Zusammenfassung
Bernhard Sutor: Politische Bildung in der Sackgasse?
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Bernhard Sutor: Politische Bildung in der Sackgasse?
Ernst-August Roloff gibt in seinem Aufsatz nicht nur eine prägnante — freilich vieles auch verkürzende — Zusammenfassung des Standes der didaktischen Diskussion; er erhebt auch und vor allem den Anspruch, einen in Theorie und Praxis weiterführenden Weg eröffnet zu haben, indem er Material und Problemlage mit politikwissenschaftlichem statt erziehungswissenschaftlichem Instrumentarium angeht. Idi stimme ihm in manchen Einzelheiten zu, auf die ich andernorts ausführlicher eingegangen bin, als das in einem kurzen Aufsatz möglich ist
Eine befriedigende Theorie politischer Bildung kann nur entwickelt werden im Zusammenwirken von Politikwissenschaft (und allgemeiner der Sozialwissenschaften) und Erziehungswissenschaften in einer Weise, die offen-bleibt für eine über beide hinausreichende philosophisch-pädagogisch-politische Anthropologie. Das ist sicher zunächst eine vage Auskunft, die der Erläuterung bedarf. Was gemeint ist, wird aber bereits deutlicher, wenn ich sage, daß mir folgende Grundthese Roloffs eine falsche Alternative zu enthalten scheint: „Ziele und Inhalte der Erziehung orientieren sich nicht an zeitlos gültigen (absoluten) Werten, sondern an situationsbedingten gesellschaftlichen Notwendigkeiten und politischen Zielsetzungen" (Roloff, a. a. O. S.3). Was immer auch die heute so viel geschmähte geisteswissenschaftliche Pädagogik nicht geleistet haben mag, dies hat sie uns jedenfalls gelehrt, daß die in ihrem Bildungsbegriff enthaltene normative Intention der Pädagogik es dem Erzieher verbietet, gesellschaftlichen Notwendigkeiten und politischen Zielsetzungen unbesehen zu folgen
Roloff behauptet unter Berufung auf Lingelbach und die Didaktik-Diskussion im Pädagogenteam des Funk-Kollegs „Erziehungswissenschaft", es habe sich allgemein die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Zieldiskussion nicht in die Kompetenz der Pädagogik gehöre und daß deren Anspruch auf „Autonomie" ein ideologischer Irrtum gewesen sei. Das sind zwei verschiedene Thesen, die man auseinanderhalten muß.
Der Anspruch pädagogisch-eigenständiger Lernzielbestimmung durch Erziehungswissenschaftler oder Erzieher kann im Ernst nicht aufrechterhalten werden. Die Curriculum-Forschung zieht heute daraus die Konsequenzen, wenn sie, zwar mit verschiedenartigen Ansätzen, aber im Prinzip übereinstimmend, die Gesellschaft befragt nach in ihr zu bewältigenden Lebenssituationen und den dazu erforderlichen Qualifikationen. Wir sind vor allem für die erste Frage angewiesen auf Antworten aus einer Vielzahl von Wissenschaften, besonders aber der Sozialwissenschaften. Es gibt keine autonome Pädagogik mehr, und es hat sie faktisch auch dort nicht gegeben, wo sie theoretisch behauptet wurde. Dafür darf auch als Beleg gelten, was Roloff über die Zielvorstellungen politischer Bildung in den letzten zwanzig Jahren schreibt; ihre Abhängigkeit vom „Geist der Zeit" ist mit Händen greifbar.
Es ist aber keineswegs überzeugend, daraus zu folgern, die Pädagogik habe keine Kompetenz in der Zieldiskussion. Es ist Lingelbach zuzustimmen, wenn er bezüglich der generellen Verhältnisbestimmung von Fachdidaktik und Fachwissenschaft schreibt, der Pädagoge könne politische Lernziele nicht einfach aus bestimmten Fachwissenschaften (Politikwissenschaft, Soziologie) ableiten, und dann fortfährt: „Sie werden vielmehr ermittelt, indem man die bereits unter dem Aspekt ihrer pädagogischen Bedeutung gewissermaßen . aufgeschlüsselte'politische Realität mit der Vorstellung wünschenswerter Rollen des künftigen Bürgers in der gesellschaftlichen Wirklichkeit konfrontiert."
Roloff klammert dieses Feld völlig aus, wenn er schreibt: „Ebensowenig wie aus der Pädagogik können Lernziele aus einer anderen Wissenschaft abgeleitet werden, weder aus einer Fachwissenschaft noch etwa aus der Politikwissenschaft oder Soziologie" (a. a. O., S. 3 f.). Folgerichtig reduziert er die Aufgabe einer Didaktik der politischen Bildung auf „angewandte Herrschaftsanalyse" und nennt sie eine Teildisziplin der Politikwissenschaft, denn die Zielbestimmungen der politischen Bildung erfolgen durch die „politischen Entscheidungsträger" (ebda.). — Ich bin weit davon entfernt, gegen die Annäherung von Politikwissenschaft und politischer Didaktik zu Felde zu ziehen. Nur meine ich, eine Politikwissenschaft, die als praktische Wissenschaft die Herkunft ihrer Fragen aus gesellschaftlichen Problemsituationen nicht übersieht, sei den Aufgaben auch der politischen Bildung gar nicht fern
Roloff nähert nicht nur Politikwissenschaft und Didaktik einander an sondern er entläßt zugleich beide aus ihrer Verantwortung für die Ziele politischer Bildung, indem er sie auf die nachträgliche Kritik der von den Herrschenden festgesetzten Ziele beschränkt, über diese Reduktion ließe sich immerhin streiten, wenn sie nur deskriptiv, nicht auch normativ gemeint wäre. Soweit in dieser Hinsicht die tatsächlichen Verhältnisse in den einzelnen Bundesländern bekannt sind, kann man sagen, daß sie mit Roloffs Verhältnisbestimmung nicht ganz übereinstimmen. Es ist wohl in aller Regel so, daß Lehrpläne und neuerdings Lernzielbestimmungen von Fachleuten oder jedenfalls von solchen, die man dafür hält, erarbeitet werden. Zwar werden diese Fachleute von den Kultusverwaltungen beauftragt, so daß sich in ihrer Auswahl ein politischer Wille der politischen Entscheidungsträger geltend machen kann, und ihre Ergebnisse erlangen Verbindlichkeit, indem sie ministeriell sanktioniert werden. Aber es wäre ein eklatanter Verstoß gegen ein Grundprinzip des demokratischen Staates, nämlich gegen Offenheit für in der Gesellschaft wirkende Kräfte und wissenschaftliche Erkenntnisse, wollten die Entscheidungsträger unter Mißachtung wissenschaftlicher Diskussionen und gesellschaftlicher Kontroversen Lernziele aus eigener Machtvollkommenheit bestimmen. Das Gewissen des Pädagogen dürfte sich in diesem Fall eines puren bildungspolitischen Dezisionismus oder ideologischer Gleichschaltungsversuche nicht beruhigen mit der Möglichkeit der Analyse von Entscheidungsprozessen. Fachwissenschaftler und Didaktiker müssen an der Vorbereitung didaktischer Entscheidungen mitwirken, wenn politische Bildung nicht denaturiert werden soll. Beim heutigen Stand der Curriculum-Revision wird man ferner Phasen der allgemeinen Diskussion und Erprobung von Entwürfen einschieben müssen, ehe ihre offizielle Verbindlichkeit erklärt wird. Aus der Kenntnis rheinland-pfälzischer Verhältnisse wiederum kann ich sagen, daß so verfahren wird, und Roloff selbst gibt ja durchaus ein Beispiel dafür, wie die Mitwirkung des Didaktikers aussehen und was sie bewirken kann. Seine Theorie widerspricht in diesem Punkt seiner eigenen Praxis
(a. a. O., S.4).
Viel bedeutender für Lehrpläne und Lernziele scheinen mir das allgemeine politisch-gesellschaftliche Bewußtsein und die politische Gesamtlage, und zwar um so mehr, je weniger die kritische fachwissenschaftliche und pädagogisch-didaktische Reflexion kontrollierend dazwischentritt. Roloffs Ausführungen über die Zielsetzungen politischer Bildung in den fünfziger und sechziger Jahren decken sich mit denen anderer Kritiker. In manchem scheinen sie mir nicht haltbar, z. B. in der Ableitung neuer „nationalistischer" oder gar „faschistoider"
Konzepte aus dem Bekenntnis zu einer Grund-
rechtsaxiomatik
Es soll hier nicht eine Auseinandersetzung mit der heute wohlfeilen und ihrerseits schon stereotypen Kritik an früheren Bemühungen geführt, sondern in der gebotenen Kürze nur dreierlei hervorgehoben werden: Erstens ergibt ein auch nur flüchtiger Überblick über die Ansätze und Konzeptionen politischer Bildung seit 1945, daß sie so einheitlich nicht waren, wie sie heute gern zur Abwertung dargestellt werden. Oetingers Partnerschaftskonzept fand auch in den fünfziger Jahren schon massiven Widerspruch. Daraus folgt zweitens, daß die Abhängigkeit der Didaktik vom herrschenden Bewußtsein oder von der Interessenlage der Herrschenden, wer immer das sein mag, unter der Voraussetzung freier und öffentlicher wissenschaftlicher Diskussion nicht absolut ist. Die auch bei Roloff spürbare Neigung, diese Abhängigkeit zu verabsolutieren, würde wiederum zur Kapitulation des Didaktikers führen, d. h., er würde das Feld der politischen Bildung den Herrschenden oder den rivalisierenden gesellschaftlichen Gruppen als Kampffeld überlassen. Drittens werden wir, gerade wenn wir einem solchen wissenssoziologischen Relativismus nicht schlechthin huldigen wollen, gut daran tun, heute auch noch zu fragen, was aus früheren Ansätzen und Konzepten bewahrenswert scheint. Es war nicht alles so falsch oder so borniert, wie uns heute eine oft arrogant sich durch Sozialwissenschaft aufgeklärt gebende Kritik glauben machen möchte. Oder bestreitet jemand ernsthaft, daß Oetingers Partnerschafts-Konzept, es im wenn Kern nicht politische Bildung traf, doch für die Aufgabe der Sozialerziehung auch heute noch wertvolle Anregungen enthält? Die gleiche Frage kann für staatsbürgerlich-politische Erziehungsvorstellungen in die Diskussion gebracht werden, wie sie Weniger, Litt und andere entwickelt haben. Eine Kritik, die heute diese Fragen vorschnell verneint und den, der sie stellt, des konzeptionslosen Eklektizismus zeiht, muß sich um so härter fragen lassen, mit welcher Elle denn sie mißt, welche Voraussetzungen sie macht, ob ihre Positionen so fraglos wissenschaftlich gesichert sind, wie sie behauptet, und ob ihre Kategorien der Komplexität des Politischen adäquat sind.
Roloffs Hauptthese, zunächst als Hypothese formuliert, in der Darstellung scheinbar verifiziert, lautet: „Eine kritische Didaktik der politischen Bildung ist angewandte Herrschaftsanalyse und damit eine Teildisziplin der Wissenschaft von der Politik" (a. a. O., S.4). Die These wäre zutreffend unter zwei Voraussetzungen: daß nämlich erstens Erziehungswissenschaften, auch unter ihrem normativen Aspekt der Frage nach Zielen, fachdidaktisch nicht mitzureden hätten, daß zweitens Politikwissenschaft als Herrschaftsanalyse hinlänglich definiert wäre. Die Fragwürdigkeit der ersten Voraussetzung haben wir erörtert, die der zweiten ist zu zeigen.
Nun kann man in der hier gebotenen Kürze nicht die verschiedenartigen wissenschafts-theoretischen Konzeptionen von Politikwissenschaft durchmustern, ganz abgesehen davon, daß der Didaktiker diese Aufgabe lieber dem Politikwissenschaftler überlassen sollte. Hier ist nur zunächst daran zu erinnern, daß es diese verschiedenen Konzeptionen gibt. Unter den „wichtigsten Konzeptionen und Traditionen, soweit (sie) in der politischen Wissenschaft der Bundesrepublik wirksam" sind, zählt Jürgen Gebhardt in einem jüngst erschienenen Aufsatz allein fünf auf
Wenn dem so ist, geht es nicht an, daß der Didaktiker einfach auf Politikwissenschaft schlechthin rekurriert oder sie undifferenziert in Anspruch nimmt. Es bleibt der Fachdidaktik nicht erspart, jeweils kenntlich zu machen, welchem Verständnis von Politikwissenschaft oder welcher Gesellschaftstheorie bestimmte didaktische Konzepte verpflichtet sind. Dies geschieht heute in den meisten fachdidaktischen Äußerungen leider nicht und ist Ursache für die Ergebnislosigkeit mancher Kontroversen. Gieseckes Didaktik und die über sie geführte Diskussion krankte daran ebenso
Statt theoretischer Erörterungen soll hier an einigen Positionen aus Roloffs Aufsatz verdeutlicht werden, wie sein einseitiges Verständnis von Politikwissenschaft als Herrschaftsanalyse ihn zu entsprechend einseitigen Urteilen bringt.
In einer Kritik an Hilligens Lehrbuch bemängelt Roloff, in der methodischen Durchführung der didaktischen Konzeption werde „selten deutlich, wann und in welcher Form die politischen Grundentscheidungen an den Schüler herantreten"; gerade nach Hilligens eigenem Maßstab könne „die Entscheidung darüber, ob die bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse von . oben'und . unten'aufgehoben (werden) oder bestehen bleiben sollen, nicht zweifelhaft sein,.. (a. a. O., S.14). Roloff muß sich die Gegenfrage stellen lassen, ob dies wirklich die Normalform politischer Grundentscheidungen ist. Nach Hilligens didaktischer Konzeption scheint dies keineswegs eindeutig der Fall zu sein, weil das Kategorienschema, mit dem er politische Probleme didaktisch erschließen will, nicht nur am Maßstab der sogenannten Emanzipation entwickelt ist
Mir scheint es jedenfalls nicht zweifelhaft, daß das Schema von . oben'und . unten'oder von Freiheit und Herrschaft nicht genügt, um Politik verständlich und sachgerechtes politisches Urteilen möglich zu machen. In diesem Schema kommt die Frage gar nicht in den Blick, wie-viel politische Herrschaft denn notwendig sei, um Freiheit zu ermöglichen und zu sichern. Emanzipation ist ambivalent. Wir sind heute in der didaktischen Diskussion in der Gefahr abstrakten Freiheitsdenkens, das die Angewiesenheit des Menschen in der Gesellschaft auf politisch garantierte Ordnung und auf gesellschaftliche Institutionen nicht mehr wahrnimmt; damit aber auch die eigentliche Auf-gäbe der Politik nicht mehr wahrnimmt, nämlich menschliches Zusammenleben immer wieder neu zu ordnen.
Die politischen Probleme etwa der Daseins-vorsorge, die der moderne Staat zu lösen hat, sind erheblich komplizierter, als daß die Kategorie der Emanzipation allein sie aufschlüsseln könnte. Man kann zwar argumentieren, gerade staatliche Daseinsvorsorge solle mehr Freiheit ermöglichen und müsse also daran gemessen werden. Aber die Erweiterung der gesellschaftlichen Chancen vieler durch Politik ist doch nur um den Preis gleichzeitiger Zunahme von Herrschaft zu haben. Zu allem, was wir dem Gemeinwesen abverlangen, bedarf es der Befugnis und der Mittel, kurz gesagt der Macht. Diese Dialektik von Freiheit und politischer Herrschaft verweist auf eine Dialektik auch der Zielwerte. Selbstbestimmung und also auch Emanzipation müssen Grenzen hinnehmen nach dem Maß sozialer Gerechtigkeit. Daher ist Politisches immer ambivalent; jede Entscheidung hat ihren Preis.
Daß Roloff dies zu wenig berücksichtigt, glaube ich auch an seinen Ausführungen zum Komplex Streik, Aussperrung und Streikrecht der Beamten erkennen zu können. Roloff will dort sein Kriterium der sachlichen Richtigkeit erläutern, indem er zu der üblichen Auskunft, Beamtenstreiks seien ungesetzlich, ausführt: „Diese Information ist jedoch unvollständig ohne Kenntnis der Tatsache, daß früher jeder Streik ungesetzlich war und die Macht der Unternehmer noch heute so weit reicht, daß sie — mitunter durchaus mit Erfolg — stets versuchen, Streiks für ungesetzlich erklären oder zumindest durch die Politiker als . schädlich'bezeichnen zu lassen. Die Aussage, Beamten-streiks seien ungesetzlich, dient eindeutig der Abwehr eines politisch durchaus berechtigten Anspruches der Beamten auf demokratische Gleichberechtigung und ist damit ideologisch" (a. a. 0., S. 18).
Hier haben wir ein gutes Beispiel dafür, wie im Politischen auch „sachliche Richtigkeit“ eine Funktion theoretischer Vorentscheidungen darstellt. Die Frage, ob Roloff der Position der Unternehmer in seinen „Informationen" gerecht wird, mag auf sich beruhen. Immerhin ist mit dem generalisierenden „stets" eine, gemessen an unserem heutigen Arbeitsrecht, sehr kühne Behauptung eingeleitet. Roloff scheint es selbst nicht ganz wohl dabei gewesen zu sein, sonst hätte er nicht sofort durch die Wendung „oder zumindest" einen ganz anderen Tatbestand damit verknüpft. Aber gerade daran wird die Fragwürdigkeit seiner Kategorien wieder sichtbar. Man ist noch kein Gegner des Streikrechts, wenn man hier die weitere Information vermißt, ja geradezu ausgeschlossen sieht, daß Streiks in der Tat „schädlich" werden können; schädlich nicht nur für die streitenden Parteien, sondern auch für die Volkswirtschaft insgesamt, für die Finanzkraft der öffentlichen Hand, von der die Erfüllung dringender „Gemeinschaftsaufgaben" abhängt als Voraussetzung für „Emanzipation"; schädlich auch für bestimmte Gruppen, die im Streit um ihren Anteil am Sozialprodukt keine mächtige Interessenvertretung haben. Im sozial temperierten Klima der Bundesrepublik werden diese Selbstverständlichkeiten leicht übersehen; der britische Staatsbürger erfährt sie seit Jahren am eigenen Leib, und die USA haben immerhin ein Taft-Hartley-Gesetz.
Damit ist nicht gesagt, daß jeder Arbeitskampf unmittelbar unter diesem Aspekt gesehen werden muß, und ich wende mich schon gar nicht gegen Streikrecht und Gewerkschaften als sehr notwendige Gegenmächte gegenüber der anderen Seite. Aber für ein adäquates Urteil über das Phänomen müssen im Hintergrund auch diese Kategorien bereitstehen; das Klassenkampfschema reicht nicht, weil es nicht in den Blick bringt, daß es Ansprüche des Gemeinwohls gibt, die um der Bürger willen Beachtung verlangen. Es soll auch nicht bestritten werden, daß die Idee des Gemeinwohls immer ideologisch mißbraucht werden kann; sie ist dennoch zur Deutung von Politik und gerade zu kritischer Beurteilung als Maß unentbehrlich.
Daher kann auch die Auskunft Roloffs zum Beamtenstreik nicht genügen. Will der Beamte im Streikrecht dem Arbeiter gleichgestellt sein, muß er auf seine Beamtenprivilegien verzichten. Das soll nicht heißen, daß das nicht wünschenswert wäre. Die Ausdehnung des Berufsbeamtentums von der Hoheitsverwaltung auf die öffentlichen Dienstleistungen ist keine notwendige, vielleicht eine durchaus fragwürdige Entwicklung. Nur sieht Roloff eben nicht die Kehrseite dessen, was er „berechtigten Anspruch der Beamten auf demokratische Gleichberechtigung" nennt, von dem übrigens bekannt ist, daß ihn bei uns nur eine Minderheit der Beamten erhebt. Nach Roloff müßte die Mehrheit der Beamten demnach ein falsches Bewußtsein haben. Im übrigen würde die Bevölkerung bei einem Beamtenstreik rascher als bei einem üblichen Arbeitskampf merken, daß es so etwas wie Gemeinwohl als Voraus-Setzung menschlichen Zusammenlebens, als Voraussetzung auch persönlicher Freiheiten und partikularer Interessenwahrnehmungen gibt. Wenn Bahn und Post nicht mehr verkehren oder Schulen geschlossen bleiben, wird es schnell ungemütlich.
Leider muß man in der heutigen Diskussion damit rechnen, neonationalistischer oder gar „faschistoider" Haltung verdächtigt zu werden, wenn man die Unentbehrlichkeit der Gemeinwohlkategorie behauptet
Im Vergleich zu heute üblicher Kritik an bisher praktizierter politischer Bildung ist das eigentlich Neue und Originäre bei Roloff die aus der Kategorie der Betroffenheit abgeleitete These: „Der primäre Gegenstand der politischen Bildung in der Schule ist die Schule" (a. a. O., S. 16). Aus Roloffs weiteren Darlegungen ergibt sich, daß dieser Ansatz bereits in Richtlinien Eingang gefunden hat. Daher bedarf er dringend einer Erörterung unter den Fachdidaktikern der einzelnen Bundesländer.
Nun wird beim heutigen Stand der didaktischen Diskussion und angesichts des Streits um die „Demokratisierung" der Schule kein ernst zu nehmender Fachdidaktiker mehr bestreiten, daß die Betroffenheit des Schülers durch die Institution Schule, durch in ihr ablaufende Prozesse, durch ihre Zwänge und Konflikte nicht nur als geeigneter Ansatzpunkt, sondern als notwendiger Gegenstand politischer Analyse be-und ergriffen werden muß. Man wird sich aber auch hier vor Verengung und einseitiger Behandlung der Konzeption hüten müssen.
Bei Roloff bleibt, wohl wegen der Knappheit der Ausführungen, einiges unklar. Was heißt „primärer" Gegenstand? Ist das zeitlich oder qualitativ gemeint? Wie sähe im zweiten Fall der Gesamtplan eines Faches Sozialkunde oder Politik aus? Das Prinzip, wonach die Unter-richtsgegenstände identisch sein müßten mit den jeweiligen Entscheidungsbereichen einer Alters-bzw. Schulstufe, ist von Roloff nicht konkretisiert, läßt aber eine gewisse Verengung befürchten. Schule darf das Prinzip der „Betroffenheit" doch wohl nicht so auslegen, daß in ihr nur noch vorkommt, was für den Schüler schon „fragwürdig" oder problematisch geworden ist. Da die wesentlichen „Betroffenheiten" für den Schüler möglicherweise noch verdeckt sind, müßte die Schule sie aufhellen, erfahrbar machen, d. h. objektive in subjektive „Betroffenheit" umwandeln. Von den meisten politischen Problemen, Konflikten, Aufgaben ist der Jugendliche objektiv viel stärker betroffen, als er subjektiv überhaupt wahrnehmen kann; Lehrer und Schule würden abdanken, wenn sie diesen Versuch nicht machen würden. Die Frage der Curriculum-Forschung nach den künftigen Rollen der Lernenden in der Gesellschaft und nach entsprechenden Qualifikationen würde illusorisch. Roloff will gewiß nicht die befürchtete Verengung, aber seine Darlegungen tendieren dahin: „In jedem Falle ist die Schule kein VorRaum des Politischen, in dem durch , Übung'auf künftige politische Wirklichkeit vorbereitet wird, ..." (a. a. O., S. 15). Lassen wir die schwierige Frage einmal beiseite, ob und wieweit Schule politisches Wissen vermitteln kann, das später gleichsam auf Abruf bereitsteht. Giesecke hat sich in seiner Didaktik deutlich gegen diese Vorstellung gewandt und dagegen seinen Begriff des „Aktionswissens“ entwickelt; aber auch dieses muß nach ihm auf „Bildungs-und Orientierungswissen" zurückgreifen können
Es wäre im übrigen eine Ironie der didaktischen Entwicklung, wenn wir vom Prinzip der „Betroffenheit" her zu einer neuen Variante des Auswahlprinzips „vom Nahen zum Fernen" kämen, gegen das sich Roloff ausdrücklich ausspricht. Damit hat er implizit auch dem Prinzip der „subjektiven Betroffenheit" eine Grenze gesetzt.
Ich pflichte Roloff voll bei in der Forderung, daß im politischenUnterricht auch der Inhalt des Minimalkonsensus', auf dem unsere heutige demokratische Ordnung aufbaut, Gegenstand des Zweifelns und Fragens sein muß. Der politische Unterricht darf keine unbefragbare Axiomatik kennen, keine Indoktrination im Sinne etwa einer Ideologie der Demokratie zum Ziel haben. Wenn Unterricht überhaupt die Chance hat, bessere Demokraten zu bilden, dann nur durch rückhaltlose Offenheit, durch den Dialog gerade auch über die Grundwerte, nach dem der Schüler in aller Regel in seinem Fragen und Kritisieren verlangt. Wer hier vor angeblich unbefragt zu akzeptierenden Dogmen haltmacht, verdirbt alles.
Nur ist mit diesem Dialog über die Grundwerte etwas anderes gemeint als ein wertneutrales oder relativistisches Nebeneinanderstellen von „Systemen", die beliebig zur Wahl stünden. Der Systemvergleich muß den menschlichen und politischen Preis von Entscheidungen klarmachen, und der Dialog, der den Dingen auf den Grund gehen will, muß die Folgen sogenannter Optionen herausarbeiten, wenn man schon der Meinung ist, letzte Werte seien unbegründbar und daher Sache einer Option. Option heißt nicht Willkür, was auch dem radikal alles in Frage stellenden Schüler aufgehen kann, wenn man fragt, was es z. B. heißen würde, das Prinzip unantastbarer Menschenwürde oder bestimmte konstitutionelle oder institutioneile Sicherungen, die aus ihm abgeleitet wurden, zu verwerfen.
Insofern kann man mit Heinrich Bußhoff, entgegen Roloffs Kritik, sehr wohl in den Menschenrechten die Axiomatik heutiger Pädagogik sehen. Das braucht durchaus nicht zu bedeuten, „auf eine kritische Befragung dieser Prinzipien zu verzichten" (Roloff a. a. O., S. 14). Roloff müßte hier genauer zwischen Lehrer-und Schülerrolle unterscheiden. Der Schüler muß jede Frage stellen dürfen, und wenn er es nicht schon kann, muß ihn der Lehrer selbst dazu bringen, kritische Fragen auch an unsere Ordnung zu stellen. Es ist aber ein großer Unterschied, ob ein Lehrer sich mit dem Ziel wahrhafter Aufklärung auf einen rückhaltlosen Dialog mit seinen Schülern einläßt oder ob er, sei es hämisch im Stil der Enthüllung oder Denunziation, sei es ohne eigene Entscheidung und letzte Überzeugung, sei es zur Propagierung von Revolution, „Systemkritik" treibt. Wer nicht Demokrat ist, ist in der Schule einer demokratischen Gesellschaftsund Staatsord-nung fehl am Platze. Die Prinzipien rechtsstaatlicher Demokratie, auf die der Lehrer damit verpflichtet ist, sind aber so offen, daß sie nicht in gleichem Maße zur Verteidigung der aus ihnen abgeleiteten konstitutionellen und institutionellen Regelungen verpflichten. Würde des Menschen, personale Selbstverwirklichung unter sich wandelnden geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen, Freiheits-und Gleichheitsrechte, Rechts-und Sozialstaatlichkeit enthalten vielmehr die Aufforderung zu ständiger Überprüfung des Bestehenden, zur Überprüfung freilich auch aller Reformvor-Schläge. Sie eignen sich also nicht zur ideologisierenden Rechtfertigung eines „Systems".
Richtig und sehr notwendig finde ich, daß Roloff, ähnlich wie schon in seinem Unterrichtsmodell zur Kriegsdienstverweigerung, das Gewissen des Schülers als Entscheidungsinstanz in die didaktischen Überlegungen einbezieht (a. a. O., S. 15)
Zu der immer wiederkehrenden Formel „Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung" müßte die Reflexion über den anthropologischen Grund und die gesellschaftlichen Bedingungen menschlicher Freiheit treten. Der mit der Personalität unmittelbar gegebene soziale Bezug müßte bei derart ins Grundsätzliche zielenden Ausführungen wenigstens einmal angedeutet sein, wenn Mißverständnisse vermieden werden sollen. Mit ihm träten die Bezogenheit der eigenen Freiheit auf die der Mitmenschen, die daraus resultierende Pflicht zur Solidarität, die Notwendigkeit politisch herzustellender Ordnung (Gemeinwohl) und also die positive Aufgabe von Politik unmittelbar in den Blick, während die stereotype Verwendung von Begriffen wie Herrschaftsanalyse und Emanzipation den Anschein erweckt, als reduziere sich Politik auf Machtkampf, in dem es nur auf bestmögliche Selbstbehauptung ankomme.
Ich bin mir durchaus der Gefahr bewußt, daß die von mir genannten Begriffe, die offensichtlich nur in einer philosophisch-politischen Anthropologie begründet und abgesichert werden können, im Kampf der gesellschaftlichen Interessen mißbraucht werden. Eben dies heißt aber gerade nicht, eine kritische Sozialwissenschaft, wie Roloff sie abschließend fordert, könne auf sie verzichten. Wenn „die Wissenschaftlichkeit dieser Didaktik mit einer Gesellschaftstheorie steht und fällt, die nicht nur Zusammenhänge begreiflich macht, sondern auch Entscheidungsmöglichkeiten und Zielrichtungen eröffnet" (a. a. O., S. 20), dann stellt uns dies vor die Notwendigkeit, die Frage nach den Zielen und den Normen politischen Entscheidens nicht vorschnell mit angeblich wissenschaftlichen Auskünften zu beantworten. Die von Roloff als hilfreich für diese Aufgabe genannten Theorien (Strukturalismus, Behaviorismus, Systemtheorien, Psychoanalyse, Dialektischer Materialismus) sind allesamt Erklärungsversuche mit philosophischen Implikationen. Begnügen wir uns mit ihnen, d. h., stellen wir die philosophische Frage in der Begründung didaktischer Konzeptionen nicht ausdrücklich, dann werden wir über einen heillos verwirrenden Streit einander ausschließender Positionen nicht hinauskommen und in der Deutung und Erklärung politischer Grundprobleme ständig zu kurz greifen.
Wir müssen daher auch in der Fachdidaktik des Politischen realisieren, was Manfred Hättich in seinem Lehrbuch von der Politikwissenschaft sagt, daß sie nämlich als eine synoptische Wissenschaft von der empirischen Soziologie bis zur spekulativen Philosophie reicht, nach dem Seienden und dem Möglichen ebenso fragt wie nach dem Richtigen und Gesollten, wenn auch mit verschiedenen Methoden und möglicherweise mit Ergebnissen sehr verschiedener Evidenz
Roloff ist nur zuzustimmen, wenn er meint, die Tatsache, daß aus wissenschaftlichen Theorien Glaubensbekenntnisse und politische Ideologien werden können, dürfe nicht dazu verleiten, ihre wissenschaftlichen Ansprüche völlig zu leugnen. Es gehört aber ein philosophisches Instrumentarium dazu, unterscheiden zu können zwischen Wissenschaft, Ideologie und Glaubensbekenntnis, und mir scheint, daß auf die Frage, wo denn ein solches Instrumen-tarium bereitliege, die europäische philosophische Tradition (z. B. Aristoteles/Thomas oder Kant/Jaspers) mindestens ebenso viel Anspruch hat genannt zu werden wie etwa die Kritische Theorie oder der Dialektische Materialismus
Der sich ausbreitende schlagwortartige Gebrauch des Begriffs Emanzipation in pädagogisch-politischer Literatur kann seine Nähe zu Theorien nicht verbergen, die uns ein Wissen des Ganzen suggerieren wollen, der gegebenen Wirklichkeit als einer Totalität des schlechten Bestehenden in antizipatorischen Begriffen eine Totalität guter Zukunft entgegenstellen und radikale Veränderung fordern. Mit dem Philosophen Max Müller fürchte ich, daß damit die Verpflichtung durch das Nächstliegende umgangen und das Subjekt des geschichtlich-politischen Handelns nicht mehr in der — freilich gesellschaftlich bedingten — Person, sondern nur noch in Gattung oder Gesellschaft gesehen wird. Damit wäre der einzelne aus seiner Mitverantwortung entlassen, Gewissensbildung illusorisch. Menschliches Handeln in der Geschichte heißt aber verantwortliches Entscheiden in konkreten Situationen ohne Kenntnis aller Folgen und des Ganges der Geschichte im ganzen. Die Behauptung solcher Kenntnis hat bisher noch immer totalitäre Folgen gehabt. Geschichte bewegt sich nicht auf ein Ziel zu, sondern immer um eine Mitte, die als menschliche Existenz alle Geschichte, Gesellschaft und Politik transzendiert
Bernhard Sutor, Dr. phil., Studiendirektor im höheren Schuldienst des Landes Rheinland-Pfalz, Fadileiter für Sozialkunde am Staatl. Studienseminar in Mainz, Lehrer am Bischöfl. Willigis-Gymnasium Mainz; geb. 1930; Studium 1950— 55 (Geschichte, Latein, Philosophie und Theologie); Promotion 1965 mit einer politikwissenschaftlichen Arbeit über Karl Jaspers. Veröffentlichungen: Politik und Philosophie, Mainz 1966; Didaktik des politischen Unterrichts, Paderborn 1971; Aufsätze zur Didaktik der Geschichte und des politischen Unterrichts in „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht" und in „Gesellschaft — Staat — Erziehung'u. a.; ferner zu philosophisch-politischen und theologisch-politischen Grenzfragen u. a. in „Die neue Ordnung".
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