Die politische Komponente der Rechtsstaatsidee in Deutschland Zur politischen Theorie
Franz Schneider
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I. Das Problem
Die Frage nach der Rechtsstaatsidee führt heute durch eine nur mehr schwer zu bewältigende Fülle von Literatur, deren vorläufiges Ergebnis nach wie vor durch die Bemerkung Konrad Hesses charakterisiert ist, daß eine „abschließende Antwort" noch nicht gefunden ist Die Antwort wird dadurch erschwert, daß hinter der Frage nach dem Rechtsstaat unentrinnbar die weitere Frage hervortritt: was ist Gerechtigkeit?, und daß diese Frage sich ebenso einer Definition entzieht wie jene Frage des Pilatus: was ist Wahrheit? Plato konnte es noch schlicht beim Begriff der „Gerechtigkeit" belassen, den er als Forderung an den Staat heranträgt; er sagt im zweiten Buch der Politeia, die Gerechtigkeit sei Sache des einzelnen Mannes wie auch der ganzen Polis Heute ist der Aussagewert der „Gerechtigkeit" so gesunken, daß Ulrich Scheuner die Umschreibung des Rechtsstaats als „Staat der materiellen Gerechtigkeit" ausdrücklich ablehnt, weil der fehlende Maßstab dem Mißbrauch Tür und Tor öffnet Scheuner fordert und leistet deshalb eine genaue Aufgliederung dessen, was zur Gerechtigkeit eines Rechtsstaats gehört Gerechtigkeit wird demzufolge nicht mehr definiert, wohl aber gewissermaßen durch ein Punkteprogramm substantiiert, dessen Summe die Rechtsstaatlichkeit bewirkt.
Was heute ein Staat, der Platons Anregung folgt, geben kann und gibt, ist ein Katalog heterogener Bestimmungen, deren Garantie den Rechtsstaat schafft. Dieser Katalog besteht im wesentlichen aus formal-prozessualen Sicherungen — die der englische Begriff des „rule of law" noch stärker betont als der deutsche „Rechtsstaat" —, aus Freiheitsgarantien und aus Gewaltenkontrollen mittels einer wie auch immer gearteten Gewaltenteilung; wo der letzte Punkt überhaupt genannt wird, ist er meist lose angefügt und nicht durch eine zwingende Systematik eingefangen. Man hat sich daran gewöhnt, zwischen einer formalen und materiellen Komponente des Rechtsstaats zu unterscheiden bzw. von einem formalen und materiellen Rechtsstaatsbegriff überhaupt zu sprechen Es entsteht allerdings der Eindruck, daß die Abgrenzung des formalen Rechtsstaats nicht einheitlich erfolgt und daß daraus vermeidbare Mißverständnisse resultieren. Von einer politischen Komponente der Rechtsstaatsidee ist jedenfalls bislang in der Wissenschaft nicht die Rede, was nicht besagt, daß die Sache an sich der Forschung entgangen wäre, wohl aber, daß die bisherige Betrachtung um einen neuen Blickwinkel ergänzbar ist, der hier die Zusammenhänge in neuen Entwicklungs-und Bedeutungsschichten aufhellen kann. Um diesen Blickwinkel bemüht sich die Politikwissenschaft.
Die politische Komponente ist zunächst keine Anreicherung des genannten Punkteprogramms, das die Rechtsstaatlichkeit substantiiert, sondern ein Bestandteil der zugrunde liegenden Idee selbst. Dies wird zu zeigen sein, wie überhaupt eine Wesensbestimmung der politischen Komponente erst aus einer Diagnose historischer Voraussetzungen erkennbar und verständlich wird. Was aber bereits einleitend hervorzuheben ist: Allein schon die Begriffsprägung „politische Komponente des Rechtsstaats" muß herausfordernd wirken gegenüber der verbreiteten Auffassung, Politik und Recht seien Antinomien, sie hätten nichts miteinander zu tun oder sollten zumindest nichts miteinander zu tun haben. So schreibt Theodor Maunz: „Die Staatsform baut auf den politischen Gestaltungsprinzipien auf, die Rechtsstaatlichkeit ist das unpolitische Formprinzip." Werner Kägis Untersuchungen, angesetzt auf das Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat, verdanken wir die Aufhellung der Gründe, die zu diesem Trennungsdenken führen Zudem hat das Dritte Reich die lebende Generation am eigenen Leib erfahren lassen, wie sehr die Politik das Recht korrumpieren kann; es hat das Auseinander-fallen von Recht und Gesetz, von Rechtsstaat und Gesetzesstaat gezeigt, und es hat das Gesetz zu Positivität ohne Wertgehalt und das Recht zu Wertgehalt ohne Positivität verunstaltet.
Die politische Komponente meint aber gerade das Gegenteil; sie meint jene Durchdringung der Rechtsstaatlichkeit mit politischen Elementen, die ein Abgleiten in den Mißbrauch verhindert und den Staat auf die Observanz eines bestimmten — durch Enumeration substantiierten — Gerechtigkeitsfundus verpflichtet. Diese Problemstellung führt unmittelbar heran an die Fundamente der Politikwissenschaft, insbesondere der politischen Theorie. Die Entwicklung zeigt drei Phasen, deren dritte dadurch gekennzeichnet ist, daß sie die Auffassungen der beiden früheren nicht als Facta praeterita betrachtet, sondern kontemporär in polemischer Diskussion hält, wobei der einen Position offenbar zu wenig bewußt ist, daß sie unmittelbar an die Anfänge der Rechtsstaatsidee in Deutschland anschließt. Unsere Betrachtung gliedert sich demnach wie folgt: 1. Die Entstehung des modernen Rechtsstaatsbegriffs, und zwar als Politikum; 2. die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Verkümmerung der politischen Komponente, was zum Absinken in bloße, formelle Legalität führte, die dann der Un-rechtsstaat usurpieren konnte; 3. die Auffassungen, welche die Gegenwart diskutiert, und deren kritische Würdigung.
II. Die politische Dynamik des liberalen Rechtsstaats
Abbildung 2
I. II. III. IV. INHALT Das Problem Die politische Dynamik des liberalen Rechtsstaats 1. Absolutismus und Rechtsmonopol 2. Die bürgerliche Gegenbewegung 3. Ernst Ferd. Kleins Zeugnis für die politische Freiheit (1790)
4. Entwicklungsphasen früher Rechtsstaatlichkeit 5. Das Wesen der politischen Komponente der Rechtsstaatsidee Die Formalisierung des Rechtsstaatsgedankens 1. Friedrich Julius Stahls neuer Ansatz 2. Staatsgläubigkeit der Wilhelminischen Ära 3. Entwertung und Pervertierung der Rechtsstaatside
I. II. III. IV. INHALT Das Problem Die politische Dynamik des liberalen Rechtsstaats 1. Absolutismus und Rechtsmonopol 2. Die bürgerliche Gegenbewegung 3. Ernst Ferd. Kleins Zeugnis für die politische Freiheit (1790)
4. Entwicklungsphasen früher Rechtsstaatlichkeit 5. Das Wesen der politischen Komponente der Rechtsstaatsidee Die Formalisierung des Rechtsstaatsgedankens 1. Friedrich Julius Stahls neuer Ansatz 2. Staatsgläubigkeit der Wilhelminischen Ära 3. Entwertung und Pervertierung der Rechtsstaatside
1. Absolutismus und Rechtsmonopol Als die erste Voraussetzung des modernen Rechtsstaats muß man die Entwicklung des Rechts staats bezeichnen, das heißt die Überführung der Gerechtigkeitsausübung aus der Hand des einzelnen in die Hand des Staates. Der Fürst als Verkörperung des Staates zieht Rechtsverwirklichung und Rechtsdurchsetzung an sich. Erst dadurch entstand die Situation, daß der Untertan anstelle des mittelalterlichen Sippen-, Faust-und Fehderechts nunmehr das Recht vom Staat in Empfang nakm, und zwag aicht nur als Norm, sondern auch als Vollzug. Diese Zuständigkeiten realisierten „gutes altes Recht" das eben durch die Qualitäten „gut" und „alt" (= seit eh und je bestehend, zeitlos gültig) untadelig in seiner Geltkraft war Die dezentralisierte rechte-führende Hand des einzelnen wird abgelöst durch das staatliche Gewaltenmonopol, das zum Kernelement des Begriffs „Souveränität" aufrückt. Die Schwierigkeiten und Bedenklichkeiten, die diese Umschichtung mit sich brachte, hat Heinrich von Kleist in seiner berühmtesten Novelle nachgezeichnet: Michael Kohlhaas greift zur Selbsthilfe, als er Gerechtigkeit vom Kurfürsten nicht erlangen kann. Als das neue System nicht funktioniert und das Gewaltenmonopol im Gewaltenmonopol steckenbleibt und nicht zum Gerechtigkeitsmonopol aufsteigt, wandelt sich Kohlhaas von einem der „rechtsschaffensten" zu einem der „entsetzlichsten Menschen seiner Zeit"; „das Rechtsgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder."
Die Monopolisierung der Rechtsausübung kulminierte im Absolutismus. Von den sich türmenden Prädikaten für den von Gottesgnadentum umwehten Herrscher war wohl die Bezeichnung „lex animata“ die höchste Der Wille des Fürsten wird zur Inkarnation des Gesetzes: Sit pro ratione voluntas. Bodin umschreibt deshalb in seiner bekannten Definition die Souveränität als „summa in cives ac subditos legibus soluta potestas" Die Entfaltung der Rechtsstaatsidee kann als Antwort auf diese Formel gedeutet werden. Sie war eine mit juristischen und philosophischen Mitteln versuchte, substantiell aber gleichzeitig eminent politische Antwort. Ziel war die Wiederherstellung jenes Zustandes, der sich im angelsächsischen Raum zwar nicht ungefährdet, wohl aber unzerstört erhalten hatte, nämlich der Primat des Rechts im Staat, die Beugung des Herrschers unter das Gesetz. Hand in Hand damit ging die Zurückdämmung der staatlichen Zwangsbeglückung, die der Dynamik des naturrechtlichen Selbstbestimmungsanspruchs wich. Der aufgeklärte Absolutismus, seine „gute Polizei" und seine Theoretiker hatten eine Maximalisierung des Staates betrieben, der mittels eines arrangierten und oktroyierten Beglückungsvorgangs zutiefst in die Intimsphäre des Untertanen eindrang. Nach Justi sollte beispielsweise sogar den Eltern vorgeschrieben werden, von welchem Alter ab sie verstorbene Kinder betrauern dürften und wann nicht Der Unfehlbarkeitsanspruch der Glücksdefinition und der* Glücksdosierung, den die sogenannten aufgeklärten Monarchen und ihre Zubringergelehrten erhoben, beinhaltete im Grunde einen kaum geringeren Souveränitätsdünkel und ein kaum geringeres Kompetenzbewußtsein als es das „l'etat c’est moi“ des Hoch-absolutismus offenbarte. 2. Die bürgerliche Gegenbewegung Die Gegenbewegung drängte auf eine Reduzierung der staatlichen Eingriffskompetenz und mündete in die Minimalisierung zum „Nachtwächterstaat". Als Kronzeugen gelten Kant („Niemand kann mich zwingen, auf seine Art glücklich zu sein" und Wilhelm von Humboldt in seiner berühmten Schrift „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" Daneben stehen andere unter denen der junge Fichte nicht als letzter zu nennen ist:
„Und ihr alle, die ihr Kräfte dazu habt, kündigt doch jenem ersten Vorurtheile, woraus alle unsere Uebel folgen, jener giftigen Quelle alles unsers Elendes, jenem Satze:
daß es die Bestimmung des Fürsten sey, für unsre Glückseligkeit zu wachen, den unversöhnlichsten Krieg an . . Weiß nämlich der Fürst, „was unsere Glückseligkeit befördere ... und ist er dazu da, uns zu ihr zu leiten, so müssen wir mit verschlossenen Augen unserm Führer folgen; er thut mit uns, was er will, und wenn wir ihn fragen, versichert er uns auf sein Wort, daß das zu unsrer Glückseligkeit nöthig sey; er legt der Menschheit den Strick um den Hals, und ruft: stille, stille! es geschieht alles zu deinem Besten. — Nein Fürst, du bist nicht unser Gott. Von i h m erwarten wir Glückseligkeit; von Dir die Beschützung unsrer Rechte. Gütig sollst du nicht gegen uns seyn, Du sollst gerecht seyn."
Nicht mehr Glückseligkeit wird hier gefordert, sondern Recht. Und auch dieses Recht hat sich gewissermaßen chemisch gewandelt. Recht bedeutet nicht mehr etwas, was objektiv i s t und was befolgt werden muß, sondern etwas, was man hat und geltend machen kann. Recht kommt nun nicht mehr nur auf das Individuum zu, es geht auch vom Individuum aus. Der einzelne rückt damit zum Rechtsträger auch auf Gebieten auf, die jenseits der bisherigen privatrechtlichen Selbstbestimmungssphäre liegen. Das Anspruchs-und Selbstbestimmungsdenken verläßt jenen Bezirk, den der Staat als Privatrechtsbezirk für den einzelnen disponibel hielt, und dringt gleichzeitig in den „öffentlichen" Bereich ein, um dort den Ansprüchen des Wohlfahrts-und Polizeistaates entgegenzutreten. Im öffentlichen Recht entwickeln sich somit „subjektive öffentliche Rechte", wie die Grundrechte heute bezeichnet werden Die englische politische Theorie hatte bereits die Formel vorgebildet in die damals im Deutschland des auslaufenden 18. Jahunderts der Inhalt dieses individuellen Selbstbestimmungsanspruchs gerann: „Freiheit und Eigentum". Diese Formel war gleichzeitig der Titel eines der politisch bemerkenswertesten Bücher der naturrechtlich aufgeklärten Epoche: Ernst Ferdinand Kleins „Freyheit und Eigenthum" vom Jahre 1790
Das Ich, das gegenüber dem Staat die Bann-meile eines Noli me tangere um sich zog, brachte für die spätere Forschung die Gefahr, den Glauben an eine unpolitische Grundhaltung des liberalen Bürgertums zu wecken und zu festigen. „Die Freiheit, die hier in Anspruch genommen wird, wird weithin, ja fast ausschließlich als Freiheit vom Staat und vom Politischen, als eine apolitische Reservatfreiheit verstanden — nicht aber als Freiheit zur Teilnahme und Teilhabe an der Staatsregierung, wie in den angelsächsischen Ländern und im Bereich der alten Gemeindedemokratien Hollands und der Schweiz ... So wachsen die Grundrechte in Deutschland im 19. Jahrhundert unter der Decke eines formal-rechtsstaatlich fortgebildeten Obrigkeitsstaates empor, ohne daß sie — im Sinne des angelsächsischen rule of law — die Mitregierung und Mitbestimmung des Bürgers, die Teilnahme am Staat einschließen." Diese scheinbare Apolizität früher rechtsstaatlicher Ansätze umschreibt aber nur einen Wesenszug der Entwicklung, während andere Tendenzen vehement ins Gegenteil weisen. Der Absolutismus und weitgehend auch der aufgeklärte Absolutismus hatten das Signum einer peniblen Arkanpraxis getragen, das heißt, der Hof hatte das Monopol des Politischen beansprucht, während der Bürger in seinem politischen Denken möglichst amorph gehalten und aus dem politischen Entscheiden völlig ausgespart werden sollte Hätte die sogenannte bürgerliche Bewegung des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts nichts weiter zum Ziel gehabt, als lediglich diese Apolizität zu bewahren bzw. durch eine grundrechtliche Garantierung zu festigen, so bliebe der Kampf um die Presse-und Meinungsfreiheit ebenso unverständlich wie das Ringen um parlamentarische Volksvertretungen im Vormärz. Unbeschadet nicht weniger (meist naturrechtstheoretischer Dokumente mit egozentrischem Freiheitsverständnis war die frühe Rechtsstaatsentwicklung stark geprägt von politischer Dynamik, die allerdings von manchen Theoretikern damals nicht wahrgenommen, von anderen mit ungleicher Konsequenz zu Ende gedacht wurde. Ulrich Scheuner hat diese Kerbe der Erkenntnis längst geschlagen: „Der . liberale'Rechtsstaat . . . ist . . . eine irreführende Bezeichnung, wenn man dabei etwas Unpolitisches verstehen will. Gerade die großen liberalen Vorkämpfer des Rechtsstaats, Mohl oder Gneist, haben ihn durchaus als einen politischen Begriff verstanden." Die Mehrzahl der Liberalen des frühen 19. Jahrhunderts, sei es nun Rotteck, Welcker oder der Görres des Rheinischen Merkurs, wollten keineswegs eine Freiheit vom Staat katexochen, sondern eine Freiheit vom konkreten Staats-typ, der vor ihnen stand, dem Obrigkeitsstaat, um ihrerseits einen Staat der bürgerlichen Mitsprache aufzubauen. Keinem der Genannten schwebte die Freiheit vor als ein Asyl des Privatvergnügens, sondern als Startbahn politischen Engagements. 3. Ernst Ferdinand Kleins Zeugnis für die politische Freiheit (1790) Da die Sache „Rechtsstaat" sehr viel älter ist als der Name ist zu fragen, ob sich die Gültigkeit von Scheuners Aussage noch zurückerweitern läßt auf das ausgehende 18. Jahrhundert. Die Interpretation einiger zentraler Stellen aus Ernst Ferdinand Kleins zitierter Veröffentlichung „Freyheit und Eigenthum" soll hier eine Antwort versuchen und zugleich die Lösung der Ausgangsfrage unseres Themas vorbereiten.
Klein, prominenter Mitverfasser des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten, wählt in der Schrift „Freyheit und Eigenthum" die zeitgenössisch beliebte Form des Dialogs. Die Gesprächspartner vertreten sehr konträre Auffassungen, was der Darstellung ein gewisses Maß an Systemlosigkeit und Widersprüchlichkeit gibt; aber gerade die Widersprüche zeigen die Gärung. Darüber hinaus bot die mit Für und Wider operierende Dialogform jenen Schein der Objektivität, unter welchem auch nonkonforme Auffassungen die von der Französischen Revolution aufgescheuchte Zensur passieren konnten Bei der Beurteilung von Kleins Äußerungen ist seine Bemerkung aus der Vorrede im Ohr zu halten, daß sein „scheuer Ausdruck zuweilen hinter seiner kühnen Meinung zurückbleibt" Der Autor unterscheidet grundsätzlich zwischen einer als individualistische Reservatfreiheit gedeuteten bürgerlichen und einer zunächst nicht eindeutig umschriebenen politischen Freiheit. Es gibt eine Reihe von Stellen, in denen Klein ausführt, daß es ihm „nicht um die politische, sondern um die bürgerliche Freiheit zu tun sei" Insoweit scheint hier der Apolizität des Bürgertums das Wort geredet. Daneben stehen aber andere Partien, welche die beiden Freiheitstypen bemerkenswert miteinander verknüpfen: „Man kann wohl nicht sagen, daß die bürgerliche Freyheit ohne die politische keinen Werth habe; vielmehr ist sie so sehr die Hauptsache, daß man der politischen Freyheit nur insofern einen Werth beylegen kann, als sie zur Unterstützung der bürgerlichen gereicht." Das Bindeglied ist die Unterstützung. Uber die Unterstützung durch die politische Freiheit ist wenige Zeilen vorher gesagt, daß sie notwendig ist, weil die bürgerliche Freiheit „unzuverlässig" sei. Um zu der wirklichen politischen Dynamik, die hinter dem Begriff „Unterstützung" liegt, vorzustoßen, bedarf es einer genauen Analyse jener vielschichtigen und teilweise doppelbödigen Passage, in der die politische Spannung des Werkes kulminiert. Es ist der Dialog über die politische Freiheit zwischen M(enon), dem . Extremisten'der Gesprächsrunde und K(leon = Klein). Da es hierbei auf Nuancierungen und auf jene Gedanken ankommt, die als Folgerungen zwar unausgesprochen bleiben, durch das Gesagte aber zwingend angelegt sind, sei die Passage kurz vorangestellt:
„M.: Mir gefällt der Unterschied zwischen bürgerlicher und politischer Freyheit gar nicht. K.: Und warum nicht? M.: Weil es keine andere, als die politische gibt. K.: Ich kann doch unter dem Schutze der Gesetze frey seyn, ohne daß ich zur Verfertigung dieser Gesetze etwas beygetragen habe. Es kommt ja alles darauf an, daß die Gesetze billig sind. M.: Und daß sie gehalten werden.
K.: Darauf hält auch in uneingeschränkten Monarchien die Obrigkeit. M.: Wenn und so lange sie will. K.: Ihre Handlungen können doch nach den Gesetzen geprüft werden? M.: Von wem? K.: Von jedermann.
M.: Aber wer kehrt sich an den Jedermann?
K.: Auch von den Vorgesetzten. M.: Doch nur, wenn und wie sie wollen? K.: Die Erfahrung zeigt, daß die Staatsverwaltung in Monarchien oft mehr Achtung für die Gesetze hat, als in sogenannten Freystaaten.
M.: Dieß geschieht aber nur, weil es geschieht.
K.: Auch deswegen, weil es geschehen soll? M.: Aber nicht, weil es geschehen muß. K.: Dem Monarchen ist daran gelegen, daß das Soll auch zum Muß werde. M.: Ja, wenn er seinen wahren Vortheil versteht.
K.: Auch seine ersten Diener haben dasselbe Interesse. M.: Wenn sie nicht lieber ihrem Bauch oder Beutel, als dem Staate dienen.
K.: Wohl uns, daß wir in einem Staate leben, wo dergleichen Uebel nicht einheimisch sind."
Wir können hier nur auf die Hauptthesen dieses Dialogs eingehen: M.setzt die provozierende These, der Unterschied zwischen bürgerlicher und politischer Freiheit sei untunlich, weil es nur die politische Freiheit gebe. Hier folgt bereits die entscheidende Differenzierung: K. begrenzt die politische Freiheit auf die Teilnahme der Bürger an der Gesetzgebung. Da auch ein Monarch gute und gerechte Gesetze machen kann, ist dieses Mitwirkungsrecht gegebenenfalls überflüssig. M. dagegen bezieht die politische Freiheit auch auf die grundsätzliche Möglichkeit, die „Handlungen" auf ihre Gesetzmäßigkeit hin zu überprüfen und zu kontrollieren. K. geht auf diesen Gedanken ein und bietet folgenden Circulus vitiosus als Lösung: Die Obrigkeit überwacht das gesetzmäßige Verhalten der Untertanen, die Gesetzmäßigkeit der Obrigkeit aber wird von „Jedermann" kontrolliert. M. knüpft daran die entlarvende Frage: „Wer kehrt sich an Jedermann?", die K. zur Kapitulation zwingt. Die hohe Schule der Dialogkunst nützt hier ihre großen Möglichkeiten: Klein äußert die Meinung, indem er seinen Konservativismus durch eine fingierte Person widerlegen läßt. Durch Reden wird festgestellt, durch Schweigen gefordert. Ähnlich ist die Taktik im folgenden. M. entlarvt die reine Monarchie als ein System, in dem Gesetz-und Rechtmäßigkeit, wo sie existieren, nur faktisch, d. h. willkürlich existieren, nicht aber weil ein rechtlicher oder politischer Tatbestand dazu zwingt; „dies geschieht nur, weil es geschieht . . . , nicht aber, weil es geschehen muß". Lediglich der Monarch wird vergleichsweise geschont. Wenn man aber den Kampf der Verfasser des Allgemeinen Preußischen Landrechts gegen die sogenannten „Machtsprüche" des Herrschers berücksichtigt, so erweist sich diese Schonung nur als ein Akt nötiger Vorsicht und kluger Ehrerbietung. Dem gleichen Motiv dürfte die Laudatio entspringen, die diesen Gesprächs-teil abschließt. Sicher ist, daß das Preußen Friedrich Wilhelms II. keineswegs die Ideale Kleins widerspiegelt. Den Staat der Zukunft sieht Klein in einer Entwicklung zum Konstitutionalismus, und Hermann Conrad bezeichnet mit Recht folgende Stelle „als eigentliche Krönung des Werks" „Ist aber das Volk mündig geworden, so wird es der Fürst selbst, wie der Vater seinen erwachsenen Sohn, nach und nach an den Genuß der Freyheit gewöhnen, bis der Zeitpunkt herannahet, da er sagen kann: Geliebtes Volk! Du hast mich bisher als deinen Vater verehret; liebe mich nun als deinen Freund. Bürger sind nicht Kinder; Fürsten sind nicht Väter; Gesetzgebung ist keine Schulzucht. Ihr seyd Männer! Was euch dienlich ist, müßt ihr wissen, oder mit eurem Schaden noch lernen. Ich darf nicht allen die Hände binden, weil es einige Thoren unter euch gibt, die mit ihren Händen Unfug treiben. Meine Gesetze sollen nur dazu dienen, die Freyheit Aller mit der Freyheit eines Jeden zu vereinigen. Prüfet sie! Nicht mein Wille, sondern der eurige giebt ihnen verbindliche Kraft, und auch der eurige verpflichtet die Einzelnen nur, so weit er zum Schutze der gemeinsamen Freyheit gereicht."
Kleins Schrift ist ein Gedankenfeld voll Unruhe und explosiver Anregungen. Die Ideen werden nicht imperativisch propagiert, wohl aber dialogisch offeriert. Unseren Zusammenhang berührt die teilweise nur indirekt ausgesprochene, aber in logisch zwingender Folgerung angelegte These, daß der Absolutismus immer auf Willkür reduzierbar bleibt, und daß damit die bürgerliche Freiheit zwar nicht immer faktisch, wohl aber potentiell bedroht ist. Diese Bedrohung wird von der politischen Freiheit beseitigt, die darin besteht, daß 1. die Untertanen an der Gesetzgebung teilnehmen, damit die Gesetze gerecht werden (= Konstitutionalismus), 2. daß auch die gesamte Obrigkeit unter Recht und Gesetz gebeugt wird. 4. Entwicklungsphasen früher Rechtsstaatlichkeit Die Beugung des Herrschers und seines Verwaltungsstabs unter das Gesetz nannten wir das Kernanliegen in der frühen Entfaltung der Rechtsstaatsidee. Insoweit decken sich Kleins „Politische Freiheit" und die Rechtsstaatsidee. Verlassen wir aber das Beispiel der Schrift Kleins zugunsten einer gesamten überschau, so läßt sich die Auffächerung der Rechtsstaatsidee in drei Entwicklungsstufen systematisierend zusammenfassen. Diese drei Phasen sind nicht in einer chronologischen, wohl aber in einer logischen Abfolge zu sehen: 1. Der erste Schritt beinhaltet die Überführung unkodifizierten bzw. unsicheren Rechts in ein Gesetzesrecht. Uber die aus dem Germanischen herkommende deutsche Rechtstradition hatte sich die Rezeption des römischen Rechts gestülpt; die Zeit des „guten alten Rechts" war vorbei. Goethe hat etwa gleichzeitig mit dem Beginn seiner Anwaltstätigkeit in Frankfurt am Main (1771) das Problem dieser Rechtsunsicherheit im Urgötz in der pittoresken Gestalt des Olearius auf die Bühne gebracht. Die Szene glossiert die Situation mit wenigen Sätzen: Olearius hatte in Bologna studiert und kehrt als frischgebackener Jurist in seine Heimatstadt Frankfurt zurück: „Der Pöbel hätte mich fast gesteinigt, wie er hörte, ich sei ein Jurist ... sie halten Juristen so arg als einen Verwirrer des Staats, einen Beutelschneider, und sind wie rasend, wenn einer dort sich niederzulassen gedenkt." Auch wenn das römische Recht in der Regel nur subsidiäres Recht war, entstand trotzdem erhebliche rechtliche Zersplitterung und Verwirrung, und das Gefühl der Rechtsunkenntnis führte zum Gefühl der Rechtlosigkeit. Nicht zufällig wurde deshalb das ausgehende 18. und das beginnende 19. Jahrhundert zur Zeit epochaler Gesetzeswerke, an ihrer Spitze das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 Wieacker nennt es „das erste große Muster moderner Kodifikationskunst in Europa"
Beim Gesetzesrecht ist jedoch zu unterscheiden zwischen Gebots- bzw. 'Verbotsnormen einerseits und Garantiegesetzen auf der anderen Seite. Die ersteren enthalten ein „Du sollst" bzw. ein „Du darfst nicht". An ihnen bestand kein Mangel. Im Gegenteil hatten die Verordnungen der sogenannten „guten Polizei" die Kodifizierungen das ganze 18. Jahrhundert hindurch ständig anschwellen lassen Der Rechtsstaatsbegriff formte sich aber gerade im Gegensatz zu den Polizeigesetzen und zum Polizeistaat. Kernstück der Rechtsstaatsidee waren deshalb die Garantiegesetze, die ein staatlich zugesichertes Dürfen umschreiben. Die Meinungs-und Pressefreiheit z. B. wurde zuerst ausdrücklich durch Joseph II. garantiert während die Garantierung der Religionsfreiheit im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten ihre bis dahin nachdrücklichste Betonung fand Mit solchen Kodifikationen begann in Deutschland die Geschichte der modernen Grundrechte. Anselm von Feuerbach schrieb 1814: „Gerechtigkeit findet der Teutsche blos in dem Heiligthume gesetzmäßiger Freiheit." Man versagte sich also jener Gerechtigkeit, die sich weigerte, die Form der Gesetzlichkeit anzunehmen. Als Faustregel kann man sagen: Bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts galt ein Freiheitsrecht dann als gewährt, wenn es durch keine zuwiderlaufende Maßregel beengt wurde; später erkannten die Vertreter des Liberalismus nichts als Freiheit an, was nicht auch positives und verbrieftes Recht geworden war 2. Dieser erste Schritt hin zum Gesetzesstaat wird nur sinnvoll, wenn eine andere Entwicklung damit parallel geht: die Verabsolutierung des Gesetzlichen überhaupt, d. h.seine Herauslösung aus der permanenten . Zugriffs-möglichkeit seitens des Herrschers und seine Verfestigung in eine übergeordnete Norm, die Fürst und Volk gleichermaßen bindet. Diese bedeutet die Beugung des Herrschers unter jenes Gesetz, das durch den ersten Entwicklungsschritt evident gemacht und festgelegt ist. Carl Gottlieb Svarez sagt in den Vorträgen vor dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm (III.) von Preußen: „Dem Gehorsam gegen die Gesetze kann also kein Einwohner desselben, er sei von noch so hohem Range, sich entziehen. In dieser Rücksicht sind daher alle Untertanen in den Augen des Souveräns völlig gleich, und der Fürst, der unmittelbar an seinem Throne steht, ist seinen Gesetzen ebenso-sehr unterworfen als der niedrigste Land-bewohner oder Tagelöhner." Das Mittel, durch das der Herrscher die gesatzte Gerechtigkeit affizieren konnte, waren die sogenannten Machtsprüche Der berühmteste Fall ist der des Müllers Arnold gewesen: Friedrich II. von Preußen hob damals nicht nur das secundum leges ergangene Urteil auf, er entließ sogar den Großkanzler v. Fürst und schickte die Richter nach Spandau Im Entwurf des Preußischen Landrechts sah Svarez deshalb ein kategorisches Verbot von Machtsprüchen vor Der preußische Kammergerichtsdirektor Leopold Friedrich von Kircheisen betonte 1792 vor höchster Stelle: „Die gesittete Welt, dieses mächtige Tribunal, ist darin übereingekommen, sich mit dem Worte Machtspruch Ungerechtigkeit als verschwisterte Idee zu denken." Daß dennoch das Verbot der Machtsprüche schließlich nicht von den Entwürfen in die Endfassung des Preußischen Landrechts überging — die Französische Revolution hatte dem König den Mut zum Verzicht genommen —, ändert nichts an der Tendenz der Zeit: Beugung des Herrschers unter das Recht 3. Aber auch dieser zweite Schritt schließt nicht alle Lücken der Rechtssicherung. Denn noch war ja der Herrscher Gesetzgeber und konnte somit — selbst unter Vermeidung von Machtsprüchen — über ständige Gesetzes-metamorphosen zur Willkür zurückfinden. Zwar gab es im ausgehenden 18. Jahrhundert hier und dort noch Landstände, die bei der Gesetzgebung formell mitwirkten, doch war ihre faktische Wirksamkeit, von Württemberg und Mecklenburg abgesehen, zur Bedeutungslosigkeit degeneriert Zwei sich ergänzende Wege wurden eingeschlagen, um die Umgehung der Rechtssicherung durch willkürliche Gesetzesmutationen zu verhindern: a) Schaffung eines Grund gesetzes, das die Gesetzgebungsbefugnis in Bindung legt. Kant sprach davon, daß eine „Verfassung (constitutio)" nötig sei, „um dessen, was Rechtens ist, teilhaftig zu werden" und Anselm von Feuerbach erweiterte seine oben zitierte These dahin, daß eine „würdige öffentliche Ordnung" nur dort bestehe, wo die „Freiheit anerkannt und durch eine Verfassung gesichert" sei Hier ist der Punkt erreicht, wo die Rechtsstaatsidee den modernen Verfassungsstaat kreiert. Schon das Preußische Landrecht sollte nach Svarez'Meinung eine solche Verfassung zumindest ersetzen. Svarez spricht ausdrücklich von einer „allgemeinen Gesetzgebung, deren Werk es ist, feste, sichere und fortdauernde Grundsätze über Recht und Unrecht festzustellen, die besonders in einem Staat, welcher keine eigentliche Grundverfassung hat, die Stelle derselben gewissermaßen ersetzen soll, die also für den Gesetzgeber selbst Regeln enthalten muß, denen er auch in bloßen Zeitgesetzen nicht zuwiderhandeln darf." Svarez unterscheidet hier nachdrücklich zwischen Grundverfassung und bloßen Zeitgesetzen; wer die letzteren gibt, ist an die erstere gebunden. b) Der zweite Weg hat die Mitwirkung des Bürgers an der Gesetzgebung zum Ziel. Auch im Rahmen eines Grundgesetzes soll der Monarch die Regie über die „Zeitgesetze" nicht mehr in eigener Hand behalten, sondern mit einer Volksvertretung teilen. Die Ratio ist, daß das Recht auf die Dauer nirgendwo gesichert ist, wenn seine Inkraftsetzung in der Kompetenz eines einzelnen ruht. Dieses Mitwirkungsrecht fällt unter die „politische Freiheit" im Sprachgebrauch Ernst Ferdinand Kleins. Ein Grundgesetz soll nicht nur die Freiheitsrechte der sogenannten bürgerlichen Freiheit beinhalten, sondern eben gerade dieses Mitwirkungsrecht des Volkes an allen Gesetzen garantieren. Mit dieser Forderung hat die Rechtsstaatsidee den Konstitutionalismus begründet, wie er dann nach den Befreiungskriegen in Deutschland Geschichte wurde 5. Das Wesen der politischen Komponente der Rechtsstaatsidee überblickt man die erste Epoche deutscher Rechtsstaatsentwicklung in ihrer Gesamtheit, so findet man eine beachtliche Zahl materiell-rechtlicher Prinzipien verwirklicht. Sie stellen wichtige Teilrealisierungen des modernen Rechtsstaats dar; damit ist aber noch nicht die Rechtsstaatlichkeit insgesamt erreicht. Ausgereift dagegen ist die politische Komponente. Sie zeigt von Anfang an die unlösbare Durchdringung der Rechtsstaatsidee mit politischen Intentionen. Die drei dargestellten Stufen der ersten Epoche deutscher Rechtsstaatsentwicklung lassen als das Wesen der politischen Komponente erkennen: die mit politischen Mitteln versuchte Absicherung des Rechts gegen den Einbruch der Willkür; sie garantiert eine Haltung, die sich nicht damit zufrieden gibt, daß Gerechtigkeit existiert (Justitia existens), sondern die das Recht auch in der Zukunft erkannt und gewahrt wissen will. Sucht man für diese Haltung einen Arbeitsbegriff, so ist „Rechtsvorsorge" (Providentia juris) wohl am treffendsten, also die politisch-institutionelle Prävention des Unrechts verbunden mit der Vorausberechenbarkeit obrigkeitlicher Akte. Diese Haltung muß den Absolutismus ablehnen, weil in dessen System die politische Rechtsvorsorge nicht angelegt ist. Willkür bildet nicht den Gegensatz zu Gerechtigkeit, sondern zu Rechtssicherheit und Rechtssicherung. Die Rechtsstaatsidee affiziert die Form des absolutistischen Staates und sucht sie durch ein System der Rechtsvorsorge zu ersetzen. Der Weg vom Absolutismus zum aufgeklärten Absolutismus und vor allem dann zur konstitutionellen Monarchie ist deutbar als Ergebnis einer politisch konzipierten Auffassung vom Rechtsstaat.
III. Die Formalisierung des Rechtsstaatsgedankens
1. Friedrich Julius Stahls neuer Ansatz Dem Preußischen Landrecht ist seit der ersten Auflage ein Titelbild beigegeben: Justitia hält die Waage; auf der einen Schale ruhen die Insignien der Krone, auf der anderen die Symbole des Bürgertums. Das Recht hält die Balance der Macht im Staate; und weil die Balance besteht, ist das Recht verwirklicht. Die zweite Epoche sogenannter — man muß hier betonen: sogenannter — deutscher Rechtsstaatlichkeit wird gekennzeichnet sein durch das Zurücktreten des Rechts in eine bloße Funktion der Macht; die Balance mußte damit verlorengehen. Dieser zweiten Entwicklungsepoche wenden wir uns nun zu.
Die berühmteste und folgenreichste Definition des Rechtsstaats, die in Deutschland je gegeben wurde, ist jene, die Friedrich Julius Stahl 1846 in seiner Rechts-und Staatslehre gab
Diese Definition stellt die Weichen der zweiten Epoche des Rechtsstaatsdenkens. Der entscheidende Satz lautet: „Rechtsstaat bedeutet überhaupt nicht Ziel und Inhalt des Staates, sondern nur Art und Charakter, dieselben zu verwirklichen." 1847 ergänzt Stahl: „Mit dem Charakter des Rechtsstaats ist überhaupt nur die Unverbrüchlichkeit der gesetzlichen Ordnung gegeben, nicht aber ihr Inhalt." Dies besagt: Die Verfassung eines Staates und die Rechtsstaatlichkeit haben nichts miteinander gemein. Die erstere ist das materielle, die letztere das bloß formelle Prinzip. In diametralem Gegensatz zur ersten Phase wird hier das Politische und das Rechtsstaatliche mit einem Hieb getrennt. „Unverbrüchlichkeit der gesetzlichen Ordnung" bedeutet nichts weiter als Legalität = Gesetzmäßigkeit, d. h. die Rechtsstaatsidee kontrolliert zwar den Weg vom Gesetz zur Gesetzesanwendung, nicht aber jenen entscheidenderen Weg vom politischen Zweck zur Gesetzeswerdung. Die Frage: Was wird Gesetz? tangiert den Rechtsstaat Stahlscher Prägung nicht. Der Staat ist in seinem normschaffenden Willen freigesetzt, ist faktisch unter kein Rechts-und Ordnungsprinzip mehr gebeugt, das er nicht selbst aus sich entläßt. Zwar fährt Stahl a. a. O. fort, der Inhalt der gesetzlichen Ordnung müsse „anderwärts herkommen, und kommt eben aus höheren sittlichen und politischen Principien" Das heißt: Nicht das Recht bestimmt die Prinzipien, sondern die Prinzipien bestimmen das Recht. Die Behauptung, daß diese Prinzipien „höhere Principien" seien, ist nichts weiter als eine Flucht in gefährlichen Optimismus. Die Amalgamierung des Politischen mit dem Rechtlichen in der ersten Phase der Rechtsstaatsidee hatte schon vor Stahl den Zweifel an diesem Optimismus propagiert, und das 20. Jahrhundert hat Stahl endgültig widerlegt. Die „höheren Principien" sind nur der Wille des Staats (d. h. gegebenenfalls der Wille des Diktators) und gelten im deutschen Denken nur deshalb als „höher", weil es eben der Staat ist, der sie will. Rechtsstaatlichkeit bedeutet nach Stahl die handlangerische Durchführung einer politischen Konzeption, ohne den Standort dieser Konzeption zu beeinflussen. Kelsens spätere These, daß jeder Staat ein Rechtsstaat ist schließt sich nahtlos an den Stahlschen Ansatz an.
Die These Stahls ist theoretisch und historisch verständlich aus dem flagranten Konflikt um den Staatszweck, zu dem die Rechtsstaatsidee erstrangigen Gärungsstoff lieferte. Kontrapunktisch stehen die beiden Positionen bei Joh. Chr. v. Aretin einander gegenüber: „Will man aber behaupten, die Rechtsherrschaft und die Wohlfahrt seien der Staatszweck, so nimmt man zwei Zwecke an, die überdies einander geradezu aufheben." Robert v. Mohl hat wenig später versucht, zwischen dem herkömmlichen System der „guten Polizei" und dem liberalen Rechtsstaatsgedanken eine Brücke des Ausgleichs zu schlagen unter dem Titel „Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates". Die Lösungsformel dieses letzten Anlaufs, den Polizei-begriff des 18. Jahrhunderts im 19. Jahrhundert zu rehabilitieren, lautete: „Ein Rechtsstaat kann also keinen andern Zweck haben, als den: das Zusammenleben des Volkes so zu ordnen, daß jedes Mitglied desselben in der möglichst freien und allseitigen Übung und Benützung seiner sämtlichen Kräfte unterstützt und gefördert werde." Mohls Vermittlung fand nicht das Ohr seiner Zeit; um so effektvoller war Stahls Hieb durch den gordischen Knoten. Stahl löste den Rechtsstaatsbegriff aus der aktuellen Staatszweck-Kontroverse heraus. Mit dieser „Entgiftung" bewältigte aber Stahl das Problem nicht, sondern umging es, indem er die historisch gewachsene politische Valenz und Prägekraft aus dem Begriff Rechtsstaat ausklammerte. Die Entwicklung der politischen Komponente kommt damit nicht nur zum Stillstand, sondern gerät in entscheidender Hinsicht in gewollte Vergessenheit. Die Rechtsstaatsidee erfährt eine „Verengung extremsten Charakters" die bis in die Weimarer Zeit begriffs-bestimmend bleibt. Diejenige Rechtsstaatsidee, die in der Wilhelminischen Ära zur vollen Ausprägung kommt, bescheidet sich — diesmal mit Otto Mayer gesprochen — mit der „Justizförmigkeit der Verwaltung" Während Otto Bähr die Kontrolle der Verwaltung durch die ordentlichen Gerichte vertrat, wurde Rudolf v. Gneist zum Wegbereiter einer gesonderten Verwaltungsgerichtsbarkeit. Gneist geht ausdrücklich von dem Grundgedanken aus, „daß die höchste Gewalt im Staate jederzeit Recht erteilen will" Diese Hypothese ist für Gneist ein gesichertes politisches Faktum mit dem Gewicht einer „praesumtio juris et de jure", und gerade diese Prämisse macht das große Leck in dieser Rechtsstaatsdeutung sichtbar. 2. Staatsgläubigkeit der Wilhelminischen Ära Beginnend mit Baden (1863), Preußen und Hessen (1875) etablierten sich bis 1918 in fast allen Gliedstaaten des Reichs die Verwaltungsgerichte. Der Bürger der Wilhelminischen Ära genoß weitgehende persönliche Freiheit, und die Verwaltungsgerichte schützten ihn überdies vor der Willkür der Exekutive. Alles dies war und ist im Sinne des Rechtsstaats wichtig; aber es trübt den Blick für Wichtigeres: für die Rechtsvorsorge auf der obersten Ordnungsebene, auf der die Selbstgestaltung des Staats den „Willen zum Recht" (Gneist) politisch permanent absichern muß Gegenüber der Etablierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist es ein Symptom für den Verlust der politischen Komponente der Rechtsstaatsidee, wenn gleichzeitig das Reichsgericht die Möglichkeit einer materiellen Normenkontrolle ablehnte Da nur der Kaiser „zum Wächter und Hüter der Reichsverfassung gesetzt" ist, konstatiert allein die Ausfertigung durch die Majestät, daß das Gesetz verfahrensmäßig und inhaltlich verfassungskonform zustande gekommen ist Wenn es richtig ist, daß die Fürsten des deutschen Absolutismus zu human waren, als daß eine Parallelentwicklung zur Französischen Revolution in Deutschland hätte entstehen können, dann ist es mindestens ebenso richtig, daß die Monarchie des Zweiten Kaiserreichs zu gerecht erschien und zu beliebt war, als daß der Gedanke politischer Prophylaxe in Form des parlamentarischen Regierungssystems, gerichtlicher Normenkontrolle oder gar republikanischer Bestrebungen hätte ausreichend Echo finden können. Theodor Eschenburg hat dies überzeugend in seinem Buch „Die improvisierte Demokratie" nachgewiesen. Das Ver-trauen in die bestehende Ordnung der Glaube an den , Vater Staat’, der seit 1871 endlich die Sehnsüchte nach dem , Vaterland Kaiserreich'erfüllte, dies alles brachte das Politische an sich, sofern es in bürgerlichem Engagement bestand, in den Verruf des Schlechten. Die Deutschen lernten die Staats-gläubigkeit von Treitschke nicht minder als von Hegel: Der Staat „will, daß ihm gehorcht werde, sein Wesen ist, zu vollbringen was er will ... Es ist die Weise der unreifen Jugend, den Parteien eine idealistische Begeisterung zu widmen, die der feste Mann nur für das Vaterland empfindet ... Der Einzelne soll ein Glied seines Staates sein und daher den Mut haben, auch die Irrtümer des Staates auf sich zu nehmen. Von dem Recht des Widerstandes der Untertanen gegen eine Obrigkeit, die nach ihrer Meinung unsittlich ist, kann gar keine Rede sein . . . Festzuhalten bleibt immer, daß der Staat, eine sittliche Macht an sich, vor allem als ein hohes Gut zu betrachten ist."
Die Ratio dieses Denkens ist: monolithische Einheit aller politischen Kräfte, und zwar im Staat, der „eine sittliche Macht an sich ist" und der deshalb keiner pluralistischen Kontrollen bedarf. Und selbst wo und wenn der Staat im Irrtum sich befindet, ist der einzelne nicht berufen, diesen Irrtum zu beheben und sich von ihm zu distanzieren, sondern er soll „die Irrtümer des Staates auf sich nehmen". Diese Fehlhaltung trägt bei Treitschke überdies die Glorie des Mutes. Die Staatsgläubigkeit entbehrt jener kritischen Unruhe, in der die politische Komponente der Rechtsstaatsidee hätte fortleben können. Noch 1918 schrieb Thomas Mann in den „Betrachtungen eines Unpolitischen" die berühmten Sätze: „Ich bekenne mich tief überzeugt, daß das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, aus dem einfachen Grunde, weil es die Politik selbst nicht lieben kann, und daß der vielverschriene Obrigkeitsstaat die dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt ... Ich will nicht die Parlaments-und Parteiwirtschaft, welche die Verpestung des gesamten nationalen Lebens mit Politik bewirkt ... Ich will nicht Politik. Ich will Sachlichkeit, Ordnung und Anstand. Wenn das philisterhaft ist, so will ich ein Philister sein. Wenn es deutsch ist, so will ich denn in Gottes Namen ein Deutscher heißen . .." 3. Entwertung und Pervertierung der Rechtsstaatsidee Richten wir den Blick jedoch wieder zurück auf die Entwicklung der Rechts-und Staats-theorie. Hier sehen wir um die Wende zum 20. Jahrhundert, daß die Krise der politischen Komponente des Rechtsstaats in eine Krise der Legitimität einmündet. Wir haben die These schon zitiert, wonach jeder Staat ein Rechtsstaat ist. Wo dies gilt, ist die Rechtsstaatlichkeit nicht durch Rechtlichkeit, sondern durch Staatlichkeit bedingt. Es gilt dann der Satz Gustav Radbruchs: „Wer Recht durchzusetzen vermag, beweist damit, daß er Recht zu setzen berufen ist." Die Frage nach der Legitimität, also die Frage: Woher nimmt der Staat das allgemeine Recht, das konkrete Recht zu setzen?, wird durch bloße Existenzialität ersetzt. „Damit", so schreibt Hasso Hofmann, „ist die Frage nach der Legitimität als eine Frage nach der Qualität der Staatsgewalt durch die einfache Frage nach der Existenz dieser Staatsgewalt abgelöst, die Antithese von Sein und Sollen durch die Antithese Sein oder Nicht-Sein ersetzt." Legitimität ist nunmehr bereits gegeben, wenn das Volk gehorcht; der Begriff der Gefolgschafts-Chance rückt in den Mittelpunkt der Legitimität Die Legitimität hat nichts mehr zu tun mit apriorischen, naturrechtlichen Wert-und Rechtsvorstellungen. Die Formel von der normativen Kraft des Faktischen kommt in Umlauf, und sie hat — freilich in anderer Weise als Ihering dies meinte — zur Folge, „daß sich die Jurisprudenz durch die Geschichte nicht mehr in Verlegenheit bringen läßt" Das beklemmendste Bild für die Freisetzung des Staates verwendet Kelsen: Der Staat ist „ein König Midas, dem alles, was er ergreift, zu Recht wird" Indem das Recht sich auf die Bedingung einer Midas-Berührung durch den Staat zurückzieht, erteilt die . reine Rechts-lehre'dem Staat einen politischen Freibrief, dessen historische Konsequenzen nach 1933 kaum jemand weniger wünschte als Kelsen selbst. Kelsen betont, nur die Rechtswissenschaft distanziere sich von der Politik, nicht aber sei das Recht selbst vom Politischen zu trennen Mag mit diesem Verzicht der Rechtswissenschaft für die Exaktheit wissenschaftlicher Systematik vieles gewonnen sein, so ist es doch ein Rückzug aus entscheidenden Positionen. Vielleicht machte sich gerade hier die Beobachtung Mayer-Malys am stärksten bemerkbar, daß „Begriff, Idee und Ausgestaltung des Rechtsstaates . . . vor allem Gelehrtenrecht" war und ist Fritz Kern hat un-polemisch und rein deskriptiv vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Rechtsauffassung den Inhalt der positivistischen Rechtslehre zusammengefaßt: „Für uns hat das Recht, damit es gelte, nur eine einzige Eigenschaft nötig: die unmittelbare oder mittelbare Einsetzung durch den Staat. Dem mittelalterlichen Recht dagegen sind zwei andere Eigenschaften anstatt dieser einen wesentlich: es ist . altes’ Recht und es ist . gutes'Recht. Dagegen kann es das Merkmal der Einsetzung durch den Staat entbehren. Ohne jene zwei Eigenschaften des Alters und des Gutseins ... ist Recht kein Recht, selbst wenn es vom Machthaber in aller Form eingesetzt sein sollte."
In den Jahren 1932 und 1933 ging der Rechtsstaat sowohl als wissenschaftlicher Begriff wie auch als materielles Faktum endgültig verloren. Carl Schmitt, der noch 1928 in seiner „Verfassungslehre" den Rechtsstaat auf an-nähernd hundert Seiten abhandelte, erklärte 1932 in der Schrift „Legalität und Legitimität": „Das Wort Rechtsstaat' soll hier nicht (mehr) gebraucht werden" denn, und das ist seine Begründung, der Begriff Rechtsstaat ist eine Schablone, in die alles paßt und die wissenschaftlich deshalb nicht mehr tragfähig ist. Der Rechtsstaatsbegriff ist damit als wertlos weggelegt. Schmitt zieht hier die letzte Konsequenz aus jener These, die Stahl fast ein Jahrhundert zuvor aufgestellt hatte und die Schmitt nach wie vor als gültig betrachtet Der Entwertung folgte nach 1933 die Perversion. 1934 lesen wir in der Juristischen Wochenschrift, es gebe gute und schlechte Wort-verbindungen: Das Wort „Nationalsozialismus" sei eine gute, das Wort „Rechtsstaat" eine schlechte, „weil es sich ... nicht selber genügt" Bei Roland Freisler verzerrt sich das Gesicht des Rechtsstaats zur Fratze einer Stürmer-Karikatur:
„Rechtsstaat ist die organisierte Lebensform des Volkes, die alle völkische Lebenskraft zur Sicherung des Rechts des Volkes auf Leben nach Innen und Außen zusammenfaßt .. .
Hierzu taugt nur zusammengeballte Volks-kraft, wie nur die geballte Ladung den Front-bedrohenden Tank zu bändigen vermochte.
Dies organisierte Zum-Einsatz-Bringen der geballten Ladung der völkischen Kraft zum Schutz des Volkslebens ist unser Begriff des Rechtsstaats."
Das faktische Ende der bestehenden rechtsstaatlichen Formen kam 1933 mit dem Ermächtigungsgesetz. Lothar Gruchmann hat die Aufrichtung des Willkürstaats aus dem Blickwinkel der Rechtsstaatsidee beschrieben Sehr bezeichnend, wie der nationalsozialistische Historiker Walter Frank die Szene am 24. März 1933 in der Berliner Kroll-Oper skizziert; die nackte Gewalt, die . normative Kraft des Faktischen'marschierte ein, und sie trug die braune Uniform: „Ein Parlament im alten Sinne war das nicht mehr. Die Hälfte des Hauses braun uniformiert. Der Präsident Göring, der die Sitzung mit militärischer Knappheit leitet. Hilfspolizei der SA und SS an den Wänden und Ausgängen. Zentrum schweigend und gedrückt. Sozialdemokraten schweigend und in ständiger — unbegründeter — Todesangst. Die Tribünen fast durchweg nationalsozialistisch, mit Beifall und Mißfallen gegen die Linke eingreifend. Vor den Toren SA und SS ... In manchem wie der Konvent in der Französischen Revolution."
Die zweite Epoche deutschen Rechtsstaatsdenkens reicht von Stahl bis zum Ende der Weimarer Republik. Der Hauptfehler dieser Epoche bestand darin, daß man der obersten gesetzgebenden Instanz einräumte, auch die oberste recht-und gerechtigkeitgebende Instanz zu sein. Man identifizierte Recht und Gesetz, ohne zu beachten, daß es auch Gesetze geben kann, die nicht Recht beinhalten. Peter Schneider hat betont, daß es gerade das Zeichen eines Unrechtsstaats sei, „sich als den selbstgerechten, sich grundsätzlich ins Recht setzenden Staat zu begreifen" Der Rechtsstaat zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, daß er die Möglichkeit der eigenen Unzulänglichkeit in Rechtsprechung und Rechtsetzung erkennt und gegen diese Insuffizienz Korrekturinstitutionen zuläßt, die der Idee der Rechts-vorsorge folgen. Jeder Staat ist ein Gesetzes-staat, aber nicht jeder Staat ist ein Rechtsstaat.
IV. Die Diskussion nach dem Zweiten Weltkrieg
1. Die Umkehr Die dritte Phase des deutschen Rechtsstaats ist für uns jene des Bonner Grundgesetzes. Ein radikales Umdenken war nötig, aber welche Richtung nahm dieses Umdenken? Gustav Radbruch äußerte sich zur Frage nach dem Wesen des Rechts vor und nach dem Dritten Reich. Die Dokumentation seiner Auffassungen wird uns die Antwort erleichtern. 1932 schrieb Radbruch:
„Für den Richter ist es Berufspflicht, den Geltungswillen des Gesetzes zur Geltung zu bringen, das eigene Rechtsgefühl dem autoritativen Rechtsgefühl zu opfern, nur zu fragen, was rechtens ist und niemals, ob es auch gerecht sei ..."
Radbruch knüpfte damals an die These den Vergleich von Pfarrer und Richter: Verachtenswert sei ein Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predige, „aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren läßt" Zwei Jahre nach dem Zusammenbruch, im Jahre 1947, äußert derselbe Radbruch in der Zeitschrift „Die Wandlung";
„Die Rechtswissenschaft muß sich wieder auf die jahrtausendalte gemeinsame Weisheit der Antike, des christlichen Mittelalters und des Zeitalters der Aufklärung besinnen, daß es ein höheres Recht gebe als das Gesetz, ein Naturrecht, ein Gottesrecht, ein Vernunftrecht, kurz ein übergesetzliches Recht ..."
Der Vergleich dieser Texte und die in ihnen enthaltene Metamorphose des wissenschaftlichen Bekenntnisses mag dem Spötter geben, was er sucht. Uns zeigt das Zitat die Ergebnisse der Rückbesinnung: nämlich die Forderung nach Legitimierung der Macht und die Forderung nach überpositiver, materieller Gerechtigkeit und Freiheit. Beides ist heute gesichertes Gut unserer Verfassungswirklichkeit.
Im Gegensatz dazu blieb jedoch die politische Komponente des Rechtsstaatsdenkens im Sinne der Rechtsvorsorge merkwürdig im Hintergrund, wenn nicht gar überhaupt in Vergessenheit. Es wäre sonst nicht denkbar, daß das Bismarck-Reich nach wie vor ohne Bedenken als Rechtsstaat bezeichnet wird. Dies geschieht in Schulbüchern, es geschieht in wissenschaftlichen Werken. Ich zitiere nur Theodor Eschen-burg: „Das Bismarck'sche Reich war in jeder Beziehung ein Rechtsstaat." Die Selbstverständlichkeit, mit der dies gesagt ist, offenbart die tiefe Verwurzelung der Carl Schmitt'schen These, daß die Rechtsstaatlichkeit „für sich allein ... keine Staats-Form enthält" Bei der Behandlung der ersten Phase des deutschen Rechtsstaats sahen wir oben, daß der Unrechts-Präventions-Gedanke die Staatsform keineswegs unberührt ließ und auch gar nicht lassen konnte, sondern versuchte, sich ihr aufzuprägen. In dieser Hinsicht kann Hermann Conrad vom Allgemeinen Preußischen Landrecht mit viel größerer Berechtigung von einer „Aufrichtung eines Rechtsstaates im modernen Sinne" sprechen, als sich dies von der Bismarck-Ara sagen läßt. Das Bismarck-Reich verwirklichte viele wichtige rechtsstaatliche Voraussetzungen; andere aber fehlten. Es fehlte vor allem — wie gezeigt — die Idee der Rechtssicherheit auf der Ebene der Gesetzgebung, und diese Lücke im rechtsstaatlichen Denken vererbte sich auf die Weimarer Zeit. Man geht eben fehl im bloßen Vergleich des materiell gewährten Rechts-, man muß es auf die politische Dynamik abstellen, die hinter den Intentionen steht, die vorhandene Gerechtigkeit zu erhalten und zu vertiefen. Diese politische Dynamik als Komponente des Rechtsstaats erneut und in Anknüpfung an die erste Phase rechtsstaatlichen Denkens wieder-zuerkennen und festzuhalten, ist Aufgabe der Gegenwart. 2. Demokratie und Rechtsstaat Es ist Konrad Hesse zuzustimmen, daß das Problem der Gesamtgestalt des Rechtsstaats ungelöst bleibt, solange man „ausgesprochen oder stillschweigend auf dem Boden des Auseinandertretens von Rechtsstaat und politischer Form stehenbleibt oder die Frage nach ihrem Verhältnis offenläßt" Das Schwan-ken zwischen antinomischem und synthetischem Denken war auch auf der 12. Tagung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer spürbar, wo das Thema „Rechtsstaat" diskutiert wurde. Während Bachof den Rechtsstaat als den „auf Verwirklichung und Sicherung der Gerechtigkeit zielenden Staat" bezeichnete, sprach Bühler unter Hinweis auf Stahl, Otto Mayer und Thoma von „unrichtigen, politisch beeinflußten Deutungen, die wir Wissenschaftler nicht mitmachen"
Das . Politische'ist nicht eine Einheit, sondern aulgespalten in Formprinzipien und materielle Gehalte. Von den ersteren soll zunächst die Rede sein. Sie sind das institutionelle Ordnungsgefüge, das in der Terminologie Forsthoffs kein „Wertsystem" beinhaltet, aber natürlich insoweit selbst ein Wertsystem ist, als seine Existenz gegebenenfalls einen ungeheuren Wert darstellen kann. Dieses institutioneile Ordnungsgefüge meint in bezug auf den Rechtsstaat ein politisches Verfaßtsein des Staates, das — neben anderem — die Rechts-wahrung sichert. U. Scheuner hat dies klar ausgedrückt: „Nur selten wird die unentbehrliche Grundlegung des Rechtsstaats in einer gemäßigten politischen Verfassung erkannt und hervorgehoben. Nur von diesem Fundament her aber kann es deutlich werden, daß der Rechtsstaat ein politisches Formprinzip darstellt." Ähnlich formuliert Hesse: „Im Rechtsstaat gibt das Recht dem Staat, der Wirksamkeit des Staates, dem Gesamtleben innerhalb des Staates Maß und Form."
Von hier aus ist weiter zu fragen, wie das Verhältnis unserer konkreten Staatsform, der Demokratie zum Rechtsstaat zu sehen ist, denn Einigkeit besteht bei Forsthoff, Scheuner, Hesse und Kägi darin, daß die der Rechtsstaatlichkeit zugeordnete Verfassungsform nur die Demokratie sein kann. Die Frage ist ledig'lieh, welche Art der Zuordnung vorliegt.
W. Kägi charakterisiert sie als „Synthese" Hesse konkretisiert diese Aussage zu einem „Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit und Ergänzung" Auch wenn man unter Bedingtheit keine bloße Geburtshilferelation, sondern eine Existenzbedingung versteht, so gewinnt die Formel „Demokratie = Bedingung des Rechtsstaats" durch den Rückgriff auf die erste Epoche deutscher Rechtsstaatsentwicklung noch an Deutlichkeit. Denn wenn man, anknüpfend an diese erste Epoche, die Unrechtsprävention mit politischen Mitteln als die politische Komponente des Rechtsstaats bejaht, und wenn man andererseits das demokratische Regierungsprinzip mit seiner Volks-souveränität und seinen checks and balances als das Optimum an Rechtsvorsorge anerkennt, so muß man heute sagen: Die Demokratie übernimmt die Funktion einer Komponente der Rechtsstaatsidee, unter dem Gesichtspunkt der Rechtswahrung besteht sie als pars sine qua non der Rechtsstaatlichkeit.
Diese These steht in unüberbrückbarem Gegensatz zu der in der Weimarer Zeit verbreiteten und schließlich in der politischen Praxis mit Mißerfolg versuchten Auffassung, man könne das parlamentarisch-demokratische Regieren sistieren, ohne den Rechtsstaat zu verlieren Dieser Glaube ist heute keineswegs erloschen. Richard Jaeger, bis November 1966 Bundesjustizminister, schrieb 1963: „Ich möchte doch prinzipiell dem Gedanken des Rechtsstaates einen höheren Rang geben als der Demokratie. Ein Rechtsstaat ist auch ohne Demokratie möglich.“ Das reine Gegenteil ist richtig. Dies zeigen die politische Theorie und die Geschichte. Aristoteles drückt die Abhängigkeit der Gerechtigkeit von der Staatsform auf seine zeitlos gültige Weise aus: „Es ist klar, daß mit innerer Notwendigkeit die Gesetze guter Verfassungen gerecht sind, die der entarteten aber ungerecht." 3. Der soziale Rechtsstaat Den wichtigsten Kristallisationspunkt der Diskussion bildet heute der Begriff des Art. 28 GG „Sozialer Rechtsstaat". Die eine Position sieht in Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit polare Gegensätze. Ein halber Rechtsstaat und ein halber Sozialstaat, so sagt Forsthoff ergeben keinen sozialen Rechtsstaat; denn „man kann nicht gleichzeitig beides: jedermann in seinen Rechten schützen und zugleich in der Verfassung das Tor für soziale Umwälzungen offenhalten, die immer nur zugunsten der einen und auf Kosten der anderen realisierbar sind" Der Rechtsstaat muß hiernach formal aufgefaßt werden, während die Sozialstaatlichkeit ein „Staatsziel" darstellt, das eo ipso auf der rechtlich-institutionellen Ebene nichts zu suchen hat. „Rechtsstaat" sei ein Rechtsbegriff, „Sozialsiaat" sei eine politische Zielkonzeption; wo beide sich begegnen, so nur durch gegenseitiges Einschränken und störendes Eingreifen. Hans Huber hat hierzu das Wort von der Überanstrengung des Rechts geprägt, das, wenn es gesellschaftlichen Wechsel und wechselnde Bedürfnisse nur noch registrierend in sich aufnehme, kein Recht mehr sei, sondern nur mehr ein „Situationsspiegel" Der Sozialstaat verdrängt den Rechtsstaat um so mehr, wenn — wie Bernd Bender kürzlich hervorhob — dieser Wohlfahrtsstaat der Gegenwart mit Zwangsbeglükkungstendenzen verbunden ist Demgegenüber haben zahlreiche andere Juristen (z. B. Scheuner, Hesse, Badura) die Homogenität des Begriffes Sozialer Rechtsstaat bejaht, Badura sieht die Vereinbarkeit wie folgt:
„Im sozialen Rechtsstaat sind Eigentum, Gewerbe und Vertrag, da sie sich als untauglich zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit erwiesen haben, in dem Maß vergesellschaftet, in dem sie an dieser Unfähigkeit leiden. Damit ist nicht ein Gegensatz zum Rechtsstaat aufgerissen, derart, daß die soziale Gerechtigkeit mit dem Abbau des Rechtsstaates erkauft werden müßte, sondern es ist dem Rechtsstaat ein neuer Inhalt gegeben worden."
Das Problem des sozialen Rechtsstaats in seiner Gesamtheit zu lösen, kann im Zusammenhang der vorliegenden Betrachtung nicht einmal versucht werden. Es ist lediglich zu fragen, ob nicht das, was wir die politische Komponente der Rechtsstaatsidee nannten, einige Anhaltspunkte für die Koordinierung von Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit liefert.
Unser Ergebnis war, daß der Rechtsstaat ohne das institutionelle Ordnungsgefüge „Demokratie" in seiner Existenz akut bedroht ist. Um die optimale Selbsterhaltungschance zu nützen, muß deshalb der Rechtsstaat alles beinhalten, was dieses Ordnungsgefüge stützt.
Ein institutionelles Gefüge ist keine Säule, die allen Angriffen trotzt, sondern es ist selbst wiederum auf Stützung angewiesen. Es macht deshalb hellhörig, wenn die Bonner Verfassung die Notwendigkeit erkannt hat, eine „wehrhafte Demokratie" zu sein. Einer ihrer wichtigsten Bestandteile ist das Parteienverbot nach Art. 21 (2) des GG. Die Wehrhaftigkeit der Demokratie verbietet radikale Parteien, welche das bestehende institutionelle Ordnungsgefüge bedrohen. Die soziale Gerechtigkeit aber, die das Ziel echter Sozial-staatlichkeit darstellt, trägt — wie Geschichte und Gegenwart lehren — wesentlich dazu bei, solche Parteien in ihrem Entstehen überhaupt zu verhindern. Insoweit zählt die soziale Gerechtigkeit unter dem Gesichtspunkt der Rechtsvorsorge zur politischen Komponente des Rechtsstaats. Die große Gegenfrage hierzu ist allerdings, inwieweit nicht auf der anderen Seite die Sozialstaatlichkeit mit ihren Vorstellungen vom erzwungenen sozialen Ausgleich die Unantastbarkeit der liberalen Freiheitsidee zerstört. Die heutige doktrinär-liberale Freiheitsinterpretation im Sinne einer Staats-ferne und Staatsfremdheit darf sich aber nur sehr bedingt als Nachfahrin der klassischen Rechtsstaatsidee des Liberalismus interpretieren. Solch ein Versuch rückgreifender Verknüpfung wird den politischen Intentionen des frühen Liberalismus nicht gerecht. Denn diese Anknüpfung übersieht, daß die subjektiv-liberale Freiheitsidee, damals gegen den absolutistischen Staat gerichtet, avantgardistisch im Sinne der Rechtsvorsorge war, während sie heute restaurativ wäre, wenn sie — in absolutem Geltungsanspruch — nichts weiter garantierte als die Möglichkeit, in einem System der kooperativ wirkenden Volkssouveränität das Ordnungsgefüge individualistisch zu atomisieren. Die Freiheitsidee war um die Wende zum 18. Jahrhundert zum großen Teil kein Ausgrenzungsdenken mit Selbstzweck, sondern mit dem Zweck einer Neu-integration des Individuums in den Staat — allerdings in eigener Regie. Fundament ist und bleibt immer das individuelle Freiheitsrecht und seine Erhaltung. Gerade diese Erhaltung aber fordert jene „Mithilfe am Staat", die dem Staat nach innen und außen die Kraft und Mäßigung gibt, diese Erhaltung zu gewährleisten. Insoweit trägt die Rechtsvorsorge heute keinen Ausgrenzungscharakter, sondern einen Teilnahme-, Teilhabe-und Teilgabecharakter. Die Erhaltung der Demokratie und dadurch der Rechtsstaatlichkeit rechtfertigt die notwendigen Opfer, die für die Erhaltung zu bringen sind. Die Gefahr einer Eintrübung der Freiheit durch überwuchernde politisch-soziale Zwecke wird erst dann alarmierend, wenn die Ratio der Begründung dieses Opfers nicht gleichzeitig als sein Maß und seine Grenze anerkannt wird.
Franz Schneider, Dr. phil., Dr. jur., Ordinarius für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule München der Universität München, geb. am 12. Januar 1932; Habilitation 1965. Veröffentlichungen u. a.: Presse-und Meinungsfreiheit nach dem Grundgesetz, München 1961/62; Kabinettsreform und Machtverteilung in England, in: Zeitschrift für Politik, 1965/H. 1; Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit — Studien zur politischen Geschichte Deutschlands bis 1848, Neuwied 1966; Politik und Kommunikation, Mainz 1967; Diskussion und Evidenz im parlamentarischen Regierungssystem, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 6/68 v. 7. 2. 1968; Die große Koalition — zum Erfolg verurteilt?, Mainz 1968.
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