine permanente Krise. 4. Das nukleare Problem lenkt die Aufmerksamkeit vom Kardinalproblem der politischen Zusammenarbeit ab und auf eine Frage hin, die den Keim zu Meinungsverschiedenheiten in sich trägt und in der formelle Erklärungen höchst mißverständlich sein können. Sollte der Atomkrieg kommen, dann nur am Ende eines langen diplomatischen Prozesses; und nach seinem Ausbruch würde der nationale Fortbestand aller Teilnehmer auf dem Spiel stehen. Es erscheint widerspruchsvoll, die nukleare Strategie zu integrieren, den Prozeß der Diplomatie aber, der ihr vorangeht, bilateral zu lassen. Wenn eine koordinierte Diplomatie erreicht werden kann, wird das Problem, wer auf den Knopf drückt, nicht mehr so entscheidend erscheinen. Ohne politisches Vertrauen und politische Zusammenarbeit sind theoretische Abstimmungsregeln für den Eintritt in einen Atomkrieg bedeutungslos. Kein Land wird sich gegen seine Überzeugung durch ein Abstimmungsergebnis in einen Atomkrieg treiben lassen. Niemand kann ernsthaft annehmen, ein Präsident der Vereinigten Staaten würde Hunderte von Millionen Menschenleben aufs Spiel setzen, und zwar weil er in einem Ausschuß überstimmt worden ist — nachdem er, um es mit einem Wort zu sagen, entschieden hat, daß ein Atomkrieg nicht im amerikanischen Interesse liegt. Und das gleiche gilt für andere Länder. Die beste Garantie für die Verbündeten der Vereinigten Staaten ist eine Harmonisierung der politischen Ziele, die dazu führt, daß die Auffassungen der einzelnen Verbündeten von ihren lebenswichtigen Interessen praktisch ununterscheidbar sind. Wenn die Vereinigten Staaten und ihre Bundesgenossen die gleichen Dinge als lebenswichtige Interessen ansehen, dann ist eine „Lösung" des Problems der Kernwaffenkontrolle nicht mehr weit. Wenn wir eine solche Übereinstimmung der Ansichten nicht erreichen, dann ist der physische Mitbesitz an einer kleinen gemeinsamen Streitmacht bedeutungslos. Wie weiter unten zu zeigen sein wird, sollte sich die amerikanische Politik vor allem um eine Verstärkung der politischen Konsultationen bemühen, und das hierfür am besten geeignete Forum scheint zur Zeit der Sondeausschuß (McNamara-Ausschuß) zu sein.

Langfristige politische Ziele der USA

Die französische Herausforderung hat eine Menge logistischer, juristischer und technischer Probleme aufgeworfen, die im Augenblick zwangsläufig einen großen Teil der Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Ich will hier versuchen, einige der langfristigen Ziele zu skizzieren, von denen sich die Politik der Vereinigten Staaten meiner Ansicht nach leiten lassen sollte. Nicht alle von ihnen sind mit der derzeitigen amerikanischen Politik unvereinbar; viele sind auch jetzt schon amerikanische Ziele. Ich lege meine Meinungen zum Teil in Form von Antworten auf Fragen dar, zum Teil unter verschiedenen politischen Themen.

Was für ein Europa liegt im amerikanischen Interesse?

Ich bedauere die Methoden Präsident de Gaulles, habe aber seine historische Bedeutung stets anerkannt. Ein größeres Maß an politischer und militärischer Autonomie Europas ist für den Zusammenhalt des Westens wesentlich und liegt auf lange Sicht im amerikanischen Interesse. In solch abstrakter Form wird man diesen Satz in den Vereinigten Staaten unterschreiben; wenn aber Selbständigkeit als Ablehnung amerikanischer Ansichten in Erscheinung tritt, neigt man dazu, sich ihr zu widersetzen. Trotzdem ist es notwendig, die Beziehungen, die sich nach dem Kriege entwickelten, der neuen Lage anzupassen. Historisch sind wir die Kinder Europas, doch im Hinblick auf die Nachkriegsentwicklung befinden wir uns ungefähr in der Lage eines Vaters, der einen herangewachsenen Sohn hat. Der Vater kann sich auf den Standpunkt stellen: Da unsere Interessen ja identisch sind, werde ich weiterhin alle Mittel selbst verwalten. Er kann den Sohn auffordern, ihm Fälle zu nennen, in denen ihre Interessen auseinandergehen. Er kann ihm sagen, daß legitime Wünsche stets Beachtung finden werden. Ein solches Verhalten wird den Sohn entweder zu offener Rebellion treiben oder — wenn es hingenommen wird — ihm das Rückgrat brechen. Nach dem Kriege haben die Vereinigten Staaten Europa zunächst ernährt und dann beschützt. Jetzt verlangen sie von ihm Klugheit und Takt beim Übergang von der Unmündigkeit zur Gleichheit — einem Prozeß, den noch niemals eine Nation reibungslos vollzogen hat. Die Äußerungen von europäischem Eigensinn, die wir heute so irritierend finden, sind vielleicht die Wachstumsschmerzen bei der Herausbildung eines neuen und gesünderen Verhältnisses, das letztlich für die Vereinigten Staaten ebenso wichtig ist wie für Europa selbst.

Manche Kritiker der amerikanischen Politik argumentieren, der Versuch, gleichzeitig in allen Teilen der Erde eine Rolle zu spielen, gehe über die physische Kraft der Vereinigten Staaten. Mir scheint es vielmehr über ihre psychische Kraft zu gehen. Wenn wir darauf bestehen, in jedem Augenblick die Hauptverantwortung für jede Quadratmeile Erdoberfläche zu übernehmen, werden wir uns innerlich in Stücke reißen. Der Kontinent, der uns kulturell am nächsten steht, der ähnliche politische Traditionen und eine bedeutende Wirtschaftskraft besitzt, sollte — um unsertwie um seinetwillen — größere Verantwortung für seine Politik und seine Verteidigung übernehmen. Es liegt weder im amerikanischen noch im europäischen Interesse, daß Europa ein Griechenland neben dem amerikanischen Rom wird — kulturell interessant, aber politisch stagnierend und außerstande, eine aktive Rolle zu spielen. Das wäre für die Vereinigten Staaten nicht gesund, weil Hegemonie auf die Dauer demoralisierend wirkt.

Das Eingeständnis mag schmerzlich sein, aber ein Gegengewicht täte den Vereinigten Staaten gut; es könnte unser gelegentlich hervorbrechendes Ungestüm zügeln und unseren Hang zu abstrakten, „endgültigen" Lösungen durch etwas historische Perspektive korrigieren. Der Tag wird kommen, wo uns ein Maß von Autonomie in Europa nicht als Ärgernis, sondern als Segen erscheinen wird. In unserem Jahrhundert hätte zu Beginn keines Jahrzehnts jemand voraussehen können, wie die Welt am Ende dieses Jahrzehnts aussehen würde. Heute sind die Dinge nicht weniger kompliziert, und Voraussagen sind nicht leichter geworden. Wo noch Initiative vorhanden ist, sollte sie nicht entmutigt werden. Es sind nicht immer die unverantwortlichsten Bundesgenossen, die ihr Schicksal bis zu einem gewissen Grade selbst in der Hand behalten möchten. Manche von denen, die uns drängen, alle Verantwortung allein zu übernehmen, tun dies möglicherweise aus Gründen, die auf lange Sicht nicht sehr tröstlich sind; nur zu eifrig, so scheint es, sind sie bemüht, alle Risiken und Lasten den Vereinigten Staaten aufzubürden. Es wäre wenig gewonnen, wenn an die Stelle eines Nationalismus, der nicht über genügend Stärke verfügt, ein als Atlantizismus aufgemachter Neutralismus träte.

Eine Dritte Kraft?

Der These, daß Europa eine größere Rolle spielen muß, stimmen in dieser abstrakten Form viele zu. Sie meinen jedoch, die Vereinigung Europas auf föderativer Grundlage müsse vorangehen. Man kann auch hier eine gewisse Ambivalenz beobachten: Ein vereinigtes Europa wird für wünschenswert erklärt, aber es besteht die Befürchtung, daß dieses vereinigte Europa sich als „Dritte Kraft" gebärden könnte. Oft wird das scheinbare Dilemma durch den Ruf nach amerikanischer Führung gelöst. Manche beschwören die „heroischen" Tage der Schaffung des Marhallplans herauf; hier sehen sie ein Vorbild, das ihrer Meinung nach für die amerikanische Haltung auch heute gültig ist.

Ich halte unsere heutige Aufgabe für komplizierter und heikler. In den späten vierziger Jahren blieb alles der amerikanischen Initiative überlassen: Konzeption, Ausführung und geschäftliche Abwicklung. Heute besteht die Hauptaufgabe darin, die Europäer zu ermuntern, selbst Verantwortung zu übernehmen. In dem Maße, wie die Vereinten Staaten die Methoden der vierziger Jahre anwenden, fördern sie zwei verhängnisvolle Tendenzen. Einerseits werden manche Europäer den Vereinigten Staaten nur allzu bereitwillig die Führung überlassen. Die Frage ist, ob diese Europäer, die uns die Qual der Wahl aufbürden möchten, in Krisenzeiten sehr standfeste Partner sein werden. Andererseits werden wir in der europäischen Politik eine zunehmende Tendenz zum Antiamerikanismus beobachten. Die Überzeugung wird an Boden gewinnen, eine europäische Identität könne nicht in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten geschaffen, sondern müsse ihnen abgerungen werden.

Ich bin nicht für einen Abbau unserer Verpflichtungen zur Verteidigung Europas, empfehle aber dringend eine Änderung der Mittel, mit denen wir diese Verpflichtung wahrnehmen. Ich sage nicht, unser Einfluß in Europa solle verschwinden, meine aber, daß wir unseren Einfluß nur dann bewahren können, wenn wir unser formelles Übergewicht reduzieren. Die bloße Existenz einer dritten Kraft sagt noch nichts über ihre Ziele aus. Europa als dritte Kraft — in dem Sinne, daß es mächtig ist und eine aktive Rolle in der Weltpolitik spielt — liegt durchaus im amerikanischen Interesse, auch wenn seine innere Struktur nicht ganz den amerikanischen Vorstellungen entspricht. Ob die Gefahr besteht, daß Europa eine den Vereinigten Staaten schädliche Politik betreibt, hängt davon ab, wieweit es imstande ist, seine Interessen richtig zu erkennen. Die Erinnerung an seine Ohnmacht und unsere Vormundschaft trägt zu der Illusion bei, daß wir die europäischen Probleme besser verstünden als Europa selbst. Auf lange Sicht ist das keine tragfähige Grundlage für eine atlantische Politik. Wenn man Europa nicht zutrauen kann, daß es die Realitäten seiner Lage erkennt, dann ist die amerikanische Vormundschaft bestenfalls ein Notbehelf. Ich möchte sogar sagen: Der Anreiz zur Unverantwortlichkeit ist dann am größten, wenn wir den Eindruck erwecken, daß wir alle Risiken übernehmen wollen, während unsere Verbündeten am Rande stehen und nach Herzenslust kritisieren können, aber nicht gewillt sind, Lasten zu tragen.

Eine atlantische Politik auf lange Sicht müßte sich auf folgende Tatsachen gründen: — Ein Europa, das mehr Verantwortung für seine eigene Außenpolitik und Verteidigung übernimmt, muß zwangsläufig erkennen, daß nur eine potentielle Bedrohung seiner Sicherheit existiert und daß dieser Drohung in Jedem vorstellbaren Fall wirksamer mit Hilfe der Vereinigten Staaten begegnet werden kann als ohne solche Hilfe. Daraus folgt, daß Europa mindestens ebensosehr an einer amerikanischen Verpflichtung zu seiner Verteidigung interessiert sein muß wie die Vereinigten Staaten. — Die Vereinigten Staaten brauchen für ihre Position in Europa nicht zu „kämpfen"; wahrscheinlich wird es stets eine beträchtliche Mehrheit geben — selbst in Frankreich —, die dafür eintritt, daß die Vereinigten Staaten weiterhin eine bedeutende Rolle in Europa spielen. — Einer „antiamerikanischen" europäischen Politik sind objektive Schranken gesetzt. Ein Kuhhandel zwischen der Sowjetunion und Europa, der unsere Interessen und unsere Sicherheit gefährden könnte, ohne die europäischen Interessen und die europäische Sicherheit noch viel mehr zu gefährden, ist schwer vorstellbar. Was für Europa als Ganzes gilt, gilt erst recht für einzelne europäische Länder. — Eine unstete amerikanische Politik kann vielleicht in denkenden Europäern Zweifel daran wecken, daß ihre Zukunft unauflöslich mit der unseren zusammenhängt. Die französische Politik allein kann das nicht.

Daraus ergibt sich, daß die Vereinigten Staaten große Zurückhaltung üben müssen. Sie sollten es sorgfältig vermeiden, im Namen des Atlantizismus alte nationale Rivalitäten zu schüren, deren Wiederaufleben ohnehin schon von de Gaulle stark gefördert worden ist. Wenn die Europäer die Möglichkeit erhalten, ihre Probleme in einem europäischen Zusammenhang anzupacken, werden sie mit größerer Wahrscheinlichkeit zu atlantischer Zusammenarbeit gedrängt als zu einer anderen Politik. Wenn die Vereinigten Staaten mit Macht versuchen, innereuropäische Entwicklungen zu lenken, können sie den Eindruck erwecken, daß atlantische Zusammenarbeit und europäische Fortentwicklung unvereinbar seien.

Soll Amerika de Gaulle isolieren?

Einer Denkrichtung zufolge ist Präsident de Gaulle das Haupthindernis für die Einheit Euroras und die atlantische Integration. Die Vertreter dieser Richtung empfehlen, de Gaulle in der NATO und in Europa zu „isolieren". Meiner Meinung nach wäre diese Methode falsch und zum Scheitern verurteilt. Ich glaube vielmehr, daß de Gaulles Politik manchmal durch verärgerte, persönliche amerikanische Reaktjonen auf sie noch gefördert wird. Wie ein Judo-Artist nutzt er unsere Bewegungen zu Hebelwirkungen aus, für die seine eigene Kraft nicht ausreichen würde. Den Zusammenhalt der Allianz nach einer formalen Stimmenzählung zu beurteilen, ist irreführend. In der NATO mag das Stimmenverhältnis von 14 : 1 gegen Frankreich in technischen Fragen bestehen bleiben; eine längere politische Auseinandersetzung — auch über strategische Doktrinen — wird es nicht überstehen. Im Europa der Sechs war de Gaulle niemals so allein, wie manche glauben möchten, und er hätte noch mehr Unterstützung, wenn er ein Lippenbekenntnis zu irgendeiner umfassenderen Konzeption der europäischen Einheit ablegte. In der Frage der Ost-West-Beziehungen repräsentieren seine Ansichten ohne Zweifel die herrschende Richtung in Europa.

Das eigentliche Opfer einer bewußten Isolierungspolitik gegen de Gaulle wäre nicht Frankreich, sondern die Bundesrepublik Deutschland. Frankreich kann ohne Hilfe der Bundesrepublik nicht isoliert werden. Deshalb ist vorgeschlagen worden, die NATO müsse sich im wesentlichen auf ein „besonderes" amerikanisch-deutsches Verhältnis stützen. Ein solcher Kurs würde die Allianz ebenso wie die Bundesrepublik belasten.

Eine Konfrontation mit Frankreich müßte, wenn sie nicht unzweideutig von Frankreich provoziert wäre — und vielleicht selbst dann —, das politische Leben Deutschlands untergraben. Sie würde die CDU spalten. Das wiederum würde die anderen Parteien radikalisieren.

Gleichzeitig hätte eine solche Politik zur Folge, daß das relative Gewicht der Bundesrepublik in Europa und in der Allianz zunähme. Das wäre weder für die Bundesrepublik noch für den europäischen Zusammenhalt noch für die atlantische Allianz gesund. Würde die Bundesrepublik europäischer Seniorpartner in der NATO, so zerfiele die ohnehin sehr brüchige Einmütigkeit der Opposition gegen de Gaulle. Die meisten europäischen Länder würden sich in einem Verband, in der Deutschland allem Anschein nach beherrschenden Einfluß hätte, äußerst unbehaglich fühlen. Das hätte weitreichende Auswirkungen, wenn die Erneuerung des NATO-Vertrags zur Debatte steht, besonders in den skandinavischen Ländern und in Italien.

Mit großer Wahrscheinlichkeit würde ein solcher Kurs am Ende die Bundesrepublik den Vereinigten Staaten entfremden. Wenn der Verhärtung eines französisch-deutschen Bruchs Maßnahmen der Entspannung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion folgen sollten, die in der Bundesrepublik Besorgnis erregen würden, so wäre mit einer ernsten Krise in den amerikanisch-deutschen Beziehungen zu rechnen. Kurz, meiner Überzeugung nach haben die Vereinigten Staaten ein positives Interesse daran, einen Bruch zwischen Frankreich und Deutschland zu verhindern und der Bundesrepublik zu raten, ihre Verbindungen mit Frankreich intakt zu erhalten.

Die Zukunft der beiden französischen Divisionen in Deutschland ist hauptsächlich unter diesem Aspekt zu sehen. Ihr Abzug würde — sofern er nicht aus eindeutig nachweisbarer französischer Unnachgiebigkeit resultierte — den Bruch zwischen Frankreich und Deutschland symbolisieren. Käme Deutschland wieder in die Lage, von lauter feindseligen Nachbarn umgeben zu sein, so würde das zu ernsten psychologischen Rückwirkungen führen. Die Zielscheibe dieser Frustrationen könnten leicht die Vereinigten Staaten werden.

Es ergeben sich fünf Schlußfolgerungen für die einzuschlagende Politik: 1. Wenn es zum Konflikt mit Frankreich kommt, dann muß die Schuld eindeutig auf seiner Seite sein. Die Vereinigten Staaten müssen sich alle erdenkliche Mühe geben, ihn zu vermeiden. 2. Ein Streit mit Frankreich muß sich — wenn er absolut unvermeidlich ist — um die Zukunft und Rolle Europas-drehen, nicht um technisch militärische Probleme. 3. Die Vereinigten Staaten haben ein positives Interesse an einem möglichst engen Verhältnis zwischen London, Paris und Bonn. Kein anderer Weg zur europäischen Einheit verspricht Erfolg. Eine Gruppenbildung Großbritanniens und der Bundesrepublik—die viele empfehlen — wäre schwach, selbst wenn die Vereinigten Staaten sich anschlössen. Es gibt zu viele Meinungsverschiedenheiten über weltpolitische Probleme, Ost-West-Beziehungen und Kräfteverteilung, als daß eine solche Gruppierung mehr als ein vorübergehender Notbehelf sein könnte. Eine Achse Bonn-Paris würde zu-viel Feindseligkeit in Washington und zuviel Mißtrauen im übrigen Europa erregen. Eine Verständigung zwischen London und Paris würde Deutschland isolieren und könnte es zu selbständigen Annäherungsversuchen gegenüber dem Osten veranlassen. Eine Gruppierung Washington—Bonn würde alle antideutschen, antiamerikanischen und antinuklearen Gefühle bündeln und sie gegen die atlantische Allianz richten. 4. Wenn ein französisch-britisch-deutsches Einvernehmen entscheidend ist, dürfen wir das übermorgen nicht über dem Heute vergessen und müssen den Brückenbau nach Frankreich erleichtern, statt ihn zu erschweren. Die Vereinigten Staaten dürfen nichts unternehmen, was das französisch-deutsche Verhältnis weiter verschlechtern könnte. Sollte es zu einer Spaltung kommen, so muß zweifelsfrei feststehen, daß sie nicht auf amerikanischen Druck — direkten oder indirekten, offiziellen oder inoffiziellen — zurückzuführen ist. Viele amerikanische Erklärungen entsprechen zwar formal diesen Grundsätzen, aber die meisten Europäer wären schwer davon zu überzeugen, daß diese Erklärungen die wahre amerikanische Politik repräsentieren. In diesem Zusammenhang möchte ich sagen, daß ich die, wie verlautet, von Präsident Johnson getroffene Entscheidung, keine öffentliche Debatte mit Frankreich zuzulassen, begrüße. 5. Was auch geschehen mag, ein ernsthafter Dialog auf höchster Ebene zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten ist notwendig. Mir ist klar: Wenn die Vereinigten Staaten Schritte in dieser Richtung unternehmen, werden manche sagen, Frankreich wird für sein schlechtes Benehmen belohnt. Aber es ist schon zuviel Zeit verloren worden, und zuviel steht auf dem Spiel. In einer Zeit, da man auf eine Entspannung gegenüber der kommunistischen Welt hofft, sollte es nicht unmöglich sein, Gespräche ohne Vorbedingungen mit einem traditionellen Verbündeten zu führen. Wenn der Versuch zu einem Erfolg führt, werden die meisten Europäer erleichtert sein. Schlägt er fehl, so können wir dem dann folgenden Streit mit dem Wissen entgegensehen, daß wir keine Mühe gescheut haben, eine für den Westen schädliche Spaltung zu vermeiden.

Wieviel Integration?

Viele vertreten die Ansicht, Europa sei nur deshalb abgeneigt, eine weltpolitische Rolle zu spielen, weil die Hilfsquellen der Nationalstaaten nicht ausreichten. Ein vereinigtes Europa werde mehr globale Verantwortung übernehmen. Zur Überwindung der gegenwärtigen Krise empfehlen die Anhänger dieser Auffassung mehr Integration und baldige europäische Einheit. In der Zwischenzeit soll der Zusammenhalt der Alliierten durch Konsultationen und formalrechtliche Abmachungen gefestigt werden.

Ich halte diese Meinung für sehr simplifizierend. Der Erfahrung der Vereinigten Staaten nach zu urteilen, scheint zwischen der Macht eines Staates und seiner Bereitschaft, eine internationale Rolle zu spielen, kein automatisches Kausalverhältnis zu bestehen. Vor 1941 besaßen die Vereinigten Staaten durchaus die Mittel, aber keine Neigung, weltpolitische Verantwortung zu übernehmen. Umgekehrt waren viele europäische Staaten zu einer Zeit, wo ihre Mittel viel kleiner waren als heute, sehr stark in Ubersee engagiert.

Im Hinblick auf überseeische Verpflichtungen waren die beiden Weltkriege im Verein mit der Dekolonisierung ein traumatisches Erlebnis für Europa — Großbritannien bis zu einem gewissen Grade ausgenommen. Nachdem die Europäer ihre überseeischen Besitzungen haben aufgeben müssen, halten sie ihre Sicherheit nicht mehr für unmittelbar bedroht durch irgendwelche Vorgänge in — beispielsweise — Südostasien. Wegen eines fernen Landes, aus dem sie vor kurzem vertrieben worden sind, möchten sie nicht die Gefahr nuklearer Vernichtung heraufbeschwören; lieber schieben sie die Risiken und Lasten den Vereinigen Staaten zu. Sie sind einigermaßen überzeugt: Bevor Umwälzungen in anderen Erdteilen die Sicherheit Europas bedrohen, werden die Vereinigten Staaten schon längst auf dem Kampfplatz erschienen sein. Mit anderen Worten, sie betrachten die außereuropäischen Sorgen Amerikas ungefähr so, wie die Vereinigten Staaten bis 1941 die innereuropäischen Streitigkeiten ansahen. Und sie werden sich wohl ebensowenig durch Ermahnungen umstimmen lassen wie die Vereinigten Staaten zur Zeit der Isolationspolitik.

Selbst innerhalb Europas stellt die Übernahme von Belastungen nur dann einen Anreiz für eine verantwortungsbewußte Politik dar, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Unsere Verbündeten müssen von der politischen Umwelt das gleiche Bild haben wie wir, wenigstens soweit sie Europa berührt, und sie müssen überzeugt sein, daß die Vereinigten Staaten ihren Beitrag (nicht ihre Verpflichtungen) reduzieren werden, wenn sie selbst keine größere Rolle spielen. Keine der beiden Bedingungen ist heute erfüllt. Vielmehr schadet unser übereifriges Drängeln im zweiten Punkt unseren Bestrebungen im Hinblick auf den ersten.

Es ist daher wohl an der Zeit, einmal zu überlegen, wieviel Integration wir eigentlich brauchen. Die Logik unserer Position wird uns einem Druck aussetzen, der auf immer stärkere Integration unserer Streitkräfte — einschließlich der strategischen Streitkräfte — hinwirkt, und sie wird zunehmende Forderungen nach Beteiligung Europas an weltpolitischen Entscheidungen erzeugen. Das führt zu der merkwürdigen Lage, daß unsere Verbündeten ihre Verteidigungsbeiträge reduzieren und zugleich mehr politischen Einfluß beanspruchen.

Die Folgen für die Gesamtpolitik sind höchst unerwünscht. In einem solchen System besteht die Gefahr politischer Stagnation. Die Allianz wird sich nur noch darauf einigen können, nichts zu tun. In den meisten verbündeten Ländern wird der innenpolitische Druck wachsen. Jede irgendwo eintretende Krise wird sofort, automatisch und organisch zur Welt-krise werden. Oft heißt es, der Erste Weltkrieg sei ausgebrochen, weil kein funktionierendes System der kollektiven Sicherheit vorhanden war. Das mag richtig sein. Bestimmt aber zeigt der Erste Weltkrieg die Gefährlichkeit von Bündnisstrukturen, die so starr sind, daß jeder noch so geringfügige Konflikt sogleich und organisch weltweite Dimensionen annimmt.

Natürlich sollen die Vereinigten Staaten nach besten Kräften mit den europäischen Ländern zusammenarbeiten. Aber Zusammenarbeit kann kein Selbstzweck sein. Sie funktioniert am besten, wenn Anreize für eine verantwortungsbewußte Politik geboten werden. Eine Vielfalt juristischer Vorkehrungen, die nicht von einer realistischen Konzeption des gemeinsamen Interesses getragen wird, bewirkt das Gegenteil dessen, was durch sie erreicht werden soll, übermäßige Konzentration der Entscheidungsbefugnisse kann unseren Verbündeten auf lange Sicht den Ansporn nehmen, selbstverantwortlich zu handeln, und kann tiefe Risse aufbrechen lassen, wenn es zu einem Interessenkonflikt kommt — besonders in Krisen außerhalb Europas.

Die militärischen Einrichtungen der NATO haben einen symbolischen und einen materiellen Aspekt. Unsere europäischen Kritiker haben recht, wenn sie uns vorwerfen, daß wir dominierenden Einfluß auf die NATO-Planung nehmen; aber sie haben unrecht, wenn sie dies auf dunkle amerikanische Absichten zurückführen. Die Stellung des Obersten Alliierten Befehlshabers in Europa (SACEUR) ist das Werk von Europäern, die eine Rückkehr der Vereinigten Staaten zum Isolationismus befürchteten und eifrig bestrebt waren, möglichst viele feste Bande zwischen Amerika und Europa zu schaffen. Als die Vereinigten Staaten das nukleare Übergewicht besaßen, waren unsere Verbündeten daran interessiert, uns organisch — und am liebsten automatisch — zu ihrer Verteidigung zu verpflichten.

In den fünfziger Jahren erschien unseren Verbündeten eine dominierende Stellung der Vereinigten Staaten als beste Garantie dafür, daß wir zur Verteidigung Europas entschlossen waren. Aber viele Verbündete nutzen diesen Zustand aus, um sich innenpolitisch die Sache leicht zu machen. Sie sahen es gern, daß die Vereinten Staaten die Last der Verteidigungsausgaben und der schwierigen strategischen Entscheidungen auf sich nahmen. Die Streitkräfte, die sie selbst beisteuerten, waren stark genug, die Vereinigten Staaten zu einer maximalen Truppenstationierung in Europa zu veranlassen, aber nicht stark genug, eine wirkliche Alternative zur nuklearen Abschreckung zu bieten. Sie waren und sie sind nicht an dem materiellen, sondern an dem symbolischen Aspekt der NATO interessiert.

Solch ein Zustand kann auf die Dauer nicht gesund sein. Es gibt keinen Präzedenzfall dafür, daß die Verteidigung eines so reichen und potentiell so mächtigen Gebiets wie Europa in allen wesentlichen Punkten einem fast fünftausend Kilometer entfernten Land überlassen wird. Die Folge ist, daß unsere Verbündeten entweder auf strategischem Gebiet abgedankt haben oder ihre'militärischen Anstrengungen auf Waffentypen richten, in denen wir am stärksten sind.

Das Mißbehagen in der NATO ist also konstitutionell bedingt. Das heutige System ermuntert zu viele unserer Verbündeten, die Kosten und die Verantwortung für die gemeinsame Verteidigung auf die Vereinigten Staaten abzuwälzen. Ermahnungen werden daran nichts ändern. Staaten übernehmen Bürden nicht, weil es recht und billig ist, sondern nur, weil es notwendig ist. Europa wird nur dann eine größere Last für seine Verteidigung auf sich nehmen, wenn es auch mehr Verantwortung tragen kann. Es wäre mithin ein großer Fehler, die Zukunft der NATO nur dann als gesichert anzusehen, wenn jedes Detail der jetzigen Struktur auf unbegrenzte Zeit beibehalten würde. Ob ein Land einem Bundesgenossen zu Hilfe kommt, hängt weniger von der formellen Befehlsgliederung ab als davon, wie es seine lebenswichtigen Interessen auffaßt. Es ist in erster Linie ein politisches und kein militärisches Problem.

Drei Grundsätze sollten unser Verhältnis zur derzeitigen militärischen Kommandostruktur bestimmen: — Die moderne Technik macht integrierte Kommandostäbe notwendig. Diese Einsicht wird ausschlaggebend für die Entschlüsse all derer sein, die die Verteidigung ernst nehmen.

— So wie sich die NATO entwickelt hat, sind die symbolischen Funktionen von SACEUR heute nicht mehr so entscheidend wie in den fünfziger Jahren. SACEUR sollte sich deshalb auf militärische Probleme konzentrieren, während die politischen Fragen und die der Doktrin teils dem Sonderausschuß und teils dem Militärausschuß übertragen werden sollten. In diesem Sinne scheint die Entwicklung jetzt zu verlaufen. -— Das relative Gewicht Europas in der Kommandostruktur und in der NATO-Organisation sollte erhöht werden. Das ist um so wichtiger, als Europa auf keinem anderen Gebiet so lange und in solchem Maße von den Vereinigten Staaten abhängig war. Auf allen anderen Gebieten strebte die amerikanische Politik bewußt danach, die Abhängigkeit Europas zu vermindern; in der militärischen Sphäre war es nur ihr Ziel, die Bevormundung Europas erträglicher zu gestalten.

Als die Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg Europa wirtschaftlich unterstützten, veranlaßten sie ihre europäischen Verbündeten, in eigener Verantwortung ein gemeinsames Programm und ein System zur Aufteilung des zur Verfügung stehenden Gesamtbetrags zu entwickeln. Zwar spielten amerikanische Berater eine aktive und bedeutende Rolle, aber der grundlegende Plan war europäischen Ursprungs. Der Tatsache, daß während des Marshall-Plans Amerikaner und Europäer lernten, zusammenzuarbeiten und sich gegenseitig zu achten, verdankt die atlantische Allianz viel. Auf militärischem Gebiet dagegen haben die Vereinigten Staaten nie etwas für die Herausbildung eines spezifisch europäischen Standpunktes getan. Während sie im wirtschaftlichen Bereich die Entstehung europäischer Institutionen förderten, haben sie im militärischen Bereich nichts Vergleichbares unternommen. Die Westeuropäische Union (WEU), von der man ursprünglich ein Wirken in diesem Sinne erwartete, ist nicht in Aktion getreten. Es wäre klug, die WEU mit der Ausführung des europäischen Teils der gemeinsamen Pläne sowie mit der Festlegung gemeinsamer strategischer Richtlinien zu beauftragen und ihr dadurch neue Lebenskraft zu geben.

Die Politik gegenüber Deutschland

Die Notwendigkeit, die Bundesrepublik der Allianz als einsatzbereites Mitglied zu erhalten, die organische Bindung Deutschlands an die NATO zu wahren, wirklichen oder angenommenen deutschen Wünschen entgegenzu-kommen —-diese Notwendigkeit wird in fast jedem Land zur Begründung fast jeder Politik angeführt. Abgesehen davon, daß dieses Ziel dazu benutzt wird, ganz entgegengesetzte politische Strategien zu rechtfertigen, ist die For18 mulierung sehr gefährlich. Sie erweckt den Eindruck, als hinge ein verantwortungsbewußtes Handeln der Bundesrepublik ausschließlich von der Selbstbeherrschung ihrer Regierung ab. Sie ignoriert die Tatsache, daß der Entschluß zur Integration grundlegenden Interessen der Bundesrepublik entsprach und nicht bloß Ausdruck einer individuellen Vorliebe war. Was Deutschland an den Westen bindet, ist nicht eine juristische Verpflichtung, sondern eine vernünftige Einschätzung seiner langfristigen Interessen.

Die Integration war der Weg zur Gleichheit. Sie wurde notwendig gemacht durch das Trauma der Niederlage und die daraus erwachsende Furcht, allein zu stehen. Es ist äußerst gefährlich, den Eindruck zu erwecken, wir müßten der Bundesrepublik einen jährlichen Tribut zahlen, damit sie nicht etwas sehr Rücksichtsloses tut. Wenn sich die Vereinigten Staaten zum Fürsprecher unausgesprochener deutschen Wünsche machen und ihnen durch ihre Politik zuvorzukommen suchen, schallen sie damit in der Bundesrepublik möglicherweise Illusionen der Wahlfreiheit. Es ist notwendig, legitime deutsche Interessen ernst zu nehmen. Es ist gefährlich, so ungemeine Nervosität an den Tag zu legen, denn damit ermutigt man unter Umständen Tendenzen, die keine Grundlage in der Realität haben. Es kann auch nicht gut für den Zusammenhalt der Allianz sein, wenn man immer wieder betont, es sei eine ihrer Hauptaufgaben, die potentielle Bedrohung einzudämmen, die von einem ihrer wichtigsten Mitglieder ausgehe. Nach fünfzehn Jahren verantwortungsbewußter Politik sollte die Bundesrepublik ein Recht darauf haben, daß ihre Stellungnahmen so ausgenommen werden, wie sie gemeint sind.

Was die Deutschland-Politik der Vereinigten Staaten am dringendsten nötig hat, ist Stetigkeit und Zuverlässigkeit. Ständiger Druck muß das deutsche Selbstvertrauen erschüttern, mögen die Forderungen auch noch so berechtigt sein. Endlose Ermahnungen, sich die jüngste Version „neuer" Doktrinen zu eigen zu machen, setzen das Gefüge des deutschen politischen Lebens einer Zerreißprobe aus. Häufige Änderungen der Politik bringen uns um unseren Kedit, ungeachtet der Richtigkeit einzelner Maßnahmen. Wie schon erwähnt, hieße es die Zukunft belasten, wenn wir Deutschland zu bewegen suchten, die Führung in einem antifranzösischen Kreuzzug zu übernehmen. Deutschlands psychologischer Spielraum ist viel kleiner als sein wirtschaftlicher, aber auf lange Sicht ist er entscheidender.

Wenn aber die Vereinigten Staaten Mitgefühl und Achtung für die politischen und moralischen Schwierigkeiten eines geteilten Landes haben sollen, wenn sie diesem Land die Wahl nicht unnötig schwer machen sollen, so ist die Voraussetzung dazu genügend Selbstvertrauen, sich mit einzelnen Problemen statt mit ihren Symbolen zu befassen.

Unter diesen Problemen gewinnt die deutsche Wiedervereinigung immer mehr Gewicht. Ich kann dieses verwickelte Problem hier nicht in voller Breite erörtern und möchte mich auf ein paar Bemerkungen beschränken. — Eine Allianz, die diesem vorrangigen deutschen Interesse nicht Achtung und Verständnis entgegenbringt, wird in deutschen Augen bald ihren Sinn verlieren. Deutschlands Verbündete haben die Pflicht, die Sorge um die Wiedervereinigung ernst zu nehmen und bei einer verantwortungsbewußten Planung mitzuwirken. — Ein Programm für die Wiedervereinigung muß Aussagen über Deutschlands Ostgrenzen, seinen militärischen Status und seinen Verzicht auf Kernwaffen enthalten. Vielleicht ist das nicht genug, aber ohne diese Punkte ist jedenfalls kein ernsthaftes Programm möglich. — Wie auch das Programm aussehen mag, die Wiedervereinigung wird nicht das Ergebnis einer spektakulären Verhandlung, sondern eines langen historischen Prozesses sein. In der gegenwärtigen Weltlage kann kein Programm, und sei es noch so vernünftig, die sowjetischen Führer veranlassen, das ostdeutsche Regime zu opfern. Der Zusammenbruch eines kommunistischen Regimes würde die Macht der Sowjetunion in Osteuropa erschüttern und ihre Aussichten im ideologischen Konflikt mit dem kommunistischen China verschlechtern. — Die deutsche Einheit wird nur dann möglich werden, wenn a) ein sowjetischer Macht-verfall oder b) eine Veränderung im ideologischen Klima der Welt eintritt, die das ostdeutsche Regime für ein nationaleres Rußland weniger wichtig macht. — Die Ausführbarkeit eines „Programms“ für die Wiedervereinigung wird in erster Linie von diesen Eventualitäten bestimmt. Seine Erfolgsaussichten sind um so besser, je mehr die nationalen Grenzen im Rahmen einer europäischen Struktur an Bedeutung verloren haben. — Es ist gefährlich, die Bundesrepublik zu Alleingängen in Sachen der Wiedervereinigung zu ermuntern, besonders mit Ostdeutschland als Verhandlungspartner. Manche gehen davon aus, daß die westdeutsche Verhandlungsposition der ostdeutschen überlegen sei; aber das dürfte eine Illusion sein. Im Gegenteil, die deutschen politischen Führer könnten sich einem wachsenden Dilemma gegenübersehen. Die Ostdeutschen könnten dafür, daß sie das Los ihrer Bevölkerung erleichtern, konkrete politische Gegenleistungen fordern. Vom Volke bedrängt und von humanitären Impulsen getrieben, müßte es jeder deutschen Regierung schwer fallen, kühl und nüchtern festzustellen, wo der Punkt liegt, an dem die Summierung scheinbar nebensächlicher Zugeständnisse eine Umkehr nicht mehr zuläßt. Das Resultat wäre wahrscheinlich kein Fortschritt in Richtung auf die Wiedervereinigung, sondern das Nebeneinanderbestehen zweier feindseliger, rivalisierender deutscher Staaten auf unabsehbare Zeit. Ein solches Ergebnis würde in Deutschland Volksfront-Tendenzen wachrufen, wobei es sich um eine Volksfront von besonders virulenter Art handeln würde, weil der Partner nicht eine Partei, sondern ein souveräner Staat wäre. — Fortschritte zur deutschen Einheit setzen einen Wandel im Ost-West-Verhältnis voraus, aber dieser Wandel muß in einem größeren Rahmen als dem der deutschen Nation angestrebt werden. Das ist ein weiterer Grund, weshalb eine europäische Struktur so wichtig ist und weshalb die Vereinigten Staaten nichts tun dürfen, was die Fundamente der europäischen Einheit, zu denen auch die französisch-deutsche Freundschaft gehört, untergraben könnte.

Das Kernwaffenproblem

Wie ich schon ausgeführt habe, erscheint mir die sogenannte „hardware-Lösung“ nicht fruchtbar. Da das Problem seinem Wesen nach politisch ist, sollte man dem Sonderausschuß (McNamara-Ausschuß) jede Arbeitsmöglichkeit geben und ihm auch politische Funktionen zuweisen. Es sollte die Aufgabe erhalten, eine gemeinsame strategische Doktrin und eine gemeinsame Abrüstungspolitik festzulegen. In seinem Rahmen könnten die europäischen Länder, wenn sie es wünschten, einen engeren Zusammenschluß bilden. Es wäre zum Beispiel denkbar, der Westeuropäischen Union die Verantwortung für den europäischen Beitrag zu gemeinsamen NATO-Plänen zu übertragen. In dem Maße, wie Europa Gestalt gewinnt, könnte sich der Sonderausschuß dem „ZweiPfeiler" -Konzept nähern. Bei dieser Methode könnte aber die atlantische Partnerschaft selbst dann wirksam werden, wenn sich die europäische Einheit verzögerte. Auf diese Weise wäre es möglich, gleichzeitig nach atlantischer Partnerschaft und stärkerem europäischem Zusammenhalt zu streben, ohne von vornherein dem einen Ziel Vorrang vor dem anderen zu geben.

Wenn diese Lösung unsere Verbündeten auf die Dauer nicht befriedigen sollte, dann wäre eine europäische nukleare Streitmacht den „hardware-Lösungen" vorzuziehen, die jetzt in Vorschlag sind. Nukleare Autonomie ist wahrscheinlich diejenige Form europäischer Einheit, der die geringsten Spaltungstendenzen inne-wohnen. Auf wirtschaftlichem Gebiet bringt der Wettbewerb zwischen Europa und den Vereinigten Staaten allenfalls indirekte Gefahren mit sich. Auf politischem Gebiet sind die Versuchungen zu selbständigem Handeln groß und die Nachteile, die dafür in Kauf genommen werden müssen, klein. In militärischen Fragen — und besonders im nuklearen Bereich — liegt engste Zusammenarbeit zwischen Europa und den Vereinigten Staaten im eigenen Interesse beider Seiten. Ungeachtet der formalen Autonomie -der europäischen Verbündeten ist es höchst unwahrscheinlich, daß sie es vorziehen würden, ohne Unterstützung des weit überlegenen amerikanischen Kernwaffen-Arsenals nur mit den relativ schwachen nuklearen Streitkräften, die sie besitzen oder in Aussicht haben, Krieg zu führen. Das eigene Interesse gebietet in der nuklearen Sphäre eine enge Koordinierung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten, und Europa hat dabei mehr zu gewinnen als die Vereinigten Staaten.

Das heißt nicht, daß sich die Vereinigten Staaten aktiv für eine europäische Kernstreitmacht einsetzen sollen. Im Gegenteil, sie sollen mehr Zurückhaltung zeigen, was die Einflußnahme auf innereuropäische Angelegenheiten betrifft, und ihren Einfluß vielmehr bei der Gestaltung der atlantischen Beziehungen geltend machen. Ich meine allerdings, die Vereinigten Staaten sollten nicht versuchen, die Keime, aus denen sich eine europäische Streitmacht entwickeln könnte, zu zerstören, indem sie — mit der so-genannten hardware-Lösung — Alternativen anbieten, die im Laufe der Zeit zu viel größeren Schwierigkeiten führen werden. Eine europäische nukleare Streitmacht setzt freilich eine einheitliche europäische Politik voraus.

Ich habe versucht, einige mögliche Leitlinien anzugeben, keine in allen Einzelheiten ausgearbeitete Politik. Die verantwortlichen Politiker kennen natürlich Nuancen, von denen ich nichts weiß; außerdem beruht alle Politik auf Urteilen, deren Richtigkei in dem Augenblick, in dem sie gefällt werden, nicht nachzuweisen sind. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß dies auch für meine Urteile gilt.

Wir sehen heutzutage vor allem Meinungsverschiedenheiten. Es ist gut, sich daran zu erinnern, daß die Probleme in der Allianz im Grunde ein Luxus sind, der durch den wachsenden Sicherheitsspieiraum möglich gemacht wird. Sie sind ein Ausdruck von Stärke und wiedergewonnener Lebenskraft. Wir dürfen deshalb hoffen, daß sie als Grundlage für ein neues Verhältnis dienen können.

Vor ein paar Monaten diskutierten wir in einem privaten Kreis von Europäern und Amerikanern die nukleare Frage. Da sagte ein Franzose etwas, was mir sehr richtig schien. Er meinte, es sei sinnlos, die Zukunft der Allianz auf Pläne für so apokalyptische Eventualitäten zu gründen. Die atlantischen Völker könnten nur dann zusammenkommen, wenn sie gemeinsam von der Welt träumten, die sie schaffen möchten, und nicht von den Umständen, unter denen sie die Welt würden vernichB ten wollen. Wir leben in einer Welt, die, weil sie revolutionär ist, uns ständig vor neue Probleme stellt. Aber ein anderes System oder eine andere Form von Gemeinschaft ist nicht zu schaffen ohne eine klare Konzeption, und für diese verstellen wir uns manchmal den Blick, weil wir zu sehr mit den täglichen Kri-sen beschäftigt sind. Man muß daran erinnern, daß es zwei Arten von Realisten gibt: solche, die sich der Wirklichkeit anpassen, und solche, die sie zu gestalten suchen. Die Welt, die wir im Westen bauen, hängt vielleicht weniger von technischen Diskussionen ab als von gemeinsamen Träumen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Henry A. Kissinger, Dr. phil., Professor für politische Wissenschaft und Direktor des Internationalen Seminars der Harvard Universität, geb. 27. Mai 1923 in Fürth. Veröffentlichungen u. a.: Nuclear Weapons and Foreign Policy, 1957; The Necessity for Choice: Prospects of American Foreign Policy, 1961; TheTroubled Partnership: A Reappraisal of the Atlantic Alliance, 1965, deutsch: Was wird aus der westlichen Allianz?, Düsseldorf 1965.