In einem an dieser Stelle veröffentlichten Vergleich zwischen dem Amerikanischen Kongreß und dem Deutschen Bundestag (B 43/65) kommt Winfried Steffani zu dem Ergebnis, daß der Bundestag seiner institutionellen Anlage nach „für den allgemeinen Entwicklungstrend moderner Parlamente schlechthin beispielhaft werden könnte.“ Dennoch gibt es Kritik am Bundestag, nicht zuletzt aus den Reihen seiner Mitglieder selbst. Der folgende Beitrag, der lediglich die persönliche Meinung des Verfassers wiedergibt, geht dieser Kritik unter dem besonderen Blickwinkel der notwendigen Wechselwirkung zwischen Parlament und öffentlicher Meinung nach und stellt eine Reihe von Reformvorschlägen zur Diskussion.
öffentliche Meinung als Meinung über öffentliche Angelegenheiten
Es gibt zwei weitverbreitete Ansichten. Die eine lautet: Die da oben in Bonn kümmern sich keinen Deut um die öffentliche Meinung, sie informieren uns nicht, sie stellen uns vor vollendete Tatsachen, sie machen, was sie wollen. Die andere Ansicht lautet gerade umgekehrt: Bei allem, was der Bundestag tut, spielt die Erwägung, wie die öffentliche Meinung darauf wohl reagieren werde, die größte Rolle; die Abgeordneten starren ängstlich auf die Umfrageergebnisse der Demoskopie und getrauen sich kaum, sachlich gebotene Entscheidungen zu treffen, aus Furcht, bei den Wählern nicht richtig anzukommen.
Welche der beiden Ansichten ist richtig? Beachtet das Parlament die öffentliche Meinung zu viel oder zu wenig? Oder treffen beide Ansichten zu? Wie sollte das wünschenswerte Verhältnis zwischen Parlament und öffentlicher Meinung aussehen
Zunächst, was ist eigentlich öffentliche Meinung? Der Begriff geht auf die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zurück
Entstehung und Entfaltung des Begriffs der öffentlichen Meinung sind eng mit der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft verbunden; der Topos gehört zu den Schlüsselworten, in denen das politische Selbstverständnis dieser Gesellschaft sich artikuliert. Lange Zeit bezog er sich fast ausschließlich auf die Überzeugungen, die Wünsche und die Forderungen der bürgerlichen Klassen. Öffentliche Meinung, das war für die liberale Verfassungstheorie des neunzehnten Jahrhunderts vornehmlich die in freier und vernünftiger Diskussion sich bildende Meinung der besitzenden und gebildeten Schichten
Wir können es dahingestellt sein lassen, wieweit diese Theorie in der Praxis jemals verwirklicht war; sie hat jedenfalls den Begriff der öffentlichen Meinung nachhaltig beeinflußt und wird gelegentlich auch heute noch, wenigstens in einzelnen ihrer Elemente, zum Maßstab genommen.
Doch blieb diese Theorie nicht die einzige. Der Begriff der öffentlichen Meinung hat im Laufe der Zeit viele Bedeutungen angenommen. Davon zu reden ist hier nicht der Ort
Unter öffentlicher Meinung soll im folgenden der Inbegriff der Meinungen der Gesellschaft zu öffentlichen Angelegenheiten verstanden werden. Der Ausdruck Meinung bedeutet dabei kein unzulängliches Wissen (im Gegensatz zum sicheren Wissen), sondern ein Urteil, eine Stellungnahme. „Wo ich eine Meinung habe, da beurteile ich etwas, nehme Stellung zu einer Frage."
Niemals ist dieses komplexe, auf keinen Nenner zu bringende Phänomen besser beschrieben worden als in den Worten des Historikers Hermann Oncken zu Beginn dieses Jahrhunderts: „öffentliche Meinung ist ein Komplex von gleichartigen Äußerungen größerer oder geringerer Schichten eines Volkes über Gegen-stände des öffentlichen Lebens, bald spontan hervorbrechend, bald künstlich gemacht; in den verschiedenartigsten Organen sich ausdrückend, in Vereinen, Versammlungen, vor allem in der Presse und Publizistik, oder auch nur in dem unausgesprochenen Empfinden eines jeden, des gemeinen Mannes auf der Straße oder eines kleinen Kreises von Gebildeten; hier eine wirliche Macht, auf die auch die Staatsmänner blicken, dort ein Faktor ohne politische Bedeutung; und immer anders zu werten in jedem Volke; bald einheitlich, wie eine gewaltige Flutwelle gegen die Regierenden und Sachverständigen sich erhebend, bald in sich zerteilt und die widerstrebendsten Tendenzen bergend; einmal das einfache und natürliche Gefühl der Menschen zum Ausdruck bringend, das andere Male ein lärmender und unsinniger Ausbruch wilder Instinkte; immer geleitet und doch immer führend; von den Kennenden und Wissenden über die Achsel angesehen, ansteckend wie eine Epidemie, launisch und treulos und herrschsüchtig wie Menschen selber, und dann doch wieder nichts als ein Wort, mit dem sich die Machthaber betrügen ..."
Dieser Begriff, der von einigen Autoren als „gemeine Meinung" bezeichnet wird
Diskussion aller relevanten Meinungen
Wie soll nun das Verhältnis von Parlament und öffentlicher Meinung beschaffen sein? Die Klassiker des Parlamentarismus haben dieser Frage große Aufmerksamkeit gewidmet. Nach Walter Bagehot beispielsweise hat das Parlament fünf Funktionen zu erfüllen; drei davon haben mit dem zu tun, was hier öffentliche Meinung genannt wird. Das Parlament, sagt Bagehot in seiner Schrift „The English Constitution" von 1867, hat die Aufgabe, die öffentliche Meinung auszudrücken, zu erziehen und zu informieren (expressive function, teaching function, informing function)
Wir brauchen diese Aufzählung und diese Rangfolge natürlich nicht als eine für alle Zeiten und Regierungssysteme gültige Beschreibung zu übernehmen. Ohne Zweifel hat das Parlament noch andere bedeutsame Aufgaben, die Bagehot in seinem Katalog nicht ausdrücklich berücksichtigt, etwa die der Kontrolle von Regierung und Verwaltung. Der Hinweis auf Bagehot — wir könnten auch andere Autoren nehmen, vor allem die Verfasser des „Federalist" und John Stuart Mill — soll uns nur dazu ermuntern, unsere eigene Auffassung vom Parlament zu überprüfen. Wir sind schon des längeren gewöhnt, im Parlament in erster Linie eine Gesetzgebungskammer zu sehen und unser Interesse auf diesen Aspekt zu konzentrieren. So wichtig er auch ist, so wenig sollten wir dennoch die anderen Aspekte vergessen.
Welche Rolle soll das Parlament für die öffentliche Meinung spielen? Zuvörderst soll das Parlament ein Forum sein, auf dem alle für das Gemeinwesen relevanten Meinungen zur Sprache kommen und diskutiert werden. Worin liegt der Sinn dieses Forums? Zunächst einmal darin, den Regierenden wie den Regierten einen Spiegel der Meinungen, Wünsche und Interessen vorzuhalten, die in der Bevölkerung vorhanden sind. Der Bürger erhält dadurch die Chance, seinen begrenzten Gesichtskreis zu erweitern
Kritische Prüfung aller Meinungen
Nun ist das Parlament nicht nur ein Forum, auf dem diskutiert, es ist auch ein Ort, an dem entschieden wird. Die zentrale Frage ist, wieweit der Politiker bei seinen Entscheidungen der öffentlichen Meinung folgen soll. Daß er sie berücksichtigen muß (und zwar nicht nur in einem bloß berechnenden, taktischen Sinne) ist klar; Demokratie bedeutet Handeln im Auftrag und im Interesse des Volkes. Aber ebenso klar ist, daß er ihr nicht in allem folgen kann. Abgesehen davon, „daß ein derart komplexes Gebilde, wenn überhaupt, immer nur unvollkommen meßbar sein kann", so daß ein ernsthafter Politiker „nur sehr zögernd eine kategorische Feststellung über den Stand der öffentlichen Meinung zu einem bestimmten Problem machen wird"
Ernst Fraenkel ist der Ansicht, daß eine Meinung nur dann erwarten kann, als maßgebender Faktor der politischen Willensbildung Beachtung zu finden, wenn sie bestrebt sei, „Ausdruck des Gemeinwillens" zu sein
Ich glaube nicht, daß sich der Politiker mit solchen generellen Antworten zufrieden geben darf. Es wird kaum eine Formel geben, durch die ein für allemal festgestellt werden kann, was als relevante Meinung zu gelten hat und was nicht. Der Politiker wird vielmehr von Fall zu Fall immer von neuem zu prüfen haben, was jeweils Anspruch auf Gehör hat. Die Honoratiorendemokratie des neunzehnten Jahrhunderts konnte unter öffentlicher Meinung noch die Meinung der gebildeten Mittel-klassen verstehen; heute muß der Politiker alle Schichten anhören. Es genügt nicht, wenn er sich in der Presse über die Meinungen des Volkes zu orientieren sucht; er wird auch die Ergebnisse der Demoskopie berücksichtigen müssen, auch wenn die Meinungen, die dadurch erfaßt werden, nur die Meinungen anonymer Privatpersonen sind und im strengen Sinne gar nicht öffentlich geäußert wurden; aber wie anders sollte er die Ansichten der Durchschnittsbürger erfahren, die so gut wie kaum eine Gelegenheit haben, in der Öffentlichkeit zu politischen Fragen Stellung zu nehmen? Der Politiker kann sich auch nicht damit begnügen, nur das rational Begründete zur Kenntnis zu nehmen; auch im Emotionalen, ja im bloßen Unbehagen kann etwas durchaus Vernünftiges zum Ausdruck kommen. Nicht anders verhält es sich mit den gelenkten und manipulierten Meinungen; auch sie können nicht von vornherein als unverantwortlich verworfen werden. Der Politiker wird auch Meinungen ernst nehmen müssen, die mit Interessen verbunden sind, weil interessenfreie Standpunkte in der Politik selten vorkommen und Interessen sich vom Gemeinwohl auch nur künstlich scheiden lassen. Und schließlich wird er zur öffentlichen Meinung nicht nur die Meinung der Sachverständigen zählen können, weil er damit die Möglichkeit der Demokratie bestreiten würde und weil es außerdem ein Vorurteil ist, daß Sachverstand vorurteilsfrei macht
Das Parlament ist demnach kein bloßer Exponent der öffentlichen Meinung, es stellt vielmehr ein kritisches Medium dar, das die öffentlichen Meinungen sichtet und siebt, Weit davon entfernt, nur ein technisches Bindeglied zwischen dem Willen des Volkes und dem Willen der Regierung zu sein, ist es in Wirklichkeit „die repräsentative Stätte der Umformung öffentlicher Meinung in politischen Gesamtwillen"
Informierung, Erziehung und Führung der Öffentlichkeit
Das Parlament kann sich nicht damit begnügen, Sprachrohr und kritisches Medium der öffentlichen Meinung zu sein. Einmal ist es für den Abgeordneten unmöglich, bei allen anstehenden Entscheidungen Sich ein Bild davon zu machen, was die Gesellschaft von ihm erwartet. Zum andern gibt es in vielen Fällen, vor allem in den alltäglichen Fragen, gar keine öffentlichen Meinungen, die er berücksichtigen könnte. Und schließlich geht öffentliche Meinung meist über vage Grundsätze nicht hinaus; sie gibt lediglich Richtungen an, die aber dem Politiker, der sich aufs Detail einlassen muß, nicht genügen.
Aus all dem folgt, daß die öffentliche Meinung zwar das politische Handeln anregen, in eine Richtung lenken, gutheißen oder mißbilligen kann, aber nicht selbst zu regieren vermag. Sie ist, wie der Staatsrechtslehrer Bluntschli vor mehr als hundert Jahren bemerkt hat, „eine öffentliche Macht, aber sie ist keine öffentliche Gewalt"
Er darf aber nicht stillschweigend von der öffentlichen Meinung abweichen, er muß vielmehr seinen Standpunkt in der Öffentlichkeit vertreten und begründen. Hieraus ergeben sich für das Parlament als öffentlichem Forum eine Reihe von weiteren Funktionen.
Das Parlament ist nicht nur der Ort, an dem die Meinungen des Volkes zum Ausdruck kommen; es ist auch der Ort, an dem die Abgeordneten zu diesen Meinungen Stellung beziehen und ihre eigenen Meinungen entwikkeln müssen. Das Parlament ist die Tribüne, auf der die Regierung ihre Pläne und Maßnahmen öffentlich darlegen und rechtfertigen soll. Der Opposition fällt dabei die Aufgabe zu, die Regierung ständig zur Rede zu stellen und zur Antwort zu zwingen. Der Sinn der Debatte ist nicht der, daß sich die Abgeordneten gegenseitig bekehren — auch früher, als die Fraktionsgrenzen noch nicht so verhärtet waren wie heute, haben Reden nur selten Einfluß auf die parlamentarischen Abstimmungen gehabt
„Was wäre die Folge, wenn ein Premierminister, der Mehrheit sicher, darauf verzichten würde, seinen Standpunkt im Unterhaus vertreten zu lassen?“
Burke: „Er würde sich nicht lange halten. Man hat es schon versucht, aber es bewährte sich nicht."
(Zit. nach James Boswell, Dr. Samuel Johnson, ed.
F. Güttinger, Manesse Bibliothek, 1951, S. 442 f.)
Dieses Gespräch ist um so erstaunlicher, als erst einige Jahre zuvor das Verbot der Parlaments-berichterstattung vom englischen Unterhaus offiziell aufgehoben wurde. Bedenkt man diese Stelle, der sich viele spätere zur Seite stellen lassen, so erscheint die Meinung vieler Kritiker doch nicht so zutreffen, daß die Parlamentsdebatten im 18.
und 19. Jahrhundert vor allem deshalb so viel spannungsreicher gewesen seien, weil die Redner damals noch hätten hoffen können, schwankende Gemüter umzustimmen. mokratisch genannt werden, wenn sie potentiell allen Bürgern einen Einblick in ihre Tätigkeit gewährt. Der Zwang zur Publizität hält die Regierung nicht nur dazu an, sich ihre Entscheidungen sorgfältig zu überlegen; viel wichtiger ist, daß er das Mißtrauen der Öffentlichkeit verhindert, das Verständnis der Bürger für die öffentlichen Angelegenheiten fördert und es ihnen ermöglicht, ihre gewählten Repräsentanten zu kontrollieren; darüber hinaus ist es der Sinn der Publizität, die Wähler zur Stellungnahme anzuregen und eine immer neue Integration zu bewirken
Aufgabe von Regierung und Opposition ist es, (Jas Ohr der Öffentlichkeit zu gewinnen und die Bürger von ihren Ansichten zu überzeugen. Zu ihren Obliegenheiten gehört es, die Wähler zu informieren und über die Realität aufzuklären, auch und gerade dann, wenn dabei Vorurteile enthüllt und Tabus zerstört werden müssen. Ihr Pflicht ist es, leichtfertigen oder gefährlichen Meinungen, die in der Öffentlichkeit umlaufen, entgegenzutreten und die tatsächlichen Probleme deutlich zu machen, die zum Teil noch gar nicht ins öffentliche Bewußtsein gedrungen sind. Regierung und Opposition dürfen sich nicht damit zufrieden geben, die öffentliche Meinung auszudrücken: sie müssen sie auch führen, besonders in den Fällen, in denen Unkenntnis der Fakten oder Demagogie die öffentliche Meinung blind gemacht haben. Nicht zuletzt ist es ihre Aufgabe, die Urteilskraft der Bürger zu entwickeln und sie zur Meinungsbildung zu erziehen; die Art, wie im Parlament Standpunkte dargelegt und Argumente abgewogen werden, soll ein Muster abgeben für die Meinungsbildung der Allgemeinheit. Das Parlament ist demnach kein bloßes Ausdrucksorgan der öffentlichen Meinung. Indem es die öffentliche Meinung zu informieren, zu mobilisieren, zu erziehen und zu führen ver25 sucht, wirkt es selbst auf die öffentliche Meinung ein, artikuliert, formt und regiert sie, schafft sie um oder schafft sie neu. öffentliche und parlamentarische Meinungsbildung sind also keine festen Größen, die unabhängig voneinander bestehen, sondern Faktoren, die erst im Prozeß des gegenseitigen Aufeinandereinwirkens bestimmtere Gestalt annehmen
Die Rolle der Demoskopie
Zwischen Parlament und öffentlicher Meinung, so läßt sich sagen, soll ein ständiger Strom von Informationen, Anregungen und Forderungen hin und her gehen. Die Frage ist, wie es mit dieser Wechselwirkung in der Praxis bestellt ist.
Was den Einfluß der öffentlichen Meinung auf die politische Willensbildung in der Bundesrepublik angeht, so ist ja allgemein bekannt, daß die Wahlkämpfe der Parteien in zunehmendem Maße von den Ergebnissen der Meinungsumfragen bestimmt werden. So wie man glaubt, durch Umfragen ausmachen zu können, welche Eigenschaften die Hausfrau von einem idealen Waschpulver erwartet, so hofft man, durch Interviews optimale Parteiprogramme ermitteln zu können. Auf diese Weise „produziert der Wahlkampf Kandidaten mit Wählermeinungen und nicht Politiker mit ihrer eigenen Meinung"
Auch die Regierung unterrichtet sich laufend mit Hilfe demoskopischer Institute über die Neigungen, Wünsche und Hoffnungen der Bevölkerung. Mit den Ergebnissen derartiger Erkundigungen verfährt sie dabei nicht anders als die Parteien: „Zwar zeigen die Parteiführungen den höheren und mittleren Funktionären gelegentlich in Schaubildern, was die Meinungsforscher herausgefunden haben. Die detaillierten Ergebnisse der Umfragen und die Schlußfolgerungen werden jedoch nur einem sehr kleinen Kreis zugänglich gemacht. Wenige numerierte Exemplare kursieren innerhalb der engeren Parteiführung. In die Geheimnisse der Meinungsforscher eingeweiht zu werden, kommt heute dem höchsten Grad des . Dienstwissens'gleich." 28a) Es ist daher für einen Außenstehenden auch nicht leicht, festzustellen, wieweit solche Veranstaltungen nicht nur das propagandistische und taktische Verhalten, sondern auch die Ziele der Regierung bestimmen
Vorrang der organisierten Meinungen
Man braucht nur einmal die Gegenprobe zu machen. Es gibt eine Reihe von Fragen, in denen die öffentliche Meinung weitgehend einhellig ist. So zum Beispiel herrscht in der Öffentlichkeit Einigkeit darüber, daß für Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Altersheime und dergleichen nicht genügend getan wird, daß die Verschmutzung der Luft und des Wassers menschenunwürdig ist, daß Städteplanuhg und Wohnbaupolitik auf die Bedürfnisse der Bewohner zu wenig Rücksicht nehmen. Gerade in solchen Fragen ist aber die öffentliche Meinung keineswegs am wirkungsvollsten. Ein Kaninchenzüchterverein, der über einen guten Lobbyisten verfügt, findet bei den Abgeordneten vielfach leichter Gehör als die unorganisierte Meinung des Volkes, mag diese auch noch so wichtige Gegenstände betreffen und noh so einhellig sein. Hier liegt einer der neuralgischen Punkte in dem Verhältnis von Parlament und öffentlicher Meinung: das Parlament berücksichtigt öffentliche Meinungen vornehmlich in den Fällen, in denen es sich um organisierte Meinungen handelt, hinter denen ein bedeutsamer Interessenverband steht, von dem sich die Parteien Geld und Wählerstimmen versprechen
Was umgekehrt den Einfluß des Parlaments auf die öffentliche Meinung angeht, so wird man nicht um die Feststellung herumkommen, daß dieser Einfluß gegenwärtig gering ist. Selbst unter Abgeordneten ist das Unbehagen weit verbreitet, „daß der Bundestag es bisher nicht erreicht hat, seiner Bedeutung gemäß seine Stellung in der Öffentlichkeit zu festigen"
öffentliche Meinung als potentieller Bundesgenosse des Parlaments
Wenig entwickelt ist auch die Neigung des Parlaments, die Wähler in genügendem Maße über die Realitäten aufzuklären, besonders dann, wenn die Gefahr besteht, daß bei der Aufklärung Illusionen zerstört werden müssen. Als im Frühjahr 1965 die Parteien daran gingen, sich gegenseitig in Wahlgeschenken zu überbieten, haben Regierung und Opposition es tunlichst vermieden, die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, wer die Kosten zu tragen hat.
Zu den erzieherischen Aufgaben des Bundestages gehörte es auch, die Öffentlichkeit über die Motive und Zwecke der Gesetze zu unterrichten. Zweifellos kann das Plenum nicht alle Gesetze ausführlich debattieren, aber auch bei den unwichtigeren Gesetzen sollte wenigstens die Zustimmung oder die Ablehnung kurz begründet werden. Auch daß sachliche Argumente häufig mit persönlichen Unterstellungen beantwortet werden, der Appell an Gefühle und Stimmungen höher bewertet wird als der Appell an die Vernunft, trägt zur Meinungsbildung der Öffentlichkeit wenig Positives bei. Der Bundestag hat seine Funktion als Forum und Schule der Nation weitgehend eingebüßt
Systemimmanente Schwierigkeiten
Politiker sprechen gern von dem Zwang der Gegebenheiten, der ihnen kein anderes Verhalten erlaube. Wissenschaftler vertreten häufig die Ansicht, eine bestimmte Entwicklung sei systemimmanent und daher nicht zu ändern. Auch in bezug auf den Niedergang des Parlaments als öffentlichem Forum werden dergleichen Thesen öfters geäußert. So weist man beispielsweise darauf hin, es sei für den Politiker heute nicht einfach, sein Ohr am Puls der öffentlichen Meinung zu haben. Sein Arbeits-und Lebensstil erlaube ihm nur schwer den Austausch von Informationen und Gedanken mit Personen anderer Lebenskreise. Er habe viel zu viel zu tun, um von außerhalb seiner eigenen Welt noch viel Anregungen aufnehmen zu können. Man müsse sich nur einmal vergegenwärtigen, mit wem Abgeordnete verkehren: in erster Linie mit Kollegen, Parteifunktionären, Interessenvertretern, Managern, Beamten, am wenigsten mit Personen ohne Ämter und Funktionen; das heißt, mit Leuten aus der Mehrheit der Bevölkerung haben sie kaum Kontakt. Sie bilden eine eigene soziale Welt; sie bleiben, nolens volens, unter sich. Nicht wenig trage zu dieser Isolierung noch die Enge der Stadt Bonn bei, die bewirkt, daß sich immer die gleichen Leute an den gleichen Orten bei den gleichen Gelegenheiten treffen
Darüber hinaus dürfe man auch nicht übersehen, daß es einem Politiker heute schwerer als in der Vergangenheit falle, seine Wähler an seinem Tun teilnehmen zu lassen und über die öffentlichen Angelegenheiten zu unterrichten. Die wachsende Vielfalt der Zusammenhänge und gegenseitigen Abhängigkeiten habe die Gegenstände der Politik so kompliziert werden lassen, daß sie gewöhnlich nur noch mit Hilfe von Spezialisten verstanden werden könnten. Die Zeit sei unwiderruflich vorbei, in denen ein amerikanischer Präsident (Andrew Jackson) seine Aufgaben glaubwürdig als „so schlicht und einfach" habe beschreiben können, „daß intelligente Männer sich sofort zu ihrer Verrichtung qualifizieren könnten"
Neben der wachsenden Kompliziertheit der politischen Probleme habe auch die „Entideologisierung" und die Annäherung von Regierung und Opposition dazu beigetragen, daß die Öffentlichkeit die Plenardebatten, von den großen Tagen abgesehen, kaum beachtet. Nachdem die wichtigsten Entscheidungen über die außen-und wirtschaftspolitischen Grundsätze gefallen sind, die Gegensätze zwischen den Parteien sich abgeschliffen haben und über die Ziele große Einigkeit herrscht, stünden im Vordergrund der parlamentarischen Verhandlungen zwangsläufig weniger zündende Alternativen als vielmehr Detail-und Sachfragen, die für die Allgemeinheit nur von begrenztem Interesse sind
Ein weiterer Grund für das Nachlassen der Ausstrahlungskraft liege in der Schwerfälligkeit des parlamentarischen Geschäftsganges und in der Fraktionsdisziplin. Bevor die Probleme im Plenum behandelt werden, werden sie zunächst in den Vorständen, den Arbeitsgruppen und den Vollversammlungen der Fraktionen erörtert. Das dauert seine Zeit. Die Folge sei, daß es den Plenardebatten an Spontaneität und meist auch an Aktualität mangle. Hinzu komme, daß die Erklärungen der Fraktionssprecher äußerst vorsichtig formulierte Verlautbarungen seien, die von den vorangegangenen Diskussionen in der Fraktion nichts mehr erkennen ließen. Auf diese Weise werde ein großer Teil der Meinungsverschiedenheiten der Abgeordneten aus dem Plenum verbannt.
Manche Beobachter führen die schwache Resonanz der Plenardebatten auch auf die schlechte Parlamentsberichterstattung zurück
Unvermeidlicher Niedergang?
Aus diesen Gründen ziehen manche Kritiker den Schluß, der Verfall des Parlamentarismus sei unabwendbar. So zum Beispiel Paul Sethe: „Es hat Zeiten gegeben, in denen man annahm, die parlamentarische Demokratie sei die Höchstform der staatlichen Entwicklung des Menschen, etwas anderes, Besseres, könne es nicht geben. Heute glauben wir zu sehen, daß das System nicht ewig dauern wird. Schon ist der hohe Mittag seiner Wirksamkeit vorüber, die ersten Schatten der Dämmerung senken sich herab. Wenn es einst gefallen ist, wird man nach den . Schuldigen'suchen. Aber es gibt keine Schuldigen. Das Gesetz von Blühen und Verwelken gilt auch hier."
Träfe diese Ansicht zu, dann müßten wir uns allerdings jeden Gedanken an eine Änderung zum Besseren aus dem Kopf schlagen. Aber trifft sie denn zu?
Zweifellos hat der Parlamentarismus in allen Ländern an Ausstrahlungskraft verloren. Jedoch gibt es Unterschiede, die ins Gewicht fallen. Der amerikanische Kongreß oder das englische Unterhaus wirken mehr auf die öffentliche Meinung ein als der Deutsche Bundestag. Deutet das nicht darauf hin, daß der vielbeklagte Niedergang des deutschen Parlamentarismus doch nicht so unabwendbar ist?
Schauen wir uns einmal die Gründe näher an, die angeblich das Ende des Parlamentarismus als öffentlichem Forum unabänderlich machen.
Was den Hinweis auf die Isoliertheit der Abgeordneten betrifft, so wird man zugeben müssen, daß damit ein ernstes Problem gegeben ist. Die Gefahr der Abschnürung des Parlaments von den Bedürfnissen, Erfahrungen und Erwartungen des Volkes, dessen Angelegenheiten die Abgeordneten doch stellvertretend besorgen sollen, stellt dabei keine Besonderheit der Bonner Verhältnisse dar. Die gleiche Gefahr läßt sich in allen Ländern beobachten. Die Politiker selbst beklagen diese Entwicklung. Nicht alle sind dabei allerdings so freimütig wie John F. Kennedy, der als Senator einmal bekannt hat: „Ich bezweifle, daß irgend ein Senator, der zur Abstimmung schreitet, behaupten kann, daß er wirklich die gegenwärtige Meinung der Mehrzahl seiner Wähler über die betreffende Gesetzesvorlage kenne. Wir im Senat leben in der Politik gleichsam wie in einer eisernen Lunge, aus deren gereinigter Atmosphäre man nicht leicht in die natürliche hinüberfindet, in der unsere Wähler atmen. Wenn wir in unseren Wahlkreis heimkehren, haben wir schwerlich Gelegenheit, mit anderen Wählern als mit Funktionären und Schreihälsen zusammenzukommen. Ich bin in Washington immer versucht, mir einzureden, daß vierzig oder fünfzig Zuschriften, sechs Besuche von Politikern und Lobbyisten oder drei Leitartikel aus der Presse meines Heimatstaates Massachussetts die öffentliche Meinung zu einem Thema darstellen. Tatsächlich kenne ich fast nie die Meinung der großen Mehrheit der Wähler und weiß auch nicht, ob sie überhaupt Kenntnis hat von den Dingen, die uns in Washington so hochwertig erscheinen."
Vermeidbare Unzulänglichkeiten
Ohne Zweifel ist Politik heute komplizierter als je zuvor geworden, und es bedarf immer größerer Anstrengungen, um dem Wähler die erforderlichen Informationen und Kriterien zu liefern, an Hand derer er sich eine eigene Meinung bilden kann. Aber das bedeutet noch lange nicht, daß Politik nur noch von Experten verstanden werden könnte und daß Plenarsitzungen, wie es heute häufig der Fall ist, Fortsetzungen der Fachdebatten der Ausschüsse sein müssen, bei denen Fachleute für Fachleute reden und die allgemeinen politischen Gesichtspunkte zu kurz kommen
Zu wenig diskutiert werden auch Alternativen. Gewiß, die Zeit, in der die Opposition auf fast allen Gebieten der Politik grundsätzliche Alternativen aufstellen konnte, ist vorbei. Aber das heißt nicht, daß es überhaupt keine Alternativen mehr geben könnte. Alternativen sind durchaus noch möglich und sinnvoll, wenn schon vielleicht nicht immer in bezug auf die Ziele, so doch in bezug auf die Rangordnung der Ziele und die Mittel ihrer Verwirklichung. Ein gewisses Maß an Übereinstimmung zwischen den Parteien ist zwar begrüßenswert; aber eben nur ein gewisses Maß. Eine Demokratie bedarf nicht nur des Konsenses, sondern auch des Dissenses
Daß die Fraktionsdisziplin für das Funktionieren einer parlamentarischen Regierungsweise unerläßlich ist, ist selbstverständlich. Ebenso, daß Fraktionen, bevor sie ins Plenum gehen, eine Klärung der Standpunkte ihrer Mitglieder herbeiführen und eine bestimmte Marschroute und Taktik für die Debatte festlegen müssen. Aber so schwerfällig und bürokratisch, daß für Spontaneität und Überraschungen in den Plenarsitzungen kaum Platz bleibt, bräuchte der parlamentarische Geschäftsgang wohl kaum zu sein. Es ist unnötig, daß immer wieder die gleichen Leute reden
Was schließlich den Vorwurf einer ungenügenden Parlamentsberichterstattung betrifft, so ist nicht zu leugnen, daß die Parlamentsberichte der großen englischen, amerikanischen und Schweizer Zeitungen besser als die vergleichbaren deutschen sind. Für den Bundestag bedeutet das zweifellos ein Nachteil, denn die Abgeordneten sind darauf angewiesen, daß die Presse von ihren Verhandlungen gebührend Notiz nimmt
Keine zwangsläufige Entwicklung
Trotz der Schwierigkeiten, vor denen die Abgeordneten stehen und die keineswegs geleugnet oder verkleinert werden sollen, scheint mir die Lage des Parlaments doch nicht so hoffnungslos zu sein. Wenn der Bundestag in den letzten zehn Jahren seine Funktion als öffentliches Forum verkümmern ließ, dann liegt das vielleicht weniger an irgendwelchen Zwangsläufigkeiten als an dem mangelnden Ehrgeiz der Mehrzahl der Abgeordneten, das Parlament zu einem solchen Forum zu machen. Mehr noch: es liegt vielleicht an dem mangelnden Bewußtsein eines Großteils der Abgeordneten, daß das Parlament ein Forum der Öffentlichkeit sein soll.
Der Bundestag hat sich immer mehr auf seine Funktion als Gesetzgebungskammer zurückgezogen. Resigniert stellt Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier fest, daß „der Bundestag ein Ausschußparlament geworden ist. Das Schwergewicht seiner Tätigkeit liegt ... in der Fach-und Detailarbeit in den Ausschußsitzungen"
Nicht frei von Verantwortung ist auch die Opposition. Denn deren Aufgabe ist es, die Themen für die Debatten zu liefern, die Fragen zu formulieren und die Regierung laufend zu zwingen, Rede und Antwort zu stehen. Ohne Zweifel hat die sozialdemokratische Fraktion diese Funktion in den letzten Jahren nicht genügend erfüllt. So verständlich die Motive hierfür auch sein mögen, so wenig vermögen sie dennoch die Opposition von der Verantwortung freizusprechen, an der Schwächung des Parlaments entscheidend mitgewirkt zu haben. Jeder Verzicht der Opposition, die Publizität der Handlungen der Regierung zu erzwingen, trägt auf die Dauer dazu bei, eine der elementarsten Verfassungsgrundlagen der Demokratie — das Prinzip der Öffentlichkeit — auszuhöhlen.
Ein anderer Grund für die Schwäche des Parlaments liegt in dem Selbstverständnis eines Großteils der Abgeordneten, sich weniger als Mitglieder des Parlaments denn als „organisatorisch-technisches Zwischenglied innerhalb der Partei“
Nicht Wenig hat zum Niedergang des Parlaments auch die weitverbreitete Neigung der Politiker beigetragen, ihre Stellungnahmen, ihre Pläne und Kontroversen nicht im Parlament, sondern außerhalb, vornehmlich im Fernsehen und in den Boulevard-Blättern, abzugeben, zu erläutern und auszufechten. Natürlich hat ein solches Verhalten seine Gründe. Die Parlamentarier sind enttäuscht über das geringe Echo der parlamentarischen Verhandlungen in der Öffentlichkeit und hoffen, anderswo größere Aufmerksamkeit zu gewinnen. Aber indem sie die Tribüne der Massenmedien wählen, machen sie den Niedergang des Plenums als öffentliches Forum erst endgültig. Kein anderes vergleichbares Land kennt diese Form der „Illustrierten-Demokratie", wie sie sich in den letzten Jahren in der Bundesrepublik entfaltet hat.
In diesem Zusammenhang muß auch die mangelnde Achtung erwähnt werden, die manche Abgeordnete dem Bundestag offensichtlich entgegenbringen. Es ist vielleicht nicht nötig, das Parlament zu lieben — obwohl die großen Parlamentarier sich dieses Gefühls nie geschämt haben
Parlamentsreform
Nicht wenige Abgeordnete aus allen Fraktionen haben diese Lage begriffen. Mit Recht weisen sie allerdings darauf hin, daß die gegegenwärtige Praxis der parlamentarischen Geschäftsordnung ihnen nur schwer erlaubt, sich durchzusetzen und eine Änderung herbeizufuhren. Seit Jahren treten sie daher für eine Reform der parlamentarischen Praxis ein, mit dem Ziel, den Bundestag wieder mehr in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken.
Da ist einmal der Vorschlag, den Plenardebatten ein anderes Ziel zu setzen. Den Ausschüssen soll es vorbehalten bleiben, die spe-ziellen Gesichtspunkte, sowie die Sach-und Detailfragen zu erörtern,
Das setzt zweierlei voraus. Einmal dürfen im Plenum nicht nur die jeweils zuständigen Spezialisten und Interessenvertreter anwesend sein und zu Wort kommen. Zum andern müssen dem Parlament auch Alternativen zur Entscheidung vorgelegt werden und nicht bereits ausgehandelte Kompromisse, die nur noch zu ratifizieren sind. Die gegenwärtige Praxis sieht anders aus. Die Verwaltung, in deren Schoß die meisten Gesetze und Verordnungen angeregt, vorbereitet und formuliert werden, nimmt in hohem Maße die politischen Entscheidungen bereits vorweg, indem sie mit den betroffenen Verbänden einen Kompromißvorschlag ausarbeitet, der möglichst wenig Reibungsflächen bietet. Das heißt, die politische Aussprache wird auf diese Weise den Abgeordneten entzogen; sie findet außerhalb des Bundestages statt
Überprüfung der Zuständigkeiten
Ferner bedarf es „einer gründlichen Überprüfung der Zuständigkeiten. Der Bundestag erstickt sonst in der Fülle seiner Kleinarbeit."
Das Plenum sollte künftig aber auch häufiger tagen. Während das englische Unterhaus jährlich mehr als 150, das amerikanische Repräsentantenhaus selten weniger als 120 Sitzungen abhält, versammelt sich der Deutsche Bundestag im gleichen Zeitraum kaum fünfzigmal
Eine wichtige Voraussetzung zur Diskussion der tagespolitischen Fragen wurde probeweise bereits Anfang 1965 in Form der sogenannten „Aktuellen Stunde“ geschaffen
Es wird allerdings nicht so leicht sein, dieser Institution zum Erfolg zu verhelfen. Soll es zu einer spontanen und fruchtbaren Debatte kommen (und nicht nur zum Austausch längst bekannter Standpunkte), müssen zuvor zwei Vorurteile überwunden werden, die hierzulande fest eingewurzelt sind: das Vorurteil, „zweimal zu denken sei eine Sünde“, und das Vorurteil, die Meinungen eines Politikers seien nicht nur ihm selbst, sondern unter allen Umständen zugleich seiner Partei anzulasten. Sobald man den einzelnen Abgeordneten auf seine Meinungen festlegt, ist es fast unvermeidlich, daß er nur noch unverbindlich Allgemeinheiten äußert, aus Furcht, daß er morgen anders denken könne und daß ihm dieser Meinungswechsel dann sein Leben lang vorgewor-fen wird. Nicht anders verhindert der Zwang, sich vor jeder Äußerung in der Öffentlichkeit mit der Partei ins Benehmen zu setzen und die Meinungen dabei abzustimmen, jede spontane Meinungsäußerung. Solange diese beiden Vorurteile nicht überwunden sind, wird die „Aktuelle Stunde" kaum befriedigend funktionieren.
Notwendig wäre ferner eine Vereinbarung, welche die Abgeordneten verpflichtet, akute politische Themen in Presse, Rundfunk und Fernsehen nicht vor Ablauf einer bestimmten Frist, etwa von vierzehn Tagen, zu erörtern, es sei denn, das Parlament habe zuvor dazu Stellung genommen. Eine solche Vereinbarung, wie sie in ähnlicher Weise bis vor kurzem in England bestand
Parlamentarische Debatte verlebendigen
Nicht weniger wichtig ist es, die parlamentarischen Debatten lebhafter und für die Öffentlichkeit anziehender zu machen. Hierzu gehört unter allen Umständen, daß nach der Rede des Kanzlers oder eines Ministers ein Sprecher der Opposition das Wort erhält, wie es die SPD schon mehrfach gefordert hat
Zu diesem Mangel an lebendiger Konfrontation trägt auch die jetzige Form des Plenarsaales bei, die mehr zur Abfolge von Monologen als zur Wechselrede inspiriert. Man hat die Befürworter eines Umbaues des Plenarsaales häufig verlacht, mit der Begründung, die Architektur sei eine bloße Äußerlichkeit. Dabei sollten die Politiker, die doch an so verschiedenen Orten reden müssen, eigentlich wissen, wie sehr die Anlage des Raumes den Stil und die Wirkung einer Rede bestimmt. Der Umbau des Plenarsaales wird die Debatte nicht automatisch beleben, aber er wird sie erleichtern. Bundesminister Gerhard Schröder hat vor Jahren die Gründe aufgezählt, die für einen Umbau sprechen: „Das Wesen des Parlaments besteht nicht in der Deklamation, sondern in der Diskussion. Für die Diskussion aber ist die derzeitige Einrichtung des Plenarsaales so ungeeignet wie nur möglich. Der Plenarsaal ähnelt einem ... Vortragssaal mit Bühne und Galerie. Die Zeit ist gekommen, hier eine kräftige Besserung wenigstens zu versuchen. Dabei sollte man sich vor Halbheiten hüten. Unter den Vorbildern, die sich für eine wirkliche Reform anbieten, halte ich das des britischen Unterhauses für das uns gemäßeste: engeres Zusammenrücken der Abgeordneten unter Wegfall der doch etwas schulmäßigen Pulte und dadurch die Erzielung einer dichteren Atmosphäre; klares Gegenüber von Regierung und Opposition ... Der Zwang, vom Platz aus frei zu sprechen, gäbe den wirklichen Parlamentariern, vor allem auch unter den jüngeren Kollegen, eine unvergleichliche Chance, sich durch Konzentration und Schlagfertigkeit in der Auseinandersetzung hervorzutun. Die Bundestagssitzungen wären kürzer, lebendiger, eindrucksvoller, das Interesse der Öffentlichkeit größer und das Parlament für die Politiker selbst attraktiver. Den Hauptgewinn aber hätte die Demokratie."
Es geht um Grundfragen der parlamentarischen Demokratie
Ein anderer Punkt, der der Reform bedarf, ist die Redepraxis. Paragraph 37 der Geschäftsordnung des Bundestages sieht vor, daß die Redner grundsätzlich in freiem Vortrag sprechen. Der Sinn der Vorschrift ist klar: Redner, die ausgearbeitete Manuskripte vorlesen, wirken nicht nur selten fesselnd, sie haben es außerdem schwer, sich dem Gang der Debatte anzupassen und auf die Argumente der Vorredner einzugehen. Die wenigsten Abgeordneten halten diese Vorschrift jedoch ein. So kommt es, daß aus dem Hin und Her, dem Hieb und Stich der Argumente, das zum Parlament wesentlich gehört, ja sein Lebens-element ausmacht, allzuhäufig eine monotone Abfolge unverbundener Meinungsäußerungen wird. Auch wenn man berücksichtigt, daß viele Themen nur schwer zu einem freien Vortrag geeignet sind und daß rhetorische Begabung nicht bei allen Parlamentarieren vorausgesetzt werden kann, sollten sich die Abgeordneten trotzdem mehr als bisher von ihren Manuskripten lösen und frei debattieren
Ebenso dringlich, vielleicht sogar noch dringlicher wäre es, die Redezeit zu beschränken, etwa auf eine halbe Stunde, und von dieser Beschränkung nur in Ausnahmefällen abzugehen. Kurze Redezeiten zwingen zur Kon-zentration auf das Wesentliche und zur Präzision des Ausdrucks. Je konzentrierter und je präziser eine Rede ist, desto größer ist in der Regel auch die Chance, daß sie auf wache Ohren stößt. Die Reden, die im Bundestag gehalten werden, sind gewöhnlich zu lang, nicht selten überschreiten sie eine Stunde. Häufig reden fünf Redner fünf Stunden lang, was bei den Redegewohnheiten des Bundestages heißt, daß fünf Redner fünf Stunden hintereinander ihre Denkschriften vorlesen. Niemand ist in der Lage, fünf Stunden lang die Verlesung von Denkschriften anzuhören. Das Ergebnis: das Haus und die Tribüne leeren sich
Auch hier hat Dichgans ein vernünftiges Verfahren vorgeschlagen, dasjenige nämlich, das sich im Europäischen Parlament bewährt hat. Der Kern seines Vorschlages besteht darin, den Fraktionsspitzen die faktische Entscheidung über die Rednerliste und die Redezeiten zu nehmen und in die Hände des Plenums und dessen Präsidenten zu legen
Unser jetziges System geht dahin, daß die schwere Artillerie der Fraktionskanonen am Anfang redet und daß die Herren dann oft anschließend den Saal verlassen. Wäre es nicht viel besser, wenn zunächst die Einwendungen kämen, die meinetwegen originellen Beiträge, damit zum Schluß die Fachleute der Fraktionen die Debatte noch einmal aufgreifen, sie zusammenfassen und die Stellungnahme der Fraktionen vortragen? Ich glaube, wenn wir uns das einmal überlegen, werden unsere Debatten fruchtbarer, lebendiger und anziehender werden."
Ein anderes Mittel, den Kreislauf zwischen Parlament und öffentlicher Meinung zu beleben und zu kräftigen, wäre die Vermehrung der öffentlichen „Hearings“ (öffentliches Anhören von Sachverständigen durch einen Parlaments-Ausschuß)
Nur vordergründig geht es bei diesen Vorschlägen zu einer Reform der Geschäftsordnung um Fragen der Zweckmäßigkeit: in Wahrheit geht es „um Grundfragen des Selbst-Verständnisses der parlamentarischen Demokratie"
Es gibt Stimmen, die bestreiten, daß eine derartige Reform überhaupt den erhofften Erfolg bringen wird. Die Erfahrungen der letzten Jahre geben zu übertriebenem Optimismus wenig Anlaß. So haben sich die Abgeordneten in den ersten eineinhalb Jahren seit Einführung der „Aktuellen Stunde" nur dreimal dieser Einrichtung bedient. Eines ist klar: wenn der Bundestag sich das Instrumentarium schafft, mit dessen Hilfe er interessanter werden und lebhafter auf die öffentliche Meinung einwirken könnte, dann muß er davon auch den richtigen Gebrauch machen.