Die Rolle Konrad Adenauers im Parlamentarischen Rat
Rudolf Morsey
/ 58 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zwanzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland ist deren unmittelbare „Vorgeschichte" noch kaum erforscht 1967 hat Alfred Grosser, offensichtlich etwas verwundert, registriert, daß die Periode von 1945 bis 1949 deutsche Historiker und Politologen als Forschungsprojekt „wenig zu reizen" scheine Bisher haben sich in der Hauptsache amerikanische bzw.deutsch-amerikanische Autoren (H. Zink, 1957; J. F. Golay, 1958; F. R. Willis, 1962; P. H. Merkl, 1963; J. Gimbel, 1969) mit der Entwicklung vom Auseinanderfallen der Viermächte-Verwaltung über die allmähliche Übergabe politischer und wirtschaftlicher Kompetenzen an (zentrale) deutsche Verwaltungsinstanzen bis hin zur Entscheidung über den Aufbau einer eigenen westdeutschen Staatlichkeit und der daraufhin erfolgten Einberufung des Parlamentarischen Rats beschäftigt
Ähnlich unzureichend wie die Geschichte der ersten Nachkriegsepoche ist die des Parlamentarischen Rats untersucht Die gleiche „Minusbilanz" ist schließlich auch für die Adenauer-Forschung kennzeichnend Ebenso fehlt trotz der Vorarbeiten von H. G. Wieck (1953, 1958), G. Schulz (1955), E. Deuerlein (1957), A. J. Heidenheimer (1960), L. Schwering (1963) und W. Berberich (1965) eine Darstellung über die Geschichte der CDU und CSU nach Ab-Schluß ihrer „Gründerzeit" also etwa seit Anfang 1946.
Für unser Thema sind aus den gedruckt vorliegenden Quellen — den Stenographischen Berichten über die Plenarsitzungen des Par-lamentarischen Rats und den Verhandlungen seines Hauptausschusses — und den ungedruckten Protokollen über die Beratungen der übrigen Fachausschüsse zahlreiche Einzelhinweise zu gewinnen. Das gleiche gilt für die Auswertung der zeitgenössischen Presse. Als wesentlich ergiebiger jedoch erwiesen sich private Niederschriften über einzelne Sitzungen des Ältestenrats, der CDU/CSU-Fraktion und der interfraktionellen Ausschüsse (Fünfer-und Siebenerausschuß), die erstmals benutzt werden konnten Das gilt ferner für Materialien des Büros der Ministerpräsidenten und Akten des Parlamentarischen Rats, aber auch für die Nachlässe Hermann Brills (Leiter des Büros der Ministerpräsidenten in Wiesbaden) und Hermann Pünders (Oberdirektor der Frankfurter Zweizonenverwaltung), sämtlich im Bundesarchiv. Hinzu kommt der Nachlaß des CSU-Abgeordneten Josef Ferdinand Kleindinst im Stadtarchiv Augsburg Wenig ergiebig ist die ohnehin sehr spärlich vorhandene Literatur Adenauer hat im ersten Band seiner Memoiren dem Parlamentarischen Rat ein eigenes Kapitel gewidmet Dessen größter Teil gilt allerdings, der ganzen Anlage dieses Werks entsprechend, den außenpolitischen Aspekten der Bonner Beratungen, also den Verhandlungen mit den drei Militärgouverneuren. Darüber waren wichtige Details bereits aus den Erinnerungen von Lucius D. Clay und aus der Biographie Adenauers von Paul Weymar bekannt.
Die Erschließung von Materialien der Mitglieder des Parlamentarischen Rats und des Kollegiums der Ministerpräsidenten sowie der ständigen Bonner Beobachter einzelner Länder-regierungen hat noch kaum begonnen. Bezeichnenderweise gehörten, mit Ausnahme Adenauers, diejenigen Politiker der Nachkriegszeit, von denen Memoiren vorliegen — etwa F. v. Eckardt, F. Friedensburg, W. Hoegner, W. Kaisen, L. Kather, E. Lemmer, M. L. Lüders, R. Maier, H. Pünder, Th. Steltzer —, nicht dem Parlamentarischen Rat an. Hingegen enthalten autobiographische Aufzeichnungen der „Verfassungsväter" Ludwig Bergsträsser, Theodor Heuss und Paul Löbe so gut wie gar keine Hinweise auf ihre Bonner Tätigkeit in den Jahren 1948 bis 1949. Um so willkommener waren Auskünfte von einigen ehemaligen Abgeordneten des Parlamentarischen Rats Es würde sich lohnen, mit entsprechenden Befragungsaktionen gezielt fortzufahren. Eine spätere systematische Auswertung der noch zu erschließenden einschlägigen Quellen wird neue Einsichten und Detailkenntnisse vermitteln. Diese Tatsache entbindet indes die zeitgeschichtliche Forschung nicht von der Aufgabe, eine erste, wenn auch noch vorläufige Bilanz über eine inzwischen „historisch" gewordene Entwicklung vorzulegen.
I. Die Wahl Adenauers zum Präsidenten des Rats
Die Antwort auf die Frage nach den Gründen für die von politischen Beobachtern allgemein erwartete Wahl Konrad Adenauers zum Präsidenten des Parlamentarischen Rats am 1. September 1948 scheint ebenso einfach wie einleuchtend zu sein: Adenauer (Jahrgang 1876) war -— mit seinen 72 Jahren nach Adolph Schönfelder (Jahrgang 1875) der zweitälteste Abgeordnete — unter den 65 Delegierten wohl das bekannteste Mitglied jener Weimarer Politikergeneration, deren Angehörige vom nationalsozialistischen Regime aus ihren Ämtern entfernt worden waren Das Durchschnittsalter der Mitglieder des Parlamentarischen Rats war aus naheliegenden Gründen relativ hoch: Es betrug 55, 3 Jahre (CDU/CSU-Frak-tion: 55, 9; SPD: 53, 5; FDP: 58, 5; DP: 57; Zentrum: 56 und KPD: 50, 7 Jahre).
Adenauer gehörte ferner einer der beiden großen, mit je 27 stimmberechtigten Abgeordneten gleichstarken Fraktionen der CDU/CSU bzw. SPD an aus deren Reihen der Präsident gewählt werden mußte. Angesichts seiner früheren langjährigen Tätigkeit als Oberbürgermeister von Köln (1917— 1933) und als Präsident des Preußischen Staatsrats (1921— 1933) gab es keinen anderen Abgeordneten mit annähernd vergleichbarer „parlamentarischer" Erfahrung. Hinzu kam, daß sich Adenauer bereits seit drei Jahren als Berufspolitiker betätigte. Er amtierte seit Februar 1946 als Vorsitzender des Zonenausschusses der CDU für die britische Zone und seit Oktober 1946 als Vorsitzender der CDU-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Ferner gehörte er seit Februar 1946 dem Zonenbeirat in Hamburg an
Im Spätsommer 1948 besaß Adenauer eine unbestrittene Vorrangstellung innerhalb der CDU in der britischen Zone. Da noch keine überzonale Parteileitung existierte und Jakob Kaiser als politischer Konkurrent bereits ausgeschieden war, konzentrierte sich der parteiinterne Führungseinfluß bei den nordrhein-westfälischen CDU-Verbänden — und das hieß bei Adenauer. Er hatte seit dem Ausgang der ersten freien Wahlen in den Westzonen Anfang 1946 gegenüber der britischen Militärregierung und der deutschen Öffentlichkeit den Führungsanspruch seiner Partei präsentiert und kompromißlos das von Kurt Schumacher für die SPD beanspruchte politische Monopol abgelehnt Eine vergleichbare Parteiposition wie Adenauer besaß kein anderes Mitglied des Parlamentarischen Rats, da der Vorsitzende der SPD nicht dem Gremium der „Verfassungsväter" angehörte.
Die herausragende Stellung Adenauers mußte jedoch eher gegen seine Wahl zum Vorsitzenden des Parlamentarischen Rats sprechen; denn die Mehrzahl der Abgeordneten außerhalb der CDU/CSU-Fraktion dürfte einen weniger profilierten Präsidenten vorgezogen haben. Insofern kam es entscheidend auf die Stimmabgabe der 27 SPD-Abgeordneten an, die Adenauer in den voraufgegangenen zwei Jahren als ihren bedeutendsten politischen Gegenspieler kennengelernt hatten. (Umgekehrt ist es schwer vorstellbar, daß die von Adenauer geführte CDU/CSU-Fraktion etwa für eine Wahl des in der Öffentlichkeit bekanntesten westdeutschen Politikers, Schumacher zum Präsidenten der verfassunggebenden Versammlung gestimmt hätte.)
Für das Votum der sozialdemokratischen Abgeordneten zugunsten des CDU-Politikers waren zwei Gründe ausschlaggebend. Zum einen schien das Alter ihres politischen Kontrahenten genügende Sicherheit dafür zu bieten, bei der künftigen Besetzung von Regierungsämtern mit Adenauer nicht mehr rechnen zu müssen. Zum anderen galt angesichts des zahlenmäßigen Gleichgewichts mit der CDU/CSU-Fraktion — das allerdings durch das Hinzutreten von drei der insgesamt fünf Berliner Abgeordneten (wenn auch ohne Stimmrecht) zugunsten der SPD verschoben war — und der dem Parlamentarischen Rat übertragenen Aufgabe ein anderes Amt als entschieden erstrebenswerter: der Vorsitz im Hauptausschuß als dem eigentlichen Arbeitsgremium. Für diesen Posten stand ein geeigneter Kandidat in der SPD-Fraktion bereit: der Tübinger Justizminister Karl Schmid. Auf dem „Ehrenplatz" des Präsidenten glaubten vermutlich nicht wenige Sozialdemokraten, wie es ein ungenanntes Fraktionsmitglied umschrieben hat, den „unbequemen alten Nörgler" Adenauer auf elegante Weise kaltgestellt zu haben Bei vielen Sozialdemokraten, die den „alten Fuchs" zum ersten Male erlebten, bestand die Vorstellung, daß ihm „alles" zuzutrauen sei.
Die klare Ämterteilung zwischen den beiden großen Fraktionen setzte auf der andern Seite voraus, daß die CDU/CSU-Abgeordne-ten, die soeben erst Adenauer zum Fraktionsvorsitzenden gewählt hatten, das Amt des Präsidenten für erstrebenswert hielten. Dabei dürfte die Überlegung eine Rolle gespielt haben, mit Adenauer nicht nur einen geeigneten Kandidaten präsentieren, sondern ihn mit dem neuen Amt zugleich von der Detailarbeit am Grundgesetz fernhalten bzw. davon entlasten zu können. Der CDU-Vorsitzende war kein Mann staatstheoretischer und verfassungsrechtlicher Erörterungen.
Welche dieser Überlegungen in beiden Fraktionen auch immer den Ausschlag gegeben hat: das Ergebnis kam ungewollt den Intentionen des CDU-Vorsitzenden entgegen. Er setzte sich seinerseits dafür ein, daß einer der nur acht Vertreter der CSU, der bayerische Staatsminister Anton Pfeiffer, zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Gesamtfraktion gewählt wurde Das bedeutete für die CSU-Parlamentarier insofern ein Äquivalent, als sie im dreiköpfigen Präsidium des Parlamentarischen Rats nicht vertreten waren. Ob zwischen ihrer Zustimmung zur Wahl Adenauers als Präsident und der Wahl Pfeiffers ein Zusammenhang stand, ist noch offen. Pfeiffer war es, der am 1. September im Plenum namens seiner Fraktion den rheinischen Politiker als einzigen Kandidaten für das Amt des Ratspräsidenten nominierte. Dessen Wahl erfolgte einstimmig, bei Stimmenthaltung der beiden KPD-Vertreter
Es liegt nahe anzunehmen, daß Adenauer seine Wahl von vornherein in Rechnung gestellt hat (und vielleicht mit vorbereitete, falls das überhaupt notwendig gewesen sein sollte). Diese Annahme stützt sich auf das Ergebnis einer Analyse des Verhaltens Adenauers in politischen Gremien während seines parteipolitischen Aufstiegs seit Anfang 1946. Es deckt sich genau mit dem Ergebnis, das die Erforschung der Rheinlandpolitik des Kölner Oberbürgermeisters zwischen 1918 und 1924 zutage gefördert hat Adenauer hat konsequent durchgesetzt, in allen politisch relevanten Ausschüssen und Kommissionen, denen er angehörte, jeweils den Vorsitz übertragen zu bekommen und dann auch gegen Widerstände zu behalten. Die Drohung mit dem Rücktritt von einem Amt als legitimes politisches Druckmittel gehörte nicht zu seinem politischen Stil.
Angesichts des Kräfteverhältnisses im Rat und des Gleichgewichts der beiden großen Fraktionen mußte den neun Abgeordneten der FDP, der DP und des Zentrums eine ausschlag-gebende Rolle zufallen. Es lag auf der Hand, welche Möglichkeiten sich in dieser Situation einem geschickten Präsidenten von seinem „erhöhten" Standpunkt aus bieten konnten, um Bundesgenossen zu gewinnen. Nachdem die sozialdemokratischen Parlamentarier das von vornherein erstrebte Nahziel, den Vorsitz im Hauptausschuß, erreicht hatten, stimmten sie geschlossen der Wahl Adenauers zum Präsidenten des Rats zu Auf diese Weise förderten sie ungewollt den weiteren politischen Aufstieg ihres Gegenspielers.
II. Adenauers Amtsführung als Präsident
Die feierliche Eröffnung des Parlamentarischen Rats am 1. September 1948 bildete den Auftakt der Arbeit am Grundgesetz. Vorher hatte ein inoffizieller Vorschlag des CDU-Vorsitzenden, mit Ausschußberatungen ohne vorangegangene öffentliche Generaldebatte zu beginnen keine Mehrheit gefunden Unmittelbar nach seiner ohne Aussprache erfolgten Wahl zum Präsidenten forderte Adenauer in seiner einleitenden Rede die Abgeordneten auf, rasch an die „praktische Arbeit" zu gehen Er versicherte, sein Amt „völlig unparteiisch und objektiv" führen zu wollen. In seinem Dank an den Alterspräsidenten und neu gewählten ersten Vizepräsidenten Schön-felder lobte er dessen „jugendliche Frische und Stärke" bei der Eröffnung der Sitzung. Zum Verständnis dieser von hintergründiger Ironie nicht freien Belobigung muß man wissen, daß Adenauer selbst nur wenige Monate jünger war als der SPD-Abgeordnete Schönfelder, der zudem unmittelbar vorher gegenüber gezielten Störaktionen des KPD-Abg. Reimann alles andere als Stärke gezeigt hatte Dem „Altmeister parlamentarischer Taktik" hingegen gelang es sofort, das KPD-„Störungsfeuer" zu stoppen Mit der ihm eigenen politischen Direktheit unterstrich der neue Präsident sogleich die doppelte Freiheit des Parlaments: gegenüber den Besatzungsmächten wie gegenüber den Länderchefs. Die von dem Gremium der Ministerpräsidenten geleisteten Vorarbeiten erwähnte Adenauer nur mit einem Satz, um unverbindlich hinzuzufügen, daß diese Arbeiten „uns sicher bei der Erfüllung unserer Aufgabe sehr wertvoll sein werden".
In dieser Formulierung wird bereits eine dezidierte politische Distanzierung von den Länderchefs deutlich. Sie wurden von diesem Tage an aus ihrer bisherigen privilegierten Stellung als „Treuhänder der deutschen Politik" hinausgedrängt. In der vierten und letzten Sitzung des Geschäftsordnungsausschusses am 22. September 1948 — der einzigen übrigens, an der er teilgenommen hat — setzte Adenauer zusammen mit SPD-Vertretern und gegen die Stimmen der CDU/CSU-Abgeordneten durch daß in die Geschäftsordnung keine Bestimmung über die Regelung des Verhältnisses des Parlamentarischen Rats zu den Ländern ausgenommen wurde. Da es sich bei dieser Materie nicht um eine Frage materieller Art handelte, sollte ihre Klärung dem Hauptausschuß überlassen werden Dazu ist es jedoch in der Folge nicht gekommen. So blieb die Frage einer Beteiligung der Länder an den Verfassungsberatungen ungeklärt und die Zu-ziehung von Vertretern der Länderregierungen und Experten einzelner Ressorts in das Ermessen des Ratspräsidenten gestellt.
In seiner fünften Sitzung am 22. September billigte das Plenum die vom Ausschuß erarbeitete Geschäftsordnung. Deren Entwurf war der Geschäftsordnung des Frankfurter Wirtschaftsrats „nachgebildet" worden In den vorauf-gegangenen Plenarsitzungen hatte man sich dahin gehend verständigt, die Geschäftsordnung des alten Reichstags „vorläufig sinngemäß" anzuwenden Es ist nicht ausgeschlossen, daß die im Verlauf der Arbeiten des Geschäftsordnungsausschusses „nach verschiedenen Richtungen" hin „weiter geklärte" Stellung des Präsidenten — der „gewisse Entscheidungen" möglichst im Einvernehmen mit den beiden Vizepräsidenten treffen sollte — eine auf die Persönlichkeit Adenauers zugeschnittene Einengung präsidialer Befugnisse bedeutete.
Eine Analyse der Stenographischen Berichte der Plenarsitzungen läßt nur einen kleinen Ausschnitt aus der Tätigkeit und dem Einfluß Adenauers als Präsident sichtbar werden; denn der Parlamentarische Rat hat sich mit zwölf Plenarsitzungen begnügt. Davon wiederum hat Adenauer nur in acht den Vorsitz geführt, nämlich in der 1., 4. und 5. sowie in der 8. bis 12. Sitzung. Die vier Sitzungen, bei denen er „entschuldigt" fehlte (am 8. und 9. September sowie am 20. und 21. Oktober 1948), wurden von Vizepräsident Schönfelder geleitet. Nach der Geschäftsordnung hatte der Präsident beratende Stimme in allen Ausschüssen (§ 6) und den Vorsitz im Ältestenrat (§ 14); von den Vorsitzenden der Fachausschüsse mußte er laufend über den Stand der jeweiligen Beratungen unterrichtet werden (§ 22). Adenauer war in jeder Weise seinem Amt gewachsen. Er besaß von Anfang an persönliche Autorität, rasches Reaktionsvermögen und unbeirrbare Sicherheit im Auftreten wie in der Art, in der er die Geschäftsführung handhabte, zunächst auch ohne die Grundlage einer Geschäftsordnung, an deren Ausarbeitung er sich nicht sonderlich beteiligt hatte Auch in langen Nachtsitzungen, stürmischen Debatten und komplizierten Einzelabstimmungen über Verfassungsparagraphen kam er nicht aus dem Konzept. Die Verhandlungsführung des Präsidenten war bei aller Straffheit bemerkenswert elastisch. Seine zahlreichen kurzen Zwischenbemerkungen waren häufig von einer Portion „kölschen" Humors begleitet. Adenauer blieb mit Erfolg darauf bedacht, die planmäßigen Verzögerungsund Störaktionen der beiden KPD-Vertreter in Grenzen zu halten.
Andererseits aber hat gerade der Essener KPD-Abg. Heinz Renner durch seine pausenlosen Zwischenrufe und Anträge — in bezug auf die Zahl der Wortmeldungen und Anträge allerdings noch durch den niedersächsischen DP-Abg. Hans-Christoph Seebohm übertroffen — die unentbehrliche und dem Präsidenten höchst erwünschte parlamentarische Würze geliefert In der Replik auf die Einwürfe Renners, die der CDU-Vorsitzende aus der gemeinsamen Abgeordnetentätigkeit im Landtag von Nordrhein-Westfalen nur zu gut kannte, sind Adenauer beachtliche rhetorische Entgegnungen gelungen. Er selbst hat bei passender Gelegenheit am 15. September 1948 die Abgeordneten ermuntert, wenn schon, dann „gute" Zwischenrufe zu machen
Wie wenig ernst im übrigen Adenauer die beiden KPD-Vertreter nahm, geht daraus hervor, daß er am Tage nach der Übernahme des Präsidentenamts „unsere Kommunisten" im Vergleich zu denen des Jahres 1918 als „Gentlemen" apostrophierte Die wiederholt gebrauchte Wendung Renners „Wir kennen uns zu gut" kennzeichnet das Verhältnis der beiden Kontrahenten oder — vielleicht noch besser — die Antwort des KPD-Abgeordneten auf einen Einwand Adenauers („Herr Renner, das glauben Sie alles selbst nicht, was Sie sagen"): „Das glaube ich alles, was ich sage, weil ich Sie seit Jahrzehnten so gut kenne, wie ich mich kenne. [. . . ] Sie sind Dr. Konrad Adenauer, die deutsche und inter-nationale Reaktion, und das genügt Ihnen." Bei der Verabschiedung des Grundgesetzes am 8. Mai 1949 nahm Adenauer ungerührt den zweifellos nicht nur aus momentaner Verärgerung erhobenen Vorwurf Renners zur Kenntnis: „Wenn man mit Ihnen unter vier Augen verhandelt, tut man gut, sich mindestens zwei Zeugen zu sichern." Zwei Tage vorher hatte der Präsident dem KPD-Abg. Reimann das Wort entzogen, weil der Parlamentarische Rat nicht gesonnen sei, sich „terrorisieren zu lassen"
Von dem parlamentarischen Strafmittel des Ordnungsrufs machte Adenauer sehr sparsam Gebrauch. Er beherrschte die für einen Verhandlungsleiter wichtige Fähigkeit, unliebsame Wortmeldungen geflissentlich zu übersehen oder unpassende Zwischenrufe zu überhören. Auf einen Hinweis des bärtigen CDU-Abg. Theophil Kaufmann am 8. Mai 1949, daß seine wiederholte Wortmeldung dreimal übersehen worden sei, erfolgte die trockene Replik: „Tut mir leid, Herr Kaufmann, ich habe es nicht gesehen. Herr und Frau Schriftführer haben es auch nicht gesehen. Offenbar hat Frau Weber Ihr Zuwinken anders aufgefaßt." Als zwei Tage später der DP-Abg. Seebohm einen ihn berührenden Zwischenruf seines SPD-Kollegen Georg Diederichs vom Präsidenten nicht gerügt sah, erklärte Adenauer kategorisch: „Ich habe die Bemerkung nicht gehört, weil ich sie bei der Unruhe im Hause nicht hören konnte." Seebohm war mit dieser Antwort zufriedengestellt, konnte es sich aber nicht verkneifen, dem Abg. Diederichs zuzurufen, daß er auf diese Weise um einen Ordnungsruf „herumgekommen" sei
Bekannter ist eine andere Szene: Als der FDP-Abg. Theodor Heuss am 8. Mai 1949 in seinem schwäbischen Zorn den KPD-Zwischen-rufer Renner mit der wenig parlamentarischen Wendung zu stoppen suchte: „Renner, halten Sie mal eine Zeit Ihr Maul und seien Sie ruhig!", da rettete Adenauer unter erneuter großer Heiterkeit des Hauses diese für einen Ordnungsruf reife Situation mit der spitzbübisch-trockenen Bemerkung: „Herr Heuss, ich nehme an, Herr Renner hat Ihnen das nicht übelgenommen." Als der Redner sofort replizierte: „Er hat sich darüber gefreut", und Renner seinerseits diese Beurteilung unverzüglich bestätigte („Das wollte ich sogar hören") war die Angelegenheit erledigt. Es handelte sich dabei übrigens um einen der seltenen Fälle, in denen Adenauer — hier allerdings wegen der großen Heiterkeit des Hauses — zur Glocke des Präsidenten greifen mußte. Dieser kleine Zwischenfall ist sowohl von Adenauer als auch von Heuss der Überlieferung für wert befunden worden
Wichtiger als die mehr geschäftsordnungsmäßig-repräsentative Seite seines Präsidentenamts waren für Adenauer von Anfang an die darin liegenden eminent politischen Möglichkeiten, die er voll ausschöpfte. Ihm oblag der „Geschäftsverkehr" des Parlamentarischen Rats mit deutschen oder anderen Dienststellen (§ 11 der Geschäftsordnung), also vor allem der unmittelbare Kontakt zu den drei Militär-gouverneuren bzw. ihren Vertretern und Verbindungsoffizieren. Auf diese Weise konnten die Ministerpräsidenten außer von der Mitarbeit am Verfassungswerk auch vom Zugang zum „Machthaber" ferngehalten werden. Eine Anfrage des hessischen Ministerpräsidenten Stock vom 3. September 1948 wegen eines Gesprächs wurde von Adenauer ablehnend be-schieden Es kam auch nicht zu der von den Ministerpräsidenten und den Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-und SPD-Fraktion am 1. Oktober 1948 in Schloß Niederwald vereinbarten Zusammenarbeit zwischen den Länderkabinetten und dem Parlamentarischen Rat Die von Fall zu Fall zugezogenen Vertreter der Länder besaßen kein Stimmrecht in den Ausschüssen des Parlamentarischen Rats. Sie erhielten allerdings die Protokolle über deren Beratungen zugestellt genauso wie die Verbindungsstellen der Besatzungsmächte. Sie waren darüber hinaus durch ständige Vertreter in Bonn — eine Art Neuauflage der früheren innerdeutschen Gesandtschaften — über den Fortgang der Verhandlungen im Bilde. Es kam zu einigen Treffen von Mitgliedern des Parlamentarischen Rats und einigen Ministerpräsidenten, so am 27. Oktober 1948, am 4. Februar 1949, als sich vier Länderchefs (Alt-meier, Arnold, Kopf, Stock) mit dem Interfraktionellen Fünferausschuß trafen am 24. März und am 13. Mai 1949. Am 12. April 1949 wurde in einem größeren Kreis auf Grund einer „vor längerer Zeit" getroffenen Absprache eine gemeinsame Stellungnahme zum Besatzungsstatut, einer — wie es Adenauer bei dieser Gelegenheit ausdrückte — Entscheidung von „weltgeschichtlicher Bedeutung" beraten. Bekannt ist, daß sich Adenauer und der bayerische Ministerpräsident Ehard wiederholt in Bonn begegnet sind Ehard hat auch an einzelnen Sitzungen der CDU/CSU-Fraktion teilgenommen.
Außer dem Präsidenten des Parlamentarischen Rats haben auch andere Abgeordnete Zugang zum „Machthaber", den drei Militärgouverneuren, gehabt und genutzt, wenngleich bisher wenig darüber bekannt geworden ist. Allein Adenauer aber wurde ohne offizelle Bestallung, „auf ganz natürliche Weise", wie es Theodor Heuss einmal umschrieben hat, „der Sprecher der werdenden Bundesrepublik gegenüber den westlichen Mächten" Er war — mit einer noch zu erwähnenden Ausnahme -besser als die meisten anderen Parlamentarier mit den politischen Vorstellungen und damit auch den internen Differenzen der drei Alliierien vertraut Er lehnte es ab, von jedem Treffen mit den Militärgouverneuren dem Hauptausschuß Rechenschaft zu geben, da er solche Besprechungen in seiner Eigenschaft als „einer der führenden westdeutschen Politiker" führen könne
Adenauer benutzte den regelmäßigen Kontakt mit den Alliierten, um immer wieder seine Konzeption über die Rolle Westdeutschlands in einer europäischen Föderation zu entwikkeln Er erkannte rasch, daß sich seine Ansichten am ehesten mit den Vorstellungen des amerikanischen Militärgouverneurs General Clay deckten, dessen entscheidende politische Rolle in der Vorgeschichte der „Weststaatsgründung" jüngst von John Gimbel herausgearbeitet worden ist Vorwürfe gegen die Amtsführung des Präsidenten betrafen ausschließlich die Opportunität oder Inopportunität spezifisch politischer Entscheidungen. Das ohne Belege formulierte Urteil von Peter H. Merkl, wonach der Parlamentarische Rat von gut organisierten Parteien beherrscht worden sei, „deren Führer das Spiel auf der parlamentarischen Bühne von dem übergeordneten Standort des Ältestenrates aus dirigierten" trifft nicht zu.
III. Verhalten in Krisensituationen
Ungeachtet des Bestrebens der beiden großen Fraktionen, das Grundgesetz möglichst rasch und mit einer möglichst breiten Mehrheit zu verabschieden, kam es im Parlamentarischen Rat wiederholt zu schweren Krisen. Von ihnen müssen zwei erwähnt werden, weil in der Art ihrer Beilegung die Taktik Adenauers besonders deutlich erkennbar wird. In beiden Fällen handelte es sich um Konflikte, deren Ursache in dem gespannten Verhältnis des Parlamentarischen Rats zu den Besatzungsmächten lag: in der zweiten Dezemberhälfte 1948 um die „Frankfurter Affäre" und im April 1949 um das „Nein" der SPD zu Forderungen der Militärgouverneure nach einer Revision des Grundgesetzentwurfs. In beiden Fällen verschärften sich die Gegensätze zwischen der CDU/CSUund der SPD-Fraktion durch eine kontroverse Beurteilung in der Einschätzung des alliierten Verhaltens.
In der sogenannten „Frankfurter Affäre" ging es um Adenauers Rolle als Delegationsführer bei Verhandlungen mit den drei Militärgouverneuren am 16. Dezember 1948. Dem Präsidenten wurde von SPD-und FDP-Vertretern vorgeworfen, er habe sich nicht — wie unter den Mitgliedern der Delegation vorher vereinbart worden sei — auf Fragen nach der Interpretation strittiger Punkte in einem Memorandum der Militärgouverneure vom 22. November beschränkt, sondern versucht, eine Stellungnahme der Alliierten zugunsten der CDU/CSU-Auffassung in der Frage des föderalistischen Aufbaus des Grundgesetzes und der Finanzhoheit herbeizuführen. Auf diese Weise habe er — wie es weiter in einer schriftlichen „Rüge" der SPD-Fraktion vom 18. Dezember an „Herrn Dr. Konrad Adenauer, Bonn" hieß — die Gouverneure zu „Schiedsrichtern über Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Parlamentarischen Rats" machen wollen und sich mehr als Parteipolitiker denn als Sprecher der Gesamtheit verhalten
Wie hat Adenauer auf diese Anschuldigungen reagiert, die er für unberechtigt und unbegründet hielt? Zunächst gab er am Vormittag des 18. Dezember in einer nichtöffentlichen Sitzung des Hauptausschusses einen ausführlichen Bericht über den Ablauf der Frankfurter Besprechungen Danach hat er erst während der Sitzung am 16. Dezember auf eine Anregung des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Pfeiffer, von den Militär-gouverneuren eine „exakte Auskunft" erbeten über „mehrdeutige" Ausführungen bezüglich der Länderkammer im Memorandum der Alliierten vom 22. November Von einigen Mitgliedern der Delegation, darunter den Abgeordneten Menzel, Schmid und Höpker-Aschoff, sei ihm zu seiner „Überraschung" erst am folgenden Morgen mitgeteilt worden, daß er den Eindruck erweckt habe, von den Militärgouverneuren eine „Entscheidung über Differenzpunkte" zu erhalten. Er habe dieser Auffassung sofort widersprochen und sein Bedauern zum Ausdruck gebracht, daß keiner der Anwesenden während der Konferenz einen eventuellen „Lapsus" seinerseits korrigiert habe Zu Beginn der zweiten Besprechung mit den Vertretern der Besatzungsmächte am 17. Dezember seien dann von ihm und dem SPD-Abg. Schmid vorbereitete Stellungnahmen verlesen worden, die den Sachverhalt klargestellt hätten.
Adenauers Wiedergabe der Gespräche wurde auch von anderen Delegationsmitgliedern bestätigt und war — wie sich erweisen sollte — korrekt. Dementsprechend verlief die anschließende Diskussion im Hauptausschuß ohne Ergebnis: Ein KPD-Antrag, Adenauer von seiner Funktion als Präsident des Rats abzuberufen, wurde von Sprechern aller Parteien zurückgewiesen. Adenauer zog aus diesem Fall die „Lehre", bei eventuellen weiteren Verhandlungen mit den Militärgouverneuren vorher „Satz für Satz" festzulegen und bei unvermutet auftauchenden Fragen um eine Beratungspause für die deutsche Delegation zu bitten So ist es dann auch später geschehen (14. April 1949).
Nun führten zwei Ereignisse dazu, den im Ausschuß — der sich auf den 4. Januar 1949 vertagte — zunächst beigelegten Zwischenfall hochzuspielen. Das eine war die bereits erwähnte schriftliche „Rüge" der SPD-Fraktion, die Adenauer erst nach Schluß der Sitzung des Hauptausschusses (12. 56 Uhr) in seinem Büro vorfand — nachdem sie bereits vorher den Fraktionen bekanntgeworden und von den KPD-Vertretern der Presse übergeben worden war. Das zweite war eine nach der Sitzung des Hauptausschusses einberufene Pressekonferenz der SPD-Fraktion, auf der der „polemisierende Professor" Schmid die Haltung seiner Fraktion zu Adenauers Vorgehen erläuterte. Dabei unterstrich er nachdrücklich den Standpunkt, das Grundgesetz möglichst rasch und unabhängig von der „Stellungnahme der Militärregierungen" fertig-zustellen. Daraufhin trat Adenauer seinerseits an die Öffentlichkeit. In einer noch am gleichen Samstagnachmittag einberutenen Pressekonferenz nahm er zu den Vorwürfen Stellung und kritisierte scharf das Verhalten der SPD, durch das die CDU „vor den Kopf gestoßen" werde
Adenauer nannte die Spekulation auf das „nationalistische Gefühl" der Wähler eine „Sünde gegen das gesunde nationale Empfinden". Als gefährlich bewertete er die Politik der SPD, ohne vorherige Fühlungnahme mit den Militärgouverneuren ihnen die Verantwortung zu überlassen, das fertige Grundgesetz anzunehmen oder abzulehnen, und erklärte: „Eine solche Politik ist die Politik eines Hasardeurs." Der Präsident hielt es für richtiger, mit den Gouverneuren in Kontakt zu bleiben, anstatt, wie es von Abgeordneten aller Parteien geschehe, mit alliierten Verbindungsoffizieren beim Cocktail „über die hier in Arbeit befindlichen Dinge" zu sprechen
Die CDU/CSU-Fraktion stellte sich durch ihren Sprecher Jakob Kaiser geschlossen hinter ihr prominentestes Mitglied und verurteilte den Versuch, „in dieser Zeit der größten deutschen Not zu entzweien, statt alles daran zu setzen, die aufbauwilligen Kräfte zur gemeinsamen Arbeit zusammenzufügen" Mit diesen Erklärungen beider Seiten, die in den Pressewiedergaben teilweise beträchtlich vergröbert wurden waren die Fronten verhärtet. Daß Adenauer auf die Angriffe der SPD so rasch reagierte, lag nicht nur daran, daß er sich wegen der Frankfurter „Affäre" zu Unrecht angegriffen sah — wie sich nach Vorlage seiner Unterlagen in einer Sitzung des Ältestenrats am 4. Januar herausstellte —, sondern auch daran, daß er der SPD nicht die „nationalen" Parolen überlassen wollte. Noch am 18. Dezember klagte er in einem Schreiben an den Vorsitzenden der FDP in der britischen Zone, den nordrhein-westfälischen Minister Franz Blücher, pauschal über die (5-Mann-) Fraktion der FDP, die sich bei der Behandlung der Verfassungsprobleme „immer mehr" der Sozialdemokratischen Partei nähere. Blüchers Kommentar zu dieser nicht näher begründeten Beschwerde, die er drei Tage später den FDP-Mitgliedern des Parlamentarischen Rats zur Kenntnis brachte, lautete, „daß offenbar der 16. und 17. Dezember sowie der Brief der SPD Herrn Dr. Adenauer völlig fassungslos gemacht habe"
Ebenfalls unter dem 18. Dezember beschwerte sich umgekehrt der Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter bei Adenauer darüber, daß in Bonn die Tendenz bestehe, Berlin gegenüber alliierten Instanzen ohne „vorherige Beratung" mit den Mitgliedern der Berliner Delegation „zur Erörterung" zu stellen Dieses Schreiben — aus dem Adenauer den Vorwurf herauslas, er hätte die Zuziehung der Berliner Vertreter zur Frankfurter Delegation verhindern wollen, „um keine SPD-Mehrheit im Bunde zustande kommen zu lassen" — stand im Zusammenhang mit der „Rüge" der SPD-Fraktion an Adenauer vom gleichen Tage. Der Präsident konnte am 4. Januar 1949 im Ältestenrat mit dem Argument kontern, er habe bei dem Frankfurter Treffen die Berlin-Frage deswegen nicht angeschnitten, weil der SPD-Abg. Menzel ausdrücklich darum ersucht habe
Die Weihnachtsferien schufen eine Kampf-pause in den Bonner Auseinandersetzungen. Diese sind nicht verständlich ohne ihren politischen Hintergrund: die unterschiedlichen Auffassungen der beiden großen Parteien über Aufgabe und Unabhängigkeit des Parlamentarischen Rats und die Einschätzung der zeitlichen Dauer des Grundgesetzes als Provisorium oder „Verfassung". Zu Beginn des Jahres 1949 sah dann die sozialdemokratische Parteiführung in Hannover offensichtlich den Zeitpunkt gekommen, den gefährlichen Konkurrenten politisch auszuschalten Die SPD-Presse war in den ersten Tagen des Januar voll von Vorwürfen gegen Adenauer. Schumacher, der eigens seinen Stellvertreter Ollenhauer nach Bonn delegierte, drängte die SPD-Fraktion zu einem förmlichen Mißtrauensvotum gegen den Ratspräsidenten 86a).
Diese Forderung lehnte jedoch die Mehrheit der SPD-Fraktion am 4. Januar 1949 mit 19 : 3 Stimmen ab. Dennoch schien es an diesem Tage, als würden die Fronten weiter erstarren. Es kam zu neuen gegenseitigen Anschuldigungen in Presseerklärungen. In einer Sitzung des Ältestenrats am Nachmittag des 4. Januar behielt sich Adenauer vor, „im Interesse seiner persönlichen Ehre" eine Untersuchung der Frankfurter Vorgänge vom 16. Dezember 1948 vornehmen zu lassen, um zu klären, „wie einwandfrei die ganze Angelegenheit liege". Adenauer wies in diesem Kreise die Notizen vor, auf deren Grundlage er mit den Mitgliedern der Delegation das Vorgehen in Frankfurt erörtert habe: „Ich habe sie [die einzelnen Punkte] wörtlich vorgetragen. Das ist ja die Sache, die mich so empört."
Am folgenden Tage glätteten sich dann die Wogen. Beide Parteien kritisierten noch einmal das Verhalten der jeweils anderen Seite, wobei die CDU/CSU-Fraktion erneut geschlossen für Adenauer eintrat, genauso wie drei Tage später in Königswinter die Führungsgremien der CDU und CSU Die Abgeordneten beider Parteien trafen sich dann jedoch in dem Bestreben, die Fortsetzung der Verfassungsarbeit als „weit wichtiger als alles andere" anzusehen Am Nachmittag des 5. Januar gelang es nach einer erneuten ausführlichen Debatte im Ältestenrat, die Krise beizulegen Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen hatte Adenauer keinen Zweifel daran gelassen, daß ihn am meisten die Anzweiflung seiner „deutschen Haltung" in den SPD-Verlautbarungen getroffen und „außerordentlich persönlich verletzt habe". Eine befriedigende „Bereinigung" in diesem Punkte bildete für ihn die Voraussetzung dazu, wieder „schnellstens an die Arbeit" zu gehen.
Daraufhin wurde unter Verzicht auf weitere persönliche Auseinandersetzungen eine inzwischen von den Abgeordneten Süsterhenn (CDU) und Suhr (SPD) ausgearbeitete kurze Stellungnahme beschlossen. Deren Kernsatz lautete, alle Fraktionen hätten erklärt, „daß keine Fraktion einer anderen oder einem ihrer Mitglieder unlautere Motive unterstellt". Angesichts der „gesamtpolitischen Lage" bekräftigten die Vertreter aller Parteien ihren Willen, das Staatsgrundgesetz „beschleunigt" fertigzustellen und sich dieser Arbeit in „gegenseitiger menschlicher Achtung" zu widmen Auf diese Weise konnte an Adenauers 73. Geburtstag die Krise beigelegt werden Der „militanten Richtung" der SPD-Führung war es nicht gelungen, ihren Kontrahenten von der politischen Bühne zu entfernen und damit auch als künftigen Bundespräsidenten zu diskreditieren
Bemerkenswert bleibt, daß der CDU-Vorsitzende zu diesem Zeitpunkt in der Presse als Kandidat für jenes Amt genannt wurde, für das Kurt Schumacher im September 1949 gegen Theodor Heuss erfolglos kandidieren sollte. Nicht wenige Kommentatoren betrachteten in diesem Zusammenhang den von Adenauer geförderten Versuch einer Fusion des Zentrums mit der CDU, der kurz darauf scheiterte, unter dem Gesichtspunkt des Stimmen
Zuwachses für einen künftigen Bundespräsidenten Adenauer
Die letzte schwere Krise des Parlamentarischen Rats entstand Ende März 1949, nachdem die Besatzungsmächte wiederholt eine Revision des vom Hauptausschuß in dritter Lesung angenommenen Verfassungsentwurfs gefordert hatten. Praktisch handelte es sich darum, eine stärker föderalistische Lösung der Finanz-frage zu finden, die den alliierten Einsprüchen Rechnung trug, da andernfalls die Gefahr bestand, daß am Veto der Siegermächte das „ganze Werk" scheitern würde Während die SPD an dem ausgehandelten Kompromiß festhielt, wollte die CDU/CSU im Sinne der von Adenauer vertretenen Linie das Grundgesetz nicht wegen einer Einzelfrage preisgeben. Sie hielt aus „nationalen Gründen" ein Fortdauern der „bisherigen staatsrechtlichen Zerstückelung Deutschlands" nicht mehr länger für vertretbar
Am 31. März scheiterte im Interfraktionellen Siebenerausschuß der Versuch einer Verständigung. Die SPD schätzte, nach den Worten ihres Abg. Katz, das politische Risiko einer Ablehnung der Verfassung durch die Alliierten als „sehr gering" ein. Sein Fraktionskollege Karl Schmid hielt es für unbedingt erforderlich, daß die deutsche Seite endlich einmal einen „Sieg gegenüber den Alliierten" errin-gen müsse Die Sozialdemokraten gingen auf breiter Front zur „nationalen Opposition" (Merkl) über und verurteilten die „unverständliche Kapitulation vor den Besatzungsmächten" Nachdem Adenauers Bemühungen, die SPD von ihrem „überbetonten nationalistischen Standpunkt" abzubringen, ohne Ergebnis geblieben waren suchte er Zeit zu gewinnen, damit sich die starre Haltung der Sozialdemokratie „lockern" könne Die CDU/CSU-Fraktion trat am 6. April in „ernster Sorge" angesichts der innen-und außenpolitischen Entwicklung für eine rasche Verabschiedung des Grundgesetzes ein.
Der Präsident des Parlamentarischen Rats wollte es unter keinen Umständen auf eine „Machtprobe" mit den Alliierten ankommen lassen, um nicht den Verfassungsauftrag des Rats zu gefährden Er hielt es nach wie vor für notwendig, das Grundgesetz mit einer „möglichst breiten Mehrheit" rasch zu verabschieden, auch unter Konzessionen gegenüber den alliierten Forderungen In dieser Situation begrüßte Adenauer die Beschlüsse der Washingtoner Außenminister-Konferenz vom 8. April 1949 — die größere Vollmachten für den künftigen westdeutschen Bundesstaat vorsahen — als einen „Fortschritt für Westdeutschland", der durch rasche Fertigstellung des Grundgesetzes genutzt werden sollte Er hielt es für „unfaßbar und nicht zu verantworten", die „ausgestreckte Hand der Alliierten" auszuschlagen. An die Adresse der SPD gerichtet, fügte er hinzu, das Grundgesetz sei ja nicht „die Zehn Gebote"; Änderungen in naher Zukunft seien „durchaus wahrscheinlich"
Die SPD-Fraktion beharrte jedoch, von Schumacher unterstützt, auf ihrem inzwischen vorgelegten „vereinfachten Grundgesetzentwurf". Sie spielte damit va banque Adenauer bewertete es als eine Tragödie, daß der SPD-Vorsitzende von seinem Krankenbett in Hannover aus Entscheidungen treffe, die von der Bonner Fraktion als bindend angesehen würden Am 20. April beschloß der erweiterte SPD-Parteivorstand in Hannover unter dem Einfluß Schumachers, die Arbeit des Parlamentarischen Rats scheitern zu lassen, falls nicht die sozialdemokratischen Forderungen, wie sie in einem neuen gekürzten Grundgesetz-Entwurf vorgelegt worden waren, angenommen würden.
Am 21. April beklagte Adenauer im Nord-westdeutschen Rundfunk dieses Ergebnis. Er warnte vor einer innenpolitischen Vergiftung durch die Behauptung, die CDU/CSU treibe „Erfüllungspolitik". Damit würde wie nach 1918 eine Kluft zwischen „Erfüllungspolitikern" und „Patentnationalen" aufgerissen. Adenauer bezeichnete Schumachers Angriffe auf die Alliierten als „unberechtigt" und gab der Hoffnung Ausdruck, daß es auf Grund der „politischen Einsicht" der SPD doch noch zu einer Einigung im Parlamentarischen Rat kommen werde 109a).
Das „Nein" von Hannover bildete eine „nationale Sensation" Zwei Tage später gaben die Alliierten nach: Sie hatten sich bereits auf der Washingtoner Außenminister-Konferenz Anfang April in einem Alternativbeschluß auf entsprechende Konzessionen eingestellt und brauchten keinen Prestigeverlust in Kauf zu nehmen. Damit standen die Verfassungsschöpfer vor einer neuen Situation.
Nachdem die CDU/CSU-Fraktion am 22. April auf die Herausforderung von Hannover mit einer scharfen Presseerklärung geantwortet hatte — in der jeder Versuch, die Motive deutscher Politiker „als fremden Mächten dienend zu diffamieren", zurückgewiesen und der Verzicht auf die „Wiedergewinnung des deutschen Selbstbestimmungsrechts" als „Bankrotterklärung der deutschen Demokratie" verurteilt worden war —, fand man sich rasch zu neuen Beratungen zusammen. Da die SPD auf ihren verkürzten Grundgesetz-Entwurf verzichtete, der im übrigen in keinem Zusammenhang mit dem umstrittenen Finanzproblem gestanden hatte, konnte in den beiden nächsten Tagen das Bonner Verfassungswerk auf der Basis wechselseitiger Kompromisse vollendet werden In einem Abschlußkommu-nique vom 24. April wurde hervorgehoben, daß die Entscheidungen des Parlamentarischen Rats „ausschließlich durch deutsche, von fremden Einflüssen unabhängige Erwägungen" bestimmt worden seien.
Die Tatsache, daß die Konzessionsbereitschaft der drei Westalliierten bereits vor dem 20. April den Militärgouverneuren bekannt war, auf höhere Weisung aber nicht, hatte nach Bonn mitgeteilt werden dürfen, schuf eine prekäre Situation für die CDU/CSU. Ausgerechnet die konsequentesten Verfechter einer deutschen Westbindung hatten an dieser entscheidenden politischen Wegbiegung die Haltung der Alliierten falsch eingeschätzt. Adenauer sah sich düpiert War er doch, wenngleich mit Unbehagen, um des für ihn höheren nationalen Zieles willen zum Nachgeben bereit gewesen. Noch in seinen Erinnerungen hat er das Vorgehen der Westmächte als für ihn und alle nicht der SPD-Fraktion angehörenden Abgeordneten als „sehr bitter" bezeichnet Die SPD hatte, wie „Die Zeit" am 28. April kommentierte, die „Partie gewonnen". Die Sozialdemokraten erschienen als Wahrer der nationalen Interessen.
Zunächst deutete alles darauf hin, daß Adenauer den Erfolg der Gegenseite widerspruchslos hinnehmen würde, nachdem die auf der Grundlage eines parteipolitischen Burgfriedens fertiggestellte letzte Fassung des Grundgesetzes bereits am 25. April von den Alliierten genehmigt worden war. Da sich an seiner Beurteilung der weltpolitischen Situation nichts geändert hatte, verteidigte Adenauer die „Opfer" der CDU/CSU für den Verfassungskompromiß Aus naheliegenden Gründen hielt er es für verfehlt, dabei von Siegern und Besiegten zu sprechen
Anschließend schwieg der CDU-Vorsitzende volle drei Monate, bevor er zum spektakulä-ren Gegenschlag ausholte. Er benutzte die Eröffnung des Bundestagswahlkampfs am 21. Juli 1949 in Heidelberg dazu, das „Nein" der SPD vom 20. April zu entkräften Nach seiner Version sind anläßlich einer Beratung von Vertretern des Parlamentarischen Rats am 14. April mit den Militärgouverneuren Mitglieder der SPD-Delegation durch Angehörige der britischen Militärregierung vertraulich über die Konzessionsbereitschaft der Alliierten informiert worden. Ob diese damals leidenschaftlich umstrittene Behauptung zutrifft, läßt sich heute noch nicht sagen: Es gibt gewichtige Belege dafür und andere dagegen nicht zuletzt die bereits erwähnten Stellungnahmen Schumachers von Ende März 1949 Für Adenauer ging es im Wahlkampf des Sommers 1949 darum, die CDU vom Odium einer nicht entschieden „nationalen" Haltung zu befreien und der SPD das Argument zu nehmen, am 20. April Deutschland gerettet zu haben
IV. Die politischen Zielsetzungen Adenauers
Eine Antwort auf die Frage nach den politischen Zielsetzungen Adenauers bildet die Voraussetzung für das Verständnis seines politischen Verhaltens im Parlamentarischen Rat. Der CDU-Vorsitzende war — wie Hans Peter Schwarz 1966 schlüssig herausgearbeitet hat — der prominenteste deutsche Politiker, der sich kompromißlos dafür eingesetzt hat, einen westdeutschen Bundesstaat ins Leben zu rufen und ihn unwiderruflich an den Westen zu binden. In seiner politischen Konstellationsanalyse ging er seit 1945 von der faktischen Zweiteilung Europas aus.
Das früh vollausgebildete außenpolitische Konzept Konrad Adenauers basierte auf Vorstellungen aus der Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Sie hatten sich durch die Erfahrungen der nationalsozialistischen Ära verfestigt. Dieses Konzept war das Gegenteil einer „Schaukelpolitik", die Adenauer an Stresemann häufig kritisiert hat. Es läßt sich in aller Kürze folgendermaßen umschreiben: Rasche Herausführung Westdeutschlands aus seiner Machtlosigkeit und Isolierung durch möglichst enge Bindung an den europäischen Westen; wirtschaftliche, „organische" Verflechtungen vor allem mit Frankreich und den Benelux-Staaten als sicherstes Mittel für den Bestand des Friedens unter Anerkennung des (berechtigten westlichen Sicherheitsverlangens und als Grundlage für eine weitergehende Union westeuropäischer Staaten (unter Einschluß Großbritanniens); Aussöhnung mit Frankreich; Anlehnung an die USA als Voraussetzung für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Westdeutschlands und Westeuropas, der das sicherste Bollwerk gegen den Kommunismus bilden werde.
Die Alliierten hatten die innerdeutschen Voraussetzungen geschaffen, um diese außenpoli-tischen Zielsetzungen realisieren zu können; denn erst die Zerschlagung Preußens machte eine stärkere Westorientierung des größten Teils von Deutschland möglich. Dessen politisches Schwergewicht wollte Adenauer von Berlin nach dem Westen verlagert wissen, „gleichgültig, ob und von wem Berlin und der Osten besetzt seien" In Konsequenz dieser Lagebeurteilung sollte die Freiheit und Sicherheit der 46 Millionen Deutschen in den drei Westzonen nicht um des nationalstaatlichen Souveränitätsprinzips willen aufs Spiel gesetzt werden, da eine Wiederherstellung der deutschen Einheit angesichts der gegebenen Kräfteverhältnisse eine sowjetische Einflußnahme auf Gesamtdeutschland bedeuten mußte. Der CDU-Politiker war früh davon überzeugt, daß sich das wirtschaftliche Leben in den westlichen Besatzungszonen rasch erholen und daß damit Westdeutschland auch wieder eine politische Rolle zufallen würde. Er zweifelte nicht an der Lebensfähigkeit des neu zu bildenden Staatswesens.
Im Unterschied zu Adenauers wiederholt vorgetragener außenpolitischer Konstellationsanalyse, die für den späteren ersten Bundeskanzler das Fundament seiner Politik bildete, gibt es weitaus weniger und auch weniger präzise Belege für seine Vorstellungen von der inneren Struktur des künftigen Weststaats. Dessen Probleme waren für ihn in erster Linie unter dem Gesichtspunkt seiner außenpolitischen Konzeption wichtig. Der politische Neuaufbau Westdeutschlands mußte für die Westmächte akzeptabel sein. Das betraf vor allem die föderalistische Grundlage, ohne die keine. Verfassung auskommen konnte, die der alliierten Genehmigung unterlag.
Die Einzelheiten der föderalistischen Ausgestaltung hingegen waren für Adenauer Nebensache. Er zählte nicht zu den extremen Föderalisten im Sinne des CSU-Programms, der Verfassungskonzeptionen des „EllwangerKrei-ses" oder auch der CDU-Parlamentarier um Adolf Süsterhenn und den „Rheinischen Merkur". Vier Jahrzehnte zuvor, am 1. Februar hatte sich einmal 1919, er als expressis verbis Anhänger eines Einheitsstaats bezeichnet allerdings gleichzeitig davor gewarnt, die Lebenskraft der Länder zu unterschätzen. Adenauer erstrebte seit 1945/46 einen dezentralisierten Bundesstaat mit weitgehender finanzieller Autonomie der Länder Auf diese Weise glaubte er die Macht der Zentralregierung beschränken zu können, deren Sitz er „in die Gegend des Mains" verlagert wissen wollte.
Eine Zeitlang war Adenauer für eine Dreigliederung Westdeutschlands eingetreten. Dabei sollten Rheinland, Westfalen, eventuell Osnabrück, Rheinhessen, Rheinpfalz und Teile von Hessen-Nassau die Brücke zwischen einer ähnlich großen norddeutschen und süddeutschen Ländergruppierung bilden. Der CDU-Politiker befürwortete ein Zweikammersystem, das er auch innerhalb der Länder für denkbar hielt Die im Juli 1946 von der britischen Regierung verfügte Errichtung des Landes Nordrhein-Westfalen hatte Adenauer begrüßt. Im Frühjahr 1948 war er ohne Erfolg für den Anschluß der drei nördlichen Regierungsbezirke des zur französischen Zone gehörenden Landes Rheinland-Pfalz (Koblenz, Trier, Montabaur) an Nordrhein-Westfalen eingetreten
Im März 1947 hatte der CDU-Vorsitzende der britischen Zone dem französischen Diplomaten Pierre Arnal den Vorschlag entwickelt, daß die Westmächte anstelle eines Friedens„vertrags" — den keine Partei unterschreiben könne — Deutschland, solange es geteilt bleibe, ein „Statut" auferlegen sollten; auf diese Weise könne kein deutscher Politiker einer vergleichbaren Hetze wie der gegen die Unterzeichner des Versailler Vertrags ausgesetzt werden. Außerdem sei ein, wenn auch noch so hartes, „Statut" leichter zu verbessern als ein zweiseitiger Vertrag.
Aus alledem ergibt sich, daß Adenauer, abgesehen von seinem Einsatz für einen mög40 liehst großen Freiheitsspielraum des einzelnen und seiner Ablehnung jeglichen sozialistischen Staatsdirigismus, keinen Wert auf Details des Verfassungswerks legte. Hingegen blieb er von Anfang an darauf bedacht, den künftigen Bundesstaat mit allen Sicherungen und Vollmachten auszustatten, die er für einen Staat dieser Größe und dieser geographischen Lage für notwendig hielt.
Als Konsequenz aus seiner Situationsanalyse erinnerte er im Parlamentarischen Rat wiederholt daran, bei der von ihm befürworteten raschen Vollendung des Grundgesetzes nicht zu vergessen, was die Militärgouverneure im Sinne der „Frankfurter Dokumente" vom 1. Juli 1948 konzedieren würden und was nicht Ihm ging es darum, so rasch wie möglich für das neue Staatswesen schrittweise eine eigene, wenn auch vorerst begrenzte Handlungsfreiheit zu gewinnen. Um dieses Zieles willen war er trotz des damit verbundenen Risikos zu gezielten Vorleistungen bereit.
Aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg kannte Adenauer die Mentalität der britischen und französischen Besatzungsmächte und die Rivalitäten zwischen ungleichen Alliierten. 1948/1949 war allerdings noch wenig von Differenzen in der Deutschlandpolitik der Regierungen in Washington, London und Paris bekannt. Als prominentester deutscher Verfechter der Idee einer europäischen Föderation gewann Adenauer bei den Westmächten allmählich ein Kapital an Vertrauen, das der von ihm vertretenen Politik zugute kam. Dabei spielte eine Rolle, daß er der unumstrittene Vorsitzende der stärksten Partei in der britischen Zone war. Ferner wirkte sein bekannter „antipreußischer Duktus" in dem von Aversionen gegen den preußischen Geist besessenen westlichen Ausland ebenso beruhigend wie sein „instinktiver Antikommunismus" in den Jahren des Prager Staatsstreichs, der Berliner Blockade und der Gründung der NATO Adenauer setzte seine größten Hoffnungen auf die amerikanische Politik und deren Verfechter in Deutschland, General Clay.
V. Inwieweit hat Adenauer seine Vorstellungen durchsetzen können?
Die Beantwortung dieser Frage muß sich auf innenpolitische Zielsetzungen des CDU-Politikers beschränken, da ja das Grundgesetz für außenpolitische Festlegungen keine Plattform bot, abgesehen von der in der Präambel allgemein umschriebenen gleichberechtigten Mitwirkung des deutschen Volkes in einem künftigen „vereinten Europa" mit seiner friedens-fördernden Aufgabe. Der Beitrag Adenauers an der Schaffung des Grundgesetzes liegt auf einer anderen Ebene als der einer Mitwirkung bei der verfassungsrechtlichen Ausformung. Mehr als der Inhalt lag ihm das rasche Zustandekommen einer Verfassung am Herzen. Der CDU-Vorsitzende hat seine Vorstellungen über die Innenstruktur des künftigen Weststaats keineswegs alle durchsetzen können oder — wie etwa im Punkte Finanzhoheit der Länder — 1949 noch durchsetzen wollen. In dem Maße, in dem er mit einer künftigen Füh-rungsrolle seiner Partei in der kommenden westdeutschen Republik rechnete, entwickelte er sich zum Verfechter einer starken Bundes-gewalt, wie sie von den Sozialdemokraten gefordert wurde.
Nach dem Verschwinden Preußens und der von den Besatzungsmächten vorgenommenen Neugliederung der deutschen Länder war das politische Schwergewicht in den Westen Deutschlands verlagert — ohne Zutun Adenauers. Um so mehr lag ihm an der „richtigen"
Auswahl der neuen Hauptstadt. Die am 10. Mai 1949 mit 33 gegen 29 Stimmen zustande gekommene Wahl von Bonn entsprach den Intentionen des rheinischen Politikers, den die „Neue Zeitung" zu Beginn der Verfassungsberatungen als „Kölner von Beruf" charakterisiert hatte Bereits im Oktober 1948 war 129Adenauer im Ältestenrat zugunsten von Bonn — das seine Wahl als Tagungsort des Parlamentarischen Rats der Initiative der Düsseldorfer Koalitionsregierung Arnold-Menzel ver131 dankte — eingetreten Sein persönlicher Einsatz für diese — auch von dem Kölner Gewerkschaftsführer Hans Böckler nachdrücklich unterstützte — Lösung die er Anfang November 1948 auf einer Pressekonferenz vorgeschlagen und am 18. November 1948 dem britischen Militärgouverneur General Robertson vorgetragen hatte und für die er seit Anfang Februar 1949 als Vorsitzender einer Siebener-Kommission des Parlamentarischen Rats offiziell wirken konnte ist ausschlaggebend gewesen
Durchgesetzt hat sich auch die von der CDU/CSU vertretene Forderung, die Institution des Bundespräsidenten zu schaffen. Adenauer zählte zu den Befürwortern der Flaggenfarben Schwarz-Rot-Gold. Nicht durchzusetzen vermochte er zusammen mit anderen CDU-Abgeordneten eine Zweite Kammer in der Form eines indirekt gewählten Senats dessen Mitglieder unabhängig sein sollten von Weisungen der Länderregierungen Adenauer sah in der Schaffung des Bundesrats keineswegs die von vielen CSU-Vertretern erhoffte Sicherung des „föderalistischen Aufbaues", wenn eines Tages -— wie er am 8. Januar 1949 erklärte — die „Ostzone und Berlin dazukämen"; in diesem Falle werde der Bundesrat „mit gewisser Wahrscheinlichkeit lange Zeit hindurch eine sozialistische Mehrheit" haben. Der Anfang November 1948 in die Debatte geworfene Vorschlag des Ratspräsidenten für ein Dreikammersystem (Unterhaus, Senat und Bundesrat) schien von Anfang an nicht ernst gemeint gewesen zu sein. Er diente offensichtlich dazu, ein in der Frage der Zweiten Kammer sich anbahnendes Zusammengehen von CSU-und SPD-Abgeordneten zu verhindern und die immer gefährdete Einheit der CDU/CSU-Fraktion zu wahren
Nur beiläufig sei an dieser Stelle erwähnt, daß die nur acht CSU-Abgeordneten unverhältnismäßig große Erfolge errungen haben: nicht zuletzt dank der intensiven Unterstützung durch den bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard und die ständigen bayerischen Regierungsvertreter in Bonn, aber auch dank weitgehenden Entgegenkommens von Adenauer. Ihm war der Zusammenhalt der noch jungen Fraktion wichtiger als die Majorisierung der Minderheit, selbst in der zentralen Frage der Finanzhoheit und Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern Hingegen stieß er mit seinem Vorschlag vom Januar 1949, einen gemeinsamen Wahlausschuß von CDU und CSU für die kommende Bundestagswahl zu bilden auf strikte Ablehnung der bayerischen Politiker, die darin einen Versuch sahen, auf diese Weise eine christlich-demokratische „Einheitspartei" vorzubereiten.
Adenauer hat in der zentralen Frage der föderalistischen Ausgestaltung des Grundgesetzes zwischen extremen Vorstellungen der CSU-Abgeordneten, aber auch mancher CDU-Vertreter einerseits und den Sozialdemokraten andererseits vermittelt. Ihm lag an einer für die süddeutschen Länder akzeptablen Lösung, wobei er das entsprechende Wählerpotential dieser Gebiete von vornherein in sein Kalkül einbezog. Die im Zusammenhang mit Beratungen über die Frage der Zweiten Kammer im Januar 1949 gefallene Äußerung Adenauers, eine entsprechende Entscheidung, auch wenn sie gegen seine und seiner Fraktion Ideen ausfalle, bedeute für ihn keinen „Weltuntergang" gilt auch in Hinsicht auf andere politische Fragen.
Nicht durchzusetzen vermochte er seine Vorstellungen von einer auch finanziell starken Gemeinde-Selbstverwaltung, von der Einführung des Mehrheitswahlrechts und der allgemeinen Wahlpflicht Adenauer zählte zu denjenigen Abgeordneten, die ohne Erfolg eine Annahme des Grundgesetzes durch Volksabstimmung befürworteten. Schwerer wog, daß es der CDU/CSU-Fraktion nicht gelungen ist, ihre hartnäckig vertretenen Forderungen nach der Aufnahme weitgehender kirchen-und kulturpolitischer Garantien in das Grundgesetz zu realisieren. Der CDU-Vorsitzende hat sich in dieser Frage nicht exponiert, sondern in den teilweise leidenschaftlich geführten Auseinandersetzungen loyal zu vermitteln geucht, auch zwischen Vertretern des Parlamentarischen Rats und der Kirchen. Dabei blieb es seine Hauptsorge, „Scharfmacher" auf beiden Seiten zurückzuhalten.
Während der Dauer der Verfassungsberatungen vermochte der Ratspräsident — durchaus in Übereinstimmung mit den SPD-Abgeordneten — das Gremium der Ministerpräsidenten auszuschalten. (Eine Aversion Adenauers gegen die Regierungschefs, inklusive die der CDU angehörigen Ministerpräsidenten, die ja jeweils starken Einfluß auf die CDU-Landes-verbände besaßen oder deren Vorsitzende waren, läßt sich bereits aus dem Frühsommer 1946 nachweisen Eine personelle Verflechtung mit den Länderkabinetten bestand allerdings auf einer anderen Ebene: Nicht weniger als zwölf aktive Mitglieder von Länder-regierungen gehörten als Abgeordnete dem Parlamentarischen Rat an, je sechs in den beiden großen Fraktionen.
Ebenso wie die Ministerpräsidenten blieb auch der Frankfurter Verwaltungsrat der Bizone von der Mitwirkung an der Verfassungsarbeit ausgeschaltet Eine Ende Oktober 1948 vorgebrachte Klage Adenauers über die mangelnde Fühlungnahme der CDU/CSU-Fraktion des Frankfurter Wirtschaftsrats mit der CDU/CSU-Fraktion des Parlamentarischen Rats entsprang der Sorge, daß durch Differenzen zwischen beiden Gremien die Ausgangsposition beider Parteien für den kommenden Bundestagswahlkampf . verschlechtert würde An dieser Stelle darf nicht unerwähnt bleiben, daß der „Vorsitzende des Zonenausschusses der CDU für die britische Zone" im Winter 1948/1949 die parteiorganisatorische Arbeit keineswegs vernachlässigt, sondern im Gegenteil unter Ausnutzung des Prestiges und Gewichts seiner Präsidentenstellung beträchtlich forciert hat Adenauer vermochte in diesen Monaten seine Stellung als unbestrittener Parteivorsitzender über den Rahmen der britischen Zone auszudehnen. Seine häufige Abwesenheit von Bonn wegen seiner Teilnahme an parteipolitischen Veranstaltungen und Wahlkämpfen in den drei Westzonen führte zu heftiger Kritik Lagern den 149a). aus verschiedenen Kompromisse mit der SPD-Fraktion waren in manchen Punkten relativ leicht zu erzielen angesichts des gemeinsamen Zieles, möglichst rasch ein Grundgesetz fertigzustellen und mit einer möglichst breiten Mehrheit zu verabschieden. Auf diese Weise wollte Adenauer dem deutschen Volk eine „legitimierte Stimme" und ein Organ verschaffen, daß die deutschen Belange auf internationaler Ebene wirkungsvoll vertreten könne Der Präsident des Parlamentarischen Rats warnte seine Parteifreunde vor der Annahme, das Grundgesetz nur als Provisorium anzusehen; denn es könne „unter Umständen sehr lange in Geltung" bleiben und müsse folglich „gut" gemacht werden Lange hat Adenauer an seinem Vorschlag von Anfang November 1948 festgehalten, eine räumliche Trennung zwischen der Regierungsspitze und der Bundesverwaltung vorzunehmen 151a).
In dem Versuch, die Stimmen der kleineren insbesondere Parteien, die der FDP-Abgeordneten, zu gewinnen, dürften sich die beiden großen Fraktionen in nichts nachgestanden haben. Ob und gegebenenfalls seit wann Adenauer die Möglichkeit einer künftigen Regierungskoalition mit der FDP ins Auge gefaßt hat, läßt sich nicht feststellen. Zu Beginn des Jahres 1949 hatte er noch den Zwang, im Parlamentarischen Rat nur zusammen mit der FDP eine Mehrheit bilden zu können, als eine „sehr betrübliche Folge" des gegebenen Stimmen-verhältnisses bewertet; mit den FDP-Abgeordneten könne man sich nur schwer verständigen, da sie „absolut unzuverlässig und in ihrer Meinung geteilt" seien
VI. Die Rolle Adenauers
Adenauer hat wiederholt seine Autorität für das Zustandekommen und mehr noch für die Annahme der in den Verhandlungen der interfraktionellen Ausschüsse (Fünfer-und Siebener-Ausschuß) ausgearbeiteten parteipolitischen Kompromisse eingesetzt Das war deswegen bedeutsam, weil als Folge dieser von ihm angeregten und unter seinem Vorsitz geführten Geheimberatungen die Fraktionen von Januar bis März 1949 weitgehend ausgeschaltet blieben. Als vorteilhaft erwies sich die Fähigkeit des Präsidenten, verwickelte staatsrechtliche Probleme und komplizierte Verfahrensfragen zu entflechten und auf politische Fragestellungen zurückzuführen. Er vermochte mit äußerer Gelassenheit, aber nichtsdestoweniger gleichbleibender Zähigkeit und Geschicklichkeit die auseinanderstrebenden Kräfte in Fühlung miteinander und unterein-* ander zu halten. Das gilt nicht zuletzt für den „außenpolitischen" Verkehr mit den Vertretern der drei Besatzungsmächte auf den verschiedenen Ebenen. Adenauer ging, im Unterschied selbst zu der Mehrheit seiner Fraktion davon aus, daß nicht die Sozialdemokraten die erste Bundestagswahl gewinnen würden. An diese Wahl hat er angesichts ihrer „nicht genug" einzuschätzenden Bedeutung mit großem Nachdruck immer wieder erinnert
Bis zum Schluß der Arbeit des Parlamentarischen Rats bestand die Gefahr eines Scheiterns der Beratungen. Bis zuletzt blieb der „Anschein der Vorläufigkeit und eines möglicherweise widerruflichen Paktes zwischen den Länderregierungen und Länderparlamenten" gewahrt Daß ein Bruch vermieden werden konnte, ist nicht zuletzt Konrad Adenauers „höchst aktiver und elastischer Gegenwärtigkeit" (Heuss) zu verdanken. Dazu gehört auch die von Hermann Pünder getroffene Feststellung, daß Adenauer zusammen mit seinen „rührigen Mitarbeitern" Wandersieb und Blankenhorn alles aufgeboten hat, um den Mitgliedern des Parlamentarischen Rats die Zeit ihres Aufenthalts in Bonn „so angenehm wie möglich zu gestalten" In diesem Zusammenhang verdient auch die entsprechende Arbeit des Sekretärs des Parlamentarischen Rats, Trossmann, erwähnt zu werden.
Der Präsident nannte in seiner Rede nach der Verabschiedung des Grundgesetzes mit einem der bei ihm seltenen historischen Rückblicke den 9. Mai 1949 den „ersten frohen Tag seit dem Jahre 1933" Adenauer stellte damit das neugeschaffene Grundgesetz in die Tradition der Reichsverfassung von Weimar.
Rückblickend hat er seine Hauptaufgabe darin gesehen, dafür zu sorgen, daß die Arbeit des Parlamentarischen Rats mit einem „positiven Ergebnis" beendet werden konnte Nach seiner Ansicht haben die Verfassungsschöpfer „sehr gute Arbeit" geleistet
Zu diesem Erfolg aber, so ließ sich zeigen, hat der Präsident des Rats wesentlich beigetragen. Gleichzeitig betätigte er sich als eine Art exekutives Führungsorgan im Vorfeld des kommenden Staates. Dadurch, daß Adenauer die politischen Möglichkeiten seines Amtes ausschöpfte, gewann er bedeutsamen Prestige-zuwachs in der Öffentlichkeit. Der im Vergleich etwa zu Kurt Schumacher oder Ludwig Erhard bis dahin noch weniger bekannte CDU-Vorsitzende entwickelte sich zur politischen Zentralfigur und zu einer international bekannten Persönlichkeit. Seine tatsächlichen oder vermuteten Einflußmöglichkeiten ließen ihn zum „gesuchten Gesprächspartner" aller derer werden, die im und vom kommenden Staat Aufmerksamkeit, Förderung und Verwendung zu finden hofften Der von der Öffentlichkeit wenig beachtete politische Aufstieg des CDU-Vorsitzenden vollzog sich in erster Linie auf Kosten der bisher dominierenden Länderchefs, aber auch — wie sich bald herausstellen sollte — auf Kosten seines ernsthaftesten Rivalen Schumacher. Adenauer präsentierte der westdeutschen Bevölkerung „unausgesprochen und unauffällig" seinen Anspruch auf das künftige Regierungsamt
Es war nur folgerichtig, daß er am 7. Mai den Vorsitz des am Vortage gewählten Überleitungsausschusses übernahm. Dieses auf Antrag der FDP eingesetzte Gremium von 18 Abgeordneten sollte Empfehlungen vorbereiten, die — wie es Adenauer am 10. Mai im Plenum umschrieb — der „zukünftigen Bündesregierung im Hinblick auf die Vor-dringlichkeit gewisser gesetzgeberischer und organisatorischer Aufgaben" zu machen seien Auch wenn dem Ausschuß keine politischen Funktionen zustanden und er auf Weisung der Militärgouverneure nur in Zusammenarbeit mit den Ministerpräsidenten tätig werden konnte so verschaffte er Adenauer immerhin die Möglichkeit, auch nach dem Ende der Verfassungsarbeit weiterhin im organisatorischen Vorfeld der kommenden Bundesverwaltung Einfluß nehmen zu können. Er suchte zu verhindern, daß der Frankfurter Zweizonen-Verwaltungsrat personalpolitische Vorentscheidungen für die künftige Bundesverwaltung traf Bei der ersten gemeinsamen Beratung des Uberleitungsausschusses und der Ministerpräsidenten am 3. Juni 1949 übernahm Adenauer ganz selbstverständlich den Vorsitz. Im Verlauf dieser Sitzung hob er die „ungeheure Verantwortung für die deutsche Bundesrepublik" hervor, die die Länderchefs auf Grund des Auftrags der Besatzungsmächte, die Schaffung der Bundesorgane vorzubereiten, übernommen hätten
Eine Analyse der politischen Wirksamkeit Adenauers und seiner „Hintergrundsfunktion" (Heuss) im Parlamentarischen Rat, insbesondere im Hinblick auf die von den Verfassungsvätern gewollte starke Stellung der künftigen Bundesregierung und ihres Kanzlers, legt abschließend folgende Frage nahe: Hat Konrad Adenauer, der die beherrschende Persönlichkeit des Parlamentarischen Rats war ähnlich zuversichtlich wie der um neunzehn Jahre jüngere Kurt Schumacher damit gerechnet, erster Regierungschef des neuen Staatswesens zu werden? Dem Gerücht, er erstrebe das Amt des Bundespräsidenten, hat der Ratspräsident zuletzt am 21. März 1949 energisch widersprochen
Die Vermutung liegt nahe, daß sich der CDU-Vorsitzende frühzeitig die Frage nach der Besetzung des Kanzlerpostens gestellt und in der ihm eigenen nüchternen Abschätzung der vorhandenen Kräfteverhältnisse und möglichen Kandidaten keineswegs negativ für sich beantwortet hat Gegen eine solche Annahme spricht jedenfalls nicht eine durchaus ernst-gemeinte Bemerkung Adenauers in einer Geheimsitzung von Vertretern des Parlamentarischen Rats und der Ministerpräsidenten (über das Besatzungsstatut) am 12. April 1949: „Wenn man sich vorstellt, welche Aufgaben diese neue Bundesregierung am Tag ihrer Entstehung vor sich sieht, kann man die Herren, die diese Bundesregierung bilden, nur auf das tiefste bedauern."
Es ist nicht leicht, die wichtigste politische Erfahrung zu formulieren, die Adenauer im Sommer 1949, nach Abschluß der ersten Etappe seines an der Jahreswende 1945/46 begonnenen politischen Aufstiegs, gewonnen hatte. Es dürfte die Einsicht gewesen sein, daß kein potentieller Kandidat vorhanden war, dem der CDU-Vorsitzende die Fähigkeit zutraute, die künftige Bundesrepublik so zu führen, wie es Adenauers sehr konkreten Vorstellungen von der Rolle und den Möglichkeiten (West-) Deutschlands entsprach. Aus dieser Erfahrung resultierte der Entschluß, selbst in die Bresche zu springen — ein Entschluß, der dann ebenso zielsicher wie geschickt in die Tat umgesetzt werden konnte. Im Parlamentarischen Rat hatte Adenauer sein persönliches Gewicht und seine politisch-taktischen Fähigkeiten nicht voll ausspielen können und — mit Ausnahme der Hauptstadtfrage — müssen. Das änderte sich rasch, als der erste Bundeskanzler gezwungen war, mit einer Verfassung zu regieren, die ihre „Brauchbarkeit" erst noch unter Beweis stellen mußte.
Rudolf Morsey, Dr. phil., geb. 1927, Ordinarius für neuere und neueste Geschichte an der Universität Würzburg, Vorsitzender der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (Bonn), veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zur Geschichte der Bismarckschen Reichsverwaltung und des Kulturkampfs, des deutschen Parlamentarismus und des Verhältnisses von Staat und Kirche. Zuletzt erschienen: „Die Deutsche Zentrumspartei 1917— 1923" (Düsseldorf 1966) und eine Dokumentation „Das Ermächtigungsge-gesetz vom 24. März 1933" (Göttingen 1968). Der vorliegende Aufsatz ist auch in den „Viertel) ahrsheften für Zeitgeschichte", 1/1970, veröffentlicht.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).