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Wer hat die Bundesrepublik treiben lassen? | APuZ 11/1969 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 11/1969 Moderne Unterrichtsformen und Medien im Dienste der politischen Bildung Aus der Arbeit des Deutschen Instituts für Fernstudien Die mißverstandene Linke Erwiderung auf den Aufsatz: Wer treibt die Bundesrepublik wohin? Antwort auf Karl J. Newmans Beitrag: „Wer treibt die Bundesrepublik wohin?" Wer hat die Bundesrepublik treiben lassen? Entgegnung auf die Kritik an meinem Aufsatz „Wer treibt die Bundesrepublik wohin?"

Wer hat die Bundesrepublik treiben lassen?

Hans Wald

Mit streitbarem Elan macht K. J. Newman sich in dieser Zeitschrift (Nr. 31/68) zum Anwalt der parlamentarischen Demokratie. Das ist sehr erfreulich, da diese z. Z. Befürworter dringend braucht.

An den Titel von Jaspers „Wohin treibt die Bundesrepublik?" anknüpfend, fragt Newman zurück: „Wer treibt die Bundesrepublik wohin?" und sucht dann Jaspers für das politische Klima des Sommers 1968 in der Bundesrepublik verantwortlich zu machen. Er sieht in dem Erscheinen des Buches im Jahre 1966 die Ouvertüre zu einem breiten Angriff auf unsere parlamentarische Demokratie Tatsächlich hat das Buch wie ein Signal gewirkt. Frühere Warnungen waren wegen des oft beklagten Desinteresses der Bevölkerung ohne Echo geblieben. So hat z. B. Eschenburg schon viel früher und wiederholt auf das Sündenregister der gleichen parlamentarischen Demokratie hingewiesen Er schrieb schon 1962 u. a.: „Hier hat sich unentwegt Mißtrauen abgelagert. Es gab jedesmal Erregung, sie wurde vergessen. Aber nun ist plötzlich alles aufgebrochen. Es fehlt das Vertrauen in die rechtsstaatliche Treue der Regierung .... Es sind alles Bagatellfälle, die uns erregen, mediokre Fälle. Aber in ihrer Summe sind sie beängstigend, und in ihrer Summe erst üben sie jene psychologische Wirkung aus, die wir heute erleben ... ."

Nicht eben schmeichelhaft, was Eschenburg da schreibt. Aber es wurde vergessen wie so vieles andere, bis im Sommer 1968 das Faß überlief. Zufällig nach Jaspers. Es hätte auch nach Eschenburg überlaufen können oder nach v. Hentig oder nach Forsthoff, v. d. Heydte u. a.

Wenn z. B. von Hentig einen Katalog ungelöster Probleme bringt wenn Forsthoff an „die Einsicht", appelliert, „daß es um die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht sonderlich gut bestellt ist" dann kritisiert doch nicht nur Jaspers, es. kritisieren oder „treiben" auch noch andere — und sicherlich berufene — Kritiker. Man sollte ihr „Treiben" positiv werten im Sinne von Treiben zum Fortschritt. Dazu gehört auch, daß man sich der Kritik stellt und nicht versucht, sie ggf. durch straf-oder disziplinarrechtliche Sanktionen bzw.deren Androhung zu unterdrücken (Heye, Jagusch, Allardt, Fredersdorf).

Jaspers ist also nicht der Rattenfänger von Hameln, der die armen Studenten in die Irre geleitet hat. Außer ihm gibt es noch viele andere Kritiker, denen man Sachkenntnis und Kompetenz schwerlich absprechen kann. Nur, Jaspers fand das meiste Gehör, weil er schon ein berühmter Mann war, als er „Wohin treibt die Bundesrepublik. . .?" schrieb. Man war neugierig, zu erfahren, was dieser Mann über die Nachkriegspolitik dachte. Deshalb wurde das Buch so viel gekauft, während die Kritik anderer Zeitgenossen, ohne viel Aufsehen zu erregen, in den Archiven verschwand.

Newman ist beizupflichten, wenn er schreibt: „Erforderlich ist, daß die Repräsentanten der Demokratie dem Volk mit gutem Beispiel vorangehen und die Würde der parlamentarischen Institutionen wahren, so daß sich das Volk in diesen Institutionen selbst verkörpert sieht."

Leider haben die Repräsentanten der Bundesrepublik diesem Erfordernis in einigen Fällen wenig Rechnung getragen. Sie haben damit dem demokratischen Bewußtsein im Volk mehr geschadet als Jaspers mit seinem Buch; denn das haben so viele nicht gelesen, obwohl es lange auf der Bestsellerliste stand.

Unverständlich ist, daß Newman die Kritik Forsthoffs toleriert, weil sie sich an einen anderen Hörer-und Leserkreis richtet als Jas-pers'populäre Werke Soll das Volk be-wußt über von Staatsrechtlern erkannte Mängel im unklaren gelassen werden? Müssen nicht alle Bürger den Staat und ggf. auch die Konsequenzen einer verfehlten Politik tragen (wie z. B. die Nicht-Pgs die Folgen der NS-Politik), und haben sie deshalb nicht alle Anspruch auf sachliche Information, die populär ist im Sinne von allgemeinverständlich, also unter größtmöglichem Verzicht auf Fremd-worte Dies ist u. a. doch auch das Ziel der Erwachsenenbildung. Dann ist es aber unzulässig, bestimmte Bevölkerungskreise bei der Diskussion von Problemen ausklammern zu wollen. Das wäre Manipulierung der öffentlichen Meinung; denn das Recht auf Information würde beschnitten. Außerdem würde dadurch die Unterrichtung der Öffentlichkeit über Fehlentwicklungen den radikalen Parteien und der radikalen Presse überlassen. Es entstünde also der Eindruck, als ob diese unentbehrlich seien als Wächter der Demokratie. Gerade dieser Eindruck sollte aber vermieden werden.

Man kann Demokratie dahin gehend verstehen, daß alle Bürger sich Gedanken um den Staat machen und diesen Gedanken auch Ausdruck verleihen, wenn sie von der Ansicht der augenblicklichen Inhaber der Macht abweichen.

Ohne eigene Gedanken kann kein Bürger eine verantwortliche Wahlentscheidung treffen. Es ist auch unbedingt notwendig, diese Gedanken den Gewählten zur Kenntnis zu bringen, evtl, sogar gegen ihren Willen, damit diese mit ihrem Gewissen nicht allein sind. In diesem Zusammenhang kann auch die Ankündigung, man werde diesen Abgeordneten oder diese Partei nicht mehr wählen, wenn sie eine bestimmte Entscheidung treffe, nicht als unzulässiger Druck angesehen werden. Im Gegenteil, es ist ein Gebot der Fairneß, Abgeordnete und Parteien darauf hinzuweisen, daß sie in einer bestimmten Sache von der Meinung einer großen Gruppe von Wählern (nicht einzelner Querulanten) abweichen. Es ist dann Sache der Abgeordneten, die Gründe (nicht die Zahl) der Gegner und Befürworter einer Regelung abzuwägen und dann frei abzustimmen. Nur so kann vermieden werden, daß Parteien und Abgeordnete ihre Position falsch einschätzen und bei der Hochrechnung am Wahltag aus allen Wolken fallen.

Das Recht, eine bestimmte Meinung zu vertreten, ist Bestandteil der durch Artikel 19 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" vom 10. 12. 1948 garantierten Meinungsfreiheit. „Das heißt: es geht letztlich nicht nur darum, daß man frei denken und reden darf, sondern es geht auch um das Recht jedes einzelnen, um eine allgemeine Anerkennung seiner Überzeugungen und Auffassungen zu ringen und so auf den Gang der Dinge Einfluß zu nehmen. Oder mit and 12. 1948 garantierten Meinungsfreiheit. „Das heißt: es geht letztlich nicht nur darum, daß man frei denken und reden darf, sondern es geht auch um das Recht jedes einzelnen, um eine allgemeine Anerkennung seiner Überzeugungen und Auffassungen zu ringen und so auf den Gang der Dinge Einfluß zu nehmen. Oder mit anderen Worten: es geht nicht nur darum, seine Meinung zu äußern, sondern auch darum, sie in der Öffentlichkeit durchzusetzen. Das aber bedeutet zugleich: Die Meinungsfreiheit steht notwendigerweise in einem unaufhebbaren Zusammenhang mit der Frage nach der politischen Macht." 8)

Wie die Ereignisse nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg zeigten, ist aber selbst der Einfluß des in Parteien organisierten Volkes sehr gering. Nicht nur die große Masse der Wähler, sondern sogar der größte Teil der Abgeordneten ist politisch fast machtlos. Sie geben ja z. T. in Wahlversammlungen freimütig zu, daß sie nur noch ja oder nein oder überhaupt nichts sagen können. Wie soll da die Forderung der Charta der Menschenrechte (Art. 21, 3) erfüllt werden, wonach der Wille des Volkes die Grundlage der Autorität einer Regierung sein soll?

Der Wille des Volkes muß auch respektiert werden in Volksbegehren, wie sie in letzter Zeit auch von Abgeordneten des Bundestages in begrenztem Umfang gefordert werden 9), oder in Warnungen, wie Jaspers sie in seinem Buch ausspricht. Daß die dadurch provozierte Auseinandersetzung in der Bundesrepublik unerwünscht ist, hat von Hentig deutlich bloßgelegt 10).

Seit Bestehen der Bundesrepublik hat man nach dem Motto „Keine Experimente" den Konflikt unterdrückt, man hat nicht gelernt, „wie man mit Menschen zusammenlebt, die gründlich anderer Meinung sind als man selbst"

Und auch die folgenden Sätze schrieb von Hentig, nicht Jaspers: „Die wahre Demokratie hat das Machtproblem in keinem Augenblick gelöst, etwa durch eine mustergültige Verfassung und dadurch, daß man diese , einhält'; sie funktioniert vielmehr nur, indem sie das Machtproblem ständig aufdeckt: wenn ihre Verfassung dazu dient, die Macht immer wieder neu zu verteilen. — In der Bundesrepublik sind wir freilich anders verfahren. ..."

Die Neuverteilung der Macht erscheint in diesem Land offenbar fast als vorweggenommener Weltuntergang. Selbst die Abgeordneten des Bundestages versuchen vergeblich, einen Teil der Macht dem Fraktionsvorstand zu entwinden Die Demokratie soll aber doch gerade gesellschaftliche Veränderungen ohne Gewalt ermöglichen. Stabilität um jeden Preis könnte durch die Verwaltung gesichert werden

Ein Trost bei allem mag sein, daß selbst gesetzte Demokratien wie die Schweiz sich herbe Kritik gefallen lassen müssen. Dort wurde nach den Studentenunruhen in Zürich die „Wiederherstellung der Demokratie" verlangt und gleichzeitig die Frage aufgeworfen, „ob gewisse Strukturen nicht durch die geschichtliche Entwicklung überholt sind, ob Demokratie möglich ist ohne die Bereitschaft zum Umdenken. Initiative und Referendum sind großartige Ideen, nur funktionieren sie offenkundig nicht; sonst hätten wir nicht den Konflikt zwischen der Minderheit und der Mehrheit, die von einer anderen und allerdings überwältigenden Minderheit gebraucht wird, um den Anschein von Demokratie zu wahren. Schon das Axiom, die Mehrheit habe mehr zu sagen als die Minderheit, wäre zu überdenken von Zeit zu Zeit. Wir wollen keinen Totalitarismus; es fragt sich, ob es nicht auch einen Totalitarismus durch die Mehrheit gibt. Schon daß die Frage nicht erlaubt wäre, würde dafür sprechen ..."

Und weiter:

„Man spricht vom Rechtsstaat. Wir alle sind für den Rechtsstaat; aber Rechte sind von Menschen geschaffen und daher geschichtlich; sie können von Menschen verändert werden, wenn die geschichtliche Entwicklung es verlangt. Warum geschieht es nicht?"

So tönt es in der Schweiz, ohne daß jemand die Demokratie dadurch gefährdet sieht. Diese Ansicht von der Demokratie, die sich kaum mit dem Mehrheitswahlrecht vereinbaren läßt wird auch in Deutschland vertreten, aber wenig praktiziert. Das Ideal hat v. d. Heydte treffend beschrieben: ...... bedeutet Demokratie nicht Herrschaft der Mehrheit, sondern Ausgleich zwischen Mehrheit und Minderheit — ohne daß beide von ihren Grundsätzen, die aber wirklich Grundsätze sein müssen, auch nur ein Jota abgehen. . . . Bedeutet Demokratie schon nicht Herrschaft der Mehrheit, so bedeutet sie noch weniger Absolutismus des Parlaments. Jeder Absolutismus ist undemokratisch, mag es der Absolutismus eines Diktators sein oder der Absolutismus von 402 Abgeordneten. . .."

Nach einem Schweizer Verteidiger der parlamentarischen Demokratie ist sie der größte bisher geschaffene Annäherungswert an freiheitliche Lebensgestaltung, um das Zusammenleben ohne Gewalt zu ermöglichen „Alle Unzulänglichkeiten des Systems treten vor seinem entscheidenden Vorteil zurück: es rationalisiert die Auseinandersetzungen in einer Gesellschaft oder einem Staat."

Dieser Rationalisierungseffekt muß aber verlorengehen, wenn die Auseinandersetzungen unterdrückt oder nicht dort ausgetragen werden, wo sie hingehören, im Parlament. Dort können sie aber nur ausgetragen werden, wenn alle Gruppen des Volkes die Möglichkeit haben, ihre Interessen oder Meinungen zu vertreten. Diese Möglichkeit bietet das augenblickliche Parlament der Bundesrepublik nur bedingt, das Mehrheitswahlrecht schneidet sie völlig ab. Große Koalition und Mehrheitswahlrecht sind die Geburtshelfer der außer-(nicht anti-) parlamentarischen Opposition, nicht Kritiker wie Jaspers. Tröstlich ist nur, daß Newman (a. a. O., S. 23) Jaspers selbst rehabilitiert, wenn er ihm lediglich vorwirft, seine Beschuldigungen seien maßlos übertrieben. Sicher hat Jaspers übertrieben und zu schwarz gemalt, aber daß seine Beschuldigungen haltlos sind, behauptet offenbar auch Newman nicht. Schade — für die Bundesrepublik

Man sollte sich das von Jaspers geweckte Interesse an der Politik zunutze machen Ein Volksentscheid könnte gegebenenfalls eine Stütze des Parlaments gegen die Lobby sein. Für Grundgesetzänderungen müßte er obligatorisch sein. Passieren kann dabei nicht viel, allenfalls bleibt alles beim alten Zustand. I kann dann aber niemand, weder eine auf noch eine antiparlamentarische Opposit dem Parlament zur Last legen. Mancher, vorgibt, im Namen von Hunderttausenden sprechen, müßte erkennen, daß seine Anh gerschaft bedeutend kleiner ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. J. Newman, Wer treibt die Bundesrepublik wohin? Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 31/68 v. 31. 7. 1968, S. 3

  2. Th. Eschenburg, Die Affäre, Sonderdruck von „Die Zeit" 1962, S. 10

  3. FI. v. Hentig, Die große Beschwichtigung, Zum Aufstand der Studenten, in Merkur, Heft 5/1968, S. 391

  4. A. Forsthoff, Verfassung und Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, Merkur, Heft 5/1968, S. 401

  5. K. J. Newman, a. a. O., S. 10.

  6. K. J. Newman, a. a. O., S. 12.

  7. Bei diesen Publikationen sollte man sich mehr als bisher „bemühen, sie auch in einem modernen und lesbaren Stil zu gestalten" (Bundesminister Benda in der Fragestunde des Bundestages am 10. 5. 1968).

  8. H. v. Henting, a. a. O., S. 385 ff.

  9. Ebda, S. 386

  10. Ebda, S. 388

  11. MdB Apel, Collet, Klepsch 1t. „Der Spiegel" v. 12. 8. 68, S. 24

  12. H. v. Heutig, a. a. O., S 390; ähnl. Dahrendorf in „Für eine Erneuerung der Demokratie .. München 1968, S. 82 u. 84

  13. Max Frisch, Die große Devotion, in: „Die Welt-woche" v. 12. 7. 68, S. 13

  14. Ebda

  15. Nach einer Schlagzeile des „Kölner Stadt-Anzeigers" vom 6. 7. 1968: „Ein Versuch zum Würge-mord, das Mehrheitswahlrecht macht die Starken nur noch stärker".

  16. In „Rheinischer Merkur" Nr. 14/1953, S. 4.

  17. Willy Guggenheim, Die Unruhen in Zürich, Die Weltwoche v. 12. 7. 1968, S. 5.

  18. Ebda.

  19. Schließlich gab es sogar bei der Notstar debatte im Bundestag indirekte Anerkennung Jaspers, als der Abg. Matthöfer, SPD, sagte, „ Verbesserungen sind auch ein Verdienst — muß hier fairerweise auch einmal gesagt werder der außerparlamentarischen Protestbewegung . (Das Parlament v. 12. 6. 1968 — S. 3).

  20. Ebda.

Weitere Inhalte

Hans Wald, geb. 31. Mai 1923 in Meschenich, Bez. Köln, z. Z. im Verwaltungsdienst bei der Deutschen Bundesbahn, nebenberuflich Studium an den Verwaltungs-und Wirtschaftsakademien Köln und Bonn, Verwaltungsdiplom.