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Das Parlament als öffentliches Forum Zum Verhältnis von Bundestag und öffentlicher Meinung | APuZ 40/1966 | bpb.de

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APuZ 40/1966 Das Parlament als öffentliches Forum Zum Verhältnis von Bundestag und öffentlicher Meinung

Das Parlament als öffentliches Forum Zum Verhältnis von Bundestag und öffentlicher Meinung

Arnd Morkel

In einem an dieser Stelle veröffentlichten Vergleich zwischen dem Amerikanischen Kongreß und dem Deutschen Bundestag (B 43/65) kommt Winfried Steffani zu dem Ergebnis, daß der Bundestag seiner institutionellen Anlage nach „für den allgemeinen Entwicklungstrend moderner Parlamente schlechthin beispielhaft werden könnte.“ Dennoch gibt es Kritik am Bundestag, nicht zuletzt aus den Reihen seiner Mitglieder selbst. Der folgende Beitrag, der lediglich die persönliche Meinung des Verfassers wiedergibt, geht dieser Kritik unter dem besonderen Blickwinkel der notwendigen Wechselwirkung zwischen Parlament und öffentlicher Meinung nach und stellt eine Reihe von Reformvorschlägen zur Diskussion.

öffentliche Meinung als Meinung über öffentliche Angelegenheiten

Es gibt zwei weitverbreitete Ansichten. Die eine lautet: Die da oben in Bonn kümmern sich keinen Deut um die öffentliche Meinung, sie informieren uns nicht, sie stellen uns vor vollendete Tatsachen, sie machen, was sie wollen. Die andere Ansicht lautet gerade umgekehrt: Bei allem, was der Bundestag tut, spielt die Erwägung, wie die öffentliche Meinung darauf wohl reagieren werde, die größte Rolle; die Abgeordneten starren ängstlich auf die Umfrageergebnisse der Demoskopie und getrauen sich kaum, sachlich gebotene Entscheidungen zu treffen, aus Furcht, bei den Wählern nicht richtig anzukommen.

Welche der beiden Ansichten ist richtig? Beachtet das Parlament die öffentliche Meinung zu viel oder zu wenig? Oder treffen beide Ansichten zu? Wie sollte das wünschenswerte Verhältnis zwischen Parlament und öffentlicher Meinung aussehen

Zunächst, was ist eigentlich öffentliche Meinung? Der Begriff geht auf die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zurück Zum erstenmal gebraucht ihn Rousseau in seinem Diskurs über die Künste und Wissenschaften von 1750. Drei Jahrzehnte später taucht er in England auf. In Deutschland scheint ihn Friedrich Georg Forster 1793 als erster verwendet zu haben. Um die Jahrhundertwende ist er im allgemeinen Sprachgebrauch schon fest eingebürgert.

Entstehung und Entfaltung des Begriffs der öffentlichen Meinung sind eng mit der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft verbunden; der Topos gehört zu den Schlüsselworten, in denen das politische Selbstverständnis dieser Gesellschaft sich artikuliert. Lange Zeit bezog er sich fast ausschließlich auf die Überzeugungen, die Wünsche und die Forderungen der bürgerlichen Klassen. Öffentliche Meinung, das war für die liberale Verfassungstheorie des neunzehnten Jahrhunderts vornehmlich die in freier und vernünftiger Diskussion sich bildende Meinung der besitzenden und gebildeten Schichten Da diese Schichten von relativer Homogenität waren und gleichlaufende Interessen aufwiesen, konnte die öffentliche Meinung, wenigstens in den großen Fragen der Nation, als weitgehend einheitlich gelten. Sprachrohr der öffentlichen Meinung war in erster Linie die bürgerliche Presse, aber auch das Parlament, dessen wichtigste Entscheidungen durch die öffentliche Meinung determiniert sein sollten.

Wir können es dahingestellt sein lassen, wieweit diese Theorie in der Praxis jemals verwirklicht war; sie hat jedenfalls den Begriff der öffentlichen Meinung nachhaltig beeinflußt und wird gelegentlich auch heute noch, wenigstens in einzelnen ihrer Elemente, zum Maßstab genommen.

Doch blieb diese Theorie nicht die einzige. Der Begriff der öffentlichen Meinung hat im Laufe der Zeit viele Bedeutungen angenommen. Davon zu reden ist hier nicht der Ort Ich will lediglich angeben, welche Auffassung den folgenden Überlegungen zugrunde liegt.

Unter öffentlicher Meinung soll im folgenden der Inbegriff der Meinungen der Gesellschaft zu öffentlichen Angelegenheiten verstanden werden. Der Ausdruck Meinung bedeutet dabei kein unzulängliches Wissen (im Gegensatz zum sicheren Wissen), sondern ein Urteil, eine Stellungnahme. „Wo ich eine Meinung habe, da beurteile ich etwas, nehme Stellung zu einer Frage." Bei Urteilen dieser Art handelt es sich niemals nur um theoretische Urteile, sondern um Zielsetzungen des politischen Willens, um Willensmeinungen also, „die Waffen im politischen Streit oder ein Werben um politische Kampfgenossenschaft darstellen" (Gegenstand der öffentlichen Meinung sind also nicht Aussagen wie:,, Ich bin der Meinung, daß Carlo Schmid ein Mitglied der Regierung ist", sondern: „ Ich bin der Meinung, daß die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Grenze anerkennen soll.") Zur öffentlichen Meinung können alle Bürger beitragen, nicht nur diejenigen, die durch Bildung oder Stellung besonders ausgezeichnet sind. Auch ist es nicht notwendig, daß die Meinungen publiziert oder sonstwie öffentlich geäußert werden; zur öffentlichen Meinung zählen auch die von den Demoskopen ermittelten Meinungen anonymer Privatpersonen. Die öffentliche Meinung muß auch nicht einheitlich sein; es gibt Fragen, in denen in der Gesellschaft ein weitgehender Konsens herrscht, und andere, bei denen dies nicht der Fall ist. In der Regel besteht öffentliche Meinung aus einer Vielfalt von Meinungen. Einige dieser Meinungen sind beständig, andere wiederum extrem unbeständig. Zum geringsten Teil entstehen sie spontan, zum größeren Teil werden sie organisiert. Manche sind frei gebildet, andere werden gelenkt oder manipuliert. Manchmal sind sie das Ergebnis rationaler Überlegungen, meist aber nur Ausdruck von Vorurteilen, die aus der Umwelt übernommen wurden. Handfeste Interessen spielen bei ihrer Bildung eine mindestens ebenso große Rolle wie der Wille zur Wahrheit oder zum Allgemeinwohl. Oft bestehen sie aus nicht viel mehr als aus stereotypen Phrasen, vollgestopft mit Emotionen. Auch das Gerede, das Geraune, das Gerücht können Faktoren der öffentlichen Meinung sein.

Niemals ist dieses komplexe, auf keinen Nenner zu bringende Phänomen besser beschrieben worden als in den Worten des Historikers Hermann Oncken zu Beginn dieses Jahrhunderts: „öffentliche Meinung ist ein Komplex von gleichartigen Äußerungen größerer oder geringerer Schichten eines Volkes über Gegen-stände des öffentlichen Lebens, bald spontan hervorbrechend, bald künstlich gemacht; in den verschiedenartigsten Organen sich ausdrückend, in Vereinen, Versammlungen, vor allem in der Presse und Publizistik, oder auch nur in dem unausgesprochenen Empfinden eines jeden, des gemeinen Mannes auf der Straße oder eines kleinen Kreises von Gebildeten; hier eine wirliche Macht, auf die auch die Staatsmänner blicken, dort ein Faktor ohne politische Bedeutung; und immer anders zu werten in jedem Volke; bald einheitlich, wie eine gewaltige Flutwelle gegen die Regierenden und Sachverständigen sich erhebend, bald in sich zerteilt und die widerstrebendsten Tendenzen bergend; einmal das einfache und natürliche Gefühl der Menschen zum Ausdruck bringend, das andere Male ein lärmender und unsinniger Ausbruch wilder Instinkte; immer geleitet und doch immer führend; von den Kennenden und Wissenden über die Achsel angesehen, ansteckend wie eine Epidemie, launisch und treulos und herrschsüchtig wie Menschen selber, und dann doch wieder nichts als ein Wort, mit dem sich die Machthaber betrügen ..."

Dieser Begriff, der von einigen Autoren als „gemeine Meinung" bezeichnet wird liegt gewöhnlich auch der Demoskopie zugrunde

Diskussion aller relevanten Meinungen

Wie soll nun das Verhältnis von Parlament und öffentlicher Meinung beschaffen sein? Die Klassiker des Parlamentarismus haben dieser Frage große Aufmerksamkeit gewidmet. Nach Walter Bagehot beispielsweise hat das Parlament fünf Funktionen zu erfüllen; drei davon haben mit dem zu tun, was hier öffentliche Meinung genannt wird. Das Parlament, sagt Bagehot in seiner Schrift „The English Constitution" von 1867, hat die Aufgabe, die öffentliche Meinung auszudrücken, zu erziehen und zu informieren (expressive function, teaching function, informing function) Für Bagehot gehören diese drei Funktionen zu den zentralen Aufgaben eines Parlaments. Für wichtiger hält er nur die Wahl der Regierung (elective function); hingegen nennt er die Gesetzgebung ausdrücklich erst an fünfter und letzter Stelle.

Wir brauchen diese Aufzählung und diese Rangfolge natürlich nicht als eine für alle Zeiten und Regierungssysteme gültige Beschreibung zu übernehmen. Ohne Zweifel hat das Parlament noch andere bedeutsame Aufgaben, die Bagehot in seinem Katalog nicht ausdrücklich berücksichtigt, etwa die der Kontrolle von Regierung und Verwaltung. Der Hinweis auf Bagehot — wir könnten auch andere Autoren nehmen, vor allem die Verfasser des „Federalist" und John Stuart Mill — soll uns nur dazu ermuntern, unsere eigene Auffassung vom Parlament zu überprüfen. Wir sind schon des längeren gewöhnt, im Parlament in erster Linie eine Gesetzgebungskammer zu sehen und unser Interesse auf diesen Aspekt zu konzentrieren. So wichtig er auch ist, so wenig sollten wir dennoch die anderen Aspekte vergessen.

Welche Rolle soll das Parlament für die öffentliche Meinung spielen? Zuvörderst soll das Parlament ein Forum sein, auf dem alle für das Gemeinwesen relevanten Meinungen zur Sprache kommen und diskutiert werden. Worin liegt der Sinn dieses Forums? Zunächst einmal darin, den Regierenden wie den Regierten einen Spiegel der Meinungen, Wünsche und Interessen vorzuhalten, die in der Bevölkerung vorhanden sind. Der Bürger erhält dadurch die Chance, seinen begrenzten Gesichtskreis zu erweitern und eine weniger subjektive Kenntnis der öffentlichen Angelegenheiten zu erwerben. Für die Regierung liegt der Vorteil darin, daß sie die Ansichten, Stimmungen und Bedürfnisse des Volkes kennen-lernt, mit denen sie bei ihren Maßnahmen rechnen und auf die sie eine Antwort finden muß. Sinn der Diskussion ist es einmal, die Verschleierung und Selbsttäuschungen zu enthüllen, mit denen der politische Wille häufig sich und andere betrügt, die Voraussetzungen und die Konsequenzen der Meinungen ans Licht zu bringen und Klarheit über ihre politische Tragfähigkeit zu schaffen Dabei sollen alle Meinungen diskutiert werden, auch die kritischen und vor allem diejenigen, die den Bestand der politischen Gesellschaft zu gefährden imstande sind. Auch wenn im Bundestag kein Vertreter der NPD sitzt, sollen deren Ansichten erörtert und überzeugend beantwortet werden. Je schweigender sich das Parlament gegenüber den Kritikern des Staa-tes verhält, desto leichter fällt es den Demagogen, das Volk zu verführen. Aber nicht nur die rationalen, auch die irrationalen und emotionalen Faktoren der öffentlichen Meinung (das Gerede, das Gerücht, das Unbehagen) sollen zur Sprache kommen; denn erst dadurch, daß sie benannt und in die Helle des Bewußtseins gehoben werden, können sie einer vernünftigen Kontrolle unterworfen werden. Der Wert der Diskussion tritt besonders dann zutage, wenn Spannungen und Mißtrauen das öffentliche Leben beherrschen. Die Möglichkeit, daß ein jeder nach anerkannten Spielregeln zu Wort kommt, seine Meinung verteidigen und die der anderen angreifen darf, löst eine Katharsis aus, ähnlich wie im Verlauf eines Spieles Die Diskussion soll das Trennende, aber auch das Verbindende der verschiedenen Auffassungen artikulieren und so dazu beitragen, daß zwischen den streitenden Parteien die Kommunikation nicht abbricht, sondern stets aufs neue konstituiert, gefördert, gefestigt wird. Nicht zuletzt ist es die Funktion der Diskussion, einen Ausgleich der verschiedenen Meinungen zu bewirken, Kompromisse zwischen ihnen herbeiführen zu helfen und damit eine immer neue Integration möglich zu machen.

Kritische Prüfung aller Meinungen

Nun ist das Parlament nicht nur ein Forum, auf dem diskutiert, es ist auch ein Ort, an dem entschieden wird. Die zentrale Frage ist, wieweit der Politiker bei seinen Entscheidungen der öffentlichen Meinung folgen soll. Daß er sie berücksichtigen muß (und zwar nicht nur in einem bloß berechnenden, taktischen Sinne) ist klar; Demokratie bedeutet Handeln im Auftrag und im Interesse des Volkes. Aber ebenso klar ist, daß er ihr nicht in allem folgen kann. Abgesehen davon, „daß ein derart komplexes Gebilde, wenn überhaupt, immer nur unvollkommen meßbar sein kann", so daß ein ernsthafter Politiker „nur sehr zögernd eine kategorische Feststellung über den Stand der öffentlichen Meinung zu einem bestimmten Problem machen wird" hat der Politiker es auch nur in den seltensten Fällen mit einem einheitlichen Willen zu tun auf den er seine Maßnahmen stützen könnte; meist hat er ein Konglomerat verschiedener Meinungen vor sich, zwischen denen er sich entscheiden muß. Zum andern sind öffentliche Meinungen nicht immer vernünftig; sie sind vielmehr häufig blind gegenüber Interessen, die über den Augenblick hinausgehen, und rücksichtslos gegenüber dem Wohl der Gesamtheit. Public opinion " rarely considers the needs of the next generation or the history of the last. It is frequently hampered by myths and misinformation, by stereotypes and shibboleths, and by an innate resistance to Innovation" (Die öffentliche Meinung bedenkt selten die Bedürfnisse der kommenden Generation oder die Geschichte der vorigen. Sie ist häufig negativ beeinflußt durch Legenden und falsche Informationen, durch Klischees und Schlagworte und schließlich durch einen naturgegebenen Widerstand gegen Neuerungen.)

Ernst Fraenkel ist der Ansicht, daß eine Meinung nur dann erwarten kann, als maßgebender Faktor der politischen Willensbildung Beachtung zu finden, wenn sie bestrebt sei, „Ausdruck des Gemeinwillens" zu sein Nach Wilhelm Hennis verdient nur diejenige Meinung Respekt, die der „Wahrheit verpflichtet“ ist Einige Autoren lassen nur die publizierte Meinung gelten andere nur die freie und rationale, nicht emotional bestimmte oder manipulierte Meinung; wiederum andere nur die Meinung von Personen, die durch besondere Einsicht sich eigens dazu qualifizieren.

Ich glaube nicht, daß sich der Politiker mit solchen generellen Antworten zufrieden geben darf. Es wird kaum eine Formel geben, durch die ein für allemal festgestellt werden kann, was als relevante Meinung zu gelten hat und was nicht. Der Politiker wird vielmehr von Fall zu Fall immer von neuem zu prüfen haben, was jeweils Anspruch auf Gehör hat. Die Honoratiorendemokratie des neunzehnten Jahrhunderts konnte unter öffentlicher Meinung noch die Meinung der gebildeten Mittel-klassen verstehen; heute muß der Politiker alle Schichten anhören. Es genügt nicht, wenn er sich in der Presse über die Meinungen des Volkes zu orientieren sucht; er wird auch die Ergebnisse der Demoskopie berücksichtigen müssen, auch wenn die Meinungen, die dadurch erfaßt werden, nur die Meinungen anonymer Privatpersonen sind und im strengen Sinne gar nicht öffentlich geäußert wurden; aber wie anders sollte er die Ansichten der Durchschnittsbürger erfahren, die so gut wie kaum eine Gelegenheit haben, in der Öffentlichkeit zu politischen Fragen Stellung zu nehmen? Der Politiker kann sich auch nicht damit begnügen, nur das rational Begründete zur Kenntnis zu nehmen; auch im Emotionalen, ja im bloßen Unbehagen kann etwas durchaus Vernünftiges zum Ausdruck kommen. Nicht anders verhält es sich mit den gelenkten und manipulierten Meinungen; auch sie können nicht von vornherein als unverantwortlich verworfen werden. Der Politiker wird auch Meinungen ernst nehmen müssen, die mit Interessen verbunden sind, weil interessenfreie Standpunkte in der Politik selten vorkommen und Interessen sich vom Gemeinwohl auch nur künstlich scheiden lassen. Und schließlich wird er zur öffentlichen Meinung nicht nur die Meinung der Sachverständigen zählen können, weil er damit die Möglichkeit der Demokratie bestreiten würde und weil es außerdem ein Vorurteil ist, daß Sachverstand vorurteilsfrei macht Welche Meinung der Politiker jeweils zur Grundlage seiner Ent-Scheidung macht, ist seine Sache und muß von ihm auch verantwortet werden.

Das Parlament ist demnach kein bloßer Exponent der öffentlichen Meinung, es stellt vielmehr ein kritisches Medium dar, das die öffentlichen Meinungen sichtet und siebt, Weit davon entfernt, nur ein technisches Bindeglied zwischen dem Willen des Volkes und dem Willen der Regierung zu sein, ist es in Wirklichkeit „die repräsentative Stätte der Umformung öffentlicher Meinung in politischen Gesamtwillen" Das Parlament hat mehr als einer bloß passiven Ausdrucksfunktion gerecht zu werden; es hat eine aktive, eine schöpferische Aufgabe zu erfüllen. Doch ist damit die Rolle des Parlaments noch nicht hinreichend geklärt.

Informierung, Erziehung und Führung der Öffentlichkeit

Das Parlament kann sich nicht damit begnügen, Sprachrohr und kritisches Medium der öffentlichen Meinung zu sein. Einmal ist es für den Abgeordneten unmöglich, bei allen anstehenden Entscheidungen Sich ein Bild davon zu machen, was die Gesellschaft von ihm erwartet. Zum andern gibt es in vielen Fällen, vor allem in den alltäglichen Fragen, gar keine öffentlichen Meinungen, die er berücksichtigen könnte. Und schließlich geht öffentliche Meinung meist über vage Grundsätze nicht hinaus; sie gibt lediglich Richtungen an, die aber dem Politiker, der sich aufs Detail einlassen muß, nicht genügen.

Aus all dem folgt, daß die öffentliche Meinung zwar das politische Handeln anregen, in eine Richtung lenken, gutheißen oder mißbilligen kann, aber nicht selbst zu regieren vermag. Sie ist, wie der Staatsrechtslehrer Bluntschli vor mehr als hundert Jahren bemerkt hat, „eine öffentliche Macht, aber sie ist keine öffentliche Gewalt" Der Abgeordnete muß sich seine eigene Meinung bilden, und diese Meinung wird oft genug von der öffentlichen Meinung abweichen. Er darf dieser nur insoweit folgen, als er es mit seinem Gewissen vereinbaren kann.

Er darf aber nicht stillschweigend von der öffentlichen Meinung abweichen, er muß vielmehr seinen Standpunkt in der Öffentlichkeit vertreten und begründen. Hieraus ergeben sich für das Parlament als öffentlichem Forum eine Reihe von weiteren Funktionen.

Das Parlament ist nicht nur der Ort, an dem die Meinungen des Volkes zum Ausdruck kommen; es ist auch der Ort, an dem die Abgeordneten zu diesen Meinungen Stellung beziehen und ihre eigenen Meinungen entwikkeln müssen. Das Parlament ist die Tribüne, auf der die Regierung ihre Pläne und Maßnahmen öffentlich darlegen und rechtfertigen soll. Der Opposition fällt dabei die Aufgabe zu, die Regierung ständig zur Rede zu stellen und zur Antwort zu zwingen. Der Sinn der Debatte ist nicht der, daß sich die Abgeordneten gegenseitig bekehren — auch früher, als die Fraktionsgrenzen noch nicht so verhärtet waren wie heute, haben Reden nur selten Einfluß auf die parlamentarischen Abstimmungen gehabt —, der Sinn der Debatte liegt vor* allem darin, die Politik öffentlich das heißt durchsichtig zu machen. Die Tatsache, daß die Abgeordneten „aus dem Fenster reden", ist nichts Bedauerliches, sondern hat ihren guten Sinn. In einer Demokratie soll sich die Politik vor den Augen der Bürger abspielen. Demokratie fordert die Öffentlichkeit der Regierung, die Öffentlichkeit ist ein Lebenselement der Demokratie. Eine Politik kann erst dann de-zu äußern, möchte ich ganz allgemein feststellen, daß es sich trotzdem lohnt, im Parlament gut zu sprechen. . . . wer gut redet, wird sich mit der Zeit einen Namen machen und etwas gelten im Lande, was ihm früher oder später politisch zugute kommt. Außerdem tut eine gute Rede ihre Wirkung, selbst wenn der Minderheit dadurch keine einzige Stimme zugeführt wird. Eine Maßnahme, die mit guten Gründen bekämpft worden ist, mag zwar Gesetzes-kraft erhalten, wird aber doch abgeschwächt, nachdem der regierenden Mehrheit das Ungerechte oder Sinnlose der Neuerung zu Gemüte geführt worden ist.“ Johnson: „Außerdem sind wir es unserem Selbstbewußtsein schuldig. Wenn wir die andern schon nicht überstimmen können, wollen wir sie wenigstens übertrumpfen. Sie sollen nicht Unrecht tun, ohne daß es ihnen auf den Kopf zugesagt wird." Reynolds: „Es geht im Unterhaus auch nicht anders zu als sonst unter Menschen. Wie selten läßt man sich durch die Ausführungen eines anderen von seiner Überzeugung abbringen; Eigensinn und Stolz sträuben sich dagegen." Sheridan:

„Was wäre die Folge, wenn ein Premierminister, der Mehrheit sicher, darauf verzichten würde, seinen Standpunkt im Unterhaus vertreten zu lassen?“

Burke: „Er würde sich nicht lange halten. Man hat es schon versucht, aber es bewährte sich nicht."

(Zit. nach James Boswell, Dr. Samuel Johnson, ed.

F. Güttinger, Manesse Bibliothek, 1951, S. 442 f.)

Dieses Gespräch ist um so erstaunlicher, als erst einige Jahre zuvor das Verbot der Parlaments-berichterstattung vom englischen Unterhaus offiziell aufgehoben wurde. Bedenkt man diese Stelle, der sich viele spätere zur Seite stellen lassen, so erscheint die Meinung vieler Kritiker doch nicht so zutreffen, daß die Parlamentsdebatten im 18.

und 19. Jahrhundert vor allem deshalb so viel spannungsreicher gewesen seien, weil die Redner damals noch hätten hoffen können, schwankende Gemüter umzustimmen. mokratisch genannt werden, wenn sie potentiell allen Bürgern einen Einblick in ihre Tätigkeit gewährt. Der Zwang zur Publizität hält die Regierung nicht nur dazu an, sich ihre Entscheidungen sorgfältig zu überlegen; viel wichtiger ist, daß er das Mißtrauen der Öffentlichkeit verhindert, das Verständnis der Bürger für die öffentlichen Angelegenheiten fördert und es ihnen ermöglicht, ihre gewählten Repräsentanten zu kontrollieren; darüber hinaus ist es der Sinn der Publizität, die Wähler zur Stellungnahme anzuregen und eine immer neue Integration zu bewirken

Aufgabe von Regierung und Opposition ist es, (Jas Ohr der Öffentlichkeit zu gewinnen und die Bürger von ihren Ansichten zu überzeugen. Zu ihren Obliegenheiten gehört es, die Wähler zu informieren und über die Realität aufzuklären, auch und gerade dann, wenn dabei Vorurteile enthüllt und Tabus zerstört werden müssen. Ihr Pflicht ist es, leichtfertigen oder gefährlichen Meinungen, die in der Öffentlichkeit umlaufen, entgegenzutreten und die tatsächlichen Probleme deutlich zu machen, die zum Teil noch gar nicht ins öffentliche Bewußtsein gedrungen sind. Regierung und Opposition dürfen sich nicht damit zufrieden geben, die öffentliche Meinung auszudrücken: sie müssen sie auch führen, besonders in den Fällen, in denen Unkenntnis der Fakten oder Demagogie die öffentliche Meinung blind gemacht haben. Nicht zuletzt ist es ihre Aufgabe, die Urteilskraft der Bürger zu entwickeln und sie zur Meinungsbildung zu erziehen; die Art, wie im Parlament Standpunkte dargelegt und Argumente abgewogen werden, soll ein Muster abgeben für die Meinungsbildung der Allgemeinheit. Das Parlament ist demnach kein bloßes Ausdrucksorgan der öffentlichen Meinung. Indem es die öffentliche Meinung zu informieren, zu mobilisieren, zu erziehen und zu führen ver25 sucht, wirkt es selbst auf die öffentliche Meinung ein, artikuliert, formt und regiert sie, schafft sie um oder schafft sie neu. öffentliche und parlamentarische Meinungsbildung sind also keine festen Größen, die unabhängig voneinander bestehen, sondern Faktoren, die erst im Prozeß des gegenseitigen Aufeinandereinwirkens bestimmtere Gestalt annehmen

Die Rolle der Demoskopie

Zwischen Parlament und öffentlicher Meinung, so läßt sich sagen, soll ein ständiger Strom von Informationen, Anregungen und Forderungen hin und her gehen. Die Frage ist, wie es mit dieser Wechselwirkung in der Praxis bestellt ist.

Was den Einfluß der öffentlichen Meinung auf die politische Willensbildung in der Bundesrepublik angeht, so ist ja allgemein bekannt, daß die Wahlkämpfe der Parteien in zunehmendem Maße von den Ergebnissen der Meinungsumfragen bestimmt werden. So wie man glaubt, durch Umfragen ausmachen zu können, welche Eigenschaften die Hausfrau von einem idealen Waschpulver erwartet, so hofft man, durch Interviews optimale Parteiprogramme ermitteln zu können. Auf diese Weise „produziert der Wahlkampf Kandidaten mit Wählermeinungen und nicht Politiker mit ihrer eigenen Meinung" Dabei ist es durchaus die Frage, ob die Parteien bei diesem Verfahren nicht einem Trugbild der öffentlichen Meinung aufsitzen. Klaus von Dohnanyi, selbst Leiter eines Meinungsforschungsinstituts, kommt in einer bemerkenswerten Betrachtung über die Rolle der Demoskopie in der Politik zu dem Schluß, daß die Parteien, wenn sie sol-cherart verfahren, den Willen der Wähler gründlich mißverstehen. Der Wähler suche heute „nicht ein für ihn speziell passendes Programm, sondern politische Führer, denen er sein Schicksal anvertrauen kann. ... Ein politischer Führer muß zwar mit den Grundharmonien seiner Wähler übereinstimmen: er verliert jedoch seine Führerstellung, wenn er nicht mehr ist als der Exponent des Willens seiner Gefolgschaft. Mit anderen Worten: Wenn die Richtung der politischen Führung mit Hilfe der Meinungsforschung den Wunschvorstellungen der Wähler vollkommen angepaßt wird, geht damit gerade in den Augen des Wählers der Anspruch auf Führung ... verloren".

Auch die Regierung unterrichtet sich laufend mit Hilfe demoskopischer Institute über die Neigungen, Wünsche und Hoffnungen der Bevölkerung. Mit den Ergebnissen derartiger Erkundigungen verfährt sie dabei nicht anders als die Parteien: „Zwar zeigen die Parteiführungen den höheren und mittleren Funktionären gelegentlich in Schaubildern, was die Meinungsforscher herausgefunden haben. Die detaillierten Ergebnisse der Umfragen und die Schlußfolgerungen werden jedoch nur einem sehr kleinen Kreis zugänglich gemacht. Wenige numerierte Exemplare kursieren innerhalb der engeren Parteiführung. In die Geheimnisse der Meinungsforscher eingeweiht zu werden, kommt heute dem höchsten Grad des . Dienstwissens'gleich." 28a) Es ist daher für einen Außenstehenden auch nicht leicht, festzustellen, wieweit solche Veranstaltungen nicht nur das propagandistische und taktische Verhalten, sondern auch die Ziele der Regierung bestimmen Gewiß hat die öffentliche Meinung den Rücktritt von Franz Josef Strauß als Verteidigungsminister bewirkt. Auch die Furcht von Regierung und Opposition, Kontro-versen öffentlich auszutragen, rührt mit von dem Glauben her, die Mehrheit der Bevölkerung wünsche solche Auseinandersetzungen nicht. Trotzdem wäre es falsch, aus derartigen Beispielen, die sich beliebig vermehren ließen, schon den Schluß zu ziehen, daß sich die Politik in der Bundesrepublik nach der öffentlichen Meinung richtet.

Vorrang der organisierten Meinungen

Man braucht nur einmal die Gegenprobe zu machen. Es gibt eine Reihe von Fragen, in denen die öffentliche Meinung weitgehend einhellig ist. So zum Beispiel herrscht in der Öffentlichkeit Einigkeit darüber, daß für Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Altersheime und dergleichen nicht genügend getan wird, daß die Verschmutzung der Luft und des Wassers menschenunwürdig ist, daß Städteplanuhg und Wohnbaupolitik auf die Bedürfnisse der Bewohner zu wenig Rücksicht nehmen. Gerade in solchen Fragen ist aber die öffentliche Meinung keineswegs am wirkungsvollsten. Ein Kaninchenzüchterverein, der über einen guten Lobbyisten verfügt, findet bei den Abgeordneten vielfach leichter Gehör als die unorganisierte Meinung des Volkes, mag diese auch noch so wichtige Gegenstände betreffen und noh so einhellig sein. Hier liegt einer der neuralgischen Punkte in dem Verhältnis von Parlament und öffentlicher Meinung: das Parlament berücksichtigt öffentliche Meinungen vornehmlich in den Fällen, in denen es sich um organisierte Meinungen handelt, hinter denen ein bedeutsamer Interessenverband steht, von dem sich die Parteien Geld und Wählerstimmen versprechen

Was umgekehrt den Einfluß des Parlaments auf die öffentliche Meinung angeht, so wird man nicht um die Feststellung herumkommen, daß dieser Einfluß gegenwärtig gering ist. Selbst unter Abgeordneten ist das Unbehagen weit verbreitet, „daß der Bundestag es bisher nicht erreicht hat, seiner Bedeutung gemäß seine Stellung in der Öffentlichkeit zu festigen" Dabei hat der Bundestag schon einmal eine größere Rolle für die öffentliche Meinung gespielt. Bis in die Mitte der fünfziger Jahre hinein stellte er ein Zentrum der politischen Debatten dar und übte auf die Öffentlichkeit eine große Wirkung aus. Ein solches Zentrum ist er heute nicht mehr. Schon des längeren schließt er wichtige Fragen aus seinen Beratungen aus oder diskutiert sie nicht offen, nicht energisch, nicht gründlich genug Die Kontroversen finden vornehmlich hinter den verschlossenen Türen der Fraktions-und Ausschußsitzungen statt. Widerstreitende Meinungen werden nur selten im Parlament voll ausgetragen. Fritz Rene Allemann hat kürzlich darauf hingewiesen, daß in den ersten Jahren der Bundesrepublik große Reputationen noch in der offenen parlamentarischen Debatte erworben oder verspielt wurden, heute aber das Umgekehrte gilt: „Wer die Diskussion am wirkamsten verhindert und die Meinungsverschiedenheiten am eindruckvollsten verwedelt, gilt nun als der kommende Mann." Vorbei scheinen die Zeiten eines Kurt Schumacher zu sein, der mit dem, was er sagte, und mit der Art, wie er es sagte, die Zuhörer zwang, Stellung zu nehmen und sich zu entscheiden Ist es unter diesen Umständen ein Wunder, wenn Plenarsitzungen gewöhnlich ohne nachhaltige Wirkung bleiben? Wie sollte die Öffentlichkeit auch aufmerksam werden oder gar Stellung beziehen, wenn das Pro und Contra der Argumente häufig so undeutlich bleibt?

öffentliche Meinung als potentieller Bundesgenosse des Parlaments

Wenig entwickelt ist auch die Neigung des Parlaments, die Wähler in genügendem Maße über die Realitäten aufzuklären, besonders dann, wenn die Gefahr besteht, daß bei der Aufklärung Illusionen zerstört werden müssen. Als im Frühjahr 1965 die Parteien daran gingen, sich gegenseitig in Wahlgeschenken zu überbieten, haben Regierung und Opposition es tunlichst vermieden, die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, wer die Kosten zu tragen hat.

Zu den erzieherischen Aufgaben des Bundestages gehörte es auch, die Öffentlichkeit über die Motive und Zwecke der Gesetze zu unterrichten. Zweifellos kann das Plenum nicht alle Gesetze ausführlich debattieren, aber auch bei den unwichtigeren Gesetzen sollte wenigstens die Zustimmung oder die Ablehnung kurz begründet werden. Auch daß sachliche Argumente häufig mit persönlichen Unterstellungen beantwortet werden, der Appell an Gefühle und Stimmungen höher bewertet wird als der Appell an die Vernunft, trägt zur Meinungsbildung der Öffentlichkeit wenig Positives bei. Der Bundestag hat seine Funktion als Forum und Schule der Nation weitgehend eingebüßt Er hat es anderen Organen überlassen, die öffentliche Meinung zu führen: vor allem den Interessenverbänden. Er hat sich damit des wichtigsten Bundesgenossen beraubt, auf den er sich in der Auseinandersetzung mit diesen Kräften stützen könnte. Daß der Bundestag eine Reihe von dringenden Entscheidungen schon seit Jahren aus dem Weg geht, ist vielleicht nicht zuletzt auf diese Situation zurückzuführen. Solche Entscheidungen wären auf allen Gebieten der Politik zu fällen, in der Ostpolitik, in der Sozial-und Verkehrspolitik, in der Finanz-politik, im Gesundheitswesen usw. Der Bundestag hat es versäumt, die Öffentlichkeit rechtzeitig von den notwendigen Entscheidungen zu überzeugen und mit den damit verbundenen Kosten vertraut zu machen. Durch dieses Verhalten hat er es den Interessenverbänden ermöglicht, die Bevölkerung einseitig zu informieren und zu mobilisieren. Er hat sich damit für freie und mutige Entscheidungen vielleicht selbst die Hände gebunden. Zumindest vermöchte er leichter dem Druck der Verbände Widerstand zu leisten, wenn er davon überzeugt sein könnte, die Öffentlichkeit hinter sich zu haben. Ernst Fraenkel hat in seiner Schritt „Parlament und öffentliche Meinung" überzeugend nachgewiesen, daß der Reichstag der Weimarer Republik nicht zuletzt deshalb so schwach war, weil er sich nicht auf die öffentliche Meinung stützen konnte Mutatis mutandis gilt das gleiche auch für den Bundestag in Bonn.

Systemimmanente Schwierigkeiten

Politiker sprechen gern von dem Zwang der Gegebenheiten, der ihnen kein anderes Verhalten erlaube. Wissenschaftler vertreten häufig die Ansicht, eine bestimmte Entwicklung sei systemimmanent und daher nicht zu ändern. Auch in bezug auf den Niedergang des Parlaments als öffentlichem Forum werden dergleichen Thesen öfters geäußert. So weist man beispielsweise darauf hin, es sei für den Politiker heute nicht einfach, sein Ohr am Puls der öffentlichen Meinung zu haben. Sein Arbeits-und Lebensstil erlaube ihm nur schwer den Austausch von Informationen und Gedanken mit Personen anderer Lebenskreise. Er habe viel zu viel zu tun, um von außerhalb seiner eigenen Welt noch viel Anregungen aufnehmen zu können. Man müsse sich nur einmal vergegenwärtigen, mit wem Abgeordnete verkehren: in erster Linie mit Kollegen, Parteifunktionären, Interessenvertretern, Managern, Beamten, am wenigsten mit Personen ohne Ämter und Funktionen; das heißt, mit Leuten aus der Mehrheit der Bevölkerung haben sie kaum Kontakt. Sie bilden eine eigene soziale Welt; sie bleiben, nolens volens, unter sich. Nicht wenig trage zu dieser Isolierung noch die Enge der Stadt Bonn bei, die bewirkt, daß sich immer die gleichen Leute an den gleichen Orten bei den gleichen Gelegenheiten treffen Die öffentlichen Sprechstunden, die die Politiker mitunter für ihre Wähler abhalten, die Briefe, die sie bekommen, und die organisierten Zusammenkünfte mit Menschen aus anderen Tätigkeitsbereichen böten schwerlich einen Ersatz für unmittelbare Kontakte; was die Volksvertreter dabei als öffentliche Meinung erfahren, sei in der Regel nur das, was in Form von Interessentenwünschen an sie herangetragen werde. Auch Meinungsumfragen könnten dem Parlamentarier nur in begrenztem Maße zu einer besseren Kenntnis dessen verhelfen, was die Wähler wollen, nicht nur weil er nicht zu allen Gegenständen Meinungsumfragen anstellen kann, sondern auch deshalb, weil die demoskopischen Informationen gewöhnlich zu unbestimmt sind, um Entscheidungen darauf stützen zu können

Darüber hinaus dürfe man auch nicht übersehen, daß es einem Politiker heute schwerer als in der Vergangenheit falle, seine Wähler an seinem Tun teilnehmen zu lassen und über die öffentlichen Angelegenheiten zu unterrichten. Die wachsende Vielfalt der Zusammenhänge und gegenseitigen Abhängigkeiten habe die Gegenstände der Politik so kompliziert werden lassen, daß sie gewöhnlich nur noch mit Hilfe von Spezialisten verstanden werden könnten. Die Zeit sei unwiderruflich vorbei, in denen ein amerikanischer Präsident (Andrew Jackson) seine Aufgaben glaubwürdig als „so schlicht und einfach" habe beschreiben können, „daß intelligente Männer sich sofort zu ihrer Verrichtung qualifizieren könnten" Ein Abgeordneter könne heute nur wenige Dinge beurteilen; in den meisten Fra-gen sei er auf die Hilfe von Experten angewiesen. Unter diesen Umständen sei es nicht einfach, die Öffentlichkeit mit politischen Problemen vertraut zu machen und dafür zu interessieren. Daß ein „Gesetz über die Unterbringung von Rüböl aus inländischem Raps und Rüpsen" für die Allgemeinheit unverständlich und uninteressant ist, verstehe sich von selbst; aus solchen Gegenständen bestehe indessen der Alltag der Politiker.

Neben der wachsenden Kompliziertheit der politischen Probleme habe auch die „Entideologisierung" und die Annäherung von Regierung und Opposition dazu beigetragen, daß die Öffentlichkeit die Plenardebatten, von den großen Tagen abgesehen, kaum beachtet. Nachdem die wichtigsten Entscheidungen über die außen-und wirtschaftspolitischen Grundsätze gefallen sind, die Gegensätze zwischen den Parteien sich abgeschliffen haben und über die Ziele große Einigkeit herrscht, stünden im Vordergrund der parlamentarischen Verhandlungen zwangsläufig weniger zündende Alternativen als vielmehr Detail-und Sachfragen, die für die Allgemeinheit nur von begrenztem Interesse sind

Ein weiterer Grund für das Nachlassen der Ausstrahlungskraft liege in der Schwerfälligkeit des parlamentarischen Geschäftsganges und in der Fraktionsdisziplin. Bevor die Probleme im Plenum behandelt werden, werden sie zunächst in den Vorständen, den Arbeitsgruppen und den Vollversammlungen der Fraktionen erörtert. Das dauert seine Zeit. Die Folge sei, daß es den Plenardebatten an Spontaneität und meist auch an Aktualität mangle. Hinzu komme, daß die Erklärungen der Fraktionssprecher äußerst vorsichtig formulierte Verlautbarungen seien, die von den vorangegangenen Diskussionen in der Fraktion nichts mehr erkennen ließen. Auf diese Weise werde ein großer Teil der Meinungsverschiedenheiten der Abgeordneten aus dem Plenum verbannt.

Manche Beobachter führen die schwache Resonanz der Plenardebatten auch auf die schlechte Parlamentsberichterstattung zurück Besonders die Abgeordneten verweisen vielfach auf diesen Punkt. Sie fühlen sich von der Presse im Stich gelassen und werfen ihr vor, nicht vollständig, nicht korrekt und nicht verständig genug über die Parlaments-sitzungen zu berichten.

Unvermeidlicher Niedergang?

Aus diesen Gründen ziehen manche Kritiker den Schluß, der Verfall des Parlamentarismus sei unabwendbar. So zum Beispiel Paul Sethe: „Es hat Zeiten gegeben, in denen man annahm, die parlamentarische Demokratie sei die Höchstform der staatlichen Entwicklung des Menschen, etwas anderes, Besseres, könne es nicht geben. Heute glauben wir zu sehen, daß das System nicht ewig dauern wird. Schon ist der hohe Mittag seiner Wirksamkeit vorüber, die ersten Schatten der Dämmerung senken sich herab. Wenn es einst gefallen ist, wird man nach den . Schuldigen'suchen. Aber es gibt keine Schuldigen. Das Gesetz von Blühen und Verwelken gilt auch hier."

Träfe diese Ansicht zu, dann müßten wir uns allerdings jeden Gedanken an eine Änderung zum Besseren aus dem Kopf schlagen. Aber trifft sie denn zu?

Zweifellos hat der Parlamentarismus in allen Ländern an Ausstrahlungskraft verloren. Jedoch gibt es Unterschiede, die ins Gewicht fallen. Der amerikanische Kongreß oder das englische Unterhaus wirken mehr auf die öffentliche Meinung ein als der Deutsche Bundestag. Deutet das nicht darauf hin, daß der vielbeklagte Niedergang des deutschen Parlamentarismus doch nicht so unabwendbar ist?

Schauen wir uns einmal die Gründe näher an, die angeblich das Ende des Parlamentarismus als öffentlichem Forum unabänderlich machen.

Was den Hinweis auf die Isoliertheit der Abgeordneten betrifft, so wird man zugeben müssen, daß damit ein ernstes Problem gegeben ist. Die Gefahr der Abschnürung des Parlaments von den Bedürfnissen, Erfahrungen und Erwartungen des Volkes, dessen Angelegenheiten die Abgeordneten doch stellvertretend besorgen sollen, stellt dabei keine Besonderheit der Bonner Verhältnisse dar. Die gleiche Gefahr läßt sich in allen Ländern beobachten. Die Politiker selbst beklagen diese Entwicklung. Nicht alle sind dabei allerdings so freimütig wie John F. Kennedy, der als Senator einmal bekannt hat: „Ich bezweifle, daß irgend ein Senator, der zur Abstimmung schreitet, behaupten kann, daß er wirklich die gegenwärtige Meinung der Mehrzahl seiner Wähler über die betreffende Gesetzesvorlage kenne. Wir im Senat leben in der Politik gleichsam wie in einer eisernen Lunge, aus deren gereinigter Atmosphäre man nicht leicht in die natürliche hinüberfindet, in der unsere Wähler atmen. Wenn wir in unseren Wahlkreis heimkehren, haben wir schwerlich Gelegenheit, mit anderen Wählern als mit Funktionären und Schreihälsen zusammenzukommen. Ich bin in Washington immer versucht, mir einzureden, daß vierzig oder fünfzig Zuschriften, sechs Besuche von Politikern und Lobbyisten oder drei Leitartikel aus der Presse meines Heimatstaates Massachussetts die öffentliche Meinung zu einem Thema darstellen. Tatsächlich kenne ich fast nie die Meinung der großen Mehrheit der Wähler und weiß auch nicht, ob sie überhaupt Kenntnis hat von den Dingen, die uns in Washington so hochwertig erscheinen." Aber ist dieses Problem wirklich so neu? War es nicht vielmehr für einen Volksvertreter von jeher schwierig, die Meinung des Volkes zu kennen? Schon Madison erklärte mit Bestimmtheit, daß „kein Mitglied der Versammlung hätte sagen können, was wohl die Meinung seiner Wähler im Augenblick der Wahl gewesen sei, und daß er noch weniger hätte wissen können, was sie wohl gemeint hätten, wenn ihnen die Informationen und Argumente der Abgeordneten zugänglich gewesen wären" Wenn aber dieser Sachverhalt nicht grundsätzlich neu ist, dann wird man ihn auch kaum für den mangelnden Kreislauf zwischen öffentlicher Meinung und Parlament heute verantwortlich machen können.

Vermeidbare Unzulänglichkeiten

Ohne Zweifel ist Politik heute komplizierter als je zuvor geworden, und es bedarf immer größerer Anstrengungen, um dem Wähler die erforderlichen Informationen und Kriterien zu liefern, an Hand derer er sich eine eigene Meinung bilden kann. Aber das bedeutet noch lange nicht, daß Politik nur noch von Experten verstanden werden könnte und daß Plenarsitzungen, wie es heute häufig der Fall ist, Fortsetzungen der Fachdebatten der Ausschüsse sein müssen, bei denen Fachleute für Fachleute reden und die allgemeinen politischen Gesichtspunkte zu kurz kommen Sachfragen sind wichtig, aber in jeder Sach-frage schlummern politische Entscheidungen, mag es sich nun um Straßenbau, Gewässerschutz oder landwirtschaftliche Fragen handeln. Man kann dem Bundestag den Vorwurf nicht ersparen, daß er gerade diese politischen Entscheidungen zu wenig deutlich macht und diskutiert.

Zu wenig diskutiert werden auch Alternativen. Gewiß, die Zeit, in der die Opposition auf fast allen Gebieten der Politik grundsätzliche Alternativen aufstellen konnte, ist vorbei. Aber das heißt nicht, daß es überhaupt keine Alternativen mehr geben könnte. Alternativen sind durchaus noch möglich und sinnvoll, wenn schon vielleicht nicht immer in bezug auf die Ziele, so doch in bezug auf die Rangordnung der Ziele und die Mittel ihrer Verwirklichung. Ein gewisses Maß an Übereinstimmung zwischen den Parteien ist zwar begrüßenswert; aber eben nur ein gewisses Maß. Eine Demokratie bedarf nicht nur des Konsenses, sondern auch des Dissenses Auf den Vorwurf, die Reden Kurt Schumachers im Parlament seien zu schroff und zu unversöhnlich gewesen, antwortet Carlo Schmid: „Seid doch diesem Manne dankbar, daß er das Parlament zu dem gemacht hat, was es sein muß, nämlich zu einem Kampfplatz, und daß er durch seinen unerbittlichen Hinweis auf das Für und Wider, durch die gnadenlose Kennzeichnung der Voraussetzungen und Folgen der einen oder anderen Stellungnahme die Abgeordneten und mit ihnen die öffentliche Meinung in Deutschland gezwungen hat, zu kämpfen! Kampf sei auch ein Wesenselement der Demokratie, bemerkte er gelegentlich; um sein Recht und um die Wahrheit zu kämpfen, gehöre zur Selbstachtung, und das Schlimmste sei auf die Dauer, Konflikte verschimmeln und verfaulen zu lassen."

Daß die Fraktionsdisziplin für das Funktionieren einer parlamentarischen Regierungsweise unerläßlich ist, ist selbstverständlich. Ebenso, daß Fraktionen, bevor sie ins Plenum gehen, eine Klärung der Standpunkte ihrer Mitglieder herbeiführen und eine bestimmte Marschroute und Taktik für die Debatte festlegen müssen. Aber so schwerfällig und bürokratisch, daß für Spontaneität und Überraschungen in den Plenarsitzungen kaum Platz bleibt, bräuchte der parlamentarische Geschäftsgang wohl kaum zu sein. Es ist unnötig, daß immer wieder die gleichen Leute reden und daß Abgeordnete, die nicht zu dieser Gruppe gehören, häufig auch dann nicht zu Worte kommen, wenn sie sich ordnungsgemäß dazu gemeldet haben

Was schließlich den Vorwurf einer ungenügenden Parlamentsberichterstattung betrifft, so ist nicht zu leugnen, daß die Parlamentsberichte der großen englischen, amerikanischen und Schweizer Zeitungen besser als die vergleichbaren deutschen sind. Für den Bundestag bedeutet das zweifellos ein Nachteil, denn die Abgeordneten sind darauf angewiesen, daß die Presse von ihren Verhandlungen gebührend Notiz nimmt Doch muß man sich fragen, ob die mangelnde Parlamentsberichterstattung nicht auch darauf zurückzuführen ist, daß die Plenardebatten in der Regel so langweilig ge-worden sind. Der Abgeordnete Friedrich Schäfer schreibt ganz richtig: „Lassen wir den Bundestag das Zentrum der Debatten werden! Nur dann wird das Volk dorthin schauen und hören." Wie sollten die Zeitungen auch über Gesetze berichten, zu denen während der drei Lesungen im Plenum keine Seite des Hauses das Wort ergriffen hat? Wie kann man von der Presse verlangen, ihre Leser ausführlich über Stellungnahmen der Parlamentsredner zu informieren, wenn diese Stellungnahmen der Öffentlichkeit schon des längeren bekannt sind? „Lange schon vor dem Termin einer Bundestagsaussprache über ein wichtiges Thema", schreibt Alfred Rapp, ein sorgsamer Beobachter der Bonner Szene, „kann jeder Abgeordnete, wenn er will, in Rundfunkdiskussionen, am Bildschirm, in den vielen Gesprächen in den vielen . Stätten der Begegnung'erfahren, was die Kollegen, die dann im Hohen Haus sprechen werden, zu diesen Fragen zu sagen haben; und manchmal würde es genügen, wenn sie im Bundestag einfach ihre Rundfunk-rede zu Protokoll gäben, weil sie sie doch nur wiederholen und kaum etwas Neues sagen können."

Keine zwangsläufige Entwicklung

Trotz der Schwierigkeiten, vor denen die Abgeordneten stehen und die keineswegs geleugnet oder verkleinert werden sollen, scheint mir die Lage des Parlaments doch nicht so hoffnungslos zu sein. Wenn der Bundestag in den letzten zehn Jahren seine Funktion als öffentliches Forum verkümmern ließ, dann liegt das vielleicht weniger an irgendwelchen Zwangsläufigkeiten als an dem mangelnden Ehrgeiz der Mehrzahl der Abgeordneten, das Parlament zu einem solchen Forum zu machen. Mehr noch: es liegt vielleicht an dem mangelnden Bewußtsein eines Großteils der Abgeordneten, daß das Parlament ein Forum der Öffentlichkeit sein soll.

Der Bundestag hat sich immer mehr auf seine Funktion als Gesetzgebungskammer zurückgezogen. Resigniert stellt Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier fest, daß „der Bundestag ein Ausschußparlament geworden ist. Das Schwergewicht seiner Tätigkeit liegt ... in der Fach-und Detailarbeit in den Ausschußsitzungen" Während Gerstenmaier diese Entwicklung bedauert und „die lebendige Selbstdarstellung des Parlaments in Gestalt von offener Und freier Diskussion der Existenzprobleme der Nation im Plenum lieber sähe" Scheinen sich viele, allzu viele Abgeordnete mit einem stummen Parlament abgefunden zu haben. Es gibt im Bundestag zu viele Parlamentarier, die sich in erster Linie als Interessenvertreter oder Experten verstehen, die am liebsten unter Ausschluß der Öffentlichkeit tätig werden und die das Plenum als Zeit-verschwendung ansehen. Kein Wunder, daß angesichts dieser Umstände der Einfluß des Parlaments auf die öffentliche Meinung gering ist. Denn, um ein Wort von Adam Müller zu variieren: „Um die öffentliche Meinung zu regieren, muß das Parlament selbst öffentlich sein."

Nicht frei von Verantwortung ist auch die Opposition. Denn deren Aufgabe ist es, die Themen für die Debatten zu liefern, die Fragen zu formulieren und die Regierung laufend zu zwingen, Rede und Antwort zu stehen. Ohne Zweifel hat die sozialdemokratische Fraktion diese Funktion in den letzten Jahren nicht genügend erfüllt. So verständlich die Motive hierfür auch sein mögen, so wenig vermögen sie dennoch die Opposition von der Verantwortung freizusprechen, an der Schwächung des Parlaments entscheidend mitgewirkt zu haben. Jeder Verzicht der Opposition, die Publizität der Handlungen der Regierung zu erzwingen, trägt auf die Dauer dazu bei, eine der elementarsten Verfassungsgrundlagen der Demokratie — das Prinzip der Öffentlichkeit — auszuhöhlen.

Ein anderer Grund für die Schwäche des Parlaments liegt in dem Selbstverständnis eines Großteils der Abgeordneten, sich weniger als Mitglieder des Parlaments denn als „organisatorisch-technisches Zwischenglied innerhalb der Partei“ zu fühlen und zu glauben, daß ihre Aufgabe nicht so sehr darin besteht, im Plenum, und das heißt in der Öffentlichkeit, ihre Persönlichkeit in die Waagschale zu werfen, sondern darin, „innerhalb der Fraktion und Partei", und das heißt im wesentlichen hinter verschlossenen Türen, ihren Einfluß auszuüben. Unter diesen Umständen wird das Parlament aber leicht zur Kulisse, hinter der, unsichtbar für die Wähler, die Auseinandersetzungen stattfinden und die Entscheidungen fallen.

Nicht Wenig hat zum Niedergang des Parlaments auch die weitverbreitete Neigung der Politiker beigetragen, ihre Stellungnahmen, ihre Pläne und Kontroversen nicht im Parlament, sondern außerhalb, vornehmlich im Fernsehen und in den Boulevard-Blättern, abzugeben, zu erläutern und auszufechten. Natürlich hat ein solches Verhalten seine Gründe. Die Parlamentarier sind enttäuscht über das geringe Echo der parlamentarischen Verhandlungen in der Öffentlichkeit und hoffen, anderswo größere Aufmerksamkeit zu gewinnen. Aber indem sie die Tribüne der Massenmedien wählen, machen sie den Niedergang des Plenums als öffentliches Forum erst endgültig. Kein anderes vergleichbares Land kennt diese Form der „Illustrierten-Demokratie", wie sie sich in den letzten Jahren in der Bundesrepublik entfaltet hat.

In diesem Zusammenhang muß auch die mangelnde Achtung erwähnt werden, die manche Abgeordnete dem Bundestag offensichtlich entgegenbringen. Es ist vielleicht nicht nötig, das Parlament zu lieben — obwohl die großen Parlamentarier sich dieses Gefühls nie geschämt haben —, aber man sollte von den Abgeordneten doch erwarten, daß sie das Parlament respektieren. Wenn der Geschäftsführer einer Fraktion, ohne gerügt zu werden, das Parlament als einen „Laden" bezeichnen darf, dann läßt eine solche Einstellung nichts gutes von dem Willen der Abgeordneten erwarten, dem Bundestag zu dem ihm gebührenden Platz in der Öffentlichkeit zu verhelfen.

Parlamentsreform

Nicht wenige Abgeordnete aus allen Fraktionen haben diese Lage begriffen. Mit Recht weisen sie allerdings darauf hin, daß die gegegenwärtige Praxis der parlamentarischen Geschäftsordnung ihnen nur schwer erlaubt, sich durchzusetzen und eine Änderung herbeizufuhren. Seit Jahren treten sie daher für eine Reform der parlamentarischen Praxis ein, mit dem Ziel, den Bundestag wieder mehr in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken.

Da ist einmal der Vorschlag, den Plenardebatten ein anderes Ziel zu setzen. Den Ausschüssen soll es vorbehalten bleiben, die spe-ziellen Gesichtspunkte, sowie die Sach-und Detailfragen zu erörtern, die für den Durchschnittsbürger wenig verständlich sind oder die nur einen kleinen Kreis von Interessenten angehen. In den Plenarsitzungen hingegen sollen die Probleme unter der Perspektive der Gesamtheit behandelt und die den einzelnen Entscheidungen zugrunde liegenden Prinzipien sowie die Alternativen debattiert werden

Das setzt zweierlei voraus. Einmal dürfen im Plenum nicht nur die jeweils zuständigen Spezialisten und Interessenvertreter anwesend sein und zu Wort kommen. Zum andern müssen dem Parlament auch Alternativen zur Entscheidung vorgelegt werden und nicht bereits ausgehandelte Kompromisse, die nur noch zu ratifizieren sind. Die gegenwärtige Praxis sieht anders aus. Die Verwaltung, in deren Schoß die meisten Gesetze und Verordnungen angeregt, vorbereitet und formuliert werden, nimmt in hohem Maße die politischen Entscheidungen bereits vorweg, indem sie mit den betroffenen Verbänden einen Kompromißvorschlag ausarbeitet, der möglichst wenig Reibungsflächen bietet. Das heißt, die politische Aussprache wird auf diese Weise den Abgeordneten entzogen; sie findet außerhalb des Bundestages statt Auch wenn das Parlament noch verhältnismäßig viel an den Entwürfen ändert, so handelt es sich bei diesen Änderungen meist um Einzelheiten; das Prinzipielle ist in der Regel schon entschieden. Einzelheiten und spezielle Gesichtspunkte stehen auch im Vordergrund der durchschnittlichen Plenardebatten, die von den jeweiligen Spezialisten und Interessenvertretern der Fraktionen bestritten werden. Anschaulich spricht der Abgeordnete Dichgans von dem „Schichtbetrieb", in dem der Bundestag seine Gesetzgebungsarbeit erledigt. „Die Besetzung wechselt von Tagesordnungspunkt zu Tagesordnungspunkt völlig." Anwesend seien nur die Experten. Die Plenardebatten seien daher meist auch nichts anderes als eine Fortsetzung der Fachdebatten in den Ausschüssen Was passiert, wenn ein Nicht-Spezialist oder Nicht-Interessenvertreter sich zu Wort meldet, schildert Dichgans so: „Wir hatten hier eine Debatte über den Grünen Plan. Es meldete sich eine Kollegin in einem Augenblick zu Wort, in dem vor ihr nur zwei Namen auf der Rednerliste standen. Sie war also der Meinung, daß sie in etwa einer halben Stunde das Wort erhalten würde. Aber mitnichten! Sie erhielt es überhaupt nicht. Nach ihr meldeten sich nämlich weitere Landwirte zu Wort, und nach einem geheimnisvollen Gesetz dieses Hohen Hauses genießt in der Landwirtschaftsdebatte der Landwirt stets Priorität, wann auch immer er sich zu Wort meldet........ das gilt nicht nur für Landwirte, das gilt auch für andere Debatten. In der Debatte hat der Fachmann Priorität."

Überprüfung der Zuständigkeiten

Ferner bedarf es „einer gründlichen Überprüfung der Zuständigkeiten. Der Bundestag erstickt sonst in der Fülle seiner Kleinarbeit." Im Jahr kommen durchschnittlich allein hundert Gesetze vor das Plenum. Auch das fleißigste Parlament wäre hier überfordert, und es ist kein Wunder, daß für die Diskussion der politisch bedeutenden Fragen beim besten Willen häufig die Zeit fehlt. Der Bundestag wird nicht umhin können, einen Teil seiner Zuständigkeiten an die Verwaltung oder an kleinere Parlamentsausschüsse zu delegieren und sich auf die politisch relevante Gesetzgebung und die Rahmengesetzgebung zu beschränken. Allerdings wird es nicht einfach sein, zwischen wichtigen und weniger wichtigen Gesetzen eine einleuchtende Grenze zu finden und die Kompetenz so zu beschränken, daß dadurch die faktische Macht der Volksvertretung nicht geschmälert wird

Das Plenum sollte künftig aber auch häufiger tagen. Während das englische Unterhaus jährlich mehr als 150, das amerikanische Repräsentantenhaus selten weniger als 120 Sitzungen abhält, versammelt sich der Deutsche Bundestag im gleichen Zeitraum kaum fünfzigmal Bei dieser Tagungsweise bleibt es nicht aus, daß viele Ereignisse erst dann im Parlament zur Sprache kommen können, wenn sie nicht mehr aktuell sind. Wenn der Bundestag den Anschluß an die Tagespolitik wiedergewinnen will, wird er künftig häufiger tagen müssen. Um allerdings die Abgeordneten nicht noch mehr als bisher zu belasten, müßte gleich-* zeitig die Zahl der Ausschüsse und der Ausschußsitzungen eingeschränkt werden

Eine wichtige Voraussetzung zur Diskussion der tagespolitischen Fragen wurde probeweise bereits Anfang 1965 in Form der sogenannten „Aktuellen Stunde“ geschaffen Sinn dieser Einrichtung ist es, Fragen von allgemeinem und aktuellem Interesse spontan zwischen Regierung und Opposition zu debattieren, ohne schriftlich vorbereitete Erklärungen und ohne die umständliche Prozedur der Anträge, Vorlagen und Abstimmungen, wie sie sonst bei Debatten üblich sind. „Der einzelne Redner darf nicht länger als fünf Minuten sprechen. Die Verlesung von Erklärungen oder von Reden ist unzulässig." Dreißig Abgeordnete genügen, um eine solche Ad-hoc-Aussprache unmittelbar nach Schluß jeder Fragestunde herbeizuführen.

Es wird allerdings nicht so leicht sein, dieser Institution zum Erfolg zu verhelfen. Soll es zu einer spontanen und fruchtbaren Debatte kommen (und nicht nur zum Austausch längst bekannter Standpunkte), müssen zuvor zwei Vorurteile überwunden werden, die hierzulande fest eingewurzelt sind: das Vorurteil, „zweimal zu denken sei eine Sünde“, und das Vorurteil, die Meinungen eines Politikers seien nicht nur ihm selbst, sondern unter allen Umständen zugleich seiner Partei anzulasten. Sobald man den einzelnen Abgeordneten auf seine Meinungen festlegt, ist es fast unvermeidlich, daß er nur noch unverbindlich Allgemeinheiten äußert, aus Furcht, daß er morgen anders denken könne und daß ihm dieser Meinungswechsel dann sein Leben lang vorgewor-fen wird. Nicht anders verhindert der Zwang, sich vor jeder Äußerung in der Öffentlichkeit mit der Partei ins Benehmen zu setzen und die Meinungen dabei abzustimmen, jede spontane Meinungsäußerung. Solange diese beiden Vorurteile nicht überwunden sind, wird die „Aktuelle Stunde" kaum befriedigend funktionieren.

Notwendig wäre ferner eine Vereinbarung, welche die Abgeordneten verpflichtet, akute politische Themen in Presse, Rundfunk und Fernsehen nicht vor Ablauf einer bestimmten Frist, etwa von vierzehn Tagen, zu erörtern, es sei denn, das Parlament habe zuvor dazu Stellung genommen. Eine solche Vereinbarung, wie sie in ähnlicher Weise bis vor kurzem in England bestand könnte die Abgeordneten und Regierungsmitglieder dazu anspornen, ihre Vorschläge und ihre Stellungnahmen zuerst im Parlament einzubringen und zu vertreten, und wäre dadurch geeignet, die Priorität des Parlaments wiederherzustellen. Natürlich sollen die Parlamentarier nicht von den Massenmedien ferngehalten werden, sie sollen aber zunächst im Bundestag Rede und Antwort stehen. Nur so kann sich das Parlament wieder größere Aufmerksamkeit verschaffen.

Parlamentarische Debatte verlebendigen

Nicht weniger wichtig ist es, die parlamentarischen Debatten lebhafter und für die Öffentlichkeit anziehender zu machen. Hierzu gehört unter allen Umständen, daß nach der Rede des Kanzlers oder eines Ministers ein Sprecher der Opposition das Wort erhält, wie es die SPD schon mehrfach gefordert hat Gegenwärtig sprechen mitunter zwei oder drei Regierungsmitglieder hintereinander, denen dann ein Sprecher der Regierungsmehrheit folgt; erst an dritter, vierter oder fünfter Stelle kommt die Opposition zu Wort. Daß es auf diese Weise selten zu einer Konfrontation, geschweige denn zu einem Wettstreit der Argumente kommt, versteht sich von selbst. (Bei der Debatte über das Stabilitätsgesetz am 14. September dieses Jahres sprach, abweichend von der bisherigen Übung, nach dem Bundeskanzler und dem Bundeswirtschaftsminister ein Mitglied der Opposition. Der Ältestenrat hatte sich zuvor auf diese Reihenfolge als eine Geste gegenüber der Opposition geeinigt Es wäre zu wünschen, wenn daraus eine feste und selbstverständliche Regel würde.)

Zu diesem Mangel an lebendiger Konfrontation trägt auch die jetzige Form des Plenarsaales bei, die mehr zur Abfolge von Monologen als zur Wechselrede inspiriert. Man hat die Befürworter eines Umbaues des Plenarsaales häufig verlacht, mit der Begründung, die Architektur sei eine bloße Äußerlichkeit. Dabei sollten die Politiker, die doch an so verschiedenen Orten reden müssen, eigentlich wissen, wie sehr die Anlage des Raumes den Stil und die Wirkung einer Rede bestimmt. Der Umbau des Plenarsaales wird die Debatte nicht automatisch beleben, aber er wird sie erleichtern. Bundesminister Gerhard Schröder hat vor Jahren die Gründe aufgezählt, die für einen Umbau sprechen: „Das Wesen des Parlaments besteht nicht in der Deklamation, sondern in der Diskussion. Für die Diskussion aber ist die derzeitige Einrichtung des Plenarsaales so ungeeignet wie nur möglich. Der Plenarsaal ähnelt einem ... Vortragssaal mit Bühne und Galerie. Die Zeit ist gekommen, hier eine kräftige Besserung wenigstens zu versuchen. Dabei sollte man sich vor Halbheiten hüten. Unter den Vorbildern, die sich für eine wirkliche Reform anbieten, halte ich das des britischen Unterhauses für das uns gemäßeste: engeres Zusammenrücken der Abgeordneten unter Wegfall der doch etwas schulmäßigen Pulte und dadurch die Erzielung einer dichteren Atmosphäre; klares Gegenüber von Regierung und Opposition ... Der Zwang, vom Platz aus frei zu sprechen, gäbe den wirklichen Parlamentariern, vor allem auch unter den jüngeren Kollegen, eine unvergleichliche Chance, sich durch Konzentration und Schlagfertigkeit in der Auseinandersetzung hervorzutun. Die Bundestagssitzungen wären kürzer, lebendiger, eindrucksvoller, das Interesse der Öffentlichkeit größer und das Parlament für die Politiker selbst attraktiver. Den Hauptgewinn aber hätte die Demokratie."

Es geht um Grundfragen der parlamentarischen Demokratie

Ein anderer Punkt, der der Reform bedarf, ist die Redepraxis. Paragraph 37 der Geschäftsordnung des Bundestages sieht vor, daß die Redner grundsätzlich in freiem Vortrag sprechen. Der Sinn der Vorschrift ist klar: Redner, die ausgearbeitete Manuskripte vorlesen, wirken nicht nur selten fesselnd, sie haben es außerdem schwer, sich dem Gang der Debatte anzupassen und auf die Argumente der Vorredner einzugehen. Die wenigsten Abgeordneten halten diese Vorschrift jedoch ein. So kommt es, daß aus dem Hin und Her, dem Hieb und Stich der Argumente, das zum Parlament wesentlich gehört, ja sein Lebens-element ausmacht, allzuhäufig eine monotone Abfolge unverbundener Meinungsäußerungen wird. Auch wenn man berücksichtigt, daß viele Themen nur schwer zu einem freien Vortrag geeignet sind und daß rhetorische Begabung nicht bei allen Parlamentarieren vorausgesetzt werden kann, sollten sich die Abgeordneten trotzdem mehr als bisher von ihren Manuskripten lösen und frei debattieren Der Abgeordnete Dichgans hat hierzu einen diskutablen Vorschlag gemacht: „Wir können die Manuskripte nicht abschaffen. Das hat sich gezeigt. Aber wir könnten vielleicht eine Bestimmung einführen, daß die Manuskripte beim Präsidenten anzumelden sind mit der Folge, daß jemand, der ein vollständiges Manuskript mitbringt, an das Ende der Rednerliste kommt. ... das ist keine effektive Verschlechterung des gegenwärtigen Zustandes. Wer ein Manuskript mitbringt, kann es immer zu Protokoll geben; er kommt dann nicht zu Gehör. Aber kommt denn derjenige, der hier ein Manuskript vorliest, wirklich zu Gehör? Ich bezweifle das. Deshalb ist vielleicht der Weg vom Manuskript zur Druckerei der rationellere Weg, der den Umgang über den Stenographen spart."

Ebenso dringlich, vielleicht sogar noch dringlicher wäre es, die Redezeit zu beschränken, etwa auf eine halbe Stunde, und von dieser Beschränkung nur in Ausnahmefällen abzugehen. Kurze Redezeiten zwingen zur Kon-zentration auf das Wesentliche und zur Präzision des Ausdrucks. Je konzentrierter und je präziser eine Rede ist, desto größer ist in der Regel auch die Chance, daß sie auf wache Ohren stößt. Die Reden, die im Bundestag gehalten werden, sind gewöhnlich zu lang, nicht selten überschreiten sie eine Stunde. Häufig reden fünf Redner fünf Stunden lang, was bei den Redegewohnheiten des Bundestages heißt, daß fünf Redner fünf Stunden hintereinander ihre Denkschriften vorlesen. Niemand ist in der Lage, fünf Stunden lang die Verlesung von Denkschriften anzuhören. Das Ergebnis: das Haus und die Tribüne leeren sich

Auch hier hat Dichgans ein vernünftiges Verfahren vorgeschlagen, dasjenige nämlich, das sich im Europäischen Parlament bewährt hat. Der Kern seines Vorschlages besteht darin, den Fraktionsspitzen die faktische Entscheidung über die Rednerliste und die Redezeiten zu nehmen und in die Hände des Plenums und dessen Präsidenten zu legen Aufgabe des Bundestagspräsidenten soll es sein, die Redner vorher zu fragen, wie sich die angemeldeten Redezeiten zu der vernünftigerweise verfügbaren Redezeit verhalten und dann einen Vorschlag für eine angemessene Verteilung zu machen Um die Spannung der Debatten zu steigern, schlägt Dichgans vor, daß zuerst die „backbencher" zu Wort kommen und ganz kurze Reden gehalten werden und daß erst gegen Schluß die großen Redner auftreten: „Im Rahmen einer vernünftigen Aufteilung von Rede und Gegenrede, die selbstverständlich im Vordergrund stehen muß, sollte man die Namen der Redner nach der angemeldeten Redezeit sortieren und demjenigen mit der angemeldeten kürzesten Rede-zeit die Spitze der Rednerliste einräumen....

Unser jetziges System geht dahin, daß die schwere Artillerie der Fraktionskanonen am Anfang redet und daß die Herren dann oft anschließend den Saal verlassen. Wäre es nicht viel besser, wenn zunächst die Einwendungen kämen, die meinetwegen originellen Beiträge, damit zum Schluß die Fachleute der Fraktionen die Debatte noch einmal aufgreifen, sie zusammenfassen und die Stellungnahme der Fraktionen vortragen? Ich glaube, wenn wir uns das einmal überlegen, werden unsere Debatten fruchtbarer, lebendiger und anziehender werden."

Ein anderes Mittel, den Kreislauf zwischen Parlament und öffentlicher Meinung zu beleben und zu kräftigen, wäre die Vermehrung der öffentlichen „Hearings“ (öffentliches Anhören von Sachverständigen durch einen Parlaments-Ausschuß) Diese eignen sich nicht nur vorzüglich dazu, die Abgeordneten über die öffentliche Meinung zu unterrichten, sie helfen auch mit, das Verständnis und das Interesse der Öffentlichkeit für das Parlament zu vertiefen, die Wähler über die öffentliche Angelegenheiten zu informieren und zur Urteilsbildung zu provozieren. Der amerikanische Kongreß bedient sich dieses Mittels in großem Maße. Die wichtigsten Hearings werden im amerikanischen Fernsehen übertragen und finden dort ein aufmerksames Publikum. Der Wähler sieht bei diesen Übertragungen die Abgeordneten „in Aktion" und bekommt meist ein ungeschminkteres Bild von ihnen vermittelt als es bei Veranstaltungen im Plenum der Fall ist.

Nur vordergründig geht es bei diesen Vorschlägen zu einer Reform der Geschäftsordnung um Fragen der Zweckmäßigkeit: in Wahrheit geht es „um Grundfragen des Selbst-Verständnisses der parlamentarischen Demokratie" über die Schwierigkeiten, die einer solchen Reform entgegenstehen, darf man sich daher auch keinen Illusionen hingeben; sie sind beträchtlich. Seit Bestehen des Bundestages, und in verstärktem Maße in den letzten Jahren, hat es immer wieder Anträge zu einer Reform gegeben. „Aber die Antragsteller sprachen ins Leere. Die parlamentarische Reform wird im Bundestag sehr klein geschrieben."

Es gibt Stimmen, die bestreiten, daß eine derartige Reform überhaupt den erhofften Erfolg bringen wird. Die Erfahrungen der letzten Jahre geben zu übertriebenem Optimismus wenig Anlaß. So haben sich die Abgeordneten in den ersten eineinhalb Jahren seit Einführung der „Aktuellen Stunde" nur dreimal dieser Einrichtung bedient. Eines ist klar: wenn der Bundestag sich das Instrumentarium schafft, mit dessen Hilfe er interessanter werden und lebhafter auf die öffentliche Meinung einwirken könnte, dann muß er davon auch den richtigen Gebrauch machen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zum folgenden vor allem: Ernst Fraenkel, Parlament und öffentliche Meinung; ders., Demokratie und öffentliche Meinung, beide in: Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964; ders., Öffentliche Meineung und internationale Politik, Recht und Staat H. 255/256, Tübingen 1962; Wilhelm Hennis, Meinungsforschung und repräsentative Demokratie, Recht und Staat, H. 200/201, Tübingen 1957; H Huber, Öffentliche Meinung und Demokratie, in: Festschrift für K. Weber, Zürich 1950; Siegfried Landshut, Volkssouveränität und

  2. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Sammlung Politica, Neuwied 1962, S. 104 ff.

  3. So z. B. Bluntschli, Deutsches Staatswörterbuch, Stuttgart/Leipzig 1862, Stichwort „Öffentliche Meinung". Dazu auch Wilhelm Hennis, op. cit., S. 23 f.

  4. Dazu z. B. Ferdinand Tönnies, Kritik der öffentlichen Meinung, Berlin 1922; Jürgen Habermas, op. cit.

  5. Otto Friedrich Bollnow, in: Der Mensch und seine Meinung. Darmstädter Gespräch 1960, Darmstadt 1961, S. 213.

  6. Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 19612, S. 174.

  7. Zit. bei Emst Fraenkel, Demokratie und öffentliche Meinung, a. a. O., S. 131.

  8. Z. B. Ernst Fraenkel, Öffentliche Meinung und internationale Politik, a. a. O., S. 14; Wilhelm Hennis, op. eit, S. 28.

  9. Statt vieler: Peter R. Hofstätter, Die Psychologie der öffentlichen Meinung, Wien 1949; Gerhard Schmidtchen, Die befragte Nation, Freiburg 1959; Walter Lippmann, Public Opinion, New York 19542.

  10. ed. The World's Classics, 1961, S. 115 ff.

  11. „To enlarge the public views“, heißt es im „Federalist", No. 10; ed. The Modern Library, S. 59.

  12. „To refine the public views"; ebd.

  13. Auf diesen Aspekt verweist bes. Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 1955, S. 151 f.

  14. Klaus v. Dohnanyi, in: Der Mensch und seine Meinung, a. a. O., S. 113.

  15. Daß die Einheitlichkeit der öffentlichen Meinung in aller Regel sogar ein Zeichen der Unfreiheit ist, darüber vor allem: The Föderalist, No. 10 und 50.

  16. Theodore C. Sorensen, Decision-Making in the White House, New York/London, 1965“, p. 45.

  17. Öffentliche Meinung und internationale Politik, a. a. O., S. 15.

  18. Op. cit., S. 27.

  19. So z. B. Johannes Gross, Öffentliche Meinung und politische Verfassung, in: Lauter Nachworte, Stuttgart-Degerloch 1965, S. 31 f.

  20. In diesem Vorurteil drückt sich die seit Platon traditionelle Abwertung der Meinung (doxa) aus; vgl. die Bemerkungen von Otto Friedrich Bollnow, a. a. O., S. 212 ff.

  21. Ernst Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, H. 16, Berlin 1958, S. 32 (Hervorhebung vom Vers.).

  22. Op. cit.

  23. Eine der frühesten Belegstellen für diesen Sachverhalt stellt das Gespräch zwischen Sheridan, Burke, Johnson und Reynolds dar, das James Boswell aus dem Jahre 1778 überliefert: Sheridan zu Burke: „... wenn die Nachwelt dereinst Ihre Reden im Unterhaus liest, wird man sich wundem, warum Sie sich damit so viel Mühe gegeben haben, wo Sie doch genau wußten, daß sich dadurch am Stimmenverhältnis nicht das geringste ändern konnte.“ Burke'„Ohne mich zu Ihrem Kompliment

  24. Dazu vor allem: Rudolf Smend, Zum Problem des öffentlichen und der Öffentlichkeit, in: Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht, Gedächtnisschrift für W. Jellinek, München 1955.

  25. Vgl. Kalt, Das Prinzip der Öffentlichkeit staatlichen Handelns als Voraussetzung der demokratischen Willensbildung, Zug 1953.

  26. Natürlich spielt sich dieser Prozeß nicht in einem Vakuum ab; öffentliche und parlamentarische Meinung werden auch von anderen Mächten beeinflußt.

  27. Klaus v. Dohnanyi, Die Verführung der Verführer, in: Die Neue Gesellschaft, 12. Jg. (1965), H. 5, S. 862. Zum Thema Meinungsforschung und Politik: Schmidtchen/Noelle-Neumann, Die Bedeutung repräsentativer Bevölkerungsumfragen für die offene Gesellschaft,. in: PVS, 4. Jg. (1963), H. 2; Kurt Sontheimer, Meinungsforschung und Politik, in: Der Monat, April 1964; Wilhelm Hennis, op. cit.

  28. Ebd.

  29. Dohnanyi berichtet eine Äußerung Felix von Eckardts, des früheren Leiters des Presse-und In-formationsamtes der Bundesregierung: „Zu seiner Zeit habe man Meinungsforschung nicht betrieben, um zu erfahren, was der Wähler wolle, um dieses dann als Programm zu übernehmen: Vielmehr sei es die Aufgabe der Untersuchungen gewesen, festzustellen, wie man den zögernden Wähler von der Richtigkeit der Auffassung der Regierung überzeugen könne.“ Nach Dohnanyi scheint Bundeskanzler Erhard „der Meinungsforschung weit mehr Gewicht in der Bestimmung von Ziel und Weg zu geben“ als Adenauer (a. a. O., S. 862).

  30. Dazu: Erich Fechner, Die Interessen der Nicht-organisierten, in: Die politische Verantwortung der Nichtpolitiker, ed. J. Schlemmer, München 1964.

  31. Friedrich Schäfer, Aufgaben einer Parlamentsreform, in: Die Neue Gesellschaft, 12. Jg, (1965), H. 3, S. 689.

  32. Vgl. neuerdings die Kritik von Karl Jaspers an den Bundestagsdebatten vom 10. und 25. März 1965 über die Verjährung von Morden des NS-Staates, in: Wohin treibt die Bundesrepublik?, München 1966, S. 47 ff.

  33. Bonn ist nicht Weimar, in: Der Monat, Mai 1965, S. 16.

  34. Carlo Schmid, Kurt Schumacher als Redner, in: Politik und Geist, Stuttgart 1961, S. 231.

  35. Aufschlußreich das Gespräch Eugen Gerstenmaiers mit dem „Spiegel", in: Der Spiegel, 18. Jg• Nr. 38, 16. 9. 1964, bes. S. 38.

  36. A. a. O., S. 123.

  37. Dazu: Karl Hermann Flach, Die Republik ohne Herz. Bonn und das Klima der deutschen Politik, in: Zwanzig Jahre danach, ed. Helmut Hammer-schmidt, München/Wien/Basel 1965.

  38. Näheres bei C. W. Cassinelli, The Politics of Freedom, Seattle 1961, S. 41, 45 ff.

  39. Zit. bei Arthur Schlesinger, Demokratie und heldisches Führertum, in: Die Bewährung der Demokratie im 20. Jahrhundert. Das Seminar von Berlin, Zürich 1961, S. 89.

  40. Ähnlich Eugen Gerstenmaier, op. cit., S. 34 ff.

  41. Z. B. Paul Sethe, Ein Parlament im Geheimen, in: Die Zeit, 29. 10. 1965, S. 5.

  42. Ebd.

  43. Profiles in Courage, dtsch.: Zivilcourage, Wien/Stuttgart/Zürich 19602, S. 33 f.

  44. Zit. bei Hannah Arendt, über die Revolution, München 1965, S. 303.

  45. Auf diesen Mißstand hat z. B.der Abg. Hans Dichgans mehrfach hingewiesen; so in der Plenarsitzung des Deutschen Bundestages vom 16. 6. 1966 (Verh. d. 5. Dt. BT, S. 2324).

  46. Dazu neuerdings Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, passim.

  47. Carlo Schmid, op. cit., S. 231.

  48. Wilhelm Hennis, Therapie für parlamentarische Schwächen, in: Die Zeit, 25. 3. 1966, S. 32: „Es gibt kein vergleichbares Parlament der Welt, in dem so wenige Abgeordnete so viel, so viele so wenig reden".

  49. Auf welche Weise dies geschieht, hat der Abg. Dichgans in der Plenarsitzung des Deutschen Bundestages vom 16. 2. 1966 geschildert: „Zunächst läuft die Debatte in großer Breite mit Reden, die gelegentlich eine volle Stunde überschreiten. Zu einem bestimmten Zeitpunkt erfahren Abgeordnete, die sich Stunden vorher ordnungsgemäß zu Wort gemeldet haben, daß die Rednerliste erschöpft sei. Sie schließen daraus messerscharf, daß sie von der Rednerliste gestrichen sind, und der gute Ton im Bundestag erfordert, daß der Kavalier in diesem Augenblick schweigt. Gelegentlich werden die Redner auch konsultiert; aber immer nur dann, wenn sie vorher völlig in die Ecke manövriert sind”.

  50. Vgl. Helga Haftendorn, Die politische Funktion der Parlamentsberichterstattung, Diss. phil. Frankfurt 1960, auszugsweise veröffentlicht in: Publizistik, 6. Jg. (1961) H. 5/6.

  51. op. eit, S. 691.

  52. Die verlorenen Jahre, in: FAZ, 14. 8. 1963, S. 1.

  53. A. a. Ö„ S. 34.

  54. Ebd.

  55. Vermischte Schriften über Staat, Philosophie und Kunst, Wien 1812, abgdr. in: Schriften zur Staatsphilosophie, ed. Rudolf Kohler, München 1923, S. 171.

  56. Gerhard Leibholz, Der Strukturwandel der modernen Demokratie, in: Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958, F. 97.

  57. Siehe Herbert Morrison, Regierung und Parlament in England, München 1956, S. 222 f.

  58. Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier hat in dem Gespräch mit dem „Spiegel" der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß die deutsche Wissenschaft „eine geschlossene, in sich durchreflektierte Vorlage" zur Parlamentsreform liefern werde (a. a. O., S. 33). Eine solche kann von Wilhelm Hennis erwartet werden, von dem demnächst eine ausführliche Studie unter dem Titel „Was stimmt nicht mit dem Bundestag?" erscheint. Vgl. vom selben Vers.: Therapie für parlamentarische Schwächen, a. a. O.; ders., Haben wir ein faules Parlament? in: Die Zeit, 22. 10. 1965, S. 7. Für England: Bernard Crick, The Reform of Parliament, 1964.

  59. So der Abg. Hans Dichgans in der Sitzung des Deutschen Bundestages vom 16. 6. 66 (Verh. d. 5. Dt. BT, S. 2324).

  60. Dazu vor allem: Thomas Ellwein, Die Diktatur der Kompromisse, in: Zwanzig Jahre danach, a. a. O,. S. 400 ff.; vgl. auch Friedrich Schäfer, op. cit., S. 689 f.

  61. Verh. d. 5. Dt. BT, S. 2286.

  62. Ebd., S. 2324.

  63. Ebd., S. 2323.

  64. Friedrich Schäfer, op. eit, S. 692; ähnlich Gerstenmaier, op. eit, S. 33.

  65. Ein detaillierter Vorschlag in dieser Richtung ist von Thomas Ellwein zu erwarten; siehe Ellwein, a. a. O., S. 404.

  66. Für frühere Legislaturperioden vgl. Karl Gutzler, Wie die Parlamente tagen, in: Neue Stenographische Praxis, 8. Jg., Nr. 2, Juni 1960; ders., Wie die Landtage der Bundesländer tagen, ebd., 8. Jg., Nr. 4, Dez. 1960.

  67. Die Zahl der Ausschußsitzungen ist nicht zuletzt deshalb so hoch, weil die Abgeordneten zwei oder drei Ausschüssen angehören und infolgedessen die Ausschüsse häufig nicht beschlußfähig sind.

  68. Siehe BT-Drs. IV 2958.

  69. Ebd.

  70. Bei einem schriftlichen Antrag genügen fünfzehn Abgeordnete.

  71. Siehe Emst Fraenkel, Parlament und öffentliche Meinung, a. a. O„ S. 129.

  72. Siehe BT-Drs. V 396.

  73. Deutschland-Union-Dienst vom 23. 12. 1959; zit. in einer vorzüglichen Zusammenstellung von Alfred Rapp, Der Bundestag sitzt nicht eng genug, in: FAZ, 16. 3. 1960.

  74. Frei vortragen heißt nicht: unvorbereitet sprechen. Die besten Redner, z. B. Churchill, haben ihre Reden sorgfältig vorbereitet und dann frei vorgetragen. Interessant die Antwort Kurt Schumachers auf die Frage Carlo Schmids, warum er, dem doch alles so gegenwärtig sei, sich die Mühe der sorgfältigen Ausarbeitung eines Manuskriptes mache, das er nachher doch nicht verlese: „Er tue das aus

  75. Verh. d. 5. Dt. BT„ S. 2326.

  76. Hans Dichgans in der Plenarsitzung des Dt. Bundestages vom 16. 6. 1966.

  77. Wie selbstherrlich die Fraktionsspitzen mit den Rednermeldungen häufig umgehen, dazu s. Anm. 49 und S. 19 dieses Aufsatzes.

  78. Verh. d. 5. Dt. BT., S. 2325.

  79. Ebd., S. 2326.

  80. An sich besitzt der Bundestag nach § 73 (2) der GO des Dt. BT. in Form von „öffentlichen Informationssitzungen", die den Ausschußsitzungen vorangehen, die Möglichkeit von Hearings. Bis jetzt macht der Bundestag von dieser Möglichkeit aber nur sparsam Gebrauch. Für die Erweiterung dieser Institution tritt z. B. auch der Abg. Friedrich Schäfer ein, op. cit., S. 692 f.

  81. Alfred Rapp, Ins Leere gesprochen, in: FAZ vom 6. 7. 1966, S. 1.

  82. Ebd.

Weitere Inhalte

Arnd Morkel, Dr. phil., Lehrbeauftragter für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg, geb. 26. März 1928 in Mannheim. Veröffentlichungen U. a.: „über den politischen Stil" in: Politische Vierteljahresschrift, 1966, H. 1; „Montesquieus Begriff der Despotie“ in: Zeitschrift für Politik, 1966, H. 1; im Frühjahr 1967 erscheint im Verlag der „Zeit-Bücher" in einer von Wilhelm Hennis herausgegebenen Schriftenreihe ein Buch über „Wissenschaft als Ratgeberin der Politik".