Die Reichsgründung in der deutschen Geschichtsschreibung
Elisabeth Fehrenbach
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Die Reichsgründung als ein zentrales Thema der deutschen Geschichtsschreibung spiegelt wie kaum ein anderes die Wechselwirkung historischen und politischen Denkens. Zeitgeschichtliche Betroffenheit und Erlebniserfahrung haben das überlieferte Bild von der Reichsgründung als der Vollendung der deutschen nationalen Geschichte immer wieder modifiziert, kontrolliert und schließlich revidiert. Schon 1890 — beim Übergang zur imperialen Weltpolitik — und erst recht nach den Katastrophen von 1918 und 1945, als die Aufeinanderfolge zweier Weltkriege unvermeidlich die Frage nach den Ursachen des inneren und äußeren Zusammenbruchs aufwarf, knüpfte sich die Diskussion über Kontinuität oder Revision des Geschichtsbildes in besonderem Maße an die Persönlichkeit Bismarcks und sein Werk, die Begründung des kleindeutschen Nationalstaats. Natürlich ist es im Rahmen einer begrenzten Abhandlung nicht möglich, die Fülle der Literatur über die Vorgeschichte und Geschichte der Reichsgründung auszubreiten; vielmehr soll im folgenden versucht werden, im Spiegel der repräsentativen Werke und Gesamtdarstellungen über die Reichsgründungszeit die Wandlungen des historisch-politischen Urteils vor dem Hintergrund der jeweiligen Zeitsituation aufzuzeigen — ein Überblick, der Rankes Einsicht bestätigt, daß Geschichte immer wieder „umgeschrieben" werden muß, weil das erstrebte Ideal der Objektivität nur annähernd erreicht werden kann. Eine Darstellung der wechselnden Perspektiven im fortlaufenden und nie zu Ende geführten Prozeß der historischen Urteilsbildung mag zugleich zu einer kritischen Überprüfung des eigenen Standorts beitragen, ohne dessen Relativierung die hi-storische Erkenntnis nicht möglich erscheint. Erst aus der Zusammenschau der jeweiligen Teilaspekte, auch wenn sie sich gegenseitig im Hegeischen Doppelsinn des Wortes „aufheben", entsteht ein Gesamtbild der politischen und geistigen Grundlagen des Bismarck-reiches. Jedes historiographische Thema beweist erneut, daß Geschichte als Wissenschaft keinen absoluten Erkenntniswert liefert, sondern als progressive Wissenschaft verstanden werden will.
Historisierung der Politik und Politisierung der Historie
Wenn eingangs von der Wechselwirkung zwischen Historie und Politik die Rede war, so gilt dies in ganz besonderem Maße für die nationalliberale Historikerschule der Reichsgründungszeit. Nicht allein die Politisierung der Historie, sondern auch die Historisierung der Politik charakterisiert die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert.
Die „politischen Historiker" der borussischen Schule haben seit Droysen den kleindeutschen Nationalstaat unter preußischer Führung gleichsam vorausgedacht und ihm eine historische Legitimierung verschafft, für die das politische Denken in einem von Krisen und Revolutionen erschütterten Zeitalter so überaus empfänglich war. Der eigentümliche Historismus des 19. Jahrhunderts, der die revolutionären Brüche in der Entwicklung von Staat und Gesellschaft durch den Rückgriff in ferner gelegene, von der Gegenwartskritik unberührte Zeiten zu überbrücken suchte, erfüllte insofern eine politische Funktion. Die politische Zielsetzung stützte sich auf das historische Argument. Man darf bei der gemeinhin üblichen Anklage gegen die Tendenzhistorie nicht übersehen, daß der noch ganz ungebrochene Glaube an die Bildungsmacht der Geschichte zugleich abgesichert war durch das Bewußtsein, mit der strengen quellenkritischen Methode des Faches ausgerüstet, der politischen Nationaler-ziehung zu dienen. Für die nationalliberale Historikergeneration, die durch die Schule Rankes gegangen war, fiel das politische Ideal des Nationalstaats zusammen mit dem wissenschaftlichen Ideal der kritisch geprüften Wahrheit Daß beide Aufgaben, die nationalpädagogische und die wissenschaftlich-historische, miteinander in Konflikt geraten könnten, war eine Erfahrung, die erst ausstand und die auch nach 1871 nicht gleich gemacht wurde. Denn gerade der politische Erfolg schien ja das historische Bemühen glänzend zu rechtfertigen. Die berühmte und vielzitierte Brief-stelle Heinrich von Sybels an Hermann Baum-garten, die unmittelbar nach der Zeitungsmeldung über die Kapitulation von Paris niedergeschrieben wurde, spiegelt beispielhaft, wie sehr dieser Augenblick als Abschluß einer Epoche und als Krönung der eigenen Lebensarbeit empfunden wurde: „. . . meine Augen gehen immer herüber zu dem Extrablatt und die Tränen fließen mir über die Backen. Wodurch hat man die Gnade Gottes verdient, so große und so mächtige Dinge erleben zu dürfen? Und wie wird man nachher leben! Was zwanzig Jahre der Inhalt allen Wünschens und Strebens gewesen, das ist nun in so unendlich herrlicher Weise erfüllt! Woher soll man in meinen Lebensjahren noch einen neuen Inhalt für das weitere Leben nehmen?"
Die Folge hat Jakob Burckhardt 1872 aus der Distanz des konservativen Schweizers in die grimmig ironischen Worte gefaßt, daß künftig alle Darstellungen über die neuere Geschichte „auf 1870/71 orientiert" sein würden, „bis die ganze Weltgeschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen" sei Es entstand jene teleologische Konzeption der Reichsgründungsgeschichte, die Hermann Oncken 1934 im Rückblick auch auf eigene Arbeiten treffend und verständnisvoller als Burckhardt wie folgt kommentierte: „So wurde es erst seit den Jahren 1866 bis 1871 möglich, unsere nationale Geschichte, als ob sie sich in sich selber vollendet hätte, wieder in einem einheitlichen Bilde zu sehen, und selbst ihre tieferen Gegensätze als Stufen der Überwindung im Lichte der Versöhnung zu begreifen. In dem Vollgefühl dieser Sicherheit hat die letzte Generation deutscher Historiker recht eigentlich gelebt und gearbeitet." Vom Endziel her gesehen, erschien die preußisch-deutsche Geschichte als ein sich mit Notwendigkeit erfüllender Entwicklungsprozeß, der von Luther und der Reformation über den Großen Kurfürsten und Friedrich den Großen bis zur preußischen Reformzeit führte, um dann im Werk Bismarcks seinen krönenden Abschluß zu finden. Alle anderen Wege zur deutschen Einheit, das „Übergangsstadium" des Deutschen Bundes und das „Vorspiel" der gescheiterten Revolution von 1848, führen zwangsläufig zu diesem Ergebnis hin.
Das wissenschaftliche Postulat der zeitgenössischen Historie bestand daher nicht in einer möglichst objektiven Erfassung des Zeitgeschehens, sondern darin, diesem Geschehen überhaupt erst eine — von Preußen her gesehene — Tradition zu schaffen. Die borussi-sche Geschichtsschreibung Droysens, Dunckers und Häussers hatte die Vorarbeit für die preußische Geschichte bis zur Reformzeit des beginnenden 19. Jahrhunderts bereits geleistet. Droysens vielbändige „Geschichte der preußischen Politik", die man den „historiographisehen Auftakt zum Werk Bismarcks" genannt hat verfolgte den „deutschen Beruf Preußens" bis ins Mittelalter zurück, wo in der Mark Brandenburg der Askanier und des Burggrafen Friedrich von Hohenzollern die „ghibellinische" Idee von Reichseinheit und nationaler Größe über die Stauferkaiser hinaus fortlebte. Vollends seit 1555 tritt an die Stelle von Kaiser und Reich der protestantische brandenburgische Territorialstaat, der die nationale antiultramontane Reichstradition als Erbe übernahm und gegen Österreichs eigen-süchtige, universalistisch-katholische Politik verteidigte. Ungleich schwieriger war es, die geistreiche Konstruktion vom Fortleben der ghibellinischen Idee auch auf die neuere Geschichte zu übertragen, und schon die heftige, bis in die Wilhelminische Zeit fortgesetzte Kontroverse über Friedrich den Großen, den seine Gegner als Widersacher der von Österreich vertretenen Kaiser-und Reichspolitik darstellten, beweist, welch dialektischer Kunstgriffe es bedurfte, um die entgegengesetzten Entwicklungstendenzen dennoch positiv zu bewerten, weil sie letztlich der Haupt-entwicklung — dem Aufstieg Preußens zur Großmacht — zugute kamen überdies komplizierte sich das Traditionsproblem durch die {Wiederherstellung von Kaiser und Reich 1871, die zumindest eine ideelle Kontinuität vorn alten zum neuen Reich anzudeuten schien, die von den nationalliberalen Historikern, auch von Droysen, nur zögernd oder gar nicht akzeptiert wurde. Seit dem politisch aktuellen Gelehrtenstreit über die Italienpolitik der mittelalterlichen Kaiser zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker galt gerade die universalistische „theokratisch gefärbte" Kaiseridee als antinational und anachronistisch. Auch hier war es nötig, auf dialektischen Umwegen die historische Kaiseridee in die kleindeutsche Tradition einzufügen, sei es als evangelisches Kaisertum, das den Kampf der Staufer „gegen das usurpatorische Rom" wiederaufnahm, sei es als liberal-fortschrittliches Kaisertum, das die primitive Vorform des Mittelalters hinter sich ließ und die tausendjährige deutsche Würde im Geist der modernen Zeit erneuerte
Als Heinrich von Treitschke nach 1871 das Wagnis unternahm, zum erstenmal eine Gesamtkonzeption über die „Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert" zu entwerfen, die allerdings nur bis an die Schwelle des Revolutionsjahres 1848 reicht, war er sich über die Schwierigkeit einer zeitgeschichtlichen Darstellung völlig im klaren. „Eine allen Gebildeten gemeinsame nationale Geschichtsüberlieferung hat sich in unserem kaum erst wieder vereinigten Volke noch nicht entwikkeln können", schrieb er in seinem an Max Duncker gerichteten Vorwort zum ersten Band. „Jenes einmütige Gefühl froher Dankbarkeit, das ältere Nationen ihren politischen Helden entgegenbringen, hegen wir Deutschen nur für die großen Namen unserer Kunst und Wissenschaft; selbst über die Frage, welche Tatsachen in dem weiten Wirrsal unserer neuen Geschichte die wahrhaft entscheidenden waren, gehen die Meinungen noch weit auseinander." Gerade weil es ihm um die Forderung geht, ein nationales Geschichtsbild zu schaffen, nimmt Treitschke die Einseitigkeit seines historischen Urteils, nämlich die unbedingte Apologie Preußens, bewußt in Kauf: „Denn nur, wer selber feststeht, vermag den Wandel der Dinge zu beurteilen. Die Macht Preußens in unserem neuen Reiche ist von langer Hand her durch redliche stille Arbeit vorbereitet; darum wird sie dauern."
In apodiktischer Form bestimmt Treitschke hier das Kernthema seiner Darstellung: die „Macht Preußens"; und auch das Ziel der politischen Aufwärtsentwicklung, wie es in den Umrissen der Vorgeschichte bereits deutlich sichtbar wird, ist von vornherein festgelegt: die Errichtung des „preußischen Reiches deutscher Nation" — ein in der Publizistik von 1871 vieldiskutierter Begriff, der den Gegensatz zum alten römischen Reich deutscher Nation bezeichnete und den künftigen deutschen Einheitsstaat preußischer Prägung umschrieb. Das Ideal der „werdenden nationalen Monarchie" im großpreußischen Einheitsstaat, das Treitschke publizistisch in den sechziger Jahren verteidigt hatte und an dem er trotz des föderalistischen Charakters des neuen Reiches festhielt bestimmt den historisch-politischen Standort, von dem aus die Auswahl der „wahrhaft entscheidenden Tatsachen" der deutschen Geschichte getroffen wird. Im Mittelpunkt der Darstellung steht die Staatswerdung Preußens: die geistige Erneuerung durch den Protestantismus nach 1648, der politische Zusammenschluß der Provinzen auf der Grundlage des zentralisierenden Verwaltungs-und Heerwesens, das Wirken der freien Persönlichkeit im mächtig aufsteigenden Staat der Reformzeit, der Kulturfortschritt unter dem Schutz der Staatsmacht. Alles andere gehört in den Bereich der hemmenden Gegenkräfte: die „Fäul-nis des alten Reiches", der Ultramontanismus, Österreich und die „verrufene Zeit" des Deutschen Bundes, der doktrinäre süddeutsche Liberalismus, der Radikalismus der Burschenschaft und vor allem der deutsche Partikula-rismus, die „Schmach der Zersplitterung". Das nationale Geschichtsbild, das Treitschke entwirft, beruht auf dem „Kampf um die Grundlagen staatlicher Macht und freier Gesittung" Mit dem an Hegel geschulten Identitätsdenken weist er nach, daß nur der mächtige Staat, der mit dem sittlichen Staat identisch ist, die deutsche Einigungsmission erfüllen konnte. Die Reichsgründung ist das Werk des idealisierten preußischen Machtstaats.
Das Standardwerk der nationalliberalen Geschichtsschreibung, Heinrich von Sybels siebenbändige Gesamtdarstellung „Die Begründung des deutschen Reiches durch Wilhelm I.", suchte darüber hinaus den Beweis zu erbringen, daß das preußisch-deutsche Einigungswerk zugleich dem gemäßigt liberalen Staats-ideal des Konstitutionalismus entsprach Stärker als Treitschke betont Sybel die liberale Tradition des preußischen Staates. Bereits 1863, mitten in den Kämpfen des preußischen Verfassungskonflikts, hatte Sybel die These vertreten, daß die wahre Tradition der preußischen Monarchie in keinerlei Widerspruch stehe zu den liberalen Bestrebungen der nationalen Bewegung. Der Verfassungsstaat, heißt es, sei nicht „der Sturz, sondern die Blüte des starken Baumes, dessen Wurzeln durch die -Jahrhunderte reichen" — zurück zum Großen Kurfürsten, der den Übergang zur „gemeinnützigen Absolutie" vollzog, zu Friedrich Wilhelm, dessen bürokratische Verfassung „mit Naturnotwendigkeit allmählich zum liberalen Staate" führen mußte, zu Friedrich dem Großen, dessen aufgeklärter Absolutismus in letzter Konsequenz zur Bauernbefreiung, zur selbständigen Gemeindeverfassung, „ja zur parlamentarischen Gesetzgebung mit all ihren weitgreifenden Folgen" drängte
Die reaktionäre, absolutistische Politik Bismarcks während der Konfliktjahre stellt in dieser Interpretation nur eine vorübergehende Episode dar, die nicht mit der Niederlage der Liberalen, auch nicht mit einem Kompromiß, sondern mit der inneren Wandlung Bismarcks abschloß. Sybel hält an dem Gedanken fest, „daß für jeden preußischen Staatsmann ohne Ausnahme die Frage der deutschen Einheit unabweisbar zu einer Schule des Liberalismus — nicht des anarchischen und revolutionären, sondern des positiven und staatsbildenden Liberalismus — wird" So gesehen, erscheint Bismarck als Vollstrecker des liberalen Erbes; sein Werk, die Reichsgründung, verwirklicht das Ideal des „staatsbildenden Liberalismus". Daher sieht Sybel im Abschluß des Verfassungskonflikts durch die Indemnitätsvorlage, die das Bündnis Bismarcks mit der nationalliberalen Partei besiegelte, das Zentralereignis der Reichsgründungsgeschichte: „Wir dürfen es aussprechen, im Herbste des Jahres 1866 war das deutsche Reich gegründet." Jetzt wurde es offenkundig, „daß die Regierung und die Liberalen dasselbe große Ziel verfolgten, und daß zur Vollendung des deutschen Reiches die Macht der Regierung ebenso unentbehrlich war, wie die innere Bewegung der Geister"
In dieser Schlußfolgerung spiegelt sich zugleich Sybels Urteil über die Revolution von 1848, die er mit der neugewonnenen Maxime der „Realpolitik" als notwendig scheiternden Versuch bewertet, die liberalen Ideale der Freiheit und Einheit gegen die politische Wirklichkeit durchzusetzen. Erst Bismarck vermied mit der „realpolitischen" Fähigkeit, „die Grenzen des Erreichbaren zu erkennen", die Fehler des Frankfurter Parlaments: die Kaiserromantik, den Doktrinarismus der Reichsverfassung, die Ignorierung der partikularen Staatsinteressen. Er fand „den Boden für ein stabiles Gleichgewicht der Ideale und der Realität, der Einheit und des Sondertums" Gerade von 1848 her gesehen, erscheint die Reichsgründung als Synthese von Macht und Geist, die die idealistischen Ziele mit der politischen Wirklichkeit in Einklang brachte. Andererseits zeigt die ausführliche Darstellung der preußischen Politik in den Revolutionsjahren nur allzu deutlich — und auch die zeitgenössische Kritik hat dies sehr bald ver-merkt —, wie sehr das harmonisierende, auf versöhnenden Ausgleich bedachte Urteil Sybels die tieferen Gegensätze zwischen dem altpreußischen Konservativismus und den liberalen Tendenzen der Zeit verwischt. Auch hier sieht Sybel nur die verpaßte Chance, die ein Bismarck an der Stelle von Radowitz zu nutzen verstanden hätte
Die Kapitel über die außenpolitischen Ereignisse fügen sich bruchlos in das Gesamtbild der liberal-nationalen Reichsgründung ein Auch nach außen bewahrten Wilhelm I. und Bismarck die liberale Tradition der preußischen Monarchie: „eine naturgemäße, allmählich voranschreitende, ihrem Wesen nach defensive Vereinigung der deutschen Nation" Königgrätz, Nikolsburg und Prag, die Verständigungsbereitschaft der preußischen Politiker — auch vor 1866! —, die schonende Behandlung Österreichs, die friedlichen Absichten der ho-henzollernschen „Familienpolitik" vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges beweisen zur Genüge den Verzicht des neuen Reiches auf außerdeutsche Eroberungen und Weltherrschaftspläne. Auf der Schwelle zum imperialistischen Zeitalter schildert Sybel ein letztes Mal die Reichsgründung auch im außen-politischen Bereich als Abschluß einer Epoche, die ihr Ziel erreicht hat.
Sybels Werk, das 1901 als Volksausgabe erschien und das laut Aussage der Zeitgenossen wie „kein anderes Buch ... so viel gelesen worden ist" hat nicht nur in Fachkreisen eine Fülle von Kontroversen ausgelöst. Die Flut der Memoirenliteratur, die nach 1890 einsetzte, brachte es mit sich, daß der wissenschaftliche Streit auf weiten Strecken in Polemik oder Apologie verfiel, so daß schließlich hauptsächlich das jeweilige persönliche Verdienst der an der Reichsgründung beteiligten Staatsmänner diskutiert wurde — eine Frage, die Sybel schon in seinem Buchtitel, der Wilhelm I.den Vorrang ließ, vornehm umgangen hatte
Eine eigentliche Gegendarstellung zum klein-deutschen Geschichtsbild Sybels hingegen fehlt in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Auch im großdeutschen Lager entschied der politische Erfolg von 1871, der mit enttäuschter Resignation hingenommen wurde. Die Sybel-Ficker-Kontroverse der sechziger Jahre, die die Alternative zwischen Universalstaat oder Nationalstaat zur Diskussion gestellt hatte war durch die politischen Ereignisse gleichsam überholt worden. Johannes Janssens unter dem Eindruck von 1871 begonnene „Geschichte des deutschen Volkes" — ein Titel, der eine Kritik an der von Preußen vertretenen Staatsidee implizierte — reichte über das 17. Jahrhundert nicht hinaus, obgleich der große politische Gegner Bismarcks, Ludwig Windthorst, Janssen gedrängt hatte, die Darstellung bis in die Gegenwart fortzuführen Der großdeutsche Historiker Onno Klopp polemisierte 1873 in einem Aufsatz der „Historisch-Politischen Blätter für das Katholische Deutschland" ein letztes Mal gegen die Usurpation der universalistisch-föderalistischen Kaiser-und Reichsidee durch den zentralisierten preußischen Militärstaat. Das preußische Staatswesen, auch mit dem „aufgesetzten Titel" des deutschen Kaisertums, sei nicht eine Wiederherstellung des alten römischen Kaisertums deutscher Nation, sondern vielmehr die Konsequenz all jener Bestrebungen, die seit Friedrich dem Großen auf die Zerstörung desselben gerichtet worden wären Der deutsche Kaiser wird 1871 in den „Historisch-Politischen Blättern“ als direkter Nachfolger Bonapartes gesehen, der Frankreich niederschlug, um sich die Cäsarenkrone selbst aufs Haupt zu setzen
Andererseits war man sich über den Mißerfolg der eigenen Bestrebungen im klaren. Nach 1871 wurde, wie es heißt, „den ehemaligen Partikularisten die vollständigste Resignation auferlegt" und „somit gehen auch wir — zum Kaiser" Es bestätigt die Regel, daß die einzige, von einem österreichischen Historiker verfaßte Darstellung über die Reichsgründungszeit, Heinrich Friedjungs „Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland", die Entscheidung von 1866 akzeptierte, so daß sein Buch von den kleindeutschen Historikern wohlwollend ausgenommen wurde. Friedjung habe die Ereignisse „anschaulich und ohne Voreingenommenheit" geschildert
Als Außenseiter und von der Fachhistorie der damaligen Zeit gar nicht beachtet, hat allein der konservative großdeutsche Publizist -Con stantin Frantz eine föderalistisch-mitteleuropäische Gegenkonzeption entworfen, die freilich in vieler Hinsicht phantastische Züge aufwies Die machtpolitische Überlegung über die Mittellage Deutschlands, das den Druck der Flügelmächte Frankreich und Rußland nur durch eine mitteleuropäische Interessengemeinschaft abwehren könne, vermischte sich mit reichsromantischen Reminiszenzen und dem Glauben an eine Art christlichen Germanismus. Sein Plan sah eine „germanische Allianz" vor, eine Föderation auf der Grundlage des freiwilligen Zusammenschlusses, die als ein „unüberschreitbarer Wall" Rußland zwingen würde, sich seinem „Beruf in Asien" zuzuwenden, und Frankreich, „die Lorbeeren für seine Adler in Nordafrika zu suchen". So sollte die deutsche und die europäische Frage zugleich gelöst und Großdeutschland als „europäisches Zentralland" zum „Gravitationspunkt" eines neuen Gleichgewichtssystems in der Welt werden. Darin lag der „Weltberuf der Deutschen". Bezeichnenderweise wurde Constantin Frantz erst nach 1918 als Vor-kämpfer der großdeutschen Idee wiederentdeckt und dann nach 1945 zum geistigen Antipoden Bismarcks erhoben, als die Frage nach einer realisierbaren Alternative zum klein-deutschen Nationalstaat die Debatte über die Revision des Geschichtsbildes beherrschte. Es wird noch zu zeigen sein, daß auch in diesem Fall das Resultat eher negativ ausfiel
Die beiden anderen extremen Gegenpositionen, die konservative und die marxistische Geschichtsschreibung, haben jede auf ihre Weise keine eindeutig ablehnende Stellungnahme zur Reichsgründung bezogen. Der Altmeister der konservativen Historie, Leopold von Ranke, hat die politischen Zeitereignisse in den Kommentaren seiner Vorlesungen und Briefe ganz unabhängig von der nationalstaatlichen Ideologie zu deuten gesucht. Aus der Perspektive seines eigenen Welt-und Geschichtsbildes betont er vor allem die außen-politisch-staatliche und die innenpolitisch-konservative Bedeutung der Reichsgründung. Aus Rankes Sicht war der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 kein Nationalkrieg gegen den Erbfeind deutscher Einheit, sondern Fortsetzung und Abschluß eines jahrhundertealten Ringens mit der Hegemonialmacht Frankreich, ein Krieg „gegen die Politik Ludwig XIV." Die neue Macht des geeinten Deutschlands garantierte ihm die Sicherstellung des europäischen Gleichgewichts. Mit der gleichen konservativen Wertung, die sich wesentlich an der Vergangenheit orientiert, beurteilt Ranke die innere Verfassung des Reiches als Fortsetzung der altpreußischen Tradition. Die Stabilisierung der monarchischen Ordnung und Autorität beendet eine von Revolutionen und Krisen erschütterte Epoche. Die Reichsgründung als ein „epochales" Ereignis besiegelt die „Niederlage der revolutionären Kräfte". 1870 glaubte Ranke zu erkennen, „daß damit zugleich einer der Wendepunkte der Weltentwicklung und politischen Gestaltung eingetreten ist, welche die Epochen scheidet"
Genau an diesem Punkt gelangte die marxistische Interpretation zur extremen Gegenthese. Die „historische Notwendigkeit" der Reichsgründung und ihre epochale Bedeutung wurden seit Karl Marx nicht in Frage gestellt. Durch die berühmte Argumentation im Brief an Friedrich Engels, daß „die Zentralisation der state power" sich nützlich auf die „Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse" auswirken werde, gewann die Reichsgründung gleichsam einen Stellenwert in der Theorie der sozialen Revolution. Ein preußischer Sieg, schrieb Marx im Juli 1870, würde „den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen" und damit „zugleich das Übergewicht unsrer Theorie über die Proudhons" beweisen Die revolutionären Schüler Hegels glaubten, die „List der Vernunft" zu durchschauen: Bismarck tut, „wie 1866, immer ein Stück von unserer Arbeit, in seiner Weise, ohne es zu wollen" In eine populäre Geschichtsdarstellung umgesetzt, bedeutet dies lediglich eine Kritik an Bismarcks bonaparti-stischen Methoden. Auch Franz Mehring hat in seiner „Deutschen Geschichte", obgleich er das Bismarckreich heftig ablehnte, weil es kein „Reich der Freiheit", sondern ein „Reich der Bourgeoisie" begründet habe, die Revolution von 1848 nur als ein Vorspiel in der Entwicklung auf 1870/71 hin geschildert. Die Hoffnung richtet sich auf die neue Macht der Arbeiterklasse, „die die historische Notwendigkeit der Revolution von oben zu begreifen und die nicht minder zu erkennen verstand, daß sie besiegt werden könne nur durch die Revolution von unten"
Es ist sehr bezeichnend, daß ein nationalliberaler Historiker wie Hermann Oncken den Briefwechsel zwischen Marx und Engels geradezu als Beweis anführen konnte für die weltgeschichtliche Bedeutung der Reichsgründung: „Welch eine geistesgeschichtliche Prognose! Und welch eine Inversion ist für das eigene Bewußtsein von Marx eingetreten: Von dem Einmarsch der deutschen Regimenter in Frankreich erwartet er — und in gewissem Sinne ist diese Prophezeiung eingetroffen — den Sieg des Marxismus, um dieses Wort vorwegzunehmen, in der Welt. Nicht mehr von der kontinentalen Revolution! Man erkennt auch hier, was das Werk Bismarcks für die europäische Geschichte im ganzen genommen bedeutet." Aus solcher Sicht kann Oncken in einem Atemzug mit Marx den Antipoden Leopold von Ranke zitieren; auch der „rückwärtsgewandte Denker" habe seine „Weltgeschichte" mit der Bemerkung vor sich selbst gerechtfertigt, daß erst durch die Entscheidung von 1870/71 in einer neu befriedeten und geordneten Welt eine universale Aussicht möglich geworden, daß erst nach der Niederlage der revolutionären Kräfte eine regelmäßige Fortentwicklung gesichert, ein unparteiischer Rückblick auf die früheren Jahrhunderte gestattet und eine Weltgeschichte im objektiven Sinne möglich geworden sei
Die weltpolitische Perspektive der Reichsgründung
Freilich verbarg sich hinter dieser Würdigung, die bezeichnenderweise in das Jahr 1914 fällt, ein Umschwung in der nationalliberalen Historikerschule selbst, der nach dem Sturz Bismarcks 1890 eintrat und aufs stärkste von der imperialistischen Zeitstimmung beeinflußt wurde. Mit der Entdeckung der weltgeschichtlichen Perspektive der Reichsgründung verband sich die Absage an die Parteihistorie Treitschkes und Sybels und eine Rückkehr zu Ranke als dem Vertreter objektiver und universalhistorischer Geschichtsbetrachtung. Damit rückte die Reichsgründungsgeschichte unter einen doppelt veränderten Aspekt. Das universalhistorische Denken Rankes, das sich an den geschichtlichen Erfahrungen des 17. und 18. Jahrhunderts orientiert hatte, wurde von den Neurankeanern ausgenommen und in ein weltpolitisches Denken umgedeutet, für das die Reichsgründung nicht mehr schlechthin den Abschluß der nationalstaatlichen Geschichte bildete, sondern vielmehr die Grundlage schuf für die imperiale Politik der Wilhelminischen Ära. Das neue Thema der „Geschichte Bismarcks" war die welthistorische Konstellation der großen Mächte, durch deren Umgestaltung erst das Einigungswerk gelingen konnte Mit dieser Fragestellung hängt der zweite Aspekt aufs engste zusammen. Der Anschluß an Rankes „objektiven Realismus“ diente zugleich einer realistischeren Einschätzung der preußischen Großmachtpolitik, als es Sybel von seinem „doktrinären", parteigebundenen Standort aus möglich gewesen sei. Die real-politische, das heißt machtpolitische Komponente in der Entstehungsgeschichte des Reiches tritt in den Vordergrund.
Die Forderung nach unparteiischer Objektivität bezweckte also keineswegs eine kritische Distanzierung zum Werk des „Reichsschöpfers". Max Lenz, einer der Hauptvertreter der Rankerenaissance, hat in diesem Punkt seinen Lehrer Sybel nicht widerlegt. Im Gegenteil:
„Und was unsere Historiker immer behauptet und aus allen Büchern und den Akten selbst bewiesen hatten — daß es Preußens Mission sei, Deutschland zu führen: jetzt war es das deutsche Grundrecht geworden." Die Verteidigung Rankes gegen Sybel war vielmehr zugleich eine Verteidigung Bismarcks. Was Lenz faszinierte, war die Wahlverwandtschaft des historisch-politischen Denkens, das Bekenntnis beider zur Machtgrundlage des Staates. Rankes objektiver Realismus bildete gleichsam die Vorstufe zur Realpolitik Bismarcks. Im Grunde sind es die Maximen der Bismarckschen Staatsanschauung, die Lenz zum alleinigen Wertmaßstab für die Beurteilung der Reichsgründung erhebt
Das Ergebnis war eine neue Interpretation der deutschen Politik Bismarcks. Bei Max Lenz erscheint Bismarck nicht länger als der halb-liberale Reichsgründer, sondern als der preu-ßisch-partikularistische Großmachtpolitiker, der allein den Gesetzen der Staatsraison folgt und die politischen Ideen überall und durchaus den Zwecken der Macht unterwirft: „Der Mann aber, der die deutsche Idee, wo er ihr noch begegnet war, bekämpft hatte, der . verlorene Sohn Deutschlands', wie ihn der alte Führer der Liberalen genannt, er, der nichts als Preußens Macht vor Augen sah, mußte die Nation auf den Weg zurückweisen, auf dem sie in einer tausendjährigen Geschichte . . . Reichtum und Größe erworben hatte." Weit entfernt von einer kritischen Schlußfolgerung, hebt Lenz jedoch den hier konstatierten Dualismus zwischen Staatsraison und Idee sogleich durch einen dialektischen Gedanken-sprung wieder auf. Indem Bismarck den „Machtwillen Preußens" dem „Willen der Nation zur Macht" anpaßte, hat er die deutsche Idee in sein System ausgenommen und sie als Realität, als „Machtfaktor" anerkannt: „So stand er selbst im Dienste der Ideen, die er zu verachten schien." Auf diesem Umweg erscheint auch bei Lenz die Reichsgründung als Synthese von Macht und Geist. Da am Ende die Einheit des „Realgeistigen" wiederhergestellt iss, bestätigt Bismarcks Werk „nur wieder die Wahrheit der Rankeschen Geschichtsauffassung"
Mit dem tatsächlichen Hergang der Ereignisse konfrontiert, ließ sich die vermeintliche Synthese nur mühsam aufrechterhalten. In der Darstellung des Verfassungskonflikts hat Lenz selbst die Machtpolitik Bismarcks kritischer analysiert und seine Regierungsmethoden mit denen des bonapartistischen Systems verglichen. Die „Niederlage" der liberalen Opposition wird offen zugegeben. Nicht der Sieg der Idee brachte die Entscheidung, sondern allein der politische Machterfolg Bismarcks: „Wer sich nicht in unfruchtbare Negation verlieren wollte, mußte dem Bahnbrecher auf seiner Straße folgen. Nur im Anschluß an ihn und die Macht, die er vertrat, war es überhaupt noch möglich, vorwärts zu kommen."
Friedrich Meinecke hat dann in dem ersten seiner drei ideengeschichtlichen Hauptwerke, „Weltbürgertum und Nationalstaat", das Problem der Versöhnung von Macht und Geist bei der Entstehung der deutschen Nationalidee noch einmal differenzierter behandelt. In seinem geistesgeschichtlichen Deutungsversuch wird das verwickelte Ideengeflecht sichtbar, das bei dem Übergang des deutschen Denkens vom Weltbürgertum zum Nationalstaat wirksam gewesen war. In dem abschließenden Kapitel des ersten Teils über „Ranke und Bismarck" sieht Meinecke anders als Lenz nicht in der verwandten Auffassung vom Wesen staatlicher Macht das Verbindende, vielmehr bildet der konservative Nationalstaatsgedanke die Brücke, die von der Romantik, wie zu Ranke, so auch zu Bismarck hinüberführt. Auch Meinecke begrüßt zwar das in der Olmütz-Rede enthaltene Programm Bismarcks, daß der staatliche Egoismus die einzige gesunde Grundlage eines großen Staates darstelle, aber er weigert sich andererseits, mit Lenz zu behaupten, daß Bismarcks Politik „Naturrecht und Romantik völlig überwunden" habe: „denn wo wären geistige Mächte von dieser Kraft und Fruchtbarkeit je völlig überwunden worden. Sie leben weiter in dem, was sie . überwindet', und Ranke, Bismarck, das neue Deutschland, wir alle leben geistig noch mit von ihnen."
Anders als die Neurankeaner hat Meinecke im zweiten Teil seines Werkes zugleich auf Idie Bruchstellen der bundesstaatlichen Verfassung im Verhältnis Preußens zum Reich hingewiesen und in der preußischen Hegemonialpolitik Bismarcks nicht die auf die Dauer einzig mögliche Lösung des Problems gesehen. Indem er nachwies, daß seit 1830 und vor allem 1848 in der liberal-nationalen Bewegung gerade die Auflösung des preußischen Staates diskutiert worden war, hat er zum erstenmal auf das Alternativprogramm der Revolution von 1848 aufmerksam gemacht und das Werk der Paulskirche nicht einfach als Vorstufe zur Bismarckschen Lösung interpretiert — ein Ansatz, der in der Forschung der damaligen Zeit nicht weitergeführt wurde. Die Wendung zur Außen-und Weltpolitik brachte es vielmehr mit sich, daß die innere Problematik des Nationalstaatsgedankens wenig Interesse fand.
Es hängt mit der Apologie der preußischen Machtstaatspolitik Bismarcks zusammen, daß seine Persönlichkeit immer stärker in den Mittelpunkt der Reichsgründungsgeschichte rückte. Durch die Identifizierung Bismarcks mit seinem Werk trat das Kontinuitätsdenken, das in der Begründung des Nationalstaates die Verwirklichung einer seit langem vorausgedachten Idee nachzuweisen suchte, in den Hintergrund Im Bismarckjahr 1915 konnte Johannes Haller seinen Spott über die „superklugen Toren" ausschütten, die bald nach 1871 „mit seichtem Treppenwitz für das Ergebnis natürlicher Entwicklung ausgegeben, was in Wirklichkeit das genaue Gegenteil war, die Tat eines einzelnen und einzigen, die Tat des Genius" Die „Geschichte Bismarcks" von Max Lenz enthält in der Formulierung des Titels — über den biographischen Ansatz hinaus — bereits eine Interpretation. Bismarck wird zum alleinigen Träger des politischen Handelns, weil er allen Widerständen zum Trotz den günstigen politischen Moment zum Vollzüge des „Notwendigen" kühn ergriffen habe „und den König und die Nation, Volk und Regierung für seine heldische Politik entflammte". Die Vorgeschichte des österreichischen und französischen Krieges dient einzig dem Beweis, „daß wiederum er und kein anderer es war, der das Rad des Schicksals vorwärts stieß". Vollends die Herstellung von Kaiser und Reich „war ganz und gar das Werk des einen" Selbst bei Erich Marcks, der in seiner unvollendeten Bismarckbiographie nicht die politische Persönlichkeit, sondern das Individuell-Persönliche des Menschen einfühlsam beschrieb, erscheint Bismarck in den Aufsätzen und Reden der neunziger Jahre als „Verkörperung des preußischen Staates" und als genialer Neubildner des Reiches, ja des deutschen Volkes: „Fürst Bismarck war damals die deutsche Nation", er hat das deutsche Volk „bis in die Tiefen hinein mit seinem Wesen durchtränkt". „Das Reich stand in ihm wahrhaftig da."
Das klingt wie eine Kapitulation der Historiker vor dem Bismarckmythos der Wilhelminischen Zeit. Tatsächlich glaubten die Neurankeaner, auch hier ein wissenschaftliches Ideal zu verteidigen. Indem sie das Wirken der großen schöpferischen Einzelpersönlichkeit in der Geschichte nachwiesen, richteten sie sich zugleich gegen die damals vieldiskutierte kollektivistische und materialistische Geschichtsauffassung, als deren Exponenten Karl Marx und Karl Lamprecht galten. Die „Geschichte Bismarcks" sollte den bekannten Ausspruch Rankes demonstrieren: „Das Größte, was dem Menschen begegnen kann, ist es wohl, in der eigenen Sache die allgemeine zu verteidigen.
Dann erweitert sich das persönliche Dasein zu einem welthistorischen Moment." Bismarck, schrieb Max Lenz, hat die Welt wieder einmal gelehrt, „was die Persönlichkeit in der Geschichte bedeutet"
Dennoch ist nicht zu übersehen, daß die bei Ranke stets festgehaltene Polarität von schöpferischer Persönlichkeit mit Gesamtgeist . und allgemeiner Tendenz der Epoche aufgegeben wird zugunsten einer einseitigen Monumen-talisierung des nationalen Heros, die eher an das bekannte Diktum Treitschkes erinnert, daß „Männer die Geschichte machen". Bismarck wird das „Recht des Kämpfers" zugebilligt, der sich gerade gegen die vom „Parteiinteresse" geleitete öffentliche Meinung durchsetzt, der über den Parteien steht und daher allein das Wohl des Staates vertritt Noch nach dem Zusammenbruch des Bismarck-reiches hat Johannes Ziekursch die Formulierung gefunden, daß Bismarcks Werk lehrt, „was der politische Genius im Widerspruch mit seiner Zeit zu leisten vermag, aber auch, wie die Zeit den Stärksten überwindet"
Andererseits hat das biographische Interesse, das sich nicht allein auf die Persönlichkeit Bismarcks konzentrierte, die Geschichtsschreibung auch wiederum aus dem Bannkreis des Reichsgründers herausgeführt. Hermann On-ckens Biographien über Bennigsen und Lassalle lenkten den Blick zurück auf die allgemeinen Tendenzen der Epoche in der nationalen und der Arbeiterbewegung Auch die Biographie über Wilhelm I. von Erich Marcks hat das Spannungsverhältnis zwischen dem konservativen Altpreußentum und den liberal-nationalen Ideenbewegungen der Zeit, wie es sich in den „hartumkämpften" Entscheidungen Bismarcks in den Auseinandersetzungen mit seinem Monarchen ausdrückte, sehr viel deutlicher sichtbar gemacht als die „realpolitische", nur an Bismarcks außenpolitischen Maximen orientierte Darstellung von Max Lenz
Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges zog Erich Brandenburg, ein Schüler von Lenz, in der zweiten großen Gesamtdarstellung über die Reichsgründung seit Sybel die Bilanz der neuen Forschungsergebnisse Sein nüchternes, mit positivistischer Gründlichkeit gearbeitetes Werk gibt einen Überblick über den Stand der Kontroversen, die Sybels Darstellung korrigierten: die preußische Politik der Revolutionsjahre, die deutsche Politik Bismarcks vor 1866, die Vorgeschichte des österreichischen und französischen Krieges, überall treten die Gegensätze schärfer hervor. Der deutsche Beruf Preußens ist nicht mehr schlechthin identisch mit dem „staatsbildenden Liberalismus". Ob bei Friedrich Wilhelm IV. oder bei Bismarck — ausschlaggebend war jeweils die Verstärkung der preußischen Machtstellung, die zugleich die deutschen Interessen förderte. „Jede Machtsteigerung Preußens kommt Deutschland zugute"; in dieser „spezifisch preußischen Färbung" und nicht im Sinne der Liberalen habe Bismarck „von frühester Jugend an" „deutsch empfunden"
Entsprechend härter fällt das Urteil über die „rücksichtslose Machtpolitik" vor 1866 und 1870 aus, das Sybels These vom „defensiven" Charakter der preußischen Außenpolitik widerlegt. Brandenburg gibt eine detaillierte Schilderung der „waghalsigen", kriegsentschlossenen Osterreichpolitik und der „raffinierten" und „skrupellosen" Verhandlungstaktik Bismarcks gegenüber Napoleon III. Freilich werden die Mittel zum Zweck, auch die „Künste der Intrige und der Irreführung des Gegners" mit der „Verantwortungsfreudigkeit" des Staatsmannes gerechtfertigt, dem die persönliche Macht niemals Selbstzweck gewesen sei
Der Schwerpunkt der Brandenburgschen Darstellung liegt ganz im Sinne der Neurankeaner auf der Außenpolitik und der Diplomatiegeschichte. Es wird eine Fülle von Fakten ausgebreitet — vor allem über das preußisch-französische Verhältnis in den Jahren 1863 bis 1866, über Nikolsburg und den Ursprung des Annexionsgedankens, über die Verhandlungen mit den süddeutschen Staaten und ihren Eintritt in das Reich —, die bis heute eine unentbehrliche Grundlage bieten.
Untersuchungen über die Innenpolitik zählt Brandenburg vorerst zu den Desiderata. Vor allem bedauert er das Fehlen einer Parteigeschichte und einer Darstellung über die Politik der Mittelstaaten. Er selbst hat die Akzente vorsichtiger gesetzt als Max Lenz. Nicht nur den Anteil der leitenden Staatsmänner, sondern auch „die Mitwirkung der im deutschen Volke lebendigen nationalen Gesinnungen und Kräfte" will er berücksichtigt wissen. Bismarck habe die Lösung der deutschen Frage nicht selbst erfunden, sondern mit der Gründung des kleindeutschen Bundesstaates nur das verwirklicht, was „aus dem großen Ideen-vorrat des Jahres 1848 stammte". Trotz dieser Einschränkung hält Brandenburg daran fest, daß seine Leistung „die verhältnismäßig größte" war, weil er mit der „ungebrochenen Kraft des Entschlusses" aus der Fülle der vorhandenen Möglichkeiten diejenige herausgegriffen habe, die nach der Lage der tatsächlichen Machtverhältnisse allein verwirklicht werden konnte
Die Entstehung des Nationalgefühls selbst ist wiederum nur eine Folge der außenpolitischen Ereignisse, ein Ausdruck des Willens zur staatlichen Machtbehauptung in den „Massen des Volkes". Anders als bei Meinecke, dessen ideengeschichtliche Deutung Brandenburg ablehnt, entsteht das Bewußtsein nationaler Zusammengehörigkeit nicht durch eine „Selbstentwicklung der Idee", sondern durch „elementare, das Volk in seinen Tiefen aufwühlende politische Ereignisse". Nur wenn der Druck einer größeren äußeren Gefahr zur Selbstbesinnung treibt — wie in den Freiheitskriegen —, verdichtet sich das bloße Nationalgefühl zu politischen Forderungen, „ja schließlich zu einer das ganze Staatsleben unseres Volkes umgestaltenden Macht"
Offensichtlich wirkt in dieser Schilderung einer nationalen Volksbegeisterung die Kriegsstimmung des Jahres 1914 nach. Der Einfluß des Kriegserlebnisses wird an vielen Stellen des Buches deutlich sichtbar. 1914 gewann das Thema der Reichsgründung eine erhöhte Aktualität, denn ihre weltgeschichtliche Bedeutung, die seit 1890 in der Historie propagiert worden war, schien jetzt gleichsam auf die Probe gestellt. Wie in den während des Krieges erschienenen Bismarckaufsätzen von Max Lenz, der den Weltkrieg „im Spiegel Bismarckischer Gedanken" zu deuten versucht besteht auch bei Brandenburg die Tendenz, zwischen der Reichsgründung und dem Kriegsausbruch einen notwendigen Zusammenhang zu demonstrieren. Schon Bismarck, der den kleindeutschen Nationalstaat in die europäische Mächtekonstellation einführte, gab ihm die „Stellung einer Weltmacht", die den „Ausgangspunkt" für den „Weltkampf" von 1914 bildet Daher eröffnet bereits die Reichs-gründung die Ära der imperialen Weltpolitik. Zugleich verteidigt Brandenburg ein letztes Mal beharrlich die kleindeutsche Lösung Bismarcks gegen die nach 1914 wieder auftauchenden mitteleuropäisch-großdeutschen Pläne: „Das kleinere Deutschland muß bleiben, was es 1871 geworden ist, wenn wir nicht alle die Kämpfe und Irrungen noch einmal heraufbeschwören wollen, die unsere Väter durchgemacht haben . . ." Auch aus der erweiterten „weltpolitischen Perspektive" der Reichsgründung bleibt die deutsche Geschichte „auf 1870/71 orientiert".
Kontinuität oder Revision des nationalen Geschichtsbildes?
Die ungeheure psychologische Schockwirkung der Niederlage von 1918 auf die unbedingten Verteidiger des Bismarckreiches ist oft beschrieben worden. „Heute ist der Traum aus-geträumt", resignierte Max Lenz 1919, „von der Höhe, auf der wir schon sicher zu wandeln wähnten, sind wir in die Tiefe des Abgrundes hinabgerissen worden" Die bis dahin so verführerische Anwendung des Erfolgsmaßstabes in der deutschen Geschichtsschreibung rächte sich bitter. Mit dem Zusammenbruch des Bismarckreiches durch Krieg und Revolution schien zugleich der „Sinn der deutschen Geschichte" zerstört. Da durch den revolutionären Bruch mit der Vergangenheit das Kontinuitätsdenken gewissermaßen in Widerspruch zu sich selbst geriet, war eine Revision des Geschichtsbildes scheinbar unver-meidlich geworden. Dennoch blieb die Reaktion bei der Mehrzahl der Historiker zwiespältig. Restaurative Tendenzen einerseits, die das Erbe von 1871 zu bewahren suchten, und die Hoffnung auf die Wiedererweckung des groß-deutschen Gedankens andererseits, die eine Möglichkeit eröffnete, der Niederlage doch noch einen „Sinn" abzuringen, durchkreuzten vielfach die kritische Besinnung auf die Ursachen des Zusammenbruchs.
Die nationalkonservative Frontstellung — nach innen gegen die Parteienherrschaft der ehemaligen „Reichsfeinde", denen das Bismarckreich „ausgeliefert" worden sei nach außen gegen die übernationale Staatenordnung des Völkerbundes, gegen die „Träumer vom ewigen Frieden und ewiger Gemeinschaft der Völker" — bewirkte bei Historikern wie Max Lenz und Erich Marcks, daß nun erst recht der nationale Machtstaat zum absoluten Wertmaßstab erhoben wurde. Zwar wurde die Vergröberung des Machtgedankens vorsichtig kritisiert, aber Bismarck blieb doch der große Lehrmeister, der Macht und Ideal in Einklang gebracht habe, für den Macht „die notwendige Form aller Politik, aller nationalen Selbstbehauptung“ bedeutete Das stolze Erbe von 1871 wird zum Vermächtnis, zur „Kraftquelle" für die eigene düstere und trostlose Gegenwart; allein die Vergangenheit gilt als „einziger sicherer Besitz". Für Marcks liegt gerade die Aufgabe des Historikers darin, als „Herold" der „Größe" vergangener Zeiten die Tradition zu bewahren, den „Staatsund Reichsgedanken" und „seine Pflichten" festzuhalten „über allen Rechten der einzelnen und der Gruppen" So bildet die Reichs-gründung auch weiterhin bis zu dem Alters-werk über den „Aufstieg des Reiches", die „Grundlage alles nationaldeutschen Staatslebens", ein „stählernes Glied in der Kette unserer Geschichte", die „stolze Sonnenhöhe"
der nationalen Entwicklung
Mit Recht hat ein liberal-demokratischer Historiker wie Walter Goetz schon in der Zeit der Weimarer Republik den Widersinn eines rein restaurativen Kontinuitätsdenkens kriti-siert, das sich den Problemen der neuen Zeit verschließt und „über allem Reden und Schreiben vom geschichtlich gewordenen organischen Staate den lebendigen Staat und seine Weiterentwicklung ganz vergißt" Aus dem Blickwinkel der politischen Gegenwart fordert er eine sachliche Loslösung von festverwurzelten Gedankengängen und eine Besinnung auf die demokratische Tradition der Revolution von 1848 — freilich, ohne Gefolgschaft zu finden. Die große Darstellung über 1848 von Veit Valentin, die immerhin von Erich Marcks angeregt worden war, erschien erst 1930/31 und fand in der Fachhistorie nicht mehr die Würdigung, die sie verdient hätte
Unter den nationalkonservativen Historikern haben vor allem Friedrich Meinecke und Hermann Oncken den schwierigen und mühsamen Versuch unternommen, im Geist der historischen Tradition zugleich den neuen Zeitideen der Gegenwart gerecht zu werden und von hier aus das überlieferte Bild des Bismarckreiches kritisch zu überprüfen. Beide lehnen die „Kanonisierung des nationalen Entwicklungsprozesses" vom Endziel 1870/71 her ab Oncken weist mit Nachdruck darauf hin, daß die kleindeutsche Lösung nicht als „die einzig mögliche Anschauung deutscher Geschichte" zu gelten habe, denn wie alle historischen Gebilde so könne auch das Bismarckreich keinen absoluten Wert besitzen. Die Reichsgründung ist ihm gerade darin Vorbild und „Erfüllung" — an diesem Glauben hält er allerdings fest —, daß sie die beste Verbindung von „alten historischen Gewalten, und den neuen Triebkräften der Zeit" darstellte Meineckes Urteil fällt noch erheblich skeptischer aus. In der nüchternen Bilanz seiner kleinen Schrift „Nach der Revolution" spricht er offen von den „alten unwiderruflich zerschlagenen Formen des Herrschaftsstaates" Hatte er schon in seinem Buch „Weltbürgertum und Nationalstaat" eine Kritik an der Stellung Preußens im Bundesstaat von 1871 angedeutet, so verschärfte sich jetzt der Blick für die verfassungspolitische Problematik und die sozialen Spannungen in Staat und Gesellschaft des Kaiserreiches. Mit einem für seine konservative Grundhaltung erstaunlichen Radikalismus schildert Meinecke die Schattenseiten des preußisch-deutschen „Obrigkeitsstaates", wie sie bisher nur von der linksliberalen und sozialdemokratischen Opposition angeprangert worden waren. Meinecke scheut nicht davor zurück, die marxistische Kritik ernst zu nehmen, und er stimmt niemand geringerem als Friedrich Engels zu, wenn er ausführt, daß Bismarck die Massenkräfte des modernen Sozial-und Wirtschaftslebens, die doch sein Reich erst zur Geltung brachte, falsch eingeschätzt und „die von ihm selbst geschaffene geschichtliche Lage nicht begriffen" habe Sein Werk, obgleich „ein Wunderwerk von Zusammenfassung staatlicher und nationaler, alter und neuer geschichtlicher Kräfte", bewahrte doch zugleich einen „starren und harten Rest von Obrigkeitsstaat", der eine nationale Kohärenz verhinderte. Die Schwäche des Bismarckreiches lag in seiner sozialen Begrenztheit von Adel und Offizierskorps als tragender Schicht, der sich das obere Bürgertum aus politisch-militärischem Schutzbedürfnis, aber auch aus sozialem Klasseninteresse nur allzu bereitwillig anglich. Die Folge war eine „hart konservative und militaristische Färbung der nationalen Idee", die „Verengung und Vergröberung des nationalen Denkens zum nationalistischen Denken" Meinecke berücksichtigt damit zum erstenmal die Frage nach den sozialen Trägern der nationalstaatlichen Idee und nach dem sozialen Aufbau der nationalen Gesellschaft im Kaiserreich — ein sozialgeschichtlicher Aspekt, den er allerdings nicht weiterverfolgt und der erst nach 1945 wiederaufgenommen wurde.
Meineckes großes Hauptwerk der Zwischenkriegszeit, „Die Idee der Staatsräson", hat die Diskussion über den preußisch-deutschen Machtstaat in eine andere Richtung weitergeführt Das Thema des Buches ist eine ideen-geschichtliche Analyse über das Wesen der Macht, deren Idealisierung bei Hegel, Ranke und Treitschke gleichsam zurückgenommen wird. In scharfer Selbstkritik bezieht Meinecke die Gegenposition zur Hegelrenaissance in der Weimarer Republik, aber auch zu dem eigenen Werk „Weltbürgertum und Nationalstaat aus der Vorkriegszeit. Der idealistische Glaube an die Identität des Wirklichen mit dem Vernünftigen, das heißt dem sittlichen Staat, weicht der pessimistischen Einsicht in die „Dämonie der Macht" und die dualistische Spannung zwischen ethischen Normen und politischem Handeln, Staatsräson und Humanität. Mit der Besinnung auf die geistesgeschichtlichen Wurzeln des übersteigerten deutschen Machtstaatsdenkens berührte Meinecke zugleich einen zweiten Problemkreis, den geistig-kulturellen Gegensatz zwischen Deutschland und Westeuropa, der in den zwanziger Jahren zu einem Kernthema der Revisionsdebatte wurde. Es sei hier nur an Ernst Troeltsch erinnert, der das Thema „Deutscher Geist und Westeuropa" in den Mittelpunkt seiner Kulturphilosophie stellte. Unmittelbar auf die Reichsgründung bezogen, wurde diese Fragestellung in der Diskussion über die „Ideen von 1871" ausgenommen, die allerdings von vornherein damit belastet war, daß sie nicht im Sinne von Meinecke und Troeltsch eine Klärung der eigenen historischen Traditionen im Vergleich mit der rationalen Geschichts-und Staatsauffassung des Westens bewirkte, sondern eher zu einer noch einseitigeren Betonung der spezifisch deutschen Staatsform führte, sei es in kritischer oder apologetischer Absicht. Immerhin beweist die Debatte, daß die alte Ansicht von der Reichs-gründung als der Synthese von Macht und Geist zumindest problematisch geworden war.
Den schärfsten Angriff führte Helmuth Pless-ner in seinem 1935 erschienenen Buch, das in Anlehnung an Nietzsche die These von der „verspäteten Nation" aufstellte, die die geschichtliche Verzögerung ihrer staatlichen Gründung nicht mehr einzuholen vermochte und so den Anschluß an die politische Aufklärung und den Humanismus der westeuropäischen Staaten verpaßte Aus der Verbindung widersprüchlicher Traditionen — des romantischen Reichsgedankens einerseits und des preußischen Staates andererseits, dessen politischer Aufstieg sich gerade gegen das Reich vollzogen hatte und der durch die konfessionelle Gegenstellung zum Kaiser, durch territoriale Begrenztheit und Landesfürstentum eine eigene Staatsidee nicht entwickelte — entstand „im europäischen Raum eine Großmacht ohne Staatsidee'1 Diese historisch undifferenzierte Analyse enthielt aber im Grunde nur die Umkehrung der hegelianischen Staatsauffassung, und ein konservativer Historiker wie Otto Westphal hat dann auch aus derselben Perspektive den entgegengesetzten Schluß gezogen. Gerade die rein staatliche Begründung des Bismarckreiches gilt ihm, dem der Staat eine „Veranstaltung des objektiven Geistes" geblieben war, als Verwirklichung der „Idee". Gegen den kulturphilosophischen Pessimismus Nietzsches führt er die These von der Eigengesetzlichkeit der Politik ins Feld und kommt zu der dogmatischen Folgerung, daß die Geschichte als Geschichte des Staates ihrem Wesen nach „politische Geschichte und nur politische Geschichte" sei und bleiben müsse
Am konkreten Beispiel der Verfassungssituation des Reiches hat dann Johannes Ziekursch in seiner Darstellung über die Reichs-gründung den westlichen Demokratiebegriff als Modell benutzt, um nachzuweisen, daß die „angeblich spezifisch deutsche Staatsform" der konstitutionellen Regierung über den Parteien im Widerspruch gestanden habe zu dem „die Welt erfüllenden demokratischen Zeitgeist" Die Reichsverfassung von 1871, die zwar das Parlament weitgehend entmachtete, ihm aber zugleich mit dem allgemeinen Wahlrecht eine Waffe lieferte, die Bismarcks Werk aus den Angeln heben sollte, erscheint ihm als unsichere Kompromißlösung, die nicht nach den Wünschen der Mehrheit des deutschen Volkes ausfiel, sondern allein auf die persönlichen Machtinteressen des Reichskanzlers zugeschnitten war. Das erinnert an die marxistische Kritik des „Scheinkonstitutionalismus"
und der bonapartistischen Methoden Bismarcks;
aber andererseits fällt Ziekursch immer wieder in die Sprache der Bismarck-Legende zurück, wenn er die „dämonische Genialität", den „politischen Genius", den „Mann der Tat"
oder auch die „Heroenzeit Bismarcks" rühmt.
Der zwiespältige und unausgeglichene Stil charakterisiert auch die berühmte und vielzitierte These der Einleitung in ihrer Mischung aus Pathos und Kritik: „Dem Geist der Zeit entgegen wurde die stolze Burg des neuen deutschen Kaiserreiches erbaut, nicht wie fast alle Monarchien im Laufe der Weltgeschichte durch einen genialen Herrscher geschaffen, auch nicht von einem Volke in revolutionärem Sturm gegen Fremdherrschaft und Tyrannenmacht erkämpft, sondern ein preußischer Edelmann, Otto von Bismarck, hat mit Titanenkraft das neue Reich errichtet."
In der nationalsozialistischen Geschichtsschreibung wurde dann auch Ziekurschs These in ihr Gegenteil verkehrt. In einer Rezension hat Egmont Zechlin 1935 Ziekurschs Verfassungsinterpretation mit der Auffassung von Carl Schmitt verglichen, der gleichfalls, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, den „dilatorischen Formelkompromiß" des Konstitutionalismus kritisierte, die „verhängnisvolle" Unterwerfung des preußischen Soldatenstaates und Soldaten-volkes unter die politischen Machtansprüche und Verfassungsbegriffe des liberalen Bürgertums Zechlin vermittelt zwischen den verschiedenen Ansichten und rechtfertigt seinerseits das Bündnis Bismarcks mit der national-liberalen Bewegung als eine „Kampfgenossenschaft", die fallen mußte, als ihr Ziel erreicht war: „Es ist die Tragik der deutschen Staats-entwicklung, daß sie hin und her gestoßen wurde zwischen den westeuropäischen liberal-demokratischen Verfassungsbegriffen und aus den deutschen Verhältnissen und Ideen kommenden Ansätzen, die sich mit dem Führerprinzip und der Berutsethik des preußischen Soldatenstaates zu organischem Aufbau hätten verbinden können." Bismarcks berufsständische Pläne, die im Obrigkeitsstaat von 1871 scheiterten, erscheinen als Ausweg, um den Staat, der als „das sittlich Ganze" für sein Dasein kämpft und diesem Existenzkampf alle individuellen und sozialen Bestrebungen autoritär unterwirft, dennoch mit der „Volksgemeinschaft" funktionell zu verbinden — eine „Überwindung des Parteiwesens", die erst dem Nationalsozialismus habe gelingen können.
So aber geriet die Diskussion über die „Ideen von 1871" in den Sog der NS-Ideologie. Der „Genius" Bismarcks wurde von dem „Geist der Zeit" überwunden, weil sein Reich im Zeitalter der Massendemokratie an dem „Mangel eines sozialen Ideals" und an dem „Mangel eines völkischen Ziels" zerbrechen mußte Erst das Dritte Reich findet nach dieser Interpretation die Synthese zwischen Macht und Geist, das heißt zwischen Führerstaat und deutschem Volkstum.
Es wird im folgenden zu zeigen sein, daß auch die Diskussion über die außenpolitische Stellung des Bismarckreiches, die mit der von allen Parteien und Richtungen vertretenen Anschlußforderung Deutsch-Osterreichs einen politisch höchst aktuellen Bezug gewann, schließlich von der nationalsozialistischen Geschichtsschreibung aufgegriffen wurde. Ließ sich der Bruch in der innenpolitischen Entwicklung nur durch ein restauratives Wunschdenken überbrücken, das die Realität von 1918 ebenso mißverstand wie die Wende von 1933, so konnte die außenpolitische Katastrophe von 1918/19 in ein schicksalhaftes Geschehen um-gedeutet werden, das trotz allem den inneren Zusammenhang der Epochen wiederherzustellen schien. Für Hermann Oncken liegt der „Sinn der deutschen Geschichte" in der über alle Verluste immer wieder neue und reichere Möglichkeiten erschließenden Dynamik des „dauernden Werdens", das nun, nach dem Zusammenbruch von 1918 die „Wiedergeburt der großdeutschen Idee" als „reichste Frucht" des nationalen Unglücks eingebracht habe Die deutsche Geschichte wird zum „Schicksal“, zur leitenden „Schicksalsmacht", deren geheimnisvoller „Sinn" und deren „Ziele" aus der Betrachtung der besonders durch die „Mittellage bedingten Auf-und Niedergänge von Zeit zu Zeit herausgeahnt werden können" Im „Auf-und Niedergang des deutschen Schicksals" bildet die Reichsgründung eine „Durchgangsstufe" zur Vollendung des Nationalstaats So entsteht eine modifizierte teleologische Geschichtskonzeption, die zwar das Bismarckreich als vergängliches historisches Gebilde wertet, aber zugleich an der Verabsolutierung der Nation, die sich in der Stufenfolge der deutschen Geschichte in immer neuen und höheren Formen verwirklicht, festhält. Die „tragische" Notwendigkeit der kleindeutschen Lösung Bismarcks, die erst die Voraussetzung schuf für die höhere Stufe der Selbstrealisie-rung der Nation, wird auch jetzt nicht in Frage gestellt
Dennoch hat die Auseinandersetzung um das Problem der außenpolitischen Kontinuität der deutschen Geschichte das Urteil über die politische Zielsetzung Bismarcks in einem entscheidenden Punkt differenziert. Sowohl Oncken wie Meinecke haben den Rhythmus der nationalen Entwicklung, das „rätselhafte Fluten und Nicht-zur-Ruhe-Kommen“ im schicksalhaften Geschichtsverlauf auf eine gleichbleibende außenpolitische Bedingtheit zurückgeführt, auf das seit dem Mittelalter geltende „Lebensgesetz der geographischen Mittellage" des Reiches Trotz der scharfen Kritik am preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat kommt Meinecke von hier aus doch zu dem Schluß, daß es kein „Irrlicht“ gewesen sei, sondern „Schicksal", das die deutsche Geschichte auf den Weg zum einheitlichen Machtstaat führte: „Es war die geopolitische Lage Deutschlands in Mitteleuropa, die uns die Alternative aufzwang, entweder Depressionsgebiet zu bleiben oder Machtstaat zu werden.“ Obgleich damit die Reichsgründung erneut unter den Primat der Außenpolitik gestellt wird, die das innenpolitische „Schicksal" allein bestimmte — Oncken lehnt in diesem Zusammenhang die „vereinfachenden Methoden sozialer und soziologischer Theorien" ausdrücklich ab —, gelingt es der vergleichenden Analyse dennoch, Bismarcks Lösungsversuch nicht allein unter dem machtstaatlichen Aspekt zu deuten.
Oncken entdeckt die konservativen Züge im außenpolitischen System Bismarcks, das er mit dem konservativen Staatensystem Metternichs vergleicht Wie der Begründer des Deutschen Bundes stand Bismarck von 1866 bis 1871 vor der Aufgabe, durch die Neuorganisation der deutschen Mitte zugleich eine europäische Friedensordnung zu schaffen. Das deutsch-österreichische Bündnis von 1879 be-stätigt, daß Bismarck beide Traditionen verband, die konservative, mitteleuropäisch orientierte Politik Metternichs und die Politik des geschlossenen kleindeutschen Nationalstaats. Bismarck erscheint nicht mehr als rücksichtsloser Gewaltpolitiker, der nur im Sinn der preußischen, das heißt deutschen Machtinteressen handelte, vielmehr wird hinter dem deutschen Reichsgründer der „konservative Staatsmann" sichtbar, „ein guter Europäer von universalem Weitblick und tiefem Verantwortungsgefühl". Schon 1870/71 sei es Bismarcks Ziel gewesen, die gewonnene Macht der Mitte zur Sicherung des europäischen Friedens zu nutzen Gerade im Hinblick auf den „Realismus Bismarckschen Stiles" hat Oncken wie auch Meinecke aus der geschichtlichen Erfahrung zugleich die politische Konsequenz gezogen und die Locarnound Völkerbundspolitik der Weimarer Republik anerkannt.
Die Gegenüberstellung und Würdigung der beiden Lösungsversuche der deutschen Frage durch Metternich und Bismarck war zugleich ein Ergebnis der „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung", ein von dem österreichischen Historiker Heinrich von Srbik geprägter Ausdruck für ein neues Geschichtsbild, in dessen Mittelpunkt die politische Organisation „des deutschen Volkes" in Mitteleuropa stand, die nicht mehr einseitig vom kleindeutsch-preußischen oder großdeutsch-österreichischen Standort aus, sondern aus „gesamtdeutscher" Sicht verstanden und bewertet werden sollte. In diesem Deutungsversuch, der nicht allein den nationalstaatlichen Zusammenschluß gelten ließ, sondern auch die universalistisch-mitteleuropäische Tradition des alten Reiches, die der Deutsche Bund als Erbe übernahm und fortführte, zum gleichwertigen Maßstab erhob, wurde die kleindeutsche Vorgeschichte und Geschichte der Reichsgründung erweitert durch die Frage nach der Wirkung der 1866 „besiegten Idee". Die beiden großen Gesamt-darstellungen über die Reichsgründung aus der Zeit nach 1918, Erich Marcks’ Alterswerk „Der Aufstieg des Reiches" und Srbiks vier-bändige Darstellung über die „Deutsche Einheit", haben sich von verschiedenen Ausgangs-stellungen her mit eben diesem neuen Aspekt auseinandergesetzt Für Marcks steht weiterhin der Staat und die „Verkörperung des Staates" durch Bismarck im Mittelpunkt; Srbik bekennt sich von vornherein zu dem neuen völkischen Ideal: Das „deutsche Volk und die deutsche Erde" bedeuten ihm „höchste Wirklichkeit und höchsten Wert" , In beiden Werken — bei Marcks in der Verabsolutierung des autoritären Staatsgedankens, bei Srbik in der Hervorhebung des Volksprinzips — zeigt sich die Annäherung des nationalkonservativen Denkens an den Nationalsozialismus.
Es ist dennoch nicht zu verkennen, daß die gesamtdeutsche Geschichtsbetrachtung bei aller Fragwürdigkeit ihrer Ideologie zu einer Verbreiterung des methodischen Ansatzes führte, die im Verdikt der modernen Strukturgeschichte über die politische Ereignisgeschichte der älteren Forschung gemeinhin übersehen wird. Srbik wie Marcks lehnen die rein etatistische, diplomatiegeschichtlich orientierte Darstellung eines Erich Brandenburg ab. Marcks will die „Gesamtentwicklung des deutschen Daseins" schildern, freilich auch weiterhin unter dem beherrschenden Gesichtspunkt „des staatlichen Werdens", für das alle anderen „Kräfte notwendiger Mitwirkung" in Wirtschaft, Gesellschaft, Verfassung und Geistesleben nur „Tragekräfte" und „Wesensergänzungen" bilden Srbiks Ziel ist es, „die Ganzheit des über den Staaten lebenden deutschen Volkes" „seelisch-politisch zu verstehen", eine „deutsche Volksgeschichte" also, die nicht nur unter dem historisch-politischen und ideengeschichtlichen Aspekt, sondern auch unter dem geopolitischen, wirtschafts-und 2 sozialgeschichtlichen Gesichtspunkt untersucht r werden soll
I Das Kernthema beider Darstellungen bildet ) das österreichisch-preußische Problem, verknüpft mit der „geopolitischen Schicksalslage" [Deutschlands in der Mitte Europas Gerade aus der „räumlichen, völkischen" und „staatlichen" Sicht der gesamtdeutschen Geschichtsbetrachtung kommt Marcks zu dem Resultat, daß der „Reichsaufstieg" zur kleindeutschen Einheit ein „Sachbestand der Wirklichkeit" sei, der nicht hinwegdiskutiert werden könne, auch wenn er sich zu der Einsicht durchringt, daß die Trennung von Österreich 1866 nur „eine Stufe der deutschen Entwicklung"
bildet, von der „auch der jene Notwendigkeit Anerkennende sehnsüchtig hofft, daß sie zu Bildungen gesamtdeutscher Zukunft empor-führen werde" Die Gliederung der Darstellung in eine „Stufenfolge" der politischen Aufwärtsentwicklung bis zum „geschichtlichen Gipfelpunkt" der Reichsgründung — die Metaphern „Stufe", „Vorstufe", „Zwischenstufe", „Durchgangsstufe" werden ermüdend häufig benutzt — ist charakteristisch für die zielbestimmte Wertung von Marcks.
Bezeichnenderweise beginnt die notwendig auf 1871 hinführende Entwicklungslinie mit der preußischen Reformzeit, die von vornherein den „Vorsprung" Preußens vor Österreich festlegt. Die Wiederherstellung der Staatenwelt Europas 1815 und die „Friedensordnung" Metternichs wird zwar eingehend gewürdigt, aber andererseits vertritt Marcks gegen Srbik die Ansicht, daß die großdeutsch-mitteleuropäischen Pläne — „wenn sie je bestanden"! — kaum entfaltet worden seien. Der Deutsche Bund blieb „leere Schale", während Preußen seit 1807 und 1813 „die lebendigste nationale Kraft" verkörperte, die allein in die Zukunft wies: „Es geschah, was geschehen mußte." Der wirtschaftspolitische Aufschwung Preußens im „Mitund Gegeneinander der deutschen Staaten", die Gründung des Zollvereins, die außenpolitischen Ereignisse der vierziger Jahre, die Revolution von 1848 als die notwendig scheiternde „Vorstufe" zur Reichs-gründung, zerschlugen die zusammenhaltende Macht des konservativen Systems Metternichs. Der „deutsche Gang" konnte sich nur gegen Habsburg vollziehen, auch wenn Österreich „völkisch, seelisch, kulturell" zur deutschen Welt gehörte: „So stand es in den Sternen geschrieben."
Das teleologische Kontinuitätsdenken wird hier und an vielen anderen Stellen von einem pathetischen Schicksalsglauben überlagert, der die Reichsgründungsgeschichte in eine säkularisierte Heilsgeschichte verwandelt. Bismarck erhält messianische Züge, die an den Führer-kult nach 1933 erinnern: „Und die Geschichte der Reichsgründung erweitert sich oder verengert sich seit seinem Eintritte in die Macht fast zur Geschichte Bismarcks: dessen, der alles gewollt und alles getan hat, der dann alles verkörperte, die werdende und die erstandene Nation; dessen Staatsmannschaft sich als souveräne Gewalt über alle anderen hob. . .. Wer die Wirklichkeit nicht verstümmeln will, muß da die persönliche des obersten Führers in die, vor die erste Reihe stellen, als handelnde und schaffende Macht ganz für sich allein.
Bei der Deutung der Bismarckschen Außenpolitik in den „Gipfeljähren der Reichsgründung" 1864 bis 1870 schildert auch Marcks den „konservativen Revolutionär", der zwar den Deutschen Bund zerschlug, der aber dennoch als Nachfolger Metternichs und „aller großen europäischen Staatsmänner“ „in vollem Bewußtsein europäisch orientiert" war und seine Pläne und Ziele „in den Rahmen eines bleibenden Europas" stellte Entsprechend wird das „Rätsel der dualistischen Politik“ vor 1866 sehr vorsichtig umschrieben und „ein gut Stück anständiger Ernsthaftigkeit" in dem Verständigungsversuch mit Österreich nicht ausgeschlossen, auch wenn Marcks immer wieder betont, daß Bismarck in den Jahren 1863 bis 1865 wie beim deutsch-österreichischen Bündnis 1879 „großmächtliche und nicht groß-deutsche Politik" betriebn Der Deutsch-Französische Krieg erscheint als ein bellum iustum für „das innerste Lebensrecht des wiedererstandenen Deutschlands" und gegen den Expansionstrieb Frankreichs, der die europäische Ordnung zu zerstören drohte
Die bei Srbik aufgezeigten Entwicklungslinien, die auf das „Schicksalsjahr" 1866 und den Ausschluß Österreichs hinauslaufen, werden dagegen von dem Leitgedanken bestimmt, daß „die mitteleuropäische Idee" eine „Notwendigkeit" für das deutsche Volk, ja für die Welt bedeutete und bedeutet Insofern entwirft Srbik ein Gegenbild zur Darstellung von Marcks, obgleich auch er die Unvermeidlichkeit der kleindeutschen Nationalstaatsgründung -— nicht als „Enderfüllung" und „Lösung des ewigen deutschen Problems", wohl aber als „bedeutsame Wegstrecke" zur gesamtdeutschen Einigung — anerkennt Es geht ihm nicht darum, politische Alternativmöglichkeiten herauszufinden — Srbik teilt durchaus Marcks'Ansicht über den „Sachbestand der Wirklichkeit" —, sondern darum, die Berechtigung der „tragenden Ideen",, in dem Nebeneinander, Nacheinander und Gegeneinander des universalen, des mitteleuropäischen und des nationalstaatlichen Moments" nachzuweisen Von dieser Zielsetzung her gliedert sich die Darstellung, eine von der mitteleuropäischen Idee her gesehene absteigende Linie: Der römisch-deutsche Reichsgedanke weicht dem säkularisierten Gedanken einer Staaten-gesellschaft in einem politisch-föderierten Mitteleuropa unter österreichischem Primat im Zeitalter Metternichs; 1848 verteidigt Schwarzenberg mit seinem gesamtösterreichisch-mitteleuropäischem Projekt — „eine Idee von erstaunlicher Kühnheit" — das alte universalistische Erbe gegen die „lebendigen Zeit-kräfte"; nach Olmütz und Dresden wandelt sich der politische in den ökonomischen Mitteleuropaplan — an dieser Stelle wird übrigens auch das wirtschaftspolitische Ringen um die Zollunion ausführlich geschildert —; im erneuerten Bund bewahren die Bundesreform-pläne Österreichs und der Mittelstaaten trotz der einzelstaatlichen, partikularistischen und trialistischen Tendenzen die „gesamtdeutsche"
Tradition. Schließlich folgt als großer Höhe-punkt der Frankfurter Fürstentag 1863, „der letzte von Ernst und echter Tragik erfüllte großdeutsche, von Österreich geleitete Versuch, dem alten Bund neue Lebenskräfte einzuflößen." „In Frankfurt suchte noch einmal die deutsche Vergangenheit den Weg zur Zukunft und konnte ihn nicht finden." Nach der „Atempause" der preußisch-österreichischen Allianz in der Schleswig-Holstein-Frage fällt die „Entscheidung" im „Bruderkrieg" von 1866: „Mitteleuropa droht in Flammen aufzugehen."
Das zusammenfassende Urteil über das 1871 gegründete Reich ergibt sich aus der Differenz der Themenauswahl und des Wertmaßstabes. Auch Marcks verschließt sich nicht der Problematik des neuen Nationalstaats, dessen gesellschaftliche Spannungen und dessen außenpolitische Bedrohungen im „Zeitalter der Massen-gewalten" das erreichte Ziel doch wieder in Frage stellen. Der Niedergang der bürgerlichen Kultur, die „ihre bestimmende schöpferische Kraft verlor", wird zum Signum der Jahre nach 1871, so daß von einer Synthese von Macht und Geist nicht mehr länger die Rede sein kann Dennoch nimmt Marcks seine kritischen Vorbehalte wieder zurück, wenn er den Bruch Bismarcks mit dem liberalen Bürgertum 1878/79 als „erste große Wende auf das Heute zu" begrüßt, weil damals „der reine Staat mit seinem Heere und seiner Politik als eigentlicher Führer des Einheitswerks voran trat — der Staat in der Persönlichkeit Bismarcks" Seine „Führerschaft" garantiert allein über alle sozialen und politischen Spannungen hinweg die Einheit der Nation, die er verkörpert.
Daß hier das Führerprinzip als der Weisheit letzter Schluß gepriesen wird, erscheint uns heute bedenklich genug. In letzter Konsequenz führte diese Deutung zur nationalsozialistischen Interpretation der Reichsgründung, die nur noch das „Reich als Tat" feierte, die alles historische Kontinuitätsdenken, als habe Bismarck lediglich den Einheitstraum der Nation verwirklicht, über Bord warf, und die „einsame Größe der Führertat", die — nach Alfred Baeumler — Bismarck mit Hitler verbindet, al-lein gelten ließ Ein nationalsozialistischer Historiker wie Christoph Steding, Mitarbeiter Walter Franks am „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland", lehnte dann auch die Kulturkritik am Bismarckreich als „unpolitisch" ab: „Bismarck ist der deutsche Gedanke als politische Tat." In diesem Sinn wird die Kluft zwischen „Macht" und „Geist" überwunden. Die „große Tat" einer neuen Reichsschöpfung lege zugleich den Grund für eine neue „schöpferische Kultur": „Der Nationalsozialismus ist ein Instinktausbruch des deutschen Volkes. Und der wird sich durchzusetzen wissen: das allein entscheidet."
Auf andere Weise hat Srbiks Urteil gleichfalls der NS-Ideologie die historischen Argumente geliefert. Srbik bestreitet, daß der „geschlossene Nationalstaat von 1871", „die bewundernswerte Schöpfung eines Genies", ein „Reich" und eine europäische Ordnungsmacht gebildet habe, denn ihm fehlte „die metaphysische Idee". Nicht weil das Bismarckreich „gegen den Geist der Zeit" im Sinne Ziekurschs gegründet worden war, sondern weil es kein Fundament in einem einheitlichen Volkstum besaß, weil Staat und Volk, Staat und Geist auseinanderbrachen, mußte es „dem höheren Gebot des Sterbens und Werdens“ weichen Der Volksbegriff Srbiks bleibt an den geschichtlichen Reichsgedanken gebunden, aber er hat dann 1941 im Vorwort zum dritten Band die „Angliederung“ Österreichs unter Preis-gabe seiner eigenen föderalistischen Konzeption doch als Erfüllung der „metaphysischen“ Reichsidee begrüßt. Volkstumsideologen der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung haben schließlich Volk und Rasse gleichgesetzt, eine Identifizierung, die Srbik selbst wie viele andere nationalkonservative Historiker ablehnte. Die deutsche Reichsgeschichte, so schrieb Gerhard Krüger in seiner Polemik gegen Srbiks „universalistischen" Reichsgedanken, sei bestimmt „durch die blutliche, charakterliche Substanz ihres germanischen Erbes“. In diesem Sinne hätte Srbik seine Auffassung, daß „die Einheit der volklichen Substanz das bestimmende Moment" in der deutschen Geschichte sei, erweitern sollen: „Das Blut ist die Grundlage der Reichsbildung." Die historische Diskussion über die „Deutsche Einheit“ wird damit praktisch abgebrochen. An die Stelle der Geschichtsschreibung tritt der Mythos des Blutes und der Rasse.
Die Krise des Nationalstaats
Die Entwicklung der Geschichtsschreibung nach 1918 und vor allem nach 1933 könnte zu einem pessimistischen Urteil über die allzu enge Beziehung zwischen politischer Überzeugung und historischem Denken verleiten; aber andererseits stellt sich doch umgekehrt die Frage, ob nicht zunächst die latente Opposition gegen die Weimarer Republik und die Abkehr von den Gegenwartsproblemen eine rechtzeitige Distanzierung und Kontrolle der. überlieferten Werturteile verhindert haben. Die Ausnahmen, wie Friedrich Meinecke und Hermann Oncken, die beide das NS-Regime von vornherein ablehnten, bestätigen, daß gerade die politische Neuorientierung nach 1918 ein kritisches historisches Selbstverständnis ermöglichte. Erst die Flucht in die Vergangenheit bewirkte die verhängnisvollen Fehlurteile. Hinzu kam die Paradoxie, daß 1918/19 zugleich mit dem übernationalen Völkerbundsplan das nationale Selbstbestimmungsrecht der Völker proklamiert worden war, so daß die Hoffnung auf die Restauration des Nationalstaats in seiner großdeutsch-völkischen Form berechtigt schien — eine sehr verführerische Alternative, die der Historikergeneration nach 1945 von vornherein erspart blieb. Angesichts der grauenhaften Übersteigerung des Nationalstaatsgedankens im Dritten Reich, die in die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges führte, erledigte sich die Frage, ob Kontinuität oder Neubeginn, die 1918 von so großer Bedeutung gewesen war, gewissermaßen von selbst. Die Hoffnung auf die Restauration als Heilmittel war ebenso gründlich zerstört wie der Glaube an die normative Gültigkeit des Nationalstaats. In der „Krise des Nationalstaats" wurde der Eigenwert des Nationalen selbst relativiert
Es lag nahe, daß die radikale Erschütterung des historischen Selbstverständnisses die Gefahr einer extremen Umkehrung früherer Anschauungen mit sich brachte, die bis heute noch nicht ganz überwunden ist. Eine moralisierende Geschichtsbetrachtung, die nicht minder einseitig die deutsche Entwicklung auf das Jahr 1933 hin orientierte, konnte die 1871 gefundene Lösung schlechthin als „ungesund" verwerfen, weil — nach Golo Mann — „der Ursprung der neuen Macht gewalttätig, die Verfassung rudimentär schief, die Gesellschaft zänkisch, die Regierung cäsaristisch, Macht und Erfolg der neue Gott dieses Staates" waren. Das Bismarckreich wurde nun „als ein stark verkrüppelter Nationalstaat" bezeichnet, „mit unheilvc’ien Expansionstendenzen" belastet
Dergleichen vehemente Angriffe auf das überlieferte Geschichtsbild, die im Grunde nur die Apologie durch eine Polemik ersetzten — auch wenn die gröbsten Auswüchse dieser Betrachtungsweise, etwa die Konstruktion einer Kontinuität von Friedrich dem Großen über Bismarck zu Hitler, in der deutschen Geschichtsschreibung vermieden wurden —, stießen in der Fachhistorie sehr bald auf Widerspruch. Auf der Suche nach neuen Kategorien und Wertmaßstäben wurden in einer vorsichtigeren Auseinandersetzung die kritischen Ansätze der älteren Forschung weitergeführt und historisch differenziert. So fand Theodor Schieder in der Kategorie der „Unvollendetheit" anstelle der von Plessner verwandten Formel „verspätete Nation" das entscheidende Kriterium der deutschen Nationalstaatsgeschichte Die Unvollendetheit des Nationalstaats, des Verfassungsstaats und des Kulturstaats wurde nun als Fazit der Reichsgründungsgeschichte nüchtern konstatiert. Ebenso hat Rudolf Stadelmann die Frage nach den historischen Gründen des Gegensatzes zwischen „Deutschland und Westeuropa" neu gestellt und die deutsche Sonderentwicklung einer „Revolution von oben" bis in die Zeit des aufgeklärten Absolutismus zurückverfolgt: „Nicht die deutsche Reaktion, sondern der deutsche Fortschritt hat Deutschland gegenüber dem Westen zurückgeworfen." Der Appell an ein europäisches Denken, an „das, was der abendländischen Welt zwischen 1770 und 1800 gemeinsam war", bezeugt, wie stark unmittelbar nach 1945 die Überwindung des nationalstaatlichen Denkens als Postulat empfunden wurde
Es ist kein Zufall, daß parallel zur Diskussion über die „Krise des Nationalstaats" in den fünfziger Jahren die Kontroverse über das „Problem Bismarck" begann; denn, losgelöst von dem rein biographischen Aspekt und der vordergründigen Identifizierung des Reichsgründers mit seinem Werk, spiegelt das Bismarckproblem, so wie es in der jüngeren Forschung dargestellt wurde, im Grunde nichts anderes als die allgemeine Problematik der deutschen Nationalstaatsgeschichte. Ausgehend von den beiden Bismarckbiographien von Arnold Oskar Meyer und Erich Eyck führte die Diskussion zu einer kritischen Auseinandersetzung über die konservativen Grundlagen der Bismarckschen Staatsauffassung. Während Arnold Oskar Meyer noch einmal im alten Stil der Bismarckverehrung den nationaldeutschen(l) Staatsmann glorifizierte, der gemeinsam mit dem deutschen Volk(!) den Nationalstaat errichtete, hat Erich Eyck von seinem linksliberalen Standort aus* gerade den Kompromißcharakter des Bündnisses zwischen Bismarck und der liberalen Bewegung besonders scharf betont und die Gegenthese aufgestellt, daß Bismarcks geniale, aber reaktionäre, von junkerlichen Standes-interessen bestimmte Politik die nationale Einigung auf freiheitlichem und friedlichem Wege gerade durchkreuzt habe.
Hieran anknüpfend hat Franz Schnabel Eycks Kritik an den machiavellistischen Methoden Bismarcks auf die kleindeutsche Reichsgründung selbst übertragen, die eben nur als Ergebnis einer Politik angesehen und bewertet werden könne, die sich allein „auf die Mittel der alten Monarchie, auf wechselnde Allianzen, auf das Wettrüsten, auf systematische Mehrung der Einkünfte, auf die Methoden der klassischen Diplomatie — also Militarismus, Kapitalismus, Machiavellismus" gestützt habe Darüber hinaus stellte Schnabel die für den weiteren Verlauf der Kontroverse entscheidende Frage nach der politischen Alternative, die Frage also, ob überhaupt die freie Wahl der Mittel und Ziele möglich gewesen sei. Seine These, daß die mitteleuropäisch-föderalistische Konzeption von Constantin Frantz im Gegensatz zu der „ganz unhistorischen Konzeption" Bismarcks eine in der geschichtlichen Tradition verwurzelte Alternativlösung der deutschen Frage angeboten habe, wurde freilich von der Mehrzahl der Historiker mit guten Gründen abgelehnt; einmal, weil eine übernationale mitteleuropäische Machtbildung außenpolitisch kaum realisierbar gewesen wäre, zum anderen, weil eine großdeutsch-föderalistische Politik nach der Vorentscheidung von 1848 unvermeidlich den Widerstand des aufstrebenden liberalen Bürgertums provoziert hätte Abgesehen davon, erscheint es doch mehr als zweifelhaft, ob gerade die von Frantz propagierte „germanisehe Allianz'mit ihren pangermanischen Zügen jene Irrwege der Machtpolitik vermieden hätte, die Schnabel Bismarck und seinen Nachfolgern vorwarf Theodor Schieder hat in seinem Beitrag zum Bismarckproblem darauf hingewiesen, daß vielmehr auch Bismarcks Bündnissystem, wie es in dem berühmten Kissinger Diktat von 1877 konzipiert wurde, mit dem Gedanken der Friedenssicherung in einem Europa der Interessenbegrenzung der einzelnen Mächte einen „europäischen Aspekt'zurückgewonnen habe So aber tendierte die vorherrschende Ansicht eher zu dem Urteil, daß die Bismarcksche Lösung der deutschen Frage, so problematisch sie sein mochte, doch die Logik der geschichtlichen Entwicklung für sich hatte.
Es blieb der Versuch, den Vorwurf des reinen Machiavellismus, der die einzige Grundlage des Reiches gebildet habe, zu widerlegen oder doch wenigstens zu mildern. Eine Fülle von Einzeluntersuchungen über Bismarcks „Etatismus", „Bismarcks Glaube", sein „Ethos", seine „Verantwortlichkeit", seinen „Royalismus“ diente dem Nachweis, daß die konservative und christlich-ethische Grundhaltung des Staatsmannes eine angeblich bindungslose Realistik ausschloß Gerade „der Bismarcksche Primat des Staatlichen vor dem Nationalen" habe — nach Hans Rothfels — in der Innen-wie Außenpolitik ein mäßigendes und ordnendes Prinzip dargestellt Vom liberalen Standpunkt her gesehen, wird freilich diese Argumentation nie ganz überzeugen. Denn es bleibt doch die Frage, ob nicht Bismarcks nüchterner und undoktrinärer Konservativismus gerade den Machiavellismus als notwendig anerkannte und rechtfertigte, auch wenn diese Rechtfertigung nicht mit der vergröberten Form einer prinzipienlosen Realpolitik gleichzusetzen ist. Auch die konservative Deutung des Bismarckproblems täuscht nicht darüber hinweg, daß eine tiefe Kluft zwischen Bismarcks Staatsanschauung und den Zielen der liberalen Bewegung bestand und daß 1867 ein ungleiches Bündnis geschlossen wurde. Letztlich bleibt das Bismarckproblem unlösbar verbunden mit dem Problem des „unvollendeten" Nationalstaats.
In den jüngsten Darstellungen zur Reichsgründungsgeschichte wurde daher von einer strukturanalythischen Fragestellung aus versucht, den Blick zurückzulenken auf die überindividuellen Voraussetzungen des politischen Handelns, auf die Spannungsverhältnisse von Politik, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in der Reichsgründungszeit, um so zu einem tieferen Verständnis des historischen Entscheidungsprozesses und der Gründe für das Scheitern der Gegenkräfte in der liberalen bürgerlichen Bewegung zu gelangen. Der neue methodische Ansatz schien besonders geeignet, die Erfolgsaussichten eines politischen Alternativprogramms unvoreingenommen zu prüfen und differenzierter zu analysieren. Die Erforschung der wirtschaftsund sozialgeschichtlichen Zusammenhänge der Reichsgründungszeit verdeutlichte, daß der konservativ-monarchische Charakter der preußisch-deutschen Reichsbildung einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation entsprach, und zwar nicht in einem von vornherein determinierenden Sinn Zwar wurde in der modernen Parteigeschichtsforschung über den norddeutschen Liberalismus und die kleinbürgerlich-demokratische Bewegung die These vertreten, daß von einer echten Alternative auch deshalb nicht die Rede sein konnte, weil eine solide gesellschaftliche Grundlage für das Streben der fortschrittlichen Kräfte nach politisch-sozialer Emanzipation des Bürgertums fehlte. Aber andererseits konnte doch nach-gewiesen werden, daß der süddeutsche Liberalismus, der im Baden der sechziger Jahre zur regierenden Partei aufstieg und hier, beispielgebend für den erstrebten deutschen Nationalstaat, zum ersten Mal das freiheitliche parlamentarische System verwirklichte, seine Chance, ein politisches Alternativprogramm durchzusetzen, sehr rasch selbst vertan hat und in den verhängnisvollen Kämpfen mit dem politischen Katholizismus seine eigene starke Position zerstörte
Die unmittelbaren Folgen dieser politischen und gesellschaftlichen Entwicklung reichen bis in das Jahr 1878/79, das in der jüngeren sozial-und wirtschaftsgeschichtlich orientierten Forschung als entscheidender Einschnitt beurteilt wird, der die Epoche der Reichsgründung abschloß Das wirtschaftliche Arrangement zwischen Schwerindustrie und Großgrundbesitz zur Durchsetzung der Schutzzollgesetzgebung befestigte den dominierenden Einfluß der ostelbisch-agrarisch-preußischen Führungsschichten.
Erst die „zweite Reichsgründung von 1878/79 zementierte den Status quo, „die traditionelle Hegemonie der preußisch-deutschen Grund-, Militär-und Verwaltungsaristokratie, der alten, privilegierten Herrscherelite der vorindustriellen Gesellschaft und des vorkonstitutionellen Staates — auch im Zeitalter der permanenten Industrierevolution und des allgemeinen Wahlrechts"
Fraglos muß auch das überaus scharfe Urteil über die Reichsgründung in der jüngsten Forschung als Reflex der eigenen zeitgeschichtlichen Situation verstanden werden. Ob die kritische Distanzierung ein „objektiveres" Gesamtbild der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert ermöglicht, bleibt vorerst dahingestellt. Es fehlt nicht an warnenden Stimmen vor einer übertriebenen Skepsis und vor einer allzu einseitigen Konzentration auf das deut-B sehe Nationalstaatsproblem. Eine der fruchtbarsten Anregungen der modernen Struktur-geschichte, nämlich die vergleichende typologische Geschichtsbetrachtung, gilt heute noch weitgehend als Desiderat Ebenso wie das Bemühen um eine differenzierte historische Analyse der politischen Alternativmöglichkeiten zur deutschen Nationalgeschichte dient die komparative Methode dem Ziel, eine „befremdliche Distanz" zu schaffen im vergleichenden Hinblick auf die parallele Entwicklung der europäischen Nationalstaaten. „Nur wenn uns unsere Nationalgeschichte fremd geworden ist, kann sie uns eines fernen Tages auf einer ganz unpathetischen Ebene wieder zum Eigentum werden."
Elisabeth Fehrenbach, Dr. phil., geb. 24. Dezember 1937, wiss. Assistentin am Historischen Seminar der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Veröffentlichungen u. a.: Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871— 1918, München 1969.
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