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Überlegungen für eine Totalrevision des Grundgesetzes Volk, Parlament und Regierung | APuZ 7/1970 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 7/1970 Überlegungen für eine Totalrevision des Grundgesetzes Volk, Parlament und Regierung Die Forderung nach Demokratisierung von Staat und Gesellschaft A. Vorbemerkungen

Überlegungen für eine Totalrevision des Grundgesetzes Volk, Parlament und Regierung

Hans Dichgans

/ 78 Minuten zu lesen

Die in dieser Beilage enthaltenen zwei Aufsätze sind, jeder auf seine Weise, ein Beitrag zur Konkretisierung der Demokratie-Diskussion. Sie reichen von der scharf akzentuierten Analyse gesellschaftlicher Konflikte bis zu Vorschlägen für eine Revision des Grundgesetzes. Die Spannweite der Thematik anzudeuten, war Hauptanlaß für die simultane Veröffentlichung der beiden Beiträge. Daneben mag der Kontrast der Ansätze, der — oft pointiert hervortretende — Unterschied der Positionen einen besonderen Lese-und Denkanreiz darstellen. Die Redaktion hofft, zum Themenkreis „Demokratisierung" — „mehr Demokratie" — „Binnenkonstitutionalisierung" im Lauf des Jahres weitere Studien — aus unterschiedlichen Perspektiven — anbieten zu können. Mit der Veröffentlichung des zweiten Beitrages möchte die Redaktion zugleich zum Ausdruck bringen, daß sie, entgegen einer häufiger anzutreffenden Ansicht, kein „Autorenmonopol der Arrivierten" kennt.

Die Ausführungen von Dr. Hans Dichgans sind dem in Kürze im Econ-Verlag, Düsseldorf, erscheinenden Buch „Vom Grundgesetz zur Bundesverfassung" entnommen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Vorabdruck dieses Kapitels.

Die Grundrechte

Gerhard und Helmut Willke: Die Forderung nach Demokratisierung von Staat und Gesellschaft...................... S. 33

Jede Verfassung hat eine doppelte Aufgabe. Sie muß erstens die Mechanismen regeln, welche die großen politischen Entscheidungen produzieren: die Entscheidung über Krieg und Frieden (um mit dem Extremfall zu beginnen), die Entscheidung in der Alternative westliches Bündnis-System oder Neutralität zwischen den Blöcken, die Entscheidung Wiederbewaffnung oder Verzicht auf Streitkräfte, die Entscheidung Staatswirtschaft oder Privatwirtschaft.

Alle diese Entscheidungen greifen zugleich in das Leben des einzelnen ein. Der Wehrpflichtige wird eingezogen, der Unternehmer enteignet. Ob das geschehen soll, in welchen Formen und welcher Intensität: wie lange die Wehrpflicht dauert, wie die Entschädigung des Enteigneten zu bemessen ist, richtet sich nach den Gesetzen. Deren Inhalt kann sich ändern, wenn die herrschende Mehrheit das beschließt. Aber in den letzten Jahrhunderten hat sich allmählich die Überzeugung entwickelt, daß es unverletzbare Rechte des einzelnen gibt, die durch Ansprüche der Gesamtheit, so wichtig sie der herrschenden Mehrheit scheinen mögen, in keinem Falle angetastet werden dürfen. Das sind die Menschenrechte, deren Schutz die zweite Aufgabe der Verfassung bildet.

Beide Komponenten, die Fixierung von Grundwerten und die organisatorisch-formalen Regelungen sind im Grundgesetz zu einer Einheit zusammengefügt. Art. 79 (3) schreibt vor, daß die organisatorisch-formalen Regelungen nicht zu einer Änderung der Grundwerte benutzt werden dürfen. Das ist ein bedeutsamer Fortschritt gegenüber der Weimarer Verfassung.

Die Menschenrechte, zuerst in der englischen Gesetzgebung erscheinend, wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu Bestandteilen der amerikanischen und französischen Verfassung. Die Weimarer Verfassung enthielt in einem umfangreichen 2. Hauptteil die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen (Art. 109 bis 165).

Im Grundgesetz sind die Grundrechte an den Anfang gestellt (Art. 1— 19). Dazu kommt Art. 140, der die Bestimmungen der Weimarer Verfassung über die Religionsfreiheit und die Religionsgesellschaften in das Grundgesetz übernimmt. Außerhalb des Grundrechtskata-logs sind die Rechte des Angeklagten (Art. 103) und die Rechtsgarantien bei einer Freiheitsentziehung (Art. 104) besonders geschützt.

Die Grundrechte des Grundgesetzes unterscheiden sich von denen der Weimarer Verfassung dadurch, daß sie zu unmittelbar geltendem Recht erklärt worden sind (Art. 1 [3]), im Gegensatz zu einigen anderen Bestimmungen, etwa zum Programm des Art. 20 (demokratischer und sozialer Bundesstaat), den das Bundesverfassungsgericht nicht in unmittelbar geltendes Recht verwandelt hat. Die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, von den Mitgliedern des Europa-Rates beschlossen, von der Bundesrepublik durch Gesetz vom 7. 8. 1952 übernommen, strebt einen Schutz der Menschenrechte für den Gesamtbereich des Europa-Rates an. Kommission und Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg überwachen die Einhaltung.

Der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes geht weiter als der Katalog der Menschenrechte, die in der Konvention geschützt werden. So findet sich in der europäischen Menschenrechtskonvention weder ein Satz über die Garantie des Eigentums und Erbrechts (Art. 14) noch über die Berufsfreiheit (Art. 12). Weiterhin fehlen in der Konvention das Asylrecht (Art. 16) und das Petitionsrecht (Art. 17).

Das in Art. 4 (3) garantierte Recht auf Kriegsdienstverweigerung findet sich weder in der Konvention noch in irgendeiner anderen Verfassung der Welt. Selbst die Verfassung der Niederlande, die eine Möglichkeit der Freistellung vom Wehrdienst erwähnt, überläßt die Verwirklichung dieses Rechts dem normalen Gesetzgeber.

Demgegenüber sind die Formulierungen der Konvention, wie Werner Thieme bemerkt hat (Zeitschrift für Rechtspolitik, 1969, S. 33), zuweilen präziser, während bei uns die Kurzfassungen der Grundrechte in einigen Fällen eine gewisse Rechtsunsicherheit schaffen. Das gilt nicht nur für die Grundrechte, sondern auch für deren Einschränkung. Wo sich das Grundgesetz auf den lapidaren Satz beschränkt, daß das Grundrecht durch Gesetz beschränkt werden könne, dessen Grenzen letztlich durch das Bundesverfassungsgericht gezogen werden (z. B. Art. 2 [2], 8 [2], 10 [2]), nennt die Menschenrechtskonvention genau die Gesichtspunkte, nach denen eine Einschränkung vorgenommen werden darf (z. B. Art. 10 und 11 der Konvention). In diesen Fällen wäre zu erwägen, den Grundrechtskatalog durch entsprechende Bestimmungen der Konvention zu ersetzen. Das würde zugleich den internationalen Charakter dieser Rechtsgarantien unterstreichen und damit ihre moralische Autorität stärken. Die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts hat die Grundrechte z. T. stark extensiv ausgelegt. Die Frage, ob eine genauere Formulierung einer allzu weiten Auslegung vorbeugen sollte, kann hier zunächst offenbleiben. Das sind jedoch nur Formulierungsfragen. Insgesamt hat sich der Katalog unserer Grundrechte bewährt. Er sollte bei einer Verfassungsreform nicht in Frage gestellt werden.

Aber es werden einige neue Probleme zu behandeln sein, über das Grundrecht der Freiheit hat sich eine kritische Diskussion entwickelt, die vorzugsweise zwei Aspekten gilt:

— der angeblichen Beschränkung der Freiheit, verursacht durch Täuschung, Vorenthaltung von Information, Manipulierung. Der Bürger, so heißt es, glaube sich frei, weil man ihm den Zaun, der ihn einsperrt, geschickt verberge, die Möglichkeiten der Befreiung nicht sehen lasse, — dem Anspruch, im Namen der Freiheit erhoben, die Freiheit der anderen zu beschränken, sie am Reden zu hindern, Türen und Straßen zu blockieren, wohl auch unter Berufung auf Demonstrationsfreiheit mit Farbbeuteln oder Pflastersteinen anzugreifen, einen Bundeskanzler öffentlich zu ohrfeigen.

Die Diskussion zum Thema Manipulierung ist über hitzige Polemik bisher kaum herausgekommen. Aber diese Polemik hat einen realen Kern.

Der Vorwurf, die Bundesrepublik informiere ihre Bürger unzureichend, ist allerdings sicher unberechtigt. Rundfunk und Fernsehen, um kritische Nachrichten-und Meinungssendungen bemüht, erreichen jede Wohnung, überall sind mindestens politische Zeitschriften aller Schattierungen erhältlich, von den extrem konservativen bis zu den Publikationen der rebellischen Linken. Wenn man nicht Zwangslektüre vorschreiben will (wer sollte das Recht haben, sie zu gestalten?), ist schwer auszudenken, wie man unsere perfekte Informationsfreiheit noch weiter ausdehnen könnte.

Das Problem der Manipulierung ist ernster. Wiederholte, psychologisch geschickt gezielte Aufforderungen, auch ohne jedes rationale Argument, haben offensichtlich eine überraschend starke Wirkung. Die Erfolge der Fernsehwerbung beweisen das. Ist es Aufgabe des Staates, seine Bürger gegen Werbung zu schützen? Sie könnte es sein, wenn diese Werbung die Bürger zu übermäßigen Ausgaben verführte, zum wirtschaftlichen Ruin, also zu einer Situation, die die Einschränkung des Glücksspiels rechtfertigt. Aber davon kann keine Rede sein. Die deutsche Sparleistung je Kopf der Bevölkerung liegt im internationalen Vergleich seit vielen Jahren sehr hoch. Die Werbung führt also nur zu einer Umlenkung des Konsums innerhalb einer Gesamtmenge, die nicht ernstlich beanstandet werden kann. Wer die Werbung durch Verbote einschränken will, steht zwangsläufig vor überraschenden Konse-quenzen. Die stärkste Anreizwirkung kommt aus dem Bereich Sex. Wer sich verpflichtet fühlt, die Mitbürger durch Gesetze vor übermäßiger Reizwirkung zu schützen, muß in erster Linie die Manipulation mit Sex-Anreizen vermindern. Das gilt nicht nur für die Waren-werbung, sondern für die Überfütterung mit Sex überhaupt, die vielleicht von wichtigen Aufgaben, auch politischen, ablenkt. Die Kämpfer gegen die Konsummanipulation, die die Teenage-Fair demolieren wollten, müßten folgerichtig zu überzeugten Mitkämpfern für die saubere Leinwand werden. Sie lehnen das natürlich voller Entrüstung ab.

Bei dem Komplex Grundrechte ergibt sich noch eine andere Frage: Die Verfassung der DDR vom 8. 4. 1968 hat einen Grundrechtskatalog, der von dem des Grundgesetzes beträchtlich abweicht. Wichtige unserer Grundrechte fehlen, so z. B. das Streikrecht, die Garantie des Eigentums-und Erbrechts sowie das Petitionsrecht. Dafür gibt es aber andere, soziale Grundrechte, die das Grundgesetz nicht kennt:

„Artikel 35 (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Schutz seiner Gesundheit und seiner Arbeitskraft.

(2) Dieses Recht wird durch die planmäßige Verbesserung der Arbeits-und Lebensbedingungen, die Pflege der Volksgesundheit, eine umfassende Sozialpolitik, die Förderung der Körperkultur, des Schul-und Volkssports und der Touristik gewährleistet.

(3) Auf der Grundlage eines sozialen Versicherungssystems werden bei Krankheit und Unfällen materielle Sicherheit, unentgeltliche ärztliche Hilfe, Arzneimittel und andere medizinische Sachleistungen gewährt.

Artikel 36 (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Fürsorge der Gesellschaft im Alter und bei Invalidität. (2) Dieses Recht wird durch eine steigende materielle, soziale und kulturelle Versorgung und Betreuung alter und arbeitsunfähiger Bürger gewährleistet.

Artikel 37 (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Wohnraum für sich und seine Familie entsprechend den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten und örtlichen Bedingungen. Der Staat ist verpflichtet, dieses Recht durch die Förderung des Wohnungsbaus, die Werterhaltung vorhandenen Wohnraums und die öffentliche Kontrolle über die gerechte Verteilung des Wohnraums zu verwirklichen.

(2) Es besteht Rechtsschutz bei Kündigungen.

(3) Jeder Bürger hat das Recht auf Unverletzbarkeit seiner Wohnung."

Weiterhin erwähnt die Verfassung der DDR die Förderung kinderreicher Familien (Art. 38)

sowie das Recht auf gleiche Ausbildungschancen (Art. 25).

Gewiß hat der Verfassungstext der DDR weitgehend propagandistischen Charakter. Wir sollten uns vor der Versuchung hüten, auch unsere Verfassung zu einem Propagandainstrument zu machen, ihr eine plakative Note zu geben, die das Grundgesetz glücklicherweise nicht hat. Aber die Lebensbereiche, die in den sozialen Grundrechten in der Verfassung der DDR erwähnt werden, sind in der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Bundesrepublik mindestens in einigen Punkten weit besser geschützt als bei unseren mitteldeutschen Nachbarn. Deshalb sollten wir prüfen, ob nicht einiges von dem, was in der Zwischenzeit unbestrittener Bestandteil unserer sozialen Rechtsordnung geworden ist, auch als Grundrecht in das Grundgesetz zu übernehmen wäre, allerdings in Formulierungen, die uns vor einer neuen Welle von Verfassungsklagen schützen.

Die Mechanismen der politischen Entscheidung

Die Verfassung muß aus vielerlei Meinungen, Wünschen und Leidenschaften das Verhalten der Gesamtheit komponieren. Die Bauern von Uri, Schwyz und Unterwalden standen im 14. Jahrhundert vor der Frage, ob sie gegen die Machtansprüche der Österreicher geschlossen Widerstand leisten sollten, mit organisierter Gewalt. Im Anfang der Geschichte wurden solche Entscheidungen von wenigen Herrschenden gefällt. Die Meinung der Betroffenen kam dabei nicht in Betracht. Es gab keine Verfassung, sondern nur Machtverhältnisse.

Aber die Bauern von Uri, Schwyz und Unterwalden wurden gefragt. Sie fragten einander. Die Mehrheit bestimmte. Dieses Verfahren ist uns so selbstverständlich geworden, daß wir seine Genialität nicht mehr sehen. Als sich die Bauern zum Widerstand entschlossen hatten, standen sie vor weiteren Fragen: Ob sie nicht laufende Entscheidungen an einen engeren Personenkreis übertragen sollten, der rascher und wirksamer arbeiten konnte als die Land-gemeinde und der sie zugleich nach außen repräsentierte; weiter, wie die Sonderrechte der drei Kantone geschützt werden könnten. Diese Fragen sind bis heute der Gegenstand jeden Verfassungsrechts.

Mechanismen müssen Kräfte gegeneinander auswägen: Volk, Parlament und Regierung; Bund und Länder; Politik und Justiz. Das ist die Aufgabe der Gewaltenteilung. Montesquieu hat dafür das Modell der Dreiteilung entwickelt: Legislative, Exekutive und Justiz. Die Bestimmung des Art. 20 (2), daß die Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird, übernimmt diese Terminologie. Aber gleichwohl gibt es die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive in der Bundesrepublik praktisch nicht mehr, ebensowenig wie in allen anderen Ländern, in denen die Legislative die Spitze der Exkutive aus ihrer Mitte wählt. Nur die Justiz hat bei uns ihre Selbständigkeit behauptet, sogar mit einer stärkeren Stellung als in anderen Ländern. Art. 19 öffnet den Rechtsweg für jeden, der sich in seinen Rechten durch die öffentliche Gewalt verletzt fühlt.

In England hat auch die Justiz ihre selbständige Gewalt verloren. Dort gibt es eine Gewaltenteilung anderer Art: Auf der einen Seite steht die Regierung, gestützt auf ihre Regierungsmehrheit im Unterhaus; die Gegenkraft liegt bei der Opposition. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die diesen Namen verdiente, gibt es in England nicht. Das Parlament kann alle Gerichtsentscheide mit einfacher Mehrheit überspielen.

In der Bundesrepublik sind Regierung, Regierungsmehrheit des Parlaments und Exekutive eine politische Einheit. Die stärkste Regierungsfraktion stellt den Bundeskanzler. Der Bundeskanzler nimmt regelmäßig an den Sitzungen seines Fraktionsvorstandes teil. Die große Koalition der 5. Legislaturperiode schuf für die Koordinierung der Regierungstätigkeit mit der Parlamentsarbeit ein eigenes Organ, den Kreßbronner Kreis. Dieser Kreis stellte Arbeitspläne auf: er ordnete die Gesetzentwürfe nach der Dringlichkeit, Initiativen der Regierung ebenso wie Initiativen der Fraktion. Er sprach aber auch über wichtige Personalfragen. Er bemühte sich, die Differenzen beizulegen, die bei der Zusammenarbeit sehr verschiedenartiger Persönlichkeiten unvermeidlich immer wieder auftreten. Dieses Gremium, vom Bundeskanzler geführt, war ein sinnfälliger Ausdruck für die Einheit von Regierung und Regierungsmehrheit.

Daß eine Fraktion Minister aus ihren eigenen Reihen kritisiert, was nach der Theorie der Gewaltenteilung ihre Pflicht wäre, kommt bei uns nur sehr selten vor. Die Kritik richtet sich höchstens gegen Minister aus der anderen Regierungsfraktion und gehört damit in den Bereich des politischen Kampfes, nicht in den Bereich der Kontrolle der Regierung durch das Parlament.

Soll diese politische Wirklichkeit, von der im Grundgesetz nichts zu lesen ist, ihren Niederschlag in einer neuen Bundesverfassung finden? Dazu ist die Gesamtheit der politischen Wirklichkeit zu betrachten, ausgehend vom Ursprung der Demokratie, dem Volk.

Der Einfluß des Volkes

Das Volk, von dem nach Art. 20 alle Staatsgewalt ausgeht, hat unmittelbar den politischen Kurs der Bundesrepublik entscheidend bestimmt. Vor klare Alternativen gestellt, hat es immer wieder eindeutige Antworten gegeben. Im Jahre 1949 hat es der CDU zur Macht verholfen. In späteren Wahlen hat es sich für die Marktwirtschaft, für die Bindung an den Westen, für die Wiederbewaffnung entschieden. Es hätte auch heute noch die gleiche Kraft zur Entscheidung, wenn etwa die Frage Anarchie oder Ordnung das Thema eines Wahlkampfes würde, gäbe der Wahltag mit Sicherheit eine eindeutige Antwort.

Aber der Einfluß des Volkes auf das politische Einzelgeschehen ist bei uns vergleichsweise gering. Nur in den umstrittenen Wahlkreisen konnte der Wähler mit seiner Stimme den Kandidaten seiner Partei in den Bundestag bringen, wobei in manchen Fällen der Vorsprung des siegreichen Abgeordneten nur wenige Stimmen betrug. Die Mehrzahl der Wahlkreise liegt jedoch bei der geringen Schwankungsbreite, wie sie für deutsche Bundestagswahlen charakteristisch ist, fest in der Hand der einen oder der anderen Partei. Die Stimmen dieser Wähler wirken dann nur für die Kandidaten der Landesliste, ohne daß der einzelne bei der Abgabe seiner Stimme wüßte, wen er damit in den Bundestag bringt.

Volksbegehren und Volksabstimmung gibt es in der Bundesrepublik nicht. Auch der Bundespräsident wird von der Bundesversammlung, nicht vom Volk gewählt. Viele unserer Wähler stehen unter dem Eindruck, sie könnten auf die politische Entwicklung nur wenig Einfluß nehmen. Diese Vorstellung ist irrig. Innerhalb der Parteien ist der Einfluß eines aktiven Mitgliedes überraschend groß. Die geringe Zahl der Parteimitglieder, 1 bis 2 0/0 der Wähler, erhöht zwangsläufig ihren relativen politischen Einfluß. Die gängige Vorstellung, daß die Parteien sich gegen neue Mitglieder wehren, um die Herrschaft der etablierten Parteiführung zu erhalten, ist völlig falsch. Das Parteiengesetz vom 24. 7. 1967 zwingt die Parteien zu demokratischer Wahl ihrer Organe. Die Aufstellung der Kandidaten für die Septemberwahlen 1969 hat eindrucksvoll gezeigt, daß die Demokratie innerhalb der Parteien wirkungsvoll funktioniert. Zahlreiche verdiente Abgeordnete des letzten Bundestages wurden in den Delegiertenversammlungen durch neue Kandidaten ersetzt. Die Aufgabe der Parteien liegt jetzt nicht im Ausbau ihrer inneren Demokratie, die zumeist die Obergrenze der Praktikabilität erreicht hat, sie besteht in der Werbung neuer Mitglieder.

Den Parteien ist es trotz aller Bemühungen bisher nicht gelungen, die politische Abstinenz zu überwinden, die deshalb gefährlich ist, weil sie die Parteien einer Unterwanderung durch militante, planmäßig operierende Gruppen aussetzt. Vorerst hat sich kein wirksames Mittel gefunden, die Mitgliederzahlen der Parteien in die Höhe zu treiben. Erst eine langfristige politische Bildung wird das erreichen können. Diese Erkenntnis führt zu der Frage, ob nicht die politische Aktivität des Bürgers durch Erweiterung seiner unmittelbaren Rechte angeregt werden könnte.

Wirkungen des Wahlrechts

Das Wahlrecht regelt die Umwandlung des Wählerwillens in die Zusammensetzung eines Bundestages. Welche Wirkungen der Mechanismus des Wahlrechts haben kann, zeigte sich bei den Septemberwahlen 1969 besonders deutlich. Unser Wahlrecht ergab einen Bundestag, in dem keine Fraktion die absolute Mehrheit besitzt, aber je zwei Fraktionen in beliebigen Kombinationen eine Mehrheit bilden können. Ein anderes Wahlrecht hätte bei gleichen Stimmenzahlen andere Bilder ergeben:

Beim angelsächsischen Mehrheitswahlrecht hätten wir eine absolute Mehrheit der SPD erhalten, die die Mehrzahl der Wahlkreise erobert hatte.

Hätte die Sperrgrenze bei 6 °/o gelegen, so wäre die FDP ausgeschaltet worden. Das hätte zu einer absoluten Mehrheit der CDU geführt. Eine Sperrgrenze von 4 0/0 hätte dagegen auch die NPD in den Bundestag gebracht, womit die Mehrheit der Kombination SPD/FDP entfallen wäre. Niemand kann behaupten, daß die Zahl 5 „richtiger" sei als die Zahl 4 oder 6. Die Sperrgrenzen unserer Wahl-und Parteiengesetze reichen ja heute schon von 0, 5 °/o (Partei-finanzierung) bis zu 10% (bayerisches Wahlrecht). Sollen wir das Wahlrecht ändern? Gegen das reine Mehrheitswahlrecht, das in jedem Wahlkreis nur einen Abgeordneten wählt, sprechen soziologische Erwägungen. Die meisten Großstädte würden dann nur die Mitglieder der SPD in den Bundestag entsenden, weite Flächen ländlichen Charakters dagegen nur Abgeordnete der CDU/CSU. Das könnte zu einer unerwünschten Spaltung Stadt gegen Land führen. Kleinere Parteien hätten keine Chancen mehr, in den Bundestag zu kommen. Die FDP wäre völlig ausgeschaltet, was viele Wähler politisch heimatlos machen würde.

Das System der Dreier-Wahlkreise, in England schon vor Jahren diskutiert, für die Bundesrepublik vorgeschlagen von Friedrich Schäfer, Staatssekretär im früheren Bundesratsministerium, vermeidet diese Nachteile. Die Abgeordneten des Bundestages würden nach diesem Vorschlag in etwa 170 Groß-Wahlkreisen zu wählen sein, die je drei Abgeordnete in den Bundestag zu entsenden hätten. Jede Partei stellte für jeden Wahlkreis eine Liste mit mehreren Namen auf. Die Verteilung der Mandate auf diesen Listen ginge dann nach dem Verfahren d'Hondt vor sich, das heute die Verteilung der Mandate auf die Landeslisten regelt: die Stimmenzahl wird nacheinander durch eins, zwei und drei dividiert. Die jeweils höchsten Quotienten entscheiden über die Verteilung der Sitze. Wenn die drei Parteien 43, 34 und 23 0/0 der Stimmen erhielten, so entfiele auf jede ein Mandat (weil die Hälfte von 43 weniger ist als 23). Bei einem Stimmenverhältnis 50, 30 und 20 % erhielt dagegen die größte Partei 2 Mandate, die zweitgrößte eins und die kleinste keins (weil 20 weniger ist als die Hälfte von 50).

Abweichend vom heutigen Wahlsystem spiegelte dann der Bundestag nicht die Stimmen-anteile der Parteien. Aber seine Zusammensetzung käme bei diesem System der Spiegelung doch wesentlich näher als beim reinen Mehrheitswahlsystem. Im Großwahlkreis hätte die jeweilige Minderheit, die bei dem reinen Mehrheitswahlsystem völlig ausfiele, eine reale Chance. Das könnte das Interesse des V" lers stärken.

Bei der derzeitigen politischen Lage in der Bundesrepublik ist kaum zu erwarten, daß das Wahlrecht gründlich reformiert wird. Unser geltendes Wahlrecht stellt gegenüber dem unbeschränkten Wahlrecht der Weimarer Republik eine deutliche Verbesserung dar. Es ist nicht zu bestreiten, daß für unser heutiges Wahlrecht auch positive Sachargumente sprechen. Das Thema soll hier nicht vertieft werden, weil eine Änderung so wenig wahrscheinlich ist.

Eine andere Möglichkeit, den Wähler stärker zu aktivieren, läge in der Wahl des Bundespräsidenten durch das Volk.

Volkswahl des Bundespräsidenten

In der Weimarer Zeit wurde der Reichspräsident vom Volk gewählt. Die Väter des Grundgesetzes haben dieses Verfahren nicht übernommen. Wenn im Jahre 1925 nicht das Volk, sondern der Reichstag den Nachfolger des ersten Reichspräsidenten Ebert zu wählen gehabt hätte, wäre vielleicht, so meint man, nicht Generalfeldmarschall von Hindenburg, sondern eine andere Persönlichkeit gewählt worden, die dem nationalsozialistischen Angriff stärkeren Widerstand hätte leisten können. Solche historischen Eventualbetrachtungen sind in jedem Falle problematisch. Im Jahre 1932 meinten viele Stimmen des bürgerlichen Lagers, man müsse den Nationalsozialisten, die soviel Stimmen hinter sich gebracht hatten, den Weg zur Mitverantwortung öffnen, um sie dadurch zu zähmen. Hindenburg hat sich bekanntlich lange gesträubt. Ihm war die Republik ungewohnt, nachdem er den größten Teil seines Lebens einem Monarchen gedient hatte, und er war zu ehrlich, dies zu leugnen. Aber er mochte die wilden Horden der Nationalsozialisten im Grunde noch weniger.

Nun können wir natürlich nicht das Risiko eingehen, eines Tages durch eine leidenschaftliche Volksabstimmung den gesamten Staatsapparat einem skrupellosen Demagogen auszuliefern. Das schließt für die Bundesrepublik das amerikanische oder auch französische System der Präsidialdemokratie von vornherein aus. Aber ist die Gefahr beim Amt des Bundespräsidenten, mit der geringen Macht, die unser Grundgesetz ihm gibt, wirklich so groß? Diese Frage ist zu verneinen. Volkswahl des Bundeskanzlers, das könnte gefährlich werden. Volkswahl unseres Bundespräsidenten birgt keine gefährlichen Risiken. Er ist nur der Repräsentant des Staates, nicht dessen Führer. (Die staatsrechtliche Stellung des Bundespräsidenten im einzelnen, insbesondere der interessante, von Werner Weber betrachtete Aspekt des „pouvoir neutre", kann hier nicht behandelt werden.)

Nun würde gewiß die moralische Autorität des Repräsentanten unserer Bundesrepublik wachsen, wenn er vom Volk gewählt würde. Sein tatsächlicher Einfluß würde zunehmen. Aber er hätte nicht die Möglichkeit, die Weichen gegen den Willen der Parlamentsmehrheit umzustellen. Wenn jedoch die Parlamentsmehrheit einem Demagogen folgt, so treibt die Entwicklung in jedem Falle einer Katastrophe zu, wie auch immer die Wahl des Bundespräsidenten geregelt ist.

Politische Vernunft läßt sich nicht durch formale Bestimmungen erzwingen. Lenin hat die beiden Voraussetzungen einer revolutionären Entwicklung beschrieben: den Willen der Beherrschten, das bisherige Herrschaftssystem nicht länger zu ertragen und die Resignation der Herrschenden, ihre Herrschaft nicht länger entschlossen zu verteidigen. Der Faktor Resignation der Herrschenden ist dabei ebenso wichtig, vielleicht noch wichtiger als der Faktor Aufstand der Beherrschten. Deutschland hat das im Jahre 1918 sehr eindrucksvoll erlebt. Es hat keinen Sinn zu fordern, daß eine Verfassung eine Revolution unmöglich machen müsse. Solche Ideen, weitverbreitet, verwechseln die Kategorie des Sollens mit der des Seins, das Leben mit der Rechtsförmlichkeit.

Es bleibt zu fragen, ob eine moralische Stärkung des Bundespräsidenten, die sich aus der direkten Wahl ergeben würde, nicht eines Tages auch zu einer Erweiterung seiner Kompetenzen führen muß. Da jede Erweiterung eine Änderung der Verfassung voraussetzt, also die Zustimmung von Zwei-Drittel-Mehrheiten beider Häuser, ist das nicht zu befürchten. Wenn eine verfassungsändernde Mehrheit eine Erweiterung der Kompetenzen des Bundespräsidenten für zweckmäßig hält, kann sie das in jedem Fall beschließen, mit oder ohne Volkswahl des Präsidenten.

Die Bedenken schlagen also nicht durch: Die Wahl des Bundespräsidenten durch das Volk böte der Gesamtheit der Bürger eine psychologisch günstige Gelegenheit, eine politisch wichtige Entscheidung unmittelbar herbeizuführen. Die Kandidaten sind allen Bürgern bekannt. Das Fernsehen liefert ihre Bilder in jedes Wohnzimmer, nicht nur ihre Wahlreden, sondern auch ihr Verhalten. Nun ist die Fernsehwirkung sicher nicht mit der politischen Potenz identisch. Aber im Zeitalter des Fernsehens bestimmt die Fernsehwirkung unvermeidlich die Laufbahn der politischen Spitzenreiter. Bei der direkten Wahl des Bundespräsidenten kennt der Wähler die konkurrierenden Kandidaten so genau, wie sie einer Millionenzahl von Bürgern überhaupt nahezubringen sind. Das Urteil des Wählers ist möglicherweise falsch. Aber es erscheint subjektiv fundiert. Die kritische Behandlung der Kandidaten im Fernsehen, im Rundfunk, in den Zeitungen und Zeitschriften liefert ihm in unserer Gesellschaft, in der es keine Geheimnisse gibt, alle Informationen, die er für seine Entscheidung braucht. Die Wertung dieser Informationen kann ihm natürlich niemand abnehmen.

Die Väter des Grundgesetzes mißtrauten dem Wähler. Sie wollten seine unvernünftigen Emotionen ausschalten, indem sie den Bundespräsidenten von der Bundesversammlung wählen ließ. Aber ist das Urteil der Wähler, die sich zwischen wenigen, ihnen bekannten Kandidaten zu entscheiden haben, wirklich weniger „richtig" als das der Parlamentarier?

Volksbegehren und Volksentscheid

Die Zweifel an der Urteilsfähigkeit des Wählers sind berechtigt, sobald es sich um spezielle Sachfragen handelt. Ob die DM aufgewertet werden soll, kann man kaum durch Volksabstimmung entscheiden lassen.

In der Weimarer Verfassung gab es das Volksbegehren (das ein Gesetzgebungsverfahren in Gang setzte) und den Volksentscheid (der Gesetzeskraft hatte). Bei Volksabstimmungen schlagen leicht die Emotionen durch. Um das zu verhüten, schaffte der Parlamentarische Rat das Volksbegehren und den Volksentscheid, die klassischen Verfahren der direkten Demokratie, überhaupt ab.

Demokratie ist den Bürgern der Bundesrepublik noch nicht so selbstverständlich wie etwa den Engländern. Bei uns fällt es der Mehrheit offenbar schwer, die Meinung der Minderheit als menschlich und politisch gleichberechtigt zu respektieren, die Richtigkeit der eigenen über-zeugung immer wieder selbst in Frage zu stellen. Vielerorts, bei den angeblich so kritischen Studenten ebenso wie bei deren Gegnern, gibt es eine fanatische Selbstgewißheit, in der die Demokratie nur schwer gedeihen kann. Wenn wir die Institutionen des Volksbegehrens und des Volksentscheides hätten, gäbe es vermutlich leidenschaftliche Mehrheiten für die Todesstrafe gegen Taximörder, vielleicht auch für ein Gesetz, das randalierende Studenten ins Arbeitshaus brächte. Der Parlamentarische Rat entschied also richtig, wenn er die direkte Demokratie einschränken wollte. Aber ging er nicht vielleicht in seiner Ablehnung zu weit?

Einige Länderverfassungen waren großzügiger. Plebiszitäre Elemente gibt es in den Länderverfassungen von Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen sowie Rheinland-Pfalz. In Bayern bedarf jede Verfassungsänderung einer Zustimmung des Volkes. Die Erfahrungen sind nicht ungünstig. In Bayern haben Volksbegehren den Anstoß für eine schulpolitische Entwicklung gegeben, deren Ergebnisse am Ende von einer breiten Mehrheit akzeptiert wurden. Die Vorschrift, die jede Verfassungsänderung der Volksabstimmung unterwarf, hat sich als nützliche Bremse gegen hektische Änderungssucht erwiesen.

In anderen Ländern haben die Volksabstimmungen weit größere Bedeutung als bei uns. In der Schweiz gibt es Orte, in denen alljährlich zu mehreren Volksabstimmungen aufgerufen wird, z. B. zur Entscheidung auch der Frage, ob die Wasserleitung durch die Straße A oder die Straße B verlegt werden soll. Die Beteiligung an solchen Abstimmungen ist häufig ziemlich schwach. Sie geben jedoch dem Bürger das reale Gefühl, daß er selbst es ist, der die politische Entscheidung trifft, nicht eine geheimnisvolle Maschinerie, auf die er wenig Einfluß hat. Auch in vielen Staaten der USA bedürfen wichtige politische Entscheidungen einer Volksabstimmung, z. B. die Ausgabe von Obligationen für Schulbauten oder Wasser-reinigung. Auch dieses Verfahren hat sich bewährt.

Gleichwohl sprechen gute Gründe dafür, Volksbegehren und Volksentscheide im Bereich der Bundesgesetzgebung vorerst noch nicht zuzulassen. Die Gefahr emotionaler Fehl-leistungen ist noch zu groß. Eine einzige Ausnahme sollte man jedoch jetzt bereits vorsehen: Verfassungsänderungen sollten auch im Bund einer Volksabstimmung unterworfen werden, um die Wichtigkeit dieser Entscheidung zu unterstreichen und zugleich die Schwerfälligkeit des Verfahrens als Brems-und Abkühlungsmechanismus nutzbar zu machen. Der Volksentscheid auf lokaler Ebene, den es bei uns kaum gibt, verdient dagegen breitere Förderung. Die Gemeindeordnung für Baden-Württemberg vom 25. 7. 1955 öffnet in § 21 die Möglichkeiten des Bürgerentscheides und des Bürgerbegehrens. Der Gemeinderat kann mit zwei Drittel der Stimmen aller Mitglieder über wichtige Gemeindeangelegenheiten einen Bürgerentscheid herbeiführen. 10— 25 °/o der Bürger (je nach Größe der Gemeinde) können das gleiche Verfahren durch ein Bürgerbegehren in Bewegung setzen. 14 Jahre lang wurden diese Möglichkeiten nicht ein einziges Mal genutzt. Im Sommer 1969 gab es dann gleich drei erfolgreiche Bürgerbegehren. Heilbronner Bürger wehrten sich gegen den Bau einer Tiefgarage in ihrem Stadtgarten, Mannheimer Bürger gegen den Bau einer Kongreßhalle in der Innenstadt, Konstanzer Bürger kämpften für eine neue Rheinbrücke. In Mannheim erreichte der anschließende Bürgerentscheid zwar die Mehrheit, aber nicht die erforderliche Wahlbeteiligung (25 0/0 statt 5O°/o); die beiden anderen Bürgerentscheide stehen noch aus. Die Bewegung, die sich hier zeigt, stimmt in jedem Fall hoffnungsvoll.

In Städten und Gemeinden gibt es viele Fragen, die man sinnvoll der Bevölkerung zur Entscheidung vorlegen kann. Vielleicht empfiehlt sich eine Mengenbegrenzung: höchstens eine Volksabstimmung im Jahr. Bei mehreren Anträgen käme derjenige zum Zuge, der die größte Anzahl von Unterschriften beibringt. Das gehört jedoch nicht in den Bereich des Grundgesetzes, sondern in den der Länder-verfassungen.

Legislative und Exekutive

Wenn man auch die direkte Demokratie mit dem Ziel ausbaut, der unmittelbaren Entscheidung des Volkes größere Möglichkeiten zu öffnen, so bleibt doch der Bruchteil der Entscheidungen, die auf diese Art erledigt werden, verschwindend gering. Die weitaus überwiegende Zahl der Entscheidungen wird stets bei den gewählten Organen liegen, der Regierung und dem Parlament. Welche Entscheidungen sollen beim Parlament liegen, welche bei der Regierung?

Nach der Theorie soll das Parlament die Gesetze erlassen, abstrakte Regelungen. Die Exekutive soll sie in Maßnahmen für den Einzelfall verwandeln. Aber immer zahlreicher werden die Gesetze, deren Kern in einer speziellen Verwaltungsmaßnahme besteht. Die Staatsbürgschaft in Milliardenhöhe, die die Voraussetzung der Gründung der Ruhrkohle AG gewesen ist, findet sich in § 16 des Gesetzes zur Anpassung und Gesundung des deutschen Steinkohlenbergbaus und der deut-B sehen Steinkohlenbergbaugebiete vom 15. Mai 1968. Die Ermächtigung ist zwar abstrakt formuliert, aber in der Realität hat der Bundestag durch dieses Gesetz einen speziellen Verwaltungsakt gemäß Art. 115 erlassen. Diese sogenannten „Maßnahmegesetze" werden immer häufiger.

Auch allgemein formulierte Gesetze regeln heutzutage oft die Einzelfälle bis ins letzte Detail. Wenn ein Gesetz die Sozialrenten erhöht, so wird der Computer für die Rentenerrechnung entsprechend anders programmiert. Das sind rein mechanische Vorgänge, ohne jeden Ermessensspielraum für die Exekutive. Der Anteil der Sozialverwaltung an dem Zustandekommen des Effekts, der dem einzelnen Rentenempfänger eine höhere Rente bringt, ist im Grunde nicht größer als etwa der Anteil des Setzers, der den Beschluß des Bundestages für den Abdruck im Bundesgesetzblatt vorbereitet — ein mechanischer, zwangsläufig ablaufender Vorgang, bei dem es nicht um Sachentscheidungen geht, sondern nur um die Bedienung von Maschinen. Aktionen dieser Art verdienen den Namen „Exekutive" nicht.

Man mag die Tatsache, daß der Umfang der gebundenen Verwaltung immer größer wird und der der Ermessensverwaltung immer kleiner, darauf zurückführen, daß die Leistungsverwaltung, die sich mit sozialen Zahlungen aller Art befaßt, immer mehr an Umfang und Bedeutung zunimmt. Hier handelt es sich zunächst nur um die Feststellung, daß sich der Ermessensspielraum der Verwaltung immer mehr einengt.

Aber das Parlament dringt noch auf anderen Wegen immer tiefer in die Verwaltung ein. Es unterhält z. B. einen Wehrbeauftragten mit 45 Mitarbeitern, der sich ständig mit Einzelfragen aus dem Bereich der Bundeswehr befaßt. Er hat zwar keine unmittelbare Weisungsbefugnis, sondern kann seine Erfahrungen nur durch einen Bericht an den Bundestag politisch wirksam machen. Aber die ständigen Kontrollen des Wehrbeauftragten führen notwendigerweise dazu, daß sich viele Offiziere und Beamte der Bundeswehr vor jeder Entscheidung die Frage stellen, was wohl der Wehrbeauftragte dazu sagen werde. Matthias Hoogen bemühte sich, der Bundeswehr die notwendige Freiheit zu lassen. Aber er konnte nicht verhindern, daß das Vorhandensein seines Apparates diese Freiheit einschränkt.

Die Institution des Wehrbeauftragten (Artikel 45 b) erfüllt ihren Zweck. Sie wird hier nur als Beispiel für die Verzahnung von Legislative und Exekutive erwähnt, die naturgemäß den Arbeitsablauf kompliziert. Unter Berufung auf die Institution „Wehrbeauftragter" taucht immer wieder der Gedanke auf, in der Bundesrepublik nach skandinavischem Vorbild allgemein einen Parlamentsbeauftragten für die Überwachung der gesamten Verwaltung (Ombudsman) einzusetzen. Ein wie umfangreiches Personal müßte ein solcher Ombudsman haben? Da die meisten Bundesgesetze von den Ländern, Gemeinden und von der Sozialversicherung durchgeführt werden, müßte dann nicht auch dort überall ein Ombudsman geschaffen werden? Würde diese Arbeit dann wirklich vom jeweiligen Ombudsman geleistet oder würden seine Beamten die Beamten der Verwaltung überwachen, neben der Dienstaufsicht durch deren Vorgesetzte und neben unserer weit ausgedehnten Verwaltungsgerichtsbarkeit (Art. 19 [4])?

Die Bundeswehrverwaltung muß ferner die mögliche Reaktion der Verwaltungsgerichte und des Verteidigungsausschusses des Bundestages ständig in ihre Überlegungen einbeziehen. Diese Gremien haben legitime Aufgaben, aber die dreifache Kontrolle, die nicht immer von übereinstimmenden Auffassungen ausgeht, erschwert notwendigerweise die Tätigkeit der Verwaltung.

Die Aktivität der Petitionsausschüsse des Bundestages und der Länderparlamente könnte zu einer weiteren Einengung führen, wenn sie sich zu einer umfassenden Nachprüfung angefochtener Verwaltungsentscheidungen ausbauten. In einigen Ländern scheint sich das anzubahnen. Im Bundestag hat Maria Jacobi, die kluge Vorsitzende des Petitionsausschusses, dieser Versuchung widerstanden. Man mag dem Petitionsausschuß bessere Arbeitsmöglichkeiten geben und es ihm erleichtern, Tatbestände aufzuklären. Er hat in vielen traurigen Fällen durch die bloße Aufhellung von Sachverhalten geholfen und dem Bundestag wichtige Informationen für die Gesetzgebungsarbeit geliefert. Aber auch der Petitionsaus-schuß, eine sehr nützliche Einrichtung, gehört zu der Gesamtentwicklung, die der Legislative immer mehr Möglichkeiten gibt, unmittelbar auf Einzelentscheidungen der Verwaltung einzuwirken. Ist diese Entwicklung wünschenswert oder ist sie zumindest unvermeidlich? Jedenfalls führt sie zu einer immer stärkeren Überlastung des Parlaments.

Die Leistungsgrenzen der Abgeordneten

Auch für den Abgeordneten hat der Tag nur 24 Stunden. Er soll im Plenum anwesend sein, in seinem Ausschuß regelmäßig mitarbeiten und sich ständig über viele Probleme unterrichten, durch Besprechungen mit Ministern, Verbänden, Fachleuten, Wählern. Fast alle Abgeordnete haben zugleich auch Parteiämter. Sie sollen in Versammlungen reden, Sprechstunden abhalten, im Rundfunk und Fernsehen auftreten. Wer aus einem fernen Wahlkreis kommt, verliert viel Zeit mit seinen Reisen.

Ein Teil der Abgeordneten ist von jeder Berufsarbeit freigestellt. Die Beamten treten mit der Wahl in den Ruhestand. Aber von den meisten Abgeordneten erwarten ihre Anwalts-kanzleien, ihre Betriebe, ihre Verbände ein Minimum an Berufsarbeit, mindestens soviel, daß sie in ständigem Kontakt mit den Tages-problemen ihres alten Arbeitsplatzes bleiben. Das führt zu einer ständigen Überlastung der Abgeordneten. Die Familien kommen überall zu kurz.

Auch die Qualität der Arbeit leidet. Wer keine Zeit hat nachzudenken, wer keinen Abstand von der Tagesproblematik halten kann, kommt oft zu einer Arbeitsweise, die die Vorgänge nur möglichst rasch vom Tisch bringen will. Was der Bundestag beschließt, findet sich im Bundesgesetzblatt gedruckt. Im Jahresdurchschnitt etwa 2500 Seiten im Großformat. In seiner Sitzung vom 10. und 11. Juli 1969 fand der Bundesrat 144 Vorlagen vor, darunter 95 Gesetze. Die Experten des Bundesrates bezeichneten nicht weniger als 80 davon als „bedeutsam". Am Ende der Sitzung sagte Professor Weichmann, amtierender Präsident des Bundesrates, „Wir haben soeben eine Tagesordnung erledigt, deren Fülle in der bisherigen Geschichte des Bundesrates wirklich einmalig dasteht . . . Dem Bundesrat sind durch die Fristen, unter denen er zu arbeiten hat, gleichsam natürliche Kapazitätsgrenzen gesetzt. Die hier vom Bundestag jetzt dem Bundesrat zugegangenen Vorlagen haben sowohl in ihrer qualitativen, wie in ihrer quantitativen Bedeutung ein Ausmaß erreicht, das diese Kapazitätsgrenzen schlicht übersteigt."

In den letzten sechs Wochen der 5. Legislaturperiode verabschiedete der Bundestag 99 Gesetze. Auf der Tagesordnung der Plenarsitzung vom 2. Juli 1969 standen 75 Punkte. In dieser Sitzung wurden 29 Gesetze verabschiedet, darunter zwei Änderungen des Grundgesetzes.

Gewiß waren alle diese Gesetze in Ausschüssen behandelt worden, viele von ihnen jedoch nur sehr kursorisch. Selbst für die Änderung des Grundgesetzartikels über die Neugliederung des Bundesgebietes konnte der Rechtsausschuß, wie erwähnt, Beratungszeit nur in einer einzigen Sitzung zur Verfügung stellen. Bei der Überfülle der Geschäfte ist das Plenum nicht mehr in der Lage, sich mit allen Gesetzen gründlich zu befassen. Wenn sich einige wenige Abgeordnete aus allen Fraktionen zusammenfinden, die aus irgendwelchen Gründen beispielsweise den Fragen des Schornsteinfegerwesens nahestehen, wenn diese Spezialisten ihre Vorstellungen in Gesetzesform vorlegen, dann haben sie eine hohe Chance, ihr Gesetz durchzubringen. Kein Abgeordneter kann alle Gesetzesvorschläge intensiv prüfen. Die Zahl der Abgeordneten, die den Problemen des Schornsteinfegerwesens Zeit widmen wollen, ist sehr klein. Je mehr Gesetze zu verabschieden sind, desto kleiner wird die Zahl der Abgeordneten, die aus genauer Kenntnis eine echte Mitverantwortung übernehmen können. Beim Gesetz über das Schornsteinfegerwesen dürfte diese Zahl unter zehn gelegen haben. Je größer der Gesetzesstoff wird, den der Bundestag zu bewältigen hat, desto kleiner wird der Stoffanteil, den der einzelne Abgeordnete zu übersehen und zu verantworten mag.

Der Abgeordnete ist notwendigerweise ein Ein-Mann-Betrieb. Er kann sich in seiner politischen Tätigkeit nicht vertreten lassen. Im Plenum überhaupt nicht, im Ausschuß nur durch Kollegen, was die Gesamtlast seiner Arbeit nicht vermindert. Für jede Vertretung, die er in Anspruch nimmt, muß er in anderen Fällen seinerseits als Vertreter fungieren. Die Summe der Arbeit aller Abgeordneter bleibt die gleiche.

Nun kann man gewiß die Arbeit des Abgeordneten erleichtern. Eine Vereinheitlichung aller Informationen nach einem bestimmten Schema, das Tatbestände und Argumente stets in der gleichen Gliederung darstellt, könnte seine Arbeitslast vermindern. Assistenten können sein Material aufbereiten. Der vorzügliche wissenschaftliche Hilfsdienst bemüht sich nach Kräften, die Abgeordneten zu unterstützen. Verbesserungen sind möglich, haben jedoch ihre Grenzen. Ein Wirtschaftsführer kann nach Be12 lieben Aufgaben delegieren, ein Abgeordneter nicht. Seine persönliche Arbeitsfähigkeit bleibt der engste Querschnitt.

Eine Entlastung würde auch eine Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre bringen. Der produktive Zeitraum zwischen dem Beginn der Gesetzgebungstätigkeit und der Flut der Gesetze zum Schluß der Periode würde sich verlängern.

Auch bei großzügigem Ausbau aller Hilfsmöglichkeiten ist jedoch der Abgeordnete physisch außerstande, sich auf die 30— 40 oder gar 65 Tagesordnungspunkte einer einzigen Bundestagssitzung vorzubereiten, zu denen er gemäß der Verfassungstheorie verantwortlich Stellung nehmen soll, stets namentlich, sobald die neuen Abstimmungsmaschinen installiert sind.

Das führt zu einem gefährlichen Scheinparlamentarismus, zu einem Abstimmungsverhalten, das nicht auf eigenem Urteil, sondern auf einer Art von Kameraderie beruht. Nun ist nichts dagegen einzuwenden, daß der Abgeordnete einem fachkundigen Kollegen vertraut, der Landwirt dem Spezialisten für Beamtenfragen, der Beamte dem Spezialisten für den Butterberg. Wenn es hier zu kurzen informierenden Gesprächen kommt, so kann ein erfahrener, menschenkundiger Abgeordneter seine Entscheidung durchaus nach dem Urteil eines vertrauenswürdigen fachkundigen Kollegen richten. Die Überlastung läßt jedoch in vielen Fällen nicht einmal für solche Gespräche die notwendige Zeit. Um die Maschine der Gesetzgebung in Gang zu halten, muß sich der Abgeordnete auf seine Spezialgebiete zurückziehen. Im einen oder anderen Falle kann er vielleicht auch einmal ein Gesetz intensiv bearbeiten, das außerhalb seines normalen Arbeitsbereiches liegt. Aber zumeist muß er sich dazu entschließen, auch ohne tragfähige Sachkenntnis in dieser oder jener Weise abzustimmen, nach bestem Wissen und Gewissen, wie die gängige Formel lautet. Oft genug ist jedoch das Gewissen ebenso schlecht wie das Wissen. Das ist kein Problem des Fraktionszwanges. Eine Abstimmung ohne Sachkenntnis, der Fraktion folgend, ist ebenso bedenklich wie eine Abstimmung ohne eigene Sachkenntnis, die von der Fraktionslinie abweicht. Die meisten Abgeordneten sehen die Gefahren dieses Scheinparlamentarismus kaum noch, weil sie ihn täglich praktizieren. Aber das geringe Ansehen, daß der Parlamentarismus bei unserer Jugend genießt, die Schockwirkung, die ein Besuch der Plenarsitzung bei manchen Besuchergruppen hervorruft, sollte uns zu denken geben.

Auf die Dauer kann der Parlamentarismus nur überleben, wenn er die Aufgaben des einzelnen Parlamentariers auf dessen Arbeitsfähigkeit begrenzt.

Das Parlament

Die repräsentative Demokratie, die die Entscheidung vom Volk auf ein gewähltes Parlament verlagert, ist ein Prozeß, der die Meinungen mit Sachverstand anreichern und zugleich die Emotionen verdünnen soll.

Unser Parlamentssystem hat im Grunde die englische Praxis aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, mehr als 300 Jahre zurück, ziemlich unverändert übernommen. Die Aufgaben des Parlaments haben sich gründlich verändert und riesig erweitert. Unser System nimmt davon keine Notiz. Der englische Abgeordnete aus der Zeit Oliver Cromwells kannte die Probleme, über die er abstimmte: über Steuern, die in seinem Wahlkreis aufzubringen waren; über die Soldaten, die er zu stellen hatte; über die Absetzung oder auch die Hinrichtung eines Königs; über das Vertrauen oder das Mißtrauen zu einer Regierung. Seine Entscheidung lag im Rahmen seiner eigenen Kenntnisse. Entscheidung und Entscheidungsfähigkeit entsprachen einander. Der Bundestag fordert dagegen vom Abgeordneten Entscheidungen weit über den Bereich seiner Entscheidungsfähigkeit hinaus. Das muß abgestellt werden. Welche Entscheidungen kann man billigerweise von einem Abgeordneten erwarten?

Er kann den Bundeskanzler wählen. Jeder einzelne Abgeordnete kennt die Kandidaten und kann deshalb eine fundierte Entscheidung treffen. Der Bundestag kann ferner über den Haushalt beschließen. Dazu braucht der einzelne Abgeordnete nicht alle Zahlen dieses Mammutwerkes zu übersehen: 3300 Seiten. Aber er kann sich ein Bild darüber machen, wie die Gesamtsumme der Einnahmen auf die großen Blöcke der Ausgaben verteilt werden soll: auf Sozial-wesen und Verteidigung, auf Bildung und Landwirtschaft, auf Beamtengehälter und Weltraumraketen. Wenn er die Verantwortung für die großen Grundlinien der Ausgabenpolitik übernimmt, kann er die Entscheidung über die Verteilung im einzelnen getrost den fachkundigen Kollegen des Haushaltsausschusses überlassen. Die Verteilungsfunktion des Haushaltsausschusses, der die Last für die Finanzverantwortung trägt, ist jedem Wähler anschaulich. Art. 110 (1) schreibt vor, daß der Haushaltsplan Einnahmen und Ausgaben auszugleichen hat. Das führt zu einer automatischen Selbstkontrolle: wenn der Haushaltsausschuß für einen bestimmten Zweck zusätzliche Mittel bereitstellen will, muß er eine andere Position um den gleichen Betrag kürzen.

Der Haushaltsmechanismus ist also heute noch voll funktionsfähig. Hier ist auch am ehesten eine weitere Entlastung der Abgeordneten möglich. Jedes Mitglied des Haushaltsausschusses sollte nicht nur einen, sondern mehrere Assistenten haben, die für ihn die Teile des Haushaltsplanes bearbeiten müßten, für die er als Berichterstatter fungiert.

Das Plenum ist ferner der großen Gesetzgebung gewachsen, etwa der Aufgabe, ein neues Strafrecht zu schaffen. Darüber wird jahrelang diskutiert. Jeder Abgeordnete kann sich in Ruhe unterrichten.

Das gleiche gilt für ein neues Aktiengesetz, selbstverständlich auch für eine neue Bundesverfassung, kurz alle Gesetze, die sich in den gängigen Taschenausgaben des Juristen finden.

Die Problematik beginnt bei den Spezialgesetzen. Dazu gehören einmal die Gesetze spezieller Lebensbereiche, Gesetze von der Art des Gesetzes über das Schornsteinfegerwesen; ferner die Gesetze, die Geld unter die Bürger verteilen, z. B. die Subventionsgesetze, die diesen oder jenen Zweck in der Wirtschaft oder der Landwirtschaft mit Geldzuwendungen fördern. Dazu zählen aber auch die zahlreichen Sonder-gesetze für bestimmte Bevölkerungsgruppen, für die Lastenausgleichsberechtigten, für die Kriegsgefangenen, Zuwendungen, die in kürzeren oder längeren Zeitabständen vergrößert und zugleich immer mehr verfeinert werden. Dieser Gesetzgebung ist der einzelne Abgeordnete offensichtlich nicht gewachsen. Wenn es immer tiefer in die Einzelheiten hineingeht, wird die Grenze seiner Aufnahmefähigkeit bald überschritten.

Otto Schmidt, der erfahrene und kenntnisreiche Vorsitzende des Finanzausschusses, ein Mann von unbestrittener Autorität und Integrität, hat in einer seiner Ausschußsitzungen gelegentlich einmal scherzhaft gesagt, er schlüge vor, eine offensichtlich unbedeutende Frage, die sich nur durch eine zeitraubende Behandlung im Ausschuß hätte aufklären lassen, aus dem Bereiche des Wissens in den Bereich des Glaubens zu versetzen, im Vertrauen auf die Erklärung eines bewährten Beamten. Ein solches Vertrauen in qualifizierte Ministerialbeamte ist fast immer gerechtfertigt.

Aber gelegentlich verursacht auch die Tatsache, daß kein einziger Abgeordneter die Konsequenzen eines Gesetzes übersieht, schlimme Mißgriffe. Wohl niemand im Bundestag wußte, daß das siebente Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes vom 9. 9. 1965 eine Entschädigung für eine nicht ausgeübte Professorentätigkeit einfach mit den Bezügen des Bundestagspräsidenten kumulierte (wenn diese Bezüge rechtlich wie Beamtenbezüge zu behandeln gewesen wären, hätte man sie auf die Entschädigung anrechnen müssen). Die Entschädigung, die dann zum Sturz des im übrigen so verdienten Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier führte, ist ohne Zweifel ordnungsgemäß festgesetzt worden. Zweifelhaft kann nur sein, ob das Gesetz zweckmäßig war, das übrigens mit Sicherheit keine „lex Gerstenmaier" gewesen ist.

Unser Verfahren der Gesetzgebung ist für solche Spezialgesetze ungeeignet, weil es den Abgeordneten mit einer Verantwortung belastet, die er vernünftigerweise nicht tragen kann. Hier muß Abhilfe geschaffen werden. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten.

Die italienische Verfassung sieht die Möglichkeit vor, daß das Plenum Gesetzgebungsbefugnisse auf die Ausschüsse delegiert. Ob das zweckmäßig ist, bleibt zweifelhaft. Aber es gäbe andere Lösungen.

Der Bundestag könnte ein besonderes Gesetzgebungsverfahren entwickeln, das die Verantwortung in solchen Fällen nicht dem Plenum zuschiebt, sondern einer namentlich bezeichneten Gruppe von Abgeordneten. Dafür gibt es Vorbilder. Die Untersuchungsausschüsse (Artikel 44) prüfen einen strittigen Fall und erstatten darüber dem Plenum einen Bericht, wobei es zu einem Mehrheitsund einem Minderheitsbericht kommen kann. Die Verantwortung für den Bericht im einzelnen liegt nur bei den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses.

Der Bundestag trägt die Verantwortung nur für Annahme oder Ablehnung des Ausschuß-Antrages, was praktisch auf die Alternative zwischen Annahme oder Ablehnung des Ausschuß-Berichtes herauskommt.

Wenn man diesen Gedanken abwandelt, könnte man etwa folgende Bestimmung in die Bundesverfassung einfügen:

„Der Bundestag kann beschließen, einen Gesetzesvorschlag auf den Weg der Fachgesetzgebung zu verweisen. Dies ist nicht zulässig, wenn soviele Abgeordnete widersprechen, wie zur Bildung einer Fraktion erforderlich sind." Das würde die Minderheit wirksam schützen und verhindern, daß aus politischen Gründen ein bestimmtes wichtiges Thema der ordentlichen Gesetzgebung entzogen wird. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach würden sich keine Schwierigkeiten ergeben, ein Gesetz über das Schornsteinfegerwesen in diesen Spezialweg zu verweisen, einen Regierungsentwurf ebenso wie einen Initiativantrag.

Für jedes Gesetz, das der Fachgesetzgebung überwiesen wird, wäre ein besonderer Ausschuß zu bilden, nach dem Vorbild der Untersuchungsausschüsse; alle Fraktionen wären zu beteiligen. Die Größe könnte sich nach der Bedeutung des Gegenstandes richten. Im allgemeinen sollte mit sieben bis dreizehn Mitgliedern auszukommen sein. Dieser Ausschuß hätte das Gesetz zu prüfen und darüber zu beschließen, nach Möglichkeit einstimmig. Aber Mehrheits-und Minderheitsvoten, alle namentlich bezeichnet, sollten zulässig sein. Dieser Bericht ginge dann ans Plenum. Das Plenum hätte zwei Möglichkeiten: es könnte den Bericht zustimmend zur Kenntnis nehmen und damit den Vorschlag des Ausschusses mit Gesetzeskraft ratifizieren, oder es könnte statt dessen beschließen, diesen Gesetzesvorschlag doch noch in die ordentliche Gesetzgebung zu überführen.

Dieser Vorschlag bedeutet in der Sache für viele Fachgesetze nichts anderes als eine Kodifizierung des heutigen Zustandes, in dem solche Fachgesetze auch nur von wenigen Spezialisten behandelt werden, meist in der Größenordnung sieben bis dreizehn. Der Bundestag nimmt solche Fachgesetze oft ohne Debatte in zweiter und dritter Lesung an, in wenigen Minuten. Das neue Verfahren hätte jedoch den Vorteil, daß es die Verantwortung sichtbar macht, die heute ganz undurchsichtig ist. Der Abgeordnete sieht, wer den Bericht unterschrieben hat. Wenn diese Kollegen sich einstimmig für eine bestimmte Regelung aussprechen, so ist das für ihn ein weit stärkeres Argument als der heute übliche Ausschußbericht, der über die Zusammensetzung der Beschlußmehrheit im Ausschuß nichts aussagt. Möglicherweise sind sowohl der Vorsitzende als auch der Berichterstatter, deren Namen unter dem Bericht stehen, beide überstimmt worden. Möglicherweise haben die Mehrheiten bei den einzelnen Paragraphen, die an verschiedenen Sitzungstagen behandelt worden sind, stark gewechselt. Der Abgeordnete, der mit der Materie nicht vertraut ist, weiß also heute überhaupt nicht, wieviel Vertrauen die Vorschläge des Ausschusses verdienen.

Das vorgeschlagene neue Verfahren ist nicht so ungewöhnlich, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Der Bundestag kennt heute schon Rechtsvorschriften, die er durch bloße Untätigkeit endgültig in Kraft setzt. Zollvorlagen gelten als bestätigt, wenn sie nicht binnen drei Monaten vom Bundestag widerrufen werden. In England kann die Regierung Verordnungen (Orders) auf den Tisch des Hauses legen. Sie gelten als genehmigt, sofern nicht ein Abgeordneter die Behandlung im Unterhaus fordert. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen hat einmal eine ganze Serie von Verordnungen, deren Gültigkeit durch die enge Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 80 des Grundgesetzes zweifelhaft geworden war, als Gesetze bestätigt. Es ist also keineswegs notwendig, für jedes Gesetz den gesamten komplizierten Mechanismus voll in Bewegung zu setzen.

Das Verfahren der Fachgesetzgebung stößt allerdings auf Schwierigkeiten, sobald es sich darum handelt, Geld zu verteilen. Schon heute drängen sich die Abgeordneten in die Fachausschüsse ihrer beruflichen Herkunft, die Landwirte in den Ausschuß für Landwirtschaft, die Beamten in den Innenausschuß (der in der letzten Legislaturperiode zu mehr als 70 0/0 aus Beamten bestand). Hier wäre eine weitere Vorkehrung notwendig. Bevor Geld verteilt werden kann, müßte festgelegt werden, wieviel Geld verteilt werden darf. Im Bundestag läuft das Verfahren genau umgekehrt. Die Finanz-belastung, die sich aus der Regierungsvorlage ergäbe, wird von den Ausschüssen regelmäßig beträchtlich in die Höhe getrieben. Für das Plenum ist es dann sehr schwer, in den meisten Fällen überhaupt unmöglich, die Ausschußbeschlüsse in einer sinnvollen Verteilung der Kürzungen auf die Summe zurückzuschneiden, die die Regierungsvorlage für diesen Zweck vorsah.

Jede Verteilung von Geld sollte vernünftigerweise von der Feststellung ausgehen, wieviel Geld zur Verteilung zur Verfügung steht. Da das Geld niemals für alle Wünsche reicht, auch in den Zeiten höchster Konjunktur nicht, muß man stets die verschiedenen Vorhaben nebeneinanderstellen und sich dann vorab ein Bild darüber machen, wie man die verschiedenen, sämtlich wünschenswerten Zwecke dotieren will. Wie der Geldstrom verteilt werden soll, kann jedoch nicht der einzelne Fachausschuß entscheiden, der seine Angelegenheiten naturgemäß als die wichtigsten ansieht, sondern nur das Plenum. Mit anderen Worten: Der Beschluß über Finanzvorlagen, die Geld kosten, sollte von der vorherigen Bewilligung der notwendigen Haushaltsmittel abhängig Die sein. -ser Vorschlag erregt bei den Gruppen, die für ihre speziellen Interessen fürchten, naturgemäß Widerstand. Es ist aber keineswegs revolutionär. In England dürfen Abgeordnete Anträge, die zu Ausgabenerhöhungen führen, nur dann stellen, wenn die Regierung zustimmt. Auch bei der Debatte über den Haushaltsplan können ohne Zustimmung der Regierung nur Anträge auf Senkung gestellt werden; für die Haushaltsdebatten stehen dort alljährlich überhaupt nur 26 Tage zur Verfügung. Demgemäß sollte ein neuer Artikel in die Verfassung eingeführt werden, etwa mit folgenden Worten:

„Gesetzesentwürfe, die zu einer Mehrbelastung des Haushalts führen, dürfen erst dann verabschiedet werden, wenn ein Haushaltsplan (ordentlicher Haushaltsplan oder Nachtragshaushaltsplan) die erforderlichen Summen bereitgestellt hat. Soweit Gesetze eine Belastung nur für künftige Haushaltspläne zur Folge haben, dürfen sie erst verabschiedet werden, wenn der Haushaltsausschuß bestätigt hat, daß die erforderlichen Mittel voraussichtlich bereitstehen. In diesem Rahmen müssen sich die Gesetzesvorschläge halten. Bei Streit über die Höhe der Belastung, die aus einem Gesetz zu die erwarten ist, bleibt Schätzung des Haushaltsausschusses maßgebend. Diese Vorschriften gelten auch für das Verfahren der Fachgesetzgebung."

Auf diese Weise könnten auch die Spezialgesetze, die zusätzliche Ausgaben mit sich bringen, im Wege der Fachgesetzgebung vereinfacht verabschiedet werden. Das ist unbedenklich, wenn sich die Vorschläge in dem Rahmen halten, den das Plenum vorab bei der Geldzuteilung gezogen hat.

Ein Wirtschaftsund Sozialrat

Wer seine Überlastung beklagt, ist trotzdem meist wenig bereit, Aufgaben abzugeben. So verhält sich auch der Bundestag, wenn man ihm vorschlägt, einen Wirtschaftsund Sozial-rat zu schaffen. Für eine solche Einrichtung gibt es eine Reihe von Vorbildern. Die Weimarer Republik hatte seit 1920 den Vorläufigen Reichswirtschaftsrat mit 326 Mitgliedern, je 128 Arbeitgeber und Arbeitnehmer und 70 „Sonstige". Dieses Gremium erwies sich wegen seiner Größe nur als beschränkt arbeitsfähig. Der Vorläufige Reichswirtschaftsrat hat jedoch in einigen seiner Ausschüsse eine nützliche geleistet und Tatbestände, Arbeit schwierige z. B. im Kartellwesen, dem Gesetzgeber verständlich gemacht.

Bei der EG-Kommission arbeiten der Beratende Ausschuß der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl mit 51 Mitgliedern (je ein Drittel Produzenten, Arbeitnehmer und Verbraucher) sowie der Gemeinsame Wirtschaftsund Sozialausschuß der Europäischen Wirtschaftsund der Atomgemeinschaft mit 101 Mitgliedern (27 Arbeitgeber, 33 Arbeitnehmer und 41 Vertreter der Allgemeininteressen). Beide Ausschüsse haben sich bewährt. Die Mitglieder zeichnen sich durch ein hohes Maß von Sachkunde aus. Die ständige Zusammenarbeit zwischen den führenden Sprechern der verschiedenen Lebensbereiche hat ein sachlich fruchtbares Verhandlungsklima entstehen lassen.

Die französische Verfassung vom 4. Oktober 1958 hat ihrem Wirtschafts-und Sozialrat einen besonderen Abschnitt gewidmet. Er soll den öffentlichen Gewalten beratend zur Seite stehen. Die 205 Mitglieder kommen aus den verschiedenen ständischen Gruppen Frankreichs und der überseeischen Gebiete.

In einem Wirtschaftsund Sozialrat findet der Sachverstand bessere Arbeitsbedingungen als in einem politischen Parlament, in dem die drängenden politisch-taktischen Aufgaben des Tages den Vorrang beanspruchen. Auch im Parlament gibt es viel Sachverstand. Energische und intelligente Abgeordnete arbeiten sich rasch auch in völlig fremde Arbeitsgebiete ein. Das beweist der Haushaltsausschuß.

Von seinen Mitgliedern, die ihre Sache im ganzen vorzüglich machen, sind nur wenige Verwaltungsexperten. Neben acht Beamten und neun Angestellten fanden sich dort in der fünften Legislaturperiode vier Landwirte, ein selbständiger Kaufmann, ein Zeitungsverleger, ein Diözesansekretär, zwei Rechtsanwälte, ein Arzt, ein Zahnarzt, ein Architekt und ein Journalist. Franz Josef Strauß, von Hause aus Philologe, war unbestritten ein sehr tüchtiger Finanzminister. Auch der französische Staatspräsident Pompidou stammt bekanntlich aus dem Stande der Studienräte. Bei jedem echten Politiker liegt das Schwergewicht jedoch nicht in der Facharbeit, sondern in der allgemeinen Politik, die für ihn notwendigerweise zugleich Parteipolitik ist. Die Fachfragen sind deshalb im Kreis der Fachleute besser aufgehoben.

Die Befürchtung, ein Wirtschaftsund Sozial-rat könnte die Kompetenzen des Bundestages beschneiden, ist unbegründet. Ein solcher Rat trifft keine Entscheidungen, sondern bildet Meinungen. Das Ergebnis gründlicher Fachberatungen im Wirtschafts-und Sozialrat, vielleicht Mehrheits-und Minderheitsmeinungen, in einem Ausschußbericht intelligent aufbereitet, wäre für den Bundestag eine sicherere Grundlage als die Häufung widersprechender, unvergleichbarer Informationen, durch die er sich heute allzuoft mühsam durcharbeiten muß. Das Europäische Parlament hat in der Tätigkeit des Europäischen Wirtschaftsund Sozialausschusses niemals eine Beschneidung, sondern stets eine Förderung seiner eigenen Arbeit gesehen.

Der Wirtschafts-und Sozialrat sollte deshalb in einer kommenden Bundesverfassung seinen Platz finden. Wie er im einzelnen zusammenzusetzen wäre, braucht hier nicht erörtert zu werden. Diese Frage wird zwar heftige Kämpfe auslösen, denn jede Gruppe wird darauf drängen, einen möglichst großen Anteil zu erhalten. Das ist aber im Grunde mehr eine Frage des Prestiges als des Einflusses. Der Wirtschaftsund Sozialrat kann seiner Natur nach die Dinge nicht durch Mehrheitsvoten gestalten. Sobald eine Frage streitig wird, muß sie ans Parlament gehen, das sie mit den herkömmlichen Abstimmungsmethoden entscheiden muß. Wenn der Wirtschafts-und Sozialrat zu einer Einigung kommt, eine ideale Lösung, die weit öfter erreicht wird als man meint, ist das Zahlenverhältnis ohnehin bedeutungslos. Aber auch im Streitfälle kann es nicht auf die Zahl der Stimmen ankommen, ebensowenig wie bei einer Tarifverhandlung. Deren Verlauf wird nicht dadurch beeinflußt, daß die Arbeitgeber fünf Delegierte, die Gewerkschaften dagegen zwanzig entsenden oder umgekehrt. Für den Einfluß zählt nur das Gewicht der Gruppe, nicht die Zahl der Delegierten. Wenn man das bedenkt, wird das Problem der Sitzverteilung vielleicht leichter zu lösen sein.

Für fachliche Einzelfragen, die sich isoliert behandeln lassen, könnte die neue Einrichtung der Enquete-Kommissionen, vom Bundestag im Juni 1969 beschlossen, eine rationelle Bearbeitung liefern. Die Enquete-Kommissionen mischen einige ad hoc berufene Fachleute mit einigen wenigen Abgeordneten (die die Verbindung mit der politischen Realität sichern sollen).

Diese Enquete-Kommissionen unterscheiden sich von den früheren Sachverständigen-Kommissionen (in England Royal-Commission) dadurch, daß sie nicht von der Regierung, sondern vom Parlament eingesetzt werden.

Wenn diese neuen Gremien arbeiten, der Wirtschafts-und Sozialrat als ständige Einrichtung und die Enquete-Kommission von Fall zu Fall, so sollte geprüft werden, ob nicht die zahlreichen sonstigen Beratungsgremien des Bundestages und der Bundesregierung in eine der neuen Formen übergeführt werden sollten. Die Problematik der Arbeit des Sachverständigen-rates, bestehend aus fünf Professoren, hat sich in den letzten Jahresberichten gezeigt. Sie enthielten umfangreiches, höchst instruktives Material (das allerdings zumeist vom Statistischen Bundesamt und aus den Ministerien stammte). Die Sachverständigen deuteten dieses Material in einigen Fällen ziemlich eigenwillig. Manche ihrer Prognosen erwiesen sich als falsch. Daraus sollte man ihnen keinen Vorwurf machen. Eine unvollkommene Prognose ist immer noch besser als der Verzicht auf jede Beschäftigung mit der Zukunft. Aber die amtliche Autorität, die einige wenige Spezialisten auf diese Weise erhalten, ist problematisch. Man sollte deshalb diese Aufgaben entweder auf den Wirtschafts-und Sozialrat oder auch auf Enquete-Kommissionen überführen. Beide können die Untersuchungen wesentlich breiter anlegen. Es gibt ja nicht nur fünf Professoren der Volkswirtschaft, sondern mehrere hundert. Ein brei-17 ter angelegtes Verfahren könnte alle ihre Meinungen nach dem Gewicht ihrer Argumente fruchtbar machen, unter Vermeidung der „oligopolistischen" Situation, die wir heute haben. Auch die wissenschaftlichen Beiräte der Ministerien sind problematisch. Nachdem ein Ministerium mit dieser Einrichtung begonnen hatte, mußten alle übrigen Ministerien folgen. Die Ergebnisse verwirren, weil die Beiräte sich widersprechen. Was der wissenschaftliche Beirat des Finanzministeriums für das einzig richtige hält, wird etwa vom wissenschaftlichen Beirat des Wirtschaftsministeriums wissenschaftlich abgelehnt. Der Abgeordnete, der die sehr entschiedenen, aber völlig widersprechenden Formulierungen der verschiedenen Beiräte in der Zeitung liest, ist völlig ratlos. Wenn nicht einmal die Wissenschaft einig ist, was soll er dann von der Sache halten?

Alle diese Gremien sollten deshalb in den Wirtschaftsund Sozialrat überführt werden, der es zu übernehmen hätte, die widersprechenden Meinungen so darzustellen, daß der Abgeordnete sie abzuwägen vermag.

Der Wirtschaftsund Sozialrat bekäme dadurch in gewissem Sinne die Stellung, die der Generalanwalt bei französischen Verwaltungsgerichten und beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat. Er faßt am Ende der Diskussion noch einmal alle Informationen, alle Argumente für und wider zusammen, um den Richtern die verwirrende Fülle des Materials übersichtlich zu unterbreiten.

Eine solche Aufbereitung des Stoffs wäre eine wichtige Verbesserung der Information des Abgeordneten, deren Problematik hier nicht im einzelnen behandelt werden kann.

Die Aufgaben des Gesetzgebers

Die Summe dieser Maßnahmen, mit denen sich das Parlament entlasten könnte, reicht jedoch nicht aus, die Verantwortung des Abgeordneten mit.seiner Leistungsfähigkeit in Einklang zu bringen. Dazu muß vielmehr die Legislative entlastet werden.

Die Entwicklung verläuft zur Zeit im entgegengesetzten Sinne. Das Parlament dringt immer tiefer in den Bereich ein, der legitim der Exekutive gehört. Diese Entwicklung empfängt Anstöße von beiden Seiten, von den Parlamentariern wie von der Regierung.

Das Parlament sollte nur die Gesetze beschließen. Die Durchführungsverordnungen sind Sache der Regierung. Darüber ist man sich in der Theorie einig. Aber in der Praxis verlangen die Ausschüsse mehr und mehr, daß die Regierung dem Ausschuß die späteren Durchführungsverordnungen schon zur Kenntnis bringt, bevor das Gesetz beschlossen wird. Der Ausschuß macht dann den Abschluß seiner Beratungen davon abhängig, daß sich die Regierung in diesem oder jenem Punkt, der unbestritten zu ihrer eigenen Zuständigkeit gehört, schon vorweg dem Ausschuß gegenüber endgültig festlegt. In der politischen Wirkung kommt das auf das gleiche hinaus, als ob das Parlament diese Bestimmung ins Gesetz selbst aufnähme.

Der Drang der Parlamentarier, die spätere Verwaltungspraxis möglichst weitgehend schon vorher genau zu fixieren, hat eine Reihe von Gründen. Bei den Länderparlamenten wirkt sich hier ein gewisser Stoffmangel aus. Die großen Gesetze, die jedes Land zu verabschieden hatte, sind erledigt. Was an Breite fehlt, wird durch immer größere Tiefe ausgeglichen, tief in den Bereich der Durchführungsverordnungen und Verwaltungsvorschriften hinein.

Daneben zeigt sich ein zunehmender Hang zum Perfektionismus. Die alten Fachleute des Ausschusses, an Fachkenntnissen jedem Ministe-

rialbeamten ebenbürtig, haben sehr klare Vorstellungen von dem, was sie erreichen möchten. Sie wollen das auch bis in die Ausführungsbestimmungen hinein durchsetzen.

Dazu kommt eine dritte Ursache. Die Interessenverbände, an den Ausführungsbestimmungen oft mehr interessiert als an den Gesetzen, haben auf die Fachleute des Ausschusses zuweilen größeren Einfluß als auf die Beamten der Ministerien. Sie versuchen deshalb, durch einen Beschluß des Ausschusses ihre Vorstellungen gegen unerwünschte-Änderungen durch die Beamten zu sichern. Das alles geschieht in vollster Gutgläubigkeit, sowohl bei den Verbänden als auch bei den Abgeordneten, die sich von guten Argumenten überzeugen lassen. Daß sie damit in einen Bereich eindringen, der nicht der ihrige ist, wird ihnen nicht bewußt. So erleben wir in manchen Bereichen eine ungesunde Zementierung von Einzelbe-Stimmungen, die bei veränderter Entwicklung nicht rasch genug geändert werden können. Der Bundestag hätte die neue Bundesärzteordnung, Anfang 1969 verabschiedet, auf wenige Bestimmungen beschränken können. Aber die Abgeordneten verlangten eine genaue Information über alle Zukunftspläne des Ministeriums. Das erschwert späterhin jedes Experiment. Eine Richtlinie kann wesentlich leichter geändert werden als ein Gesetz. Aber das will der Abgeordnete, der seine Vorstellungen verwirklichen möchte, nicht sehen.

Neben diesen Kräften, die vom Parlament in den Bereich der Exekutive eindringen, gibt es Kräfte aus dem Regierungslager, die das noch fördern. Die Regierung will sich gegen politische Kritik schützen. Das erreicht sie am einfachsten, wenn sie ihre Maßnahmen vorweg vom Parlament billigen läßt. Ob die Entscheidung der Bundeswehr für den Flugzeugtyp A oder den Flugzeugtyp B die richtige war, kann später einmal Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen werden. Das hat sich beim Schützenpanzer HS 30 und beim Starfighter gezeigt.

Um sich gegen solche Angriffe zu schützen, lädt die Regierung die Verantwortung schon vorher auf die Ausschüsse des Bundestages ab. Sie setzt bereitwillig die Mitglieder des Verteidigungsausschusses in die verschiedenen Flugzeugtypen und läßt ihnen sachverständige Vorträge über die Vorzüge dieses oder jenes Systems halten. Nun arbeitet sich der eine oder andere Abgeordnete sehr intensiv in die Materie ein. Aber neben den Aufgaben im Verteidigungsausschuß hat er auch noch andere Pflichten, im Wahlkreis, in seinem Beruf. Im Vergleich mit den Fachleuten der Ministerien, die sich viele Jahre mit einem schmalen Ausschnitt der Problematik beschäftigen, bleibt er meist ein hoffnungsloser Amateur. Gewiß kann man nicht alle Entscheidungen den Fachleuten überlassen. Das Parlament soll mit ihnen diskutieren, einen Rahmen abstecken. Aber die Entscheidung, ob der Flugzeugtyp A oder der Flugzeugtyp B der geeignetere ist, übersteigt die Leistungsfähigkeit des Abgeordneten, auch wenn die parlamentarischen Spezialisten so etwas ungern hören. Die meisten Abgeordneten, in ein solches Flugzeug gesetzt, können sich doch vernünftigerweise ein Urteil nur über die Güte der Polsterung und die Sicht aus den Fenstern bilden, aber nicht über seine militärische Leistung.

Das Parlament soll sich daher daraut beschränken, die langfristigen politischen Richtlinien zu geben, also etwa darüber zu entscheiden, inwieweit die Bundeswehr der Verteidigung, inwieweit sie auch dem taktischen Angriff dienen soll, in welchem Verhältnis und mit welchen Waffenarten die Teilstreitkräfte ausgerüstet werden sollen. Aber was dazu im einzelnen zu geschehen hat, sollte vernünftigerweise nur die Exekutive entscheiden, geführt von einem verantwortlichen Minister. Das Parlament sollte also von sich aus die Versuche der Regierung, ihm Mitverantwortung für exekutive Entscheidungen aufzubürden, energisch zurückweisen, so reizvoll es naturgemäß im Einzelfall sein kann, an einer sensationellen Entscheidung über dieses oder jenes Projekt mitzuwirken, bedrängt und hofiert von den Lieferinteressenten.

Ein Parlament, das sich entlasten will, muß es aufgeben, im Bereich der Exekutive mitzureden; es muß auf die Mitarbeit an Durchführungsbestimmungen und die Mitverantwortung für Beschaffungsentscheidungen verzichten. Dieser Rückzug ist auch deshalb geboten, weil sich das Parlament die Möglichkeit späterer Kritik verbaut, wenn es schon vorher mitwirkt. Wenn sich späterhin die Beschaffung des Flugzeugmusters A als Fehler erweist, wie soll das Parlament diese Entscheidung kritisieren, wenn es sie vorher ausdrücklich gebilligt hat? Mit welchem Recht will es späterhin Durchführungsbestimmungen beanstanden, die vorher im Ausschuß bereits allgemeine Zustimmung gefunden hatten?

Wer zur Aktivität neigt, ist ständig versucht, überall mitzureden und mitzugestalten. Jeder von uns erlebt das jeden Tag. Aber dieser Versuchung müssen wir widerstehen. Das Parlament stärkt seine Stellung, wenn es der Regierung den notwendigen Spielraum läßt: wenn es den Beamten die Möglichkeit gibt, die wirksamsten Methoden zur Durchführung des Gesetzes nach eingehendem Studium der Möglichkeiten in eigener Verantwortung auszuarbeiten. Diese Beamten folgen heute allzuoft achselzuckend Wünschen des Ausschusses, die sie für unvernünftig halten, weil sie nicht durch Widerstand das Gesetz zu Fall bringen möchten. Gewiß könnten die Beamten in solchen Fällen ihre Minister mobilisieren, und sie sollten es auch häufiger tun, aber die Überfülle des Stoffs, die Notwendigkeit einer zügigen Behandlung führen immer wieder zu Konzessionen auf dem Wege des geringsten Widerstandes.

Das Parlament kann seine Kontrollaufgaben nur dann erfüllen, wenn es zunächst einmal unbeteiligt abwartet, wie sich die Maßnahmen der Exekutive bewähren. Wer wirksam kontrollieren will, darf sich nicht in eine Lage bringen, in der er am Ende eigene Fehlleistungen zu verteidigen hat. Das gilt übrigens auch für den Bundesrechnungshof. Wenn die Regierung vorher beim Bundesrechnungshof anfragt, wie er künftige Maßnahmen beurteilen würde, schaltet sie damit seine Kontrollfunktion weitgehend aus. Wie soll er späterhin etwas beanstanden, was er vorher ausdrücklich gebilligt hat?

Die Festsetzung einer neuen Grenze zwischen Legislative und Exekutive setzt jedoch nicht nur eine Änderung von Vorschriften, sondern auch eine Änderung der Theorie voraus, unserer Anschauungen von den Aufgaben des Ministers und seiner Verantwortlichkeit.

Ministerverantwortung, Rechtsförmlichkeit und Handlungsspielraum

Nach Art. 65 GG leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich unter eigener Verantwortung. Der Bundestag hat keine Möglichkeiten, ihn politisch zur Verantwortung zu ziehen. Ein Mißtrauensvotum gibt es nur gegen den Bundeskanzler, nicht gegen einen Bundesminister. Dem Bundestag steht es zwar frei, dem Kanzler deshalb das Mißtrauen auszusprechen, weil er an einem mißliebigen Minister festhält. Solange jedoch der Bundestag nicht den Bundeskanzler abberufen will, hat er rechtlich keine Möglichkeit, die Abberufung eines Ministers zu erzwingen.

Konrad Adenauer und Kurt Schumacher, die beiden rivalisierenden Kanzlerkandidaten, hatten 1949 diese Bestimmungen auf ihre Wünsche zugeschnitten. Sie konnten an Bismarck anknüpfen. Nun kann man vernünftigerweise einem Kanzler keinen Minister aufzwingen, mit dem er nicht arbeiten will. Aber muß der Kanzler das Recht haben, dem Bundestag einen Minister aufzuzwingen, den das Parlament solche Bestimmung -ablehnt? Eine ist of fenbar nicht notwendig. Die Erfahrungen bei der Strauß-Krise haben gezeigt, daß auch ein starker Bundeskanzler einen Minister nicht gegen die entschlossene Ablehnung einer Parlamentsmehrheit halten kann. Daraus sollte die Bundesverfassung Folgerungen ziehen: Der Bundestag sollte die Möglichkeit erhalten, die Abberufung eines einzelnen Ministers zu verlangen.

Eine Verfassung, die allzu viel Verantwortung auf eine Person konzentriert, führt leicht zur Nichtverantwortung. Der Bundeskanzler kann nämlich mit Recht sagen, ihm sei nicht zuzumuten gewesen, sich um alle diese Einzelheiten zu kümmern. Er ist, wie der Abgeordnete Wolfgang Pohle bei der Aufwertungsdebatte im Mai 1969 formulierte, kein „Sachverständiger" für alle Fachfragen, die Gegenstand politischer Entscheidungen werden.

Aber vom Fachminister wird so viel Sachverstand erwartet, daß er auch für die wichtigeren Einzelentscheidungen seines Ressorts verantwortlich gemacht werden kann, juristisch wie persönlich. Das spricht dafür, jeden einzelnen Minister vom Vertrauen des Bundestages abhängig zu machen. Da sein Nachfolger auch des Vertrauens des Bundeskanzlers bedarf, geht es natürlich nicht an, das Mißtrauensvotum gegen einen Minister nur in der Form der Wahl eines Nachfolgers zuzulassen, wie das beim Bundeskanzler vorgesehen ist (Art. 67 GG). Bei der Abberufung eines einzelnen Ministers kann kein politisch gefährliches Vakuum entstehen. Die Regierung als Ganzes arbeitet ja weiter. Jeder Minister wird nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung durch einen Kollegen vertreten. Im übrigen betreut ein Staatssekretär die laufenden Geschäfte.

Wenn man den Minister in dieser Weise für die Ergebnisse seiner Arbeit politisch verantwortlich machen will, muß man ihm Hand-lungsspielraum gewähren. Daß der Minister sich im Rahmen der Gesetze halten muß, versteht sich von selbst. Wenn er ein Gesetz verletzt, läßt sich dieser Rechtsbruch niemals damit rechtfertigen, daß das Ergebnis wünschenswert gewesen sei. Man muß jedoch folgende Frage stellen: Soll der Minister bestimmte Ergebnisse erreichen (und dafür verantwortlich gemacht werden) oder hat er nur den Nachweis zu führen, daß er die Richtlinien, die ihm das Parlament in einer wachsenden Zahl von Ordnungsvorschriften in immer stärkerer Detaillierung erteilt, genau durchgeführt hat? Soll der Gesetzgeber in allen Bereichen möglichst viel vorweg ordnen oder soll er sich darauf ausrichten, Mißstände zu verhüten? Entzündet hat sich der Streit an der konzertierten Aktion, einer formlosen Veranstaltung, in der Mitglieder der Regierung, voran der Bundeswirtschaftsminister, mit Sprechern der Industrie, des Handels und der Gewerkschaften Zusammentreffen, um Informationen auszutauschen und das Verhalten aller Kräfte auf eine einheitliche Ziellinie auszurichten. Das sind dann Gespräche, keine Verwaltungsakte, die mit Rechtsmitteln angreifbar wären. Das Fehlen von Rechtsförmlichkeit, die sich an vorgeschriebene Verfahren hält, die fehlende Möglichkeit, das Verwaltungsgericht oder den Bundesrechnungshof zu mobilisieren, hat dieses Verfahren einigen Verfassungstheoretikern, z. B. Kurt H. Biedenkopf, suspekt erscheinen lassen. Jedoch zu Unrecht.

Die Regierung hat es in jedem Falle in der Hand, den Apparat der Gesetzgebung in Bewegung zu setzen. Dann kann sie im Rahmen der Gesetze der Industrie, dem Handel, den Gewerkschaften Anweisungen erteilen. Das Parlament hat es in jedem Falle in der Hand, durch eine Initiative die Beziehungen zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft rechtsförmlich zu gestalten. Aber das findet seine Grenzen an den Grundsätzen unserer Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung, z. B.der Tarifautonomie. Lohnerhöhungen für Arbeiter des Bundes, der Länder und der Gemeinden haben großen Einfluß auf die Lohnentwicklung und damit auf die Kosten auch der übrigen Wirtschaft, weil sich ein Tarifvertrag nach dem anderen richtet. Aber diese Tarifverträge des öffentlichen Dienstes werden nicht durch gesetzesähnliche Staatsakte parlamentarisch gestaltet und kontrolliert, sie sind vielmehr das Ergebnis einer normalen Tarifverhandlung, in welcher der federführende Bundesinnenminister rechtlich keine andere Stellung hat als der Sprecher eines industriellen Arbeitgeberverbandes. Ob der Staat solche Verhandlungen hart oder weich führen will, ob er es vielleicht gar auf einen Streik ankommen lassen soll: diese Frage kann der Minister im großen Rahmen vorher im Bundeskabinett klären. Aber das Parlament kann ihm das Ausmaß der Lohnerhöhung nicht vorschreiben. Solange der Gesetzgeber die Tarifautonomie respektiert, kann die parlamentarische Kontrolle des Innenministers nur eine personale sein: wenn das Parlament mit seinen Leistungen nicht zufrieden ist, kann es auf Ablösung drängen.

In der Politik gibt es also neben dem Bereich der Vorschriften, die bestimmte Vorgänge abstrakt und kontrollierbar regeln, auch einen Bereich des personalen Wirkens, einen Handlungsspielraum, in dem sich das Verhalten des verantwortlichen Ministers nicht durch Anordnungen vorformen läßt.

Wo liegt die Grenze dieser beiden Bereiche?

Der Jurist alter Schule möchte möglichst viel vorweg regeln. Er meint, der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 unseres Grundgesetzes fordere das. Aber dieser Gleichheitsgrundsatz, vom Bundesverfassungsgericht weit ausdehnend interpretiert, betrifft nur die Gleichheit vor dem Gesetz. In dem Raum, der nicht vom Gesetz, sondern vom Handeln bestimmt wird, kann dieser Gleichheitsgrundsatz nicht gelten. Wenn sich der Wirtschaftsminister in den Bergarbeiterstreik einschaltet, so verpflichtet ihn das keineswegs, sich auch in den Streik der Münchener Konditoren einzuschalten. Aber es wäre ebenso abwegig, ihm die Intervention in den Bergarbeiterstreik zu untersagen, weil er nicht in allen Streikfällen intervenieren kann. Weil er die Verantwortung für seine Wirtschaftspolitik und deren Ergebnisse trägt, muß er frei darüber entscheiden, wo, wann und wie er intervenieren will. Sein Verhalten steht unter der parlamentarischen Kontrolle. Das Parlament mag ihn in einer Fragestunde darüber zur Rede stellen, warum er sich in diesen und nicht in jenen Streik eingeschaltet hat. Es kann einer Bundesregierung das Vertrauen entziehen, wenn es deren wirtschaftspolitische Leistungen bemängelt. Aber das Parlament kann nicht als solches im Bergarbeiterstreik intervenieren, solange die Tarifautonomie gilt. Es muß dem Minister Handlungsspielraum lassen. (Die Untätigkeit der Bundes-und Landes-minister bei den überraschenden wilden Streiks in Dortmund, Sommer 1969, war schlechte Politik. Konrad Adenauer hätte sich sofort eingeschaltet.) In bestimmten Bereichen läßt sich also der Staatseinfluß nur dann rechtsförmlich gestalten, wenn man tief in unsere Gesellschaftsstruktur eingreift und so geheiligte Vorstellungen wie die Tarifautonomie über Bord wirft. Das will offenbar niemand ernstlich.

In anderen Fällen wäre eine Ausdehnung der Gesetze möglich. Man könnte z. B. anstelle der Selbstbeschränkung der Mineralölindustrie, die auf Zureden des damaligen Wirtschaftsministers Ludwig Erhard freiwillig den Ausbau ihrer Raffineriekapazität verlangsamt hatte, ein Gesetz erlassen, das diesen Ausbau rechtsförmlich, gerichtlich anfechtbar regelt. Halten die Kritiker dieses Selbstbeschränkungsabkommens, die den Mangel der Rechts-und Justizförmlichkeit beanstandet haben, ernsthaft die Alternative . Gesetzgebung'für die bessere? Glauben sie, daß ein Ministerialrat eine so schwierige Investitionsplanung besser lenken könnte als die beteiligten Fachleute der Wirtschaft?

Die Argumentation der Regierung ging dahin, bei einer Verschärfung des Wettbewerbs-drucks werde sie mit Maßnahmen der Gesetzgebung vorgehen müssen, die die Mineralöl-industrie durch ein volkswirtschaftlich vernünftiges Verhalten abwenden könne. Die Regierung benutzt also den Gesetzgeber als Stock, mit dem sie droht. Darf sie das?

Hier sind die Grundsätze anzuwenden, die seit je für die Auslegung des Begriffs der Nötigung gelten. Es kommt auf die Verhältnismäßigkeit von Mittel und Zweck an. Wenn eine legitime Maßnahme angedroht wird (und ein Akt der Gesetzgebung ist seiner Natur nach stets eine legitime Maßnahme), um einen legitimen Zweck zu erreichen, so ist die Verknüpfung von Mittel und Zweck ebenfalls legitim. § 22 GWB, nach dem die Kartellbehörde vor einem Eingreifen zunächst abzumahnen hat, liefert übrigens eine Parallele.

Der Einwand, solche Aktionen griffen in die Zuständigkeit des Parlamentes ein, geht fehl. Das Parlament kann sich jederzeit in der Fragestunde über die Vorgänge unterrichten. 26 Abgeordnete können einen Gesetzesvorschlag einbringen, wenn sie eine bessere Lösung wissen. Aber die Abgeordneten machen von dieser Möglichkeit nur wenig Gebrauch. Sie sind ohnehin überlastet und freuen sich, wenn Probleme ohne die Maschinerie der Gesetzgebung gelöst werden. . Management by exception’ nennen das die Amerikaner: Die oberste Instanz des Unternehmens wird erst dann tätig, wenn die Probleme sich nicht auf anderen Ebenen haben lösen können.

Die parlamentarische Kontrolle über die Tätigkeit der Regierung wird nicht dadurch eingeschränkt, daß sich einzelne Aktivitäten der Regierung in den außerparlamentarischen Raum verlagern. Das Parlament kann jederzeit eine Regierung, mit der es nicht zufrieden ist, durch eine andere ersetzen. Es hat wenig Sinn, diese umfassende politische Kontrolle durch ein immer engeres Netz rechts-und justizförmlicher Prozeduren zu ersetzen. Auch heute noch gilt die alte englische Formel: men not measures.

Die Ermächtigung der Exekutive

Wer das Verordnungsrecht der Regierung erweitern will, um das Parlament zu entlasten, steht vor zwei Problemen:

— der Formulierung des Art. 80 GG und — der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes dazu.

Art. 80 bestimmt, daß ein Gesetz die Bundesregierung, einen Minister oder die Landesregierung ermächtigen kann, Rechtsverordnungen zu erlassen:

„Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden."

Was heißt das?

Das Bundesverfassungsgericht hatte dazu anfänglich den Grundsatz formuliert, daß sich die Grenzen der Ermächtigung aus dem Gesetz mit einwandfreier Deutlichkeit ergeben müßten.

Diese Rechtsprechung wurde später etwas gelockert. Auch für die Auslegung von Ermächtigungsnormen wurden die allgemeinen Auslegungsgrundsätze zugelassen: Es genüge, wenn sich Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung aus dem ganzen Gesetz ermitteln lassen (Entscheidungen 8, 307; 15, 160).

In den Einzelfällen hat jedoch das Bundesverfassungsgericht die Grenzen eng gezogen. Die Ermächtigung zur Fixierung von Durchschnitts-sätzen im Steuerrecht wurde stark eingeschränkt (Entscheidung 10, 2, 56). In der Entscheidung über die Gebührenordnung des Bundeskartellamtes (Entscheidung 20, 271) hat sich das Bundesverfassungsgericht ähnlich kleinlich gezeigt.

Die Bundesregierung, unsicher geworden, veranlaßte daraufhin den Gesetzgeber, im Rahmen des Umsatzausgleichssteuerrechts definierte Einzelsätze für zahllose Waren in das Gesetz hineinzunehmen. Wer den Katalog des 17. Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuer-gesetzes vom 23. November 1966 einmal angesehen hat, sieht sofort, daß er die Abgeordneten überfordert. Dort gab es beispielsweise einen Satz für „Xylenol", ein Erzeugnis, das in der Sitzung des Finanzausschusses niemand zu beschreiben wußte. Wie erwähnt, entspricht diese Verlagerung von der Exekutive auf den Gesetzgeber zuweilen auch den Wünschen der Verwaltung, die sich vor der Kritik der Steuerzahler achselzuckend auf die ausdrückliche Fixierung durch das Parlament berufen möchte. Aber diese Praxis ist gleichwohl unerträglich. Für den Vorschlag, hochkomplizierte spezielle Tatbestände durch Verordnung, nicht durch Gesetz regeln zu lassen, spricht auch folgende Erwägung: Jede Rechtsnorm bedarf der Ausführung und führt damit zu Verwaltungsproblemen. Der Bundestag ist erfahrungsgemäß verwaltungsfern. Er vermag nicht zu übersehen, welche Komplikationen für die Verwaltung eine harmlos aussehende Änderung des Textes mit sich bringt. Die Ausschußsitzung, in der solche Änderungen oft nach kurzer Debatte unter dem Einfluß politischer Überlegungen beschlossen werden, ist kein günstiger Boden für eine gründliche Behandlung der Verwaltungsfragen. Das gleiche gilt für andere Spezialentscheidungen, die eine genaue Kenntnis der Verwaltungswirklichkeit voraussetzen. Wenn etwa das 2. Steueränderungsgesetz von 1969 zahlreiche Einzelbegünstigungen regionaler Art enthält, so gibt es immer Streit um die Abgrenzung. Das Ruhrgebiet wird begünstigt, die Stadt Wuppertal am Rande des Ruhrgebietes, vielleicht in einer viel schwierigeren Situation, dagegen nicht. Kann der Gesetzgeber das verantworten? Die kommende Bundesverfassung muß also die Ermächtigungsvorschrift des Art. 80 GG neu formulieren, auf der ursprünglich liberalen Grundlinie, mit einem ausreichenden, gesicherten Bewegungsspielraum, der solche Verordnungen vor kleinlicher Aufhebung durch das Bundesverfassungsgericht schützt. Folgende Formulierung könnte in Betracht kommen: „Dabei müssen Inhalt und Zweck der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden. Soweit Grundrechte eingeschränkt werden, muß das Gesetz auch das Ausmaß der Ermächtigung bestimmen.

Der Bundestag kann eine Verordnung aufheben, wenn sie den Rahmen der Ermächtigung überschreitet. Solange er nicht die Verordnung aufhebt, hat sie Gesetzeskraft. Sie kann gerichtlich nur insoweit angefochten werden, als ein Gesetz gleichen Inhalts angefochten werden könnte."

Wenn der Bundestag mit dem Inhalt der Verordnung einverstanden ist und das durch Untätigkeit eindeutig zum Ausdruck bringt, welches vernünftige Interesse könnte denn daran bestehen, die Verordnung ausschließlich mit dem rein formalen Argument aufheben zu lassen, ihr Inhalt hätte im Gesetz stehen müssen?

Vorschläge, die Exekutive zu stärken, sind erfahrungsgemäß nicht populär. Unsere Wähler haben mehr Vertrauen zu den Abgeordneten als zu den Beamten. Das ehrt die Abgeordneten. Aber eine Erweiterung bestimmter Einzel-vollmachten der Exekutive schwächt das Parlament nicht, sondern verstärkt im Gegenteil seine Stellung. Die Entlastung der Abgeordneten von Detailentscheidungen, die die Regierung weit sachverständiger treffen kann, gibt ihm Raum für seine eigentliche Aufgabe, die politische Führung und die politische Kontrolle der Verwaltung.

Die Aufgaben der Verwaltung

Bismarck hat einmal gesagt, gute Beamte seien wichtiger als gute Gesetze. Das gilt auch heute noch. Der Beamte ist ebenso eine Verkörperung des Staates wie der Abgeordnete und der Richter. Wer die Aufgaben dieser Gruppen voneinander abgrenzen will mit der Forderung einer Selbstbeschränkung und Selbstbescheidung der verschiedenen Kräfte, muß von der Erkenntnis ausgehen, in wie hohem Maße politische Führung und fachlich bestimmte Verwaltung aufeinander angewiesen sind. Er muß sich um Formen bemühen, die eine fruchtbare, vom Mißtrauen befreite Partnerschaft der Legislative und der Exekutive innerhalb der Gesamtheit der planenden, gestaltenden und für-23 sorgenden Kräfte begründet. Innerhalb einer solchen Überlegung muß die Aufgabe und die Begrenzung der Verwaltung neu bestimmt werden.

Jeder Einzelfall hat seine Besonderheiten. Der Gesetzgeber ist außerstande, ihnen allen vorweg Rechnung zu tragen. Die unendliche Verfeinerung unserer Gesetzgebung, wie wir sie etwa im Lastenausgleichsrecht erlebt haben, hat sich als Sackgasse erwiesen. Jede Änderung einer Definition, jede Änderung eines Stichtages, die den Kreis der Begünstigten erweitern, verlegt nur eine vorhandene Grenze an eine andere Stelle. Jenseits dieser Grenze gibt es dann neue Härtefälle. Die Verfeine-B rung, die Ungleichheiten beseitigen will, schafft notwendig neue Ungleichheiten.

Das einzelne Gesetz kann den jeweiligen Tatbestand nur unter den speziellen Aspekten dieses Gesetzes behandeln, also im Hinblick auf spezielle Tatbestände und Eigenschaften, mit denen sich dieses Gesetz beschäftigt. In der Wirklichkeit treffen jedoch auf den einzelnen Bürger immer zahlreiche, sehr verschiedenartige Tatbestände zu, die von verschiedenen Gesetzen angesprochen werden. Der Lastenausgleichsberechtigte kann zugleich Bundestagsabgeordneter, Oberbürgermeister und Rechtsanwalt sein, vielleicht außerdem sogar noch Millionär. Dieses Zusammentreffen vieler Tatbestände läßt sich niemals vom Gesetz her befriedigend regeln, sondern immer nur vom Einzelfall aus. Nun soll gewiß der Lastenausgleichsanspruch nicht deshalb verkürzt werden, weil der Berechtigte inzwischen Landgerichtspräsident geworden ist, mit gutem Einkommen. Aber es gibt im Lastenausgleichsrecht zahlreiche Maßnahmen, die als Sozialpolitik begründet worden sind, unter Hinweis auf traurige Fälle sozialer Notlage, denen unter allen Umständen geholfen werden müßte. Abstrakte Definitionen, gesetzestechnisch unvermeidlich, führen dann dazu, daß das Gesetz auch solchen Bürgern Ansprüche gewährt, bei denen die soziale Gerechtigkeit, der Ausgangspunkt der Gesetzgebung in einem speziellen Falle, längst auf ganz andere Weise hergestellt ist, etwa durch reichliche Beteiligung an den Früchten eines gewaltigen Wirtschaftswachstums (das ja in erster Linie ein Verdienst der Gesamtheit, nicht ein Verdienst des einzelnen ist; die Vermögenssteigerung der Grundbesitzer zeigt das besonders deutlich).

Die Regelungen, die den Einzelfall ordnen, werden darum am gerechtesten, wenn der Beamte für seine Schlußentscheidung einen ausreichenden Ermessensspielraum besitzt. Wie das Parlament durch Ermächtigung der Regierung entlastet werden sollte, weil sie der Praxis nähersteht, so arbeitet der Verwaltungsbeamte wiederum näher an der Praxis als die Regierung. Er sollte deshalb einen möglichst großen Entscheidungsspielraum erhalten, soweit sich das mit dem Grundsatz der Gleichheit vereinbaren läßt. Die Verfassung sollte dafür Möglichkeiten schaffen. Im einzelnen bedarf das einer gründlichen Prüfung. Wo ein Gesetz dem Bürger Rechtsansprüche einräumt, wird der Spielraum der Verwaltung problematisch, weil die Entscheidung von der Verwaltung auf die Justiz übergeht. Aber heute schon haben zahlreiche Gesetze in Härtebestimmungen Ermessensspielräume, die sich bewährt haben. Es ist kaum zweckmäßig, das Verhältnis des Bürgers zum Staat, der für ihn sorgen will, völlig in ein System von Rechtsansprüchen zu verwandeln. Die Beschränkung der Gesetze auf politische Leitlinien, die der Verwaltung den notwendigen Spielraum lassen und von den Gerichten nur begrenzt nachgeprüft werden können, hat sich z. B. auch im Bereich der Raumordnung und der Landesplanung bewährt. Wer sich dafür einsetzt, den Ermessenspielraum der Beamten auszuweiten, muß mit der Feststellung beginnen, daß die Entwicklung hier zur Zeit im entgegengesetzten Sinne verläuft. Ein entschlossener Perfektionismus will, wie erwähnt, immer mehr Einzelheiten durch Gesetz oder Verordnung regeln. Anstelle des Ideals der Einzelgerechtigkeit tritt, wie es Alfred Krause einmal formuliert hat, das Ideal der „Durchschnittsgerechtigkeit" (was im Einzelfall zu groben Ungerechtigkeiten führen kann). Aber es ist nicht nur die Legislative, die den Aktionsraum der Verwaltung einschränkt. Auch die Justiz erweitert ihren Bereich auf Kosten der Verwaltung, die so in einen Zweifrontenkrieg gerät.

Die Verwaltungsgerichte setzen ihr Ermessen in steigendem Umfang an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörden. Dafür ein Beispiel: Berliner Studenten, gegen den Abtransport von Deserteuren protestierend, hatten Anfang August 1969 den Kurfürstendamm besetzt, Kraftwagen angezündet, Fensterscheiben eingeschlagen und zahlreiche Polizeibeamte verletzt. Eine Woche später meldete die Außerparlamentarische Opposition eine Demonstration zum gleichen Thema am gleichen Ort an. Der Polizeipräsident verbot sie, weil er Störungen der öffentlichen Sicherheit befürchtete. Das Verwaltungsgericht hob dieses Verbot auf. Daraufhin fand die Demonstration statt, ohne jeden Zwischenfall.

Man ist geneigt zu sagen: das Ausbleiben von Zwischenfällen beweist doch, daß das Verwaltungsgericht Recht hatte und der Polizeipräsident Unrecht. Aber das ist ein Trugschluß. Ob Gewalt verübt werden soll, beschließt die Demonstrationsleitung, die solche Fragen übrigens sonderbarerweise in staatseigenen Sälen, den Auditorien der Universität, offen diskutieren darf. Obwohl dort sogar Anweisungen zur Herstellung von Molotow-Cocktails verteilt werden, schreitet die Polizei nicht ein, weil die Verwaltungsgerichte sie unsicher gemacht haben. Bei dieser zweiten Demonstration beschloß nun die Demonstrationsleitung aus guten Gründen, sich ruhig zu verhalten, um dadurch die Position der Polizei gegenüber der Position des Gerichts zu schwächen. Der Polizeipräsident wird wenig Lust verspüren, noch einmal ein Verbot auszusprechen, obwohl am nächsten Tag wieder Fensterscheiben zerschlagen wurden, wie es die gequälte Stadt Berlin so oft erlebt hat. Die Ermittlung von Parksündern ist ein weit bequemeres Geschäft als die Auseinandersetzung mit fanatischen Studenten.

Die Frage, ob eine in Zukunft stattfindende Demonstration zu Gewalttätigkeiten führen wird, gehört in den Bereich der Prophetie.

Wenn wenige Tage vorher die gleiche Demonstrantengruppe, zum gleichen Thema demonstrierend, am gleichen Ort schwere Gewalttätigkeiten verübt hat, kann niemand der Polizei vorwerfen, daß sie die Demonstration leichtfertig verboten hätte, unter Mißbrauch des polizeilichen Ermessens. Wenn nun in einem solchen Falle ein Verwaltungsgericht seine Prognose über die Zukunft an die Stelle der Prognose des Polizeipräsidenten setzt, so macht sich die Justiz zur Exekutive. Wie weit das geht, hat sich bei den erwähnten Berliner Ereignissen gezeigt. Das Gericht hob nicht nur das Demonstrationsverbot auf, sondern formulierte eigene Auflagen für die Veranstalter folgenden Wortlauts:

„ 1. Die Demonstration darf nur stattfinden, wenn 100 durch Armbinden gekennzeichnete Ordner eingesetzt werden.

Der Antragsteller hat vor Beginn der Kundgebung vor dem Berliner Bundeshaus bei dem örtlichen Einsatzleiter der Polizei das Vorhandensein eines Ordnungsdienstes nachzuweisen und ihn über die Einzelheiten des Ordnereinsatzes zu unterrichten.

2. Der Aufzug und die Kundgebung sind jeweils nur auf einer von der Polizei zu bestimmenden Straßenhälfte der vorgesehenen Straße zulässig.

3. Plakate mit formalbeleidigendem Inhalt dürfen nicht mitgeführt werden.

4. Sitzdemonstrationen dürfen nicht stattfinden." Solche Auflagen, vom hohen Richtertisch aus formuliert, können die erstrebte Wirkung nicht erreichen. Eine Gruppe, die gewalttätig werden will, kann selbstverständlich jederzeit hundert der ihrigen mit weißen Armbinden als „Ordner" kennzeichnen. Wer gibt jedoch die Gewähr dafür, daß diese selbst ausgewählten Ordner überhaupt die Absicht haben, den friedlichen Verlauf der Demonstration zu sichern? Wenn die Polizei solche Auflagen vorschriebe, würde sie sich lächerlich machen. Nach dem Beschluß des Verwaltungsgerichts blieb ihr nichts anderes übrig, als tatenlos zu-zusehen. Die Verwaltungsgerichte erkennen theoretisch an, daß die Verwaltung einen Ermessensspielraum haben müsse. Aber manche Richter geben dem Bürger einen klagbaren Anspruch darauf, daß die Verwaltung ihr Ermessen „richtig" anwendet, stellen immer genauere Regeln dafür auf und prüfen deren Einhaltung nach.

Tendenzen, die Rechtsförmlichkeit und die Justizkontrolle immer weiter auszudehnen, sind auch anderswo allenthalben sichtbar. Dafür ein weiteres Beispiel. Die Praxis des Bundeskartellamts konzentriert sich in der Bearbeitung der Mißbrauchsfälle nach dem Opportunitätsprinzip auf diejenigen Vorgänge, die es für wirtschaftspolitisch wichtig hält. Wolfgang Lipps (NJW 1969, S. 1879 ff.) hält das für gesetzwidrig und fordert, daß jedermann das Recht haben müsse, durch eine formlose Anzeige ein rechtsförmliches Verfahren zu erzwingen. Dazu müßte das Bundeskartellamt seinen Stab mindestens verdoppeln.

So wird das Ermessen der Verwaltung immer mehr eingeschränkt. Am Ende führt das zwangsläufig zur Leugnung der Existenz eines justizfreien Ermessensraum der Verwaltung überhaupt. Hans Heinrich Rupp hat diesen Schritt getan (NJW 1969 S. 1273 ff.). Wer das Urteil der Verwaltung über die Zweckmäßigkeit einer Maßnahme, Verbot oder Nicht-Verbot einer Demonstration etwa, in jedem Falle dem Urteil des Gerichts unterordnet, sollte daraus Folgerungen ziehen. Wenn die Verwaltung in keinem Falle endgültig entscheiden darf, sollte man ihr Ansehen (und damit das Ansehen des Staates) nicht unnütz verschleißen. Wenn am Ende das Urteil des Gerichts für die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit maßgebend ist, sollte man das Gericht darüber auch gleich von Anfang an entscheiden lassen. Im Streitfälle sollte die Verwaltung dann die Möglichkeit haben, unter Verzicht auf eigene Entscheidung den Fall sofort dem Gericht vorzulegen. Das wäre dann das Ende der Gewaltenteilung zwischen Justiz und Verwaltung, in deren Namen Rupp der Verwaltung jeden Ermessensspielraum streitig macht. Aber es wäre die ehrlichste Lösung, weil sie wenigstens die Verantwortung klarstellte. Ein Einschreiten der Justiz beim Ermessensmißbrauch der Verwaltung ist mit der Gewaltenteilung vereinbar, die Versagung jedes Ermessensspielraums dagegen nicht.

Der Ermessensspielraum der Verwaltung bleibt auch dann sinnvoll, wenn die Informationen, die für die Entscheidung des Einzelfalles zur Verfügung stehen, durch einen Ausbau unserer elektronischen Datenverarbeitungsmaschinen immer umfangreicher werden. Die Gesetzgebung sollte auf die Existenz von Computern Rücksicht nehmen. Soweit sie Unterscheidungen macht, sollte sie diese so gestalten, daß sie sich möglichst leicht in Datenverarbeitungsmaschinen einprogrammieren lassen. Dann wird es Massenverwaltungsakte geben, von Maschinen formuliert, ohne die Unterschrift eines Beamten. Die Steuerverwaltung kennt das bereits, z. B. beim Lohnsteuerjahresaus-gleich.

Aber die Annahme, daß sich das Leben als eine überschaubare Summe von Tatbeständen darstellen ließe, die man mit den Zahlen 0— 9 ausdrücken kann, ist eine Illusion. Der Computer ist als Gedächtnis-und Informationsmaschine dem menschlichen Gehirn überlegen. Aber das menschliche Gehirn ist dafür als Entscheidungsinstrument, das die Faktoren nicht nur schematisch berechnet, sondern individuell bewertet, sehr viel leistungsfähiger als der Computer. Der Mensch bleibt das Maß aller Dinge. Der Computer soll auch dem Beamten dienen, der sich daraus besser über den Fall unterrichten kann als aus den herkömmlichen Akten. Aber diese besseren Informationen sollten zu einer Erweiterung, nicht zu einer Einengung seines Ermessensspielraums führen. Das würde wiederum die Gesetzgebung entlasten. Nach fachmännischen Schätzungen könnte man die Lastenausgleichsgesetzgebung auf den vierten Teil vermindern, wenn die Lastenausgleichsämter einen Härtefonds von 3 ®/o der insgesamt verfügbaren Mittel erhielten. Das würde zu sehr viel besseren individuellen Entscheidungen führen als der vergebliche Versuch, alles durch den Gesetzgeber ordnen zu lassen. Dieser Ermessenspielraum der Verwaltung sollte im Grundgesetz gegen Übergriffe der Verwaltungsgerichte geschützt werden. Dafür käme etwa folgende Formulierung in Art. 83 in Betracht: „Die Bundesgesetze haben der Verwaltung einen angemessenen Ermessensspielraum zu belassen. Sie werden von den Ländern als eigene Angelegenheit ausgeführt, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zuläßt. Die Gerichte dürfen Ermessensentscheidungen nur aufheben, wenn sie einen Mißbrauch oder eine Überschreitung des Ermessens feststellen."

Diese Formulierung schützt die legitimen Interessen des einzelnen Bürgers ebenso wie die des Staates.

Eine Entwicklung, die dem Beamten mehr Spielraum gibt, erfordert einen ständigen engen Kontakt der Regierung und ihrer Ministe-rialbeamten mit den Organen der Gesetzgebung. Das setzt allerdings voraus, daß diese Beamten selbst die notwendige Verwaltungserfahrung besitzen. Wer als Assessor in ein Ministerium einberufen worden ist, ohne jede Anschauung von Verwaltung, produziert schlechte Ministerialerlasse. Eine mindestens fünfjährige Tätigkeit in einem Bereich, in dem jeden Tag Verwaltungsentscheidungen zu fällen sind, sollte deshalb die Voraussetzung für eine Berufung ins Ministerium sein. In den Ausschußsitzungen zeigt sich deutlich die Überlegenheit derjenigen Ministerien, die ihren Nachwuchs aus einem eigenen Unterbau holen können, vor allem des Bundesfinanzministeriums, im Vergleich zu anderen Ministerien, die jungen Nachwuchs anstellen und lebenslang in ihren Ministerien behalten.

Die Entwicklung erfordert aber weiter auch eine bessere Ausbildung, Weiterbildung, Förderung der Beamten. Fachwissen allein reicht nicht aus. Die Qualität der Entscheidung hängt zumindest im gleichen Maße von der Kraft der Persönlichkeit ab. Ausbildung und Weiterbildung dürfen sich deshalb nicht auf die Vermittlung von Fachkenntnissen beschränken. Die Beamten müssen Wirklichkeit und Problematik unseres Staates und unserer Gesellschaft kennenlernen. Gute Beamte müssen frühzeitig gefördert werden durch die Übertragung anderer Aufgabengebiete, um ihre Anschauung abzurunden, durch Lehrgänge, in Sonderfällen auch durch Entsendung ins Ausland oder durch ein Kontaktstudium an einer Hochschule. Der Ermessensspielraum sollte einen, wenn auch bescheidenen Platz in der Besoldung der Beamten erhalten. Früher gaben einige Verwaltungen tüchtigen Beamten neben dem Gehalt individuelle Leistungsprämien. Wie jeder Personalchef in der Industrie weiß, wirft die Verteilung solcher Leistungs-prämien schwierige sachliche und menschliche Probleme auf. Aber sie lassen sich bewältigen. Ein unvollkommenes System von Prämien ist immer noch besser als unsere Gleich-B macherei, die Beamte einer bestimmten Gehaltsstufe grundsätzlich gleich bezahlt und jede finanzielle Berücksichtigung der Leistung ausschließt. Ein Staat, der von seinen Beamten gute Leistungen erwartet, muß sie auch gut behandeln.

Die Beamtenprobleme sind nicht nur Probleme der Rationalisierung unserer Verwaltung. Hier liegen vielmehr staatspolitische Aufgaben ersten Ranges. Keine Staatsform kann überleben, wenn sie nicht von der Zustimmung der Bürger getragen wird. Das Bild des Bürgers von seinem Staat wird weitgehend von den Beamten geprägt, die dem Bürger gegenüber den Staat verkörpern. Auch aus diesem Grunde sind gute Beamte wichtiger als gute Gesetze.

Der Beamte

Der Beamte ist eine der Verkörperungen des Staates. Er mag seine Ansprüche gegen den Staat energisch verfechten, aber er darf sich nicht gegen den Staat stellen, auch dann nicht, wenn er sich zu Recht unbillig behandelt fühlt. Da er zum Staat gehört, ist er von ihm weit abhängiger als etwa ein Industriearbeiter von seinem Unternehmen. Die Stellung des Beamten setzt voraus, daß er diese Abhängigkeit akzeptiert. Wenn er dazu nicht mehr bereit ist, wenn er im Streit um seine Arbeitsbedingungen dieselbe gleichberechtigte Stellung haben will, die der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber in der Wirtschaft besitzt, so wäre das das Ende des bisherigen Beamten-standes. Die Bereitschaft, auch die Nachteile in Kauf zu nehmen, die die Abhängigkeit des Beamten vom Staat notwendig mit sich bringt, ist gelegentlich in Frage gestellt worden. Wir erinnern uns an Beamte des Flugsicherungsdienstes, aber auch an Richter, die in Einzelfällen ihre Sitzung unterbrochen haben, um gegen ihr angeblich unzureichendes Gehalt zu protestieren. Das kann man sinnvoll nur als Streik definieren. Aber diese Fälle sind vergleichsweise selten. Im ganzen ist das Gefühl der Verbundenheit des Beamten mit dem Staat, das Gefühl, das man früher „Beamtenethos" nannte, auch heute noch tragfähig. Aber manche der Unterschiede, die früher den Beamten kennzeichneten, ebnen sich allmählich ein. Vorbei sind die Zeiten, in denen sich ein Regierungsreferendar mehr dünkte als ein Großindustrieller. Im Gegenteil: das übertriebene Selbstbewußtsein früherer Beamtengenerationen ist eher in ein Minderwertigkeitsgefühl umgeschlagen. Viele Aufgaben, die heute erledigt werden, sind normale Geschäfte, die sich von ähnlichen Vorgängen in der Wirtschaft kaum unterscheiden. Innerhalb des öffentlichen Dienstes verwischen sich die Unterschiede zwischen Beamten und Angestellten immer mehr. Auch die Angestellten des öffentlichen Dienstes werden nach einer gewissen Zeit unkündbar. Ihre Altersversorgung ist so verbessert worden, daß sie praktisch derjenigen der Beamten gleichwertig ist. Ob die heutige Abgrenzung zwischen den Beamten und den Angestellten des öffentlichen Dienstes, die sich in manchen Fällen nur aus der historischen Entwicklung erklärt, im einzelnen noch sinnvoll ist und so erhalten werden sollte, mag zweifelhaft sein. Die Behandlung dieses Problems setzt eine gründliche Analyse der Funktionen aller Kategorien des öffentlichen Dienstes voraus, die wir bisher noch nicht haben.

Neben der Abgrenzung zwischen den Beamten und den Angestellten im öffentlichen Dienst gibt es jedoch ein anderes Abgrenzungsproblem, zahlenmäßig weniger bedeutsam, aber politisch wichtig: Die Abgrenzung zwischen den politischen Beamten und den Laufbahnbeamten. Es geht um die Frage, in welchem Personenbereich neben der Loyalität zum Staat (die selbstverständlich sein muß) noch eine spezielle Loyalität zu den politischen Anschauungen der jeweils herrschenden Regierung gefordert werden darf. Das ist ein ernstes Problem, das ohne Emotionen und Vorurteile behandelt werden muß. In der früheren deutschen Tradition war ein Ministerium ein neutraler Apparat, der wechselnden Ministern diente. Die Minister kamen und gingen, die Ministerialbeamten, an der Spitze der Staatssekretär, blieben im Amt. Otto Meißner leitete den Apparat des Reichspräsidenten von 1920 bis 1945, unter Ebert, Hindenburg und Hitler. In Frankreich wird dieses System bis heute praktiziert, und auch in den englischen Ministerien gibt es hohe Laufbahnbeamte, die ihr Amt bei einem Regierungswechsel weiter behalten. Dieses System bringt einen neuen Minister in eine schwierige Lage. Er kommt als einzelner in einen fremden Personalkörper hinein, der je nach der Größe des Ministeriums zwischen 50 und 5000 Mitarbeiter zählt. Der Minister kann ohnehin nur einen Teil seiner Zeit dem Ministerium widmen, weil er die Aufgaben im Kabinett, in der Fraktion, im Parlament, in der Partei, auch im Fernsehen und Rundfunk erfüllen muß. Es ist verständlich, daß er in seinem Ministerium Personen seines persönlichen Vertrauens und seiner politischen Anschauung sehen möchte. Seit einigen Jahren gibt es die Parlamentarischen Staatssekretäre, die der Partei des Ministers angehören. Im Herbst 1969 wechselte die neue Regierung auch die beamteten Staatssekretäre und eine Reihe der Ministerialdirektoren aus, beamtenrechtlich politische Beamte, die jederzeit ohne Angabe von Gründen in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden können.

Der Wunsch der Minister, sich mit Persönlichkeiten ihres besonderen politischen Vertrauens zu umgeben, ist legitim. Wir sollten uns jedoch die Frage stellen, ob es nicht andere, bessere Methoden gibt, als das Auswechseln der sogenannten politischen Beamten.

In der französischen Regierung und in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bringen Minister und Kommissare ein sogenanntes Kabinett mit, meist zwei Kabinettchefs mit einem Stab von drei bis vier Personen, die politisch dem Minister nahestehen, mit dem Minister kommen und mit dem Minister auch das Ministerium wieder verlassen (soweit sie nicht von einem neuen Minister der gleichen politischen Richtung übernommen werden). Diese Stäbe haben sich bewährt. Die Mitglieder dieses „Minister-Kabinetts" können sich ganz auf die Fragen des Ministeriums konzentrieren und finden sich deshalb sehr viel rascher in die Einzelheiten hinein, als das dem Minister und seinem Parlamentarischen Staatssekretär möglich ist. Sie unterrichten die politische Leitung nicht nur über die Sachprobleme, sondern über die spezielle Leistungsfähigkeit der einzelnen Ministerialbeamten. Wenn auf diese Weise die politische Spitze gestärkt wird, könnte auf der anderen Seite die fachliche Ministerialapparatur gestrafft werden. Das erfordert eine Verstärkung der Stellung auch des beamteten Staatssekretärs. Alle Kommunikationen zwischen Fachbereich und politischem Bereich müßten durch seine Hände gehen. Das ist für ihn eine große Belastung. Trotzdem muß man sicherstellen, daß ibn alle entscheidenden Informationen aus dem fachlichen und dem politischen Bereich erreichen. Nur auf diese Weise kann eine einheitliche Führung der Geschäfte gesichert werden. Selbstverständlich müssen die Mitarbeiter des Ministerkabinetts das Recht behalten, sich nach Gutdünken informieren zu können. Es muß jedoch vermieden werden, daß sich Einflußlinien von einzelnen Ministerialbeamten über einzelne Mitglieder des Ministerkabi-netts vorbei am beamteten Staatssekretär bilden. Das Ministerium zerfiele sonst sofort in mehrere konkurrierende Bereiche. Die Erfahrung hat gezeigt, daß gute Staatssekretäre den Gesamtüberblick auch in einem großen Ministerium zuverlässig behalten können. Der beamtete Staatssekretär müßte dann wieder die politisch neutrale Stellung erhalten, die er bis zum Ende der Weimarer Republik hatte. Das gleiche müßte für die Ministerialdirektoren gelten.

Die Beamten sehen solche Vorschläge zum Teil mit Mißtrauen, weil sie eine Einschränkung ihrer eigenen Möglichkeiten, auch ihrer Beförderungsmöglichkeiten fürchten. Vielleicht zum Teil auch deshalb, weil sie gelegentlich Freude am eigenen politischen Spiel gefunden haben. Die unzureichende personelle Besetzung der politischen Spitze hat nämlich nicht selten dazu geführt, daß aktive Ministerialbeamte sich ihre eigenen politischen Verbindungen schafften und zum Teil an ihren Vorgesetzten vorbei mit Hilfe von Parlamentariern Politik aus eigener Verantwortung betrieben, etwa indem sie ohne Wissen ihrer Vorgesetzten einzelnen Abgeordneten ihre, vielleicht von Vorgesetzten mißbilligten Entwürfe zuleiten oder auch für den Abgeordneten Fragen formulieren, die eine Entwicklung in ihrem Sinne in Gang setzen. Die Bedenken, die die Laufbahnbeamten gegen ein politisches Kabinett des Ministeriums haben könnten, sind jedoch unbegründet, wenn dieses Kabinett erstklassig besetzt wird (was z. B. in Brüssel in vielen Fällen überzeugend gelungen ist). Daß man Leute hoher Qualität auch entsprechend bezahlen muß, liegt auf der Hand. Wenn allerdings der Ehrgeiz eines Mitarbeiters im Ministerkabinett nur dahin geht, möglichst bald Ministerialdirektor zu werden, ist er fehl am Platze. Wer tüchtig ist, findet nach einer Tätigkeit in einem Minister-kabinett späterhin auch eine andere gute Stellung. Eine Beamtenposition soll keineswegs grundsätzlich ausgeschlossen sein. Aber im Ministerkabinett können die Mitarbeiter nur dann fruchtbar wirken, wenn sie nicht auf die Berufung in Beamtenstellen schielen, sondern ihre Tätigkeit rein politisch betrachten.

Der fachliche Charakter des Ministeriums sollte dadurch betont werden, daß man neue Möglichkeiten schafft, Fachleute auch in vorgerückten Jahren in die Beamtenlaufbahn zu berufen, ohne sie zunächst in die Anfangsstellen der Laufbahn hineinzuzwingen. Hermann Schmitt-Vockenhausen, langjähriger und hochgeschätzter Vorsitzender des Innenausschusses im Deutschen Bundestag, Spezialist für Beamten-probleme, hat eine solche größere Flexibilität der Berufung zum Beamten befürwortet, jedoch mit Recht gefordert, die Laufbahnbeamten davor zu schützen, daß ein beträchtlicher Teil der begehrten Beförderungsstellen an Außenseiter fällt. Dabei ist auch der Gefahr vorzubeugen, daß Beamtenstellen eine Prämie für verdiente Parteigenossen werden: In jedem Falle sollten überzeugende berufliche Erfolge die Voraussetzung einer späteren Übernahme in den Staatsdienst sein.

Wenn man qualifizierte Leute von außen hereinholt, wie das mit dem zunehmenden Umfang der Fachaufgaben immer mehr notwendig wird, muß man in der Gegenrichtung qualifizierten Beamten die Möglichkeit öffnen, ohne unzumutbare Nachteile eine Position in anderen Bereichen, etwa in der freien Wirtschaft zu suchen. Dazu müßte man ihnen die erdiente Altersversorgung in höherem Maße mitgeben, als das bisher möglich ist. Wenn heute ein Beamter seine Entlassung beantragt, um etwa in der Wirtschaft zu arbeiten, wird er kraft Gesetzes für die Angestelltenversicherung nach-versichert, und zwar für die gesamte Zeit des öffentlichen Dienstes. Da es dafür aber Höchst-grenzen gibt, bedeutet das oft einen empfindlichen Verlust. Hier wäre eine liberalere Regelung vorzubereiten.

Entpolitisierung des Beamten heißt nicht, daß man den Beamten die Mitgliedschaft in einer Partei untersagen sollte. Man muß sich darauf verlassen, daß ein Beamter fachlich loyal, verschwiegen und vertrauenswürdig, auch mit einem Minister einer anderen Partei zusammenarbeitet. Das führt zum Problem der Auswahl und Beförderung der Beamten. Wenn man den Beamten als Fachbeamten verstehen will, muß die Auswahl und die Beförderung Sache des beamteten Staatssekretärs sein. Der Minister kann ihm im Einzelfall eine Weisung erteilen. Das sollte aber ein ungewöhnlicher Akt sein und auch vom Minister als ungewöhnlicher Akt empfunden werden. Diese veränderte Philosophie setzt wiederum verschiedene Maßnahmen voraus. Um es deutlich zu machen: Der beamtete Staatssekretär muß notfalls gegen seinen Minister geschützt werden. Das läßt sich am besten dadurch bewerkstelligen, daß man die Personalien von einer gewissen Stufe ab, etwa vom Ministerialrat ab, einem Bundespersonalamt mitberatend überträgt. Das Bundespersonalamt müßte dem Bundespräsidenten zugeordnet und gegen jeden Parteiproporz geschützt werden. Diesem Bundespersonalamt wäre dann auch der Bundespersonalausschuß zuzuordnen, dessen Zusammensetzung und Befugnisse neu zu überdenken wären. Die heutige Praxis läuft zuweilen darauf hinaus, daß Beamtenverbände im Bundespersonalausschuß darüber mitentscheiden, ob ein Oberst zum General befördert, ob ein Ministerialrat zum Ministerialdirektor ernannt wird. Der gute Wille aller Beteiligten steht außer Zweifel. Trotzdem ist eine so weitgehende Mitwirkung problematisch.

Wer die Organisation des öffentlichen Dienstes von Grund auf neu durchdenken will, kann auch der letzten, oben schon erwähnten Frage nicht ausweichen: Hat die Unterscheidung zwischen Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes heute überhaupt noch einen Sinn? In einigen Verwaltungen, z. B.der Finanzverwaltung, arbeiten Beamte und Angestellte nebeneinander auf den gleichen Dienst-posten. Bei einem so nahen Zusammenleben geben die Unterschiede in der Besoldung und der Versorgung immer wieder Anlaß zum Konflikt. Beide Gruppen sind nach einiger Zeit unkündbar. Die Angestellten müssen sich jedoch Abzüge für ihre Altersversorgung gefallen lassen, die Beamten nicht, obwohl die Altersversorgung im Ergebnis nahezu auf das gleiche herauskommt. Schon heute gibt es Verzahnungen: Wenn ein Beamter ausscheidet, erhält er, wie erwähnt, Gutschriften in der Rentenversicherung, wie wenn er ein Angestellter gewesen wäre. Die Frage liegt nahe, ob der verwickelte Buchungsaufwand der Angestelltenversicherung für die Angestellten des öffentlichen Dienstes sich lohnt.

Langfristig führt das zu einer weiteren Frage. Könnte man nicht Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes zu einem öffentlichen Dienst neuer Ordnung zusammenführen? In diesem Rahmen verdient dann auch das Problem der Amtsbezeichnungen einer eingehenden Prüfung. Vom Regierungsrat bis zum Ministerialdirektor gibt es in den Ländern nicht weniger als acht verschiedene Titel. Sollte man dafür nicht neutralere Bezeichnungen einführen, beginnend von der Bezeichnung „Richter" in der Justiz bis zur Bezeichnung „Sachbearbeiter" oder „Abteilungsleiter" in der Verwaltung? Unsere Angestellten des öffentlichen Dienstes führen schon heute keine Amtsbezeichnungen.

Information und Entscheidung

Wer das Parlament dazu bringen will, den Entscheidungsraum von Regierung und Verwaltung zu erweitern, muß es davon überzeugen, daß die Mechanismen dieser Entscheidungen Vertrauen verdienen. Verdienen sie es?

Diese Frage läßt sich nicht leichthin bejahen. Bismarck sah die Kunst des Regierens darin, einen Zipfel vom Mantel Gottes zu ergreifen, der durch die Weltgeschichte rauscht. Intuition, die zum Handeln im rechten Augenblick führte, das war die Grundlage dieser Politik. Intuition ist auch heute noch unentbehrlich. Aber vieles, was sich früher nur mit Intuition bewältigen ließ, ist der rationalen Analyse zugänglich Heute können wir die wahrscheinlichen Ergebnisse der einen oder der anderen Alternative weit besser vorausberechnen als vor hundert Jahren. Unsere Statistiken, die ergiebiger sind, können von den elektronischen Anlagen in kurzer Zeit auf viele Fragestellungen hin ausgewertet werden. Die Mechanismen der Entscheidung müssen diese Informationsmöglichkeiten optimal nutzen. Ist dieser Zustand in unserer Regierung, in Verwaltung, -unserer in unseren Parlamen ten erreicht? Durchaus nicht.

Zunächst ist die Aufgabe ungelöst, die Summe aller Informationen, die im amtlichen Bereich verfügbar sind, als eine Einheit zu behandeln und zu verwerten. Das Schlagwort von der Gefährlichkeit der „Datenmonopole" hat dazu geführt, daß verschiedene Ressorts zur Anlage eigener Datenbanken neigen. Auch das Parlament hat eigene Ansprüche angemeldet. Das kann zu einer kostspieligen und konfliktgeladenen Doppelspurigkeit führen.

Die Sammlung, Speicherung und Verwertung aller Informationen, die sowohl der Legislative wie der Exekutive vorbehaltslos zur Verfügung stehen müssen, ist eine Aufgabe der Verwaltung. Die Legislative bestimmt die Ziele und damit auch die Fragestellungen, die sich mit wechselnden politischen Konstellationen notwendigerweise ändern. Aber die Beantwortung der Fragen sollte bei einem Beamtenkörper liegen, dessen Loyalität gegenüber wechselnden demokratischen Regierungen außer Zweifel steht. Was für die Bearbeitung anderer Verwaltungsausgaben als selbstverständlich gilt, muß ebenso auch für die Beschaffung von Informationen gelten.

Das riesige Anwachsen der Menge verfügbarer Informationen hat noch zu einem anderen Pro-B blem geführt: zu der paradoxen Lage, daß die gestiegene Informationsmenge nicht zu einer Verbesserung, sondern eher zu einer Verschlechterung des Informationsgrades der Politiker und Beamten führt, soweit es sich um die Information für die einzelne Entscheidung handelt. Das ist ganz natürlich. Bismarck als Außenminister hatte es mit wenigen Großmächten zu tun. über deren Meinungen und Möglichkeiten wurde er durch amtliche Berichte und persönliche Briefe weniger Botschafter unterrichtet, die er alle gut kannte. Er hatte Zeit, diese Informationen aufmerksam zu studieren. Heute hat es der Außenminister mit mehr als hundert souveränen Staaten zu tun. Vorgänge in Kambodscha oder Tansania können weitreichende Folgen für die Bundesrepublik haben. Da die Aufnahmemöglichkeiten des Gehirns eines Außenministers nicht zu steigern sind, muß bei gleichgebliebener Höchstmenge der möglicherweise aufzunehmenden Information jede Vermehrung der Fragestellungen, zu denen Informationen aufzunehmen sind, notwendigerweise zu einer Verringerung der Informationsmenge zur einzelnen Frage führen In dieser Situation gibt es zwei Möglichkeiten der Reaktion. Wer an entscheidender Stelle steht, kann entweder die Zahl der Fragen, mit der er sich beschäftigen will, drastisch beschränken, zugeschnitten auf seine Fähigkeit zu intensiver Bearbeitung, unter Abgabe aller übrigen an untere Ebenen; oder er kann sich für die Erhaltung seines ganzen Entscheidungsbereichs entschließen, mit der notwendigen Folge, daß sein Informationsgrad für die einzelne Frage immer geringer wird. Die subtilen Antworten der Computer werden darum nicht selten zu bedeutungslosen Verzierungen, weil sie von den Entscheidenden gar nicht ausgenommen werden. Er kann dann zwar sagen, daß selbstverständlich auch er einen Computer besitze. Aber im Ergebnis geht die Entscheidung auf das Fingerspitzengefühl über, viel intensiver als zu Bismarcks Zeit.

Die Wirtschaft hat sieb durchweg für die erste Alternative entschieden, für die Abgabe von Entscheidungsgewalt nach unten. Das setzt die Führer der großen Unternehmungen in die Lage, die wirklich wichtigen Probleme intensiv zu studieren aufgrund einer umfassenden Information, die intelligent aufbereitet ist für die Aufnahmefähigkeit der speziellen Leser. Die Alternativen, beispielsweise der verschie30 denen Investitionsprojekte, werden mit den Argumenten Für und Gegen nebeneinander gestellt. Dieses Material wird in einem größeren Kreise sehr eingehend, zuweilen tagelang diskutiert, woraus sich neue Fragestellungen und neues Material ergeben. Alle Mitarbeiter werden dazu ermuntert, ihre Meinung zu sagen, auch wenn sie offensichtlich von der augenblicklichen Meinung des Chefs abweichen. Man legt Wert darauf, rückhaltlos und rücksichtslos auf der Basis der menschlichen Gleichberechtigung zu diskutieren. Wenn die Diskussion jedem Teilnehmer, auch dem hartnäckigsten, die Überzeugung gegeben hat, daß er voll zu Wort gekommen ist, fügt er sich am Ende erfahrungsgemäß loyal der Entscheidung und setzt sich von diesem Zeitpunkt an nachdrücklich dafür ein. Dieses System der optimalen Ausnutzung aller erreichbaren Informationen, der offenen Diskussion über die Argumente, bei gleichzeitiger Beschränkung auf die wirklich wichtigen Fälle, in Amerika entwik-kelt, hat sich inzwischen in der deutschen Wirtschaft mit großem Erfolg durchgesetzt.

Die Politiker neigen dagegen mehr zur zweiten Lösung. Sie können sich nicht von der Vorstellung trennen, daß sie überall mitzureden hätten. Ein Minister, auf einen Vorgang in seinem Ministerium kritisch angesprochen, sagt kaum jemals, mit Entscheidungen dieser Art könne er sich nicht befassen; er habe einen sehr tüchtigen Ministerialdirektor, zu dem er volles Vertrauen habe; er greife in solchen Fällen nur ein, wenn er einen offensichtlichen, politisch unerträglichen Mißgriff feststelle; im übrigen betrachte er sich nicht als Berufungsinstanz gegen seinen Ministerialdirektor. Normalerweise will der Minister vielmehr die Illusion aufrechterhalten, daß er es sei, der alle Fäden in der Hand habe. Noch weniger ist der Bundeskanzler in der Lage, alle Vorgänge der Bundespolitik zu übersehen, und er sollte es auch vernünftigerweise gar nicht versuchen. Der Abgeordnete befindet sich in der gleichen Lage. Weil er in zu vielen Töpfen zugleich rühren, an zu vielen Entscheidungen zugleich teilnehmen will, ist sein Informationsgrad, bezogen auf die einzelne Entscheidung, durchweg unzureichend.

Bei einer Reform der Verfassung kommt es nicht auf die Änderung des Textes, sondern auf die Änderung der Zustände an. Wenn das Parlament Aufgaben an die Regierung abgibt, muß es sicher sein, daß sie dort besser bearbeitet werden. Dazu muß die Regierung ebenso wie das Parlament den Aufgabenbereich aller Beteiligten, des Bundeskanzlers, der Minister, der Staatssekretäre, der leitenden Beamten so bemessen, daß sich ihr Entscheidungsbereich mit dem Bereich deckt, über den sie sich vollständig informieren können. Die Probleme der Dreipoligkeit von Kanzlerprinzip, Kollegialprinzip im Kabinett und Ressort-prinzip sind bisher nur historisch-pragmatisch gelöst. Die Unterschiede des Informationsgrades der Beteiligten, die sich zwangsläufig aus ihrer verschiedenen Situation ergeben, werden nicht ausreichend berücksichtigt. Ein Planungsstab beim Bundeskanzleramt ist an der Arbeit. Aber der Abschied von eingefahrenen Gewohnheiten fällt der Regierung ebenso schwer wie den Abgeordneten.

Die Regierung muß ihre Arbeit im Rahmen ihrer Organisationsgewalt selbst gestalten, den wechselnden Bedürfnissen folgend. Es wäre unsinnig, diese Fragen in der Verfassung zu regeln. Aber die Verfassungsreform setzt die Erwartung voraus, daß sie rationell geregelt werden. Information, Planung und Entscheidung lassen sich nicht voneinander trennen. Eine Planung, von den Fachabteilungen abgetrennt, kann ihre Wirkung nicht entfalten, weil die Ergebnisse ihrer Überlegungen den Entscheidenden nicht intensiv genug erreichen. Erfahrungsgemäß hat nur die eigene Planung die volle Chance, wirksam in die Entscheidung einzugehen, und lohnt nur diejenige Information ihren Aufwand, deren Fragestellungen der Entscheidende ständig mit durchdenkt.

Das Problem der Information taucht noch in zwei weiteren Zusammenhängen auf. Wenn das Parlament wichtige Arbeiten an die Regierung abgibt, muß es gleichwohl den entscheidenden Einfluß auf die politische Gesamtlinie behalten. Wenn im Bereiche der Regierung in zahllosen Einzelentscheidungen alle Weichen so gestellt sind, daß das Parlament die Gesamt-richtung der Politik nicht mehr beeinflussen kann, ist der Parlamentarismus am Ende. Deshalb muß sich das Parlament ständig über alle wichtigen Entwicklungen im Bereich der Exekutive unterrichten, die späterhin die Handlungsfreiheit des Parlaments einschränken könnten. Bei der Fülle des Stoffs ist die Aufgabe, diese Informationen auf die Aufnahmefähigkeit des Abgeordneten zuzuschneiden, sehr schwierig. Im wesentlichen wird es auf eine gute Gliederung ankommen. Der Abgeordnete muß mit einem kurzen Blick erkennen können, welche Fachfragen die Information anspricht. Jede Fraktion müßte dafür sorgen, daß jede dieser Fachfragen von einigen Abgeord31 neten ständig verfolgt wird, um notfalls weitere Informationen einzuholen, das Parlament zu alarmieren oder auch die Entscheidung an das Parlament zu ziehen. Da das Parlament als Gesetzgeber souverän ist, kann es stets eingreifen. Ein weiterer Aspekt der Verwertung von Informationen liegt in der internen Parteiarbeit. Alle unsere Parteien haben Züge der Honoratiorenvereine des vergangenen Jahrhunderts behalten, die Fontane im „Stechlin" plastisch beschrieben hat. Keine unserer demokratischen Parteien hat die straffe, beinahe industriell-militärische Organisation erreicht, die die kommunistische Partei in aller Welt auszeichnet. Das gibt unserer Parteiarbeit trotz aller Bemühungen vorzüglicher Geschäftsführer zuweilen einen amateurhaften Charakter. Die Aufgabe der systematischen Verwandlung von Informationen in Planung und Entscheidung ist im Bereich der Parteien noch weniger gelöst als im Bereich der Exekutive. Das hat mehrere Ursachen. Temperamentvolle Politiker sind nicht ohne weiteres bereit, Ratschlägen zu folgen, die sich aus neutraler Auswertung von Informationen ergeben. Man denkt an das alte

Wort: „Die Braut spricht, ratet mir gut, aber ratet mir nicht ab." Um diesen Widerstand zu überwinden, muß die Computerbedienung lernen, die riesigen Tabellierungen nicht nur säuberlich zu binden, sondern auf die Aufnahmefähigkeit des Politikers zu transformieren, aus dem imponierenden Rechenwerk eine übersichtliche Bleistiftnotiz zu machen. Daran fehlt es allenthalben.

Die Politologen, deren Aufgabe die rationelle Politikberatung wäre, sind im ganzen eine Enttäuschung. Sie werden nur auf Kritik hin erzogen. Ihre Professoren befassen sich meist mit speziellen Einzelfragen. Das große Standardwerk über den Bundestag mußte von einem Amerikaner geschrieben werden, Gerhard Loe-wenberg. Nun ist Kritik gewiß wichtig. Aber nicht die Überlegungen zählen, sondern nur die Resultate. Der Patient interessiert sich wenig für die Diagnose. Er möchte gesund werden und erwartet deshalb vom Arzt eine Therapie. Die Aufgabe, die Analyse in Synthese, in praktikable Aktionsvorschläge zu verwandeln, hat die deutsche Politologie bisher nicht gelöst. Anzeichen der Besserung werden sichtbar.

Die Kontrolle von Regierung und Verwaltung

Entlastung des Abgeordneten, das ist eine der wichtigsten Aufgaben der Verfassungsreform. Aber es geht nicht darum, ihnen mehr Freizeit zu verschaffen (obwohl mehr Freizeit auch die Qualität der Entscheidungen verbessern würde). Es geht darum, Zeit für eine wichtige Aufgabe des Parlaments bereitzustellen, die in unserem System ständig zu kurz kommt, die Kontrolle. Wie sehr die enge Verbindung zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit die Kontrolle der Regierung durch das Parlament erschwert, wurde mehrfach erwähnt.

Wenn jedoch die Parlamentarier mehr Zeit hätten, würden sich auch Abgeordnete aus dem Regierungslager mehr der Kontrolle widmen.

Welche Wirkungen ein Gesetz haben wird, ist bei der Planung niemals vollständig vorauszusehen. Bestimmungen, denen der Gesetzgeber großes Gewicht beimaß, stellen sich hinterher zuweilen als bedeutungslos heraus. Die Tatbestände, auf die sie zugeschnitten waren, kommen in der Praxis kaum vor. Wir können uns nur wünschen, daß die gesamte Notstands-gesetzgebung in diese Kategorie fällt.

Auf der anderen Seite gibt es immer wieder Fälle, in denen beiläufige Halbsätze, ohne viel Überlegung ins Gesetz eingeschoben, überraschend weitreichende Folgen hatten. Plötzlich zeigen sich Schlupflöcher, durch die findige Geschäftemacher der Steuer oder auch findige Jugendliche dem Wehrdienst entgehen können. Wenn die 500 Abgeordneten des deutschen Bundestages ständig die Wirklichkeit beobachteten, um Mißstände aufzuspüren, die Gesetzgebung zu korrigieren, die Verwaltung zu verbessern, dann käme endlich der Kontrollstrom in Bewegung, der als Rückfluß zum Strom der Gesetzgebung gehört.

Die Kontrolltätigkeit soll nicht in den legitimen Bereich der Verwaltung eindringen, um deren Entscheidung zu überprüfen und zu korrigieren, sie soll vielmehr nur Anregungen für eine künftige Gesetzgebung sammeln. Eine produktive Kontrolle dieser Art kostet jedoch Zeit, die der überlastete Abgeordnete heute nicht hat.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hans Dichgans , Dr. jur., geboren 16. Mai 1907 in Wuppertal-Elberfeld; juristisches Studium in Freiburg, Paris und Bonn; bis 1945 Beamter, zuletzt Ministerialrat beim Reichs-kommissariat für die Preisbildung in Berlin; zur Zeit Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Wirtschaftsvereinigung Eisen-und Stahl-industrie, Düsseldorf; seit 1961 Mitglied des Deutschen Bundestages (Fraktion CDU/CSU). Veröffentlichungen u. a.: Erst mit Dreißig im Beruf, Stuttgart 1965; Das Unbehagen in der Bundesrepublik, Düsseldorf 1968.