Freie Zeit ist Bürgerrecht Plädoyer für eine Neubewertung von „Arbeit" und „Freizeit"
Horst W. Opaschowski
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Zusammenfassung
Von einem interdisziplinären freizeitwissenschaftlichen Ansatz her werden Probleme der modernen „Freizeit" kritisch analysiert und spezifisch pädagogische, planerische und politische Fragestellungen sowie konkrete Lösungsmodelle für die Zukunft entwickelt. Im historischen Teil wird nachgewiesen, daß „Freizeit“ als Folge einer religiös-kirchlichen Revolution, der Reformation des 16. Jahrhunderts, entstand und infolgedessen bis heute sowohl die westdeutsche als auch fast die gesamte westeuropäische und amerikanische Freizeitforschung im Banne der protestantisch-puritanischen Berufsethik steht. Im Analyseteil wird das in der Bundesrepublik vorherrschende arbeitspolare Freizeitverständnis, dem ein auf die Produktions-und Konsumsphäre eingeengter Freizeitbegriff entspricht, aufgezeigt. Im Zielteil des Beitrags wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, Freizeit in „Freie Zeit“ zu verändern, so daß die Zeit der freien Arbeit morgen das sein kann, was wir heute „Freizeit“ nennen. Im futuristischen Teil wird ein mittelfristig zu realisierendes „Projektionsmodell 1980" vorgestellt, in dem einer Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 35 Stunden der Vorrang vor einer Verlängerung des Jahresurlaubs auf 8 Wochen gegeben und neben Erholungs-und Bildungsurtaub ein neuartiger „Dispositionsurlaub“ sowie eine „Sabbatzeit" vorgeschlagen werden. Im Schlußteil werden konkrete Maßnahmen und Handlungsstrategien für die qualitative Entwicklung zu einer humanen, sozial gerechten und für Veränderungen offenen demokratischen Gesellschaft konzipiert.
Verglichen mit weltweiten Problemen wie Armut, Hunger und Überbevölkerung, Energiekrise, Umweltverschmutzung und kriegerischen Auseinandersetzungen erscheinen Fragen und Probleme, die sich auf Wohlstand, Konsum und Freizeit beziehen, auf den ersten Blick gesellschaftlich und politisch wenig bedeutsam, vielleicht sogar trivial. Dennoch zählt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Freizeit zu den Indikatoren, die für die »Lebensqualität" einer Gesellschaft bestimmend sind. Und die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland entwickelt zur Zeit eine eigene »Freizeitpolitik als einem Teilaspekt umfassender Gesellschaftspolitik".
Vor einem Vierteljahrhundert klagte der amerikanische Sozialwissenschaftler David Riesman in seinem Buch , The Lonely Crowd':
„Die Wissenschaft hat sich hauptsächlich um den . sozialen Charakter’ des berufstätigen und produzierenden Menschen gekümmert ... die Entdeckung des Freizeitmenschen steht noch aus.“ Mittlerweile hat die Freizeit auf nationaler und internationaler Ebene und quer durch alle gesellschaftlichen Systeme als Forschungsgebiet der Sozial-, Erziehungs-, Kommunikations-, Wirtschaftsund Planungswissenschaften an außerordentlicher Bedeutung gewonnen.
In Wissenschaft, Planung und Politik wird Freizeit heute als expansiver Gesellschaftsbereich erkannt. Sozialwissenschaftler wie z. B. Hans-Jürgen Krysmanski rechnen das moderne Freizeitproblem neben Bevölkerungsexplosion und Atomkriegsgefahr zu den „globalen" Sozial-und Uberlebensproblemen der Gegenwart, das in Zukunft zu einem Weltproblem erster Ordnung werden kann
Nach den vorliegenden Erkenntnissen der westdeutschen Freizeitforschung läßt sich die moderne Freizeit als gesellschaftliches Phänomen wie folgt charakterisieren: 1. Freizeit ist ein Produkt der Industriegesellschaft Weil die Freizeit unter dem „gesellschaftlich notwendigen Diktat der Arbeit“ (Habermas) steht, gilt sie als „Produkt der modernen industriellen Revolution“ (Giesecke), als „typisches Produkt industrialisierter Gesellschaften“ (Schneider) und hat infolgedessen „noch nicht einmal oder im Höchstfall das Alter einer durchschnittlichen Generationszeit" (Strzelewicz). 2. Freizeit ist ein Gegenpol zur Arbeit Freizeit wird als „Antipode” (Stemheim), „Gegengewicht" (Küchenhoff), „polarexistentieller Lebensraum" (Blücher), „Komplementärbegriff" (Schelsky), „notwendiges Korrelat" (Achinger) und „kompensatorisches Erlebnisfeld zu Beruf und Arbeit“ (Haseloff) gesehen, d. h. „Freizeit“ und „Arbeit“ gelten als zwei „grundsätzlich voneinander geschiedene Welten" (Kluth). 3. Freizeit ist ein eigenständiger Lebensbereich Freizeit wird als „eigenständiger Lebensbe-reich" (Nahrstedt), als „neue Lebensform der Gesellschaft" (Zahn), „struktureller Sektor“ (Hansen/Lüdtke), „Größe , sui generis'" und als „Raum mit Eigenwert" (Blücher) verstanden. 4. Freizeit ist eine Sphäre des Privaten In der Industriegesellschaft zerfällt die menschliche Existenz in eine „, öffentliche'und eine . private'Existenz" (Scheuch), in eine „berufliche Sphäre und eine private Freizeitexistenz" (Blücher), in eine „öffentliche und pflichtgemäße“ und eine „private und eigene Existenz" (Lichtenstein), in „Dienst und Arbeit auf der einen, Freizeit und Privatheit auf der anderen Seite" (Schelsky). 5. Freizeit ist ein Raum der Selbstbestimmung Wachsende Monotonie und . Sinnentleerung'
der modernen Arbeit geben der Freizeit eine . Äquivalenzund Ausgleichs-Funktion"
(Schelsky), die „Erfüllung" (Habermas) verspricht: „Freizeit ist der A Freizeit ist ein Raum der Selbstbestimmung Wachsende Monotonie und . Sinnentleerung'
der modernen Arbeit geben der Freizeit eine . Äquivalenzund Ausgleichs-Funktion"
(Schelsky), die „Erfüllung" (Habermas) verspricht: „Freizeit ist der Anfang der Menschenwürde" (König). Der „Fremdbestimmung im Arbeitsleben“ steht die „Selbstbestimmung im Freizeitleben“ (Bornemann/Böttcher) gegenüber. Die gegenwärtige Freizeitforschung in der Bundesrepublik, die in den Grundzügen mit der westeuropäischen und amerikanischen Freizeitforschung übereinstimmt, stellt den bloßen Reflex einer als schicksalhaft empfundenen Zweiteilung des modernen Lebens in ein . Arbeitsleben" und ein „Freizeitleben" dar. Die Freizeitforschung ist ein Opfer ihrer eigenen Ideologie geworden, die vorgibt, das Leben von Kleinkindern, Hausfrauen und Rentnern, von Landwirten, selbständigen Kaufleuten und Top-Managern sei ebenso einem zwangsgesetzlichen Tagesdualismus von „Arbeitszeit" und „Freizeit" unterworfen wie das der in der Fließbandproduktion Beschäftigten. Partiell auftretende sogenannte „Freizeit" -Probleme (deren Ursachen bezeichnenderweise nicht in der „Freizeit" selbst zu suchen sind) werden als typisch für die gesamte Bevölkerung gewertet. Schon im Forschungsansatz ist das ideologische Verhältnis zur gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit erkennbar. Zwei grundsätzlich voneinander geschiedene „Welten" werden als „reale Gegebenheiten“ konstruiert und durch entsprechende Repräsentativbefragungen („Was tun Sie in Ihrer eigentlichen Freizeit, wenn Sie alles Notwendige erledigt haben, am liebsten?“ oder „Sagen Sie mir bitte, mit welcher dieser Personen oder Personengruppen Sie einen Freizeitpark besuchen möchten?" 3) zwangsläufig bestätigt.
Der bisherigen Freizeitforschung muß der Vorwurf gemacht werden, daß sie ohne soziologische Denkweise, ohne Vorstellungskraft und „Imagination" (C. Wright Mills) operiert und sich in datensammelnden Verfahren erschöpft. Der Freizeitforschung mangelt es an sozialer Phantasie, an der Fähigkeit, sich die Welt anders vorstellen zu können als sie ist. Soziale Phantasie entwickeln, heißt, sich Neues vorstellen und alternative Positionen formulieren zu können. Imagination und Intuition, verbunden mit Sozialkritik und einer Vorstellung von Gesellschaft überhaupt, — diese sozial-wissenschaftlichen Qualitäten zeichnen die gegenwärtige Freizeitforschung noch nicht aus.
Die von der Freizeitforschung ermittelten fünf Hauptkennzeichen der modernen Freizeit basieren auf einem falschen sozialhistorischen Ansatz, so daß zwangsläufig falsche Schlüsse gezogen wurden, die zu falschen planerischen und politischen Maßnahmen geführt haben und deren verhängnisvolle Konsequenzen für alle Bereiche des individuellen und gesellschaftlichen Lebens noch gar nicht absehbar sind. Dies verdeutlichen die beiden folgenden Gegen-Thesen:
1. „Freizeit“ entstand als Folge einer religiös-kirchlichen Revolution, der Reformation des 16. Jahrhunderts. Vom Geist des Protestantismus geprägt, ist sie in einer Zeit entstanden, in der die Berufsarbeit als „göttliche Berufung“ zum pflichtgemäßen Selbstzweck des Lebens wurde. (Damit kann die „Freizeit" weder eine Verwirklichung des „Freiheitsbegriffs der Aufklärung" (W. Nahrstedt) 4) des 18. Jahrhunderts noch ein Produkt „der modernen industriellen Revolution" (H. Giesek-ke) 5) des 19. Jahrhunderts sein).
2. Der reformatorische Totalanspruch auf religiös-kirchliche Beherrschung, Reglementierung und „Verpflichtung" des gesamten Lebens löste bei den Menschen — gleichsam als Re-Aktion und zum Selbst-Schutz — den Wunsch nach einer nicht-reglementierten, „privaten", „heilen" und freien „Gegenwelt" („Freizeit") aus. Die Polarisierung von öffentlicher Pflicht und privater Neigung, Fremdbestimmung und Selbstbestimmung, Zwang und Freiheit führte schließlich im Bewußtsein der Menschen zu einer radikalen Trennung von öffentlicher und privater Sphäre, von determinierter Zeit (= Arbeitszeit) und disponibler Zeit (= Freizeit). Die durch Martin Luther 1517 in Deutschland ausgelöste kirchlich-religiöse Bewegung, die Reformation, hat einen allgemeinen Kultur-wandel bewirkt, der nicht nur das geistig-religiöse, sondern auch das wirtschaftlich-soziale und politische Leben in Deutschland und Westeuropa entscheidend veränderte. Mit der Reformation kündigte sich die Neuzeit an. Die Reformation führte zu Veränderungen in Kirche und Gesellschaft innerhalb und außerhalb Deutschlands, vor allem in Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland, der Schweiz und England (einschließlich Nordamerika).
Mit der deutschen Reformation und der ihr zugehörigen rationalen Ethik des asketischen Protestantismus setzte eine bis zum 16. Jahrhundert unbekannte kirchlich-religiöse Beherrschung des gesamten Lebens ein. Die Reformation ersetzte eine „höchst bequeme, praktisch damals wenig fühlbare, vielleicht fast nur noch formelle Herrschaft durch eine in denkbar weitestgehendem Maße in alle Sphären des häuslichen und öffentlichen Lebens eindringende, unendlich lästige und ernst-gemeinte Reglementierung der ganzen Lebensführung" (Max Weber) Diese religiös orientierte Rationalisierung hatte eine methodisch-rationale Lebensreglementierung und Lebenseinteilung zur Folge. Der Rationalismus ist nach Max Weber ein historischer Begriff, der eine „Welt der Gegensätze in sich schließt“ In das Bewußtsein des „neuzeitlichen“ Menschen trat erstmals eine Kluft zwischen — öffentlich „verpflichteter" Zeit und (übriger) — privater „freier" Zeit. „Arbeiten" und „Erwerben" galten plötzlich nicht mehr als Mittel zum Zweck der Befriedigung von Lebensbedürfnissen; sie wurden (Selbst-) Zweck des Lebens.
Die Auffassung von Arbeiten und Erwerben als Selbstzweck basierte auf einer religiös begründeten Verpflichtung, die der einzelne gegenüber dem Inhalt seiner „beruflichen" -Tä tigkeit empfinden sollte. Aus ihr entwickelte sich dann die eigentliche „Sozialethik“ des modernen Kapitalismus. Die auf der Basis streng rechnerischen Kalküls rationalisierte Gesamtzeit zerfiel nun in die verpflichtete Zeit und die nicht-verpflichtete Restzeit (als einer untergeordneten Größe). Die übermäßige Schätzung der Pflichterfüllung muß wohl als eines der folgenschwersten „Produkte“ der Reformation angesehen werden, weil sie zur Herausbildung einer über die „Freizeit“ dominierenden „Pflicht-Zeit“ führte. Der in der verbleibenden „Frei-Zeit" mögliche Daseinsgenuß wurde schließlich knapp ein Jahrhundert später im deutschen Pietismus (Spe-ner, Francke, Zinzendorf) gar als sittlich verwerflich dargestellt. Mehr als der Gesundheit nötige Schlaf, Geselligkeit, Sport und Spiel, Genuß von Kultur-, Kunst-und Luxus-gütern galten als nutz-und wertlose Zeitvergeudung und als die prinzipiell schwerste aller Sünden.
„Müßiggang ist aller Laster Anfang“ — diese überlieferte Verhaltensregel sorgt seither und bis heute für das sprichwörtlich schlechte Gewissen bei der Ausübung einer gesellschaftlich nicht als „sinnvoll“ erachteten Freizeitbeschäftigung. Der in der Bundesrepublik auch heute noch nicht verstimmte Ruf nach „sinnvoller Freizeitgestaltung“ resultiert aus diesem ursprünglich religiös-kirchlich motivierten, inzwischen längst überholten, aber keineswegs überwundenen „Schuldgefühl“, das sich gegen den Wunsch wendet, in der Freizeit ausdrücklich einmal nichts unmittelbar „Nützliches", „Zweckmäßiges" oder „Sinnvolles" tun zu wollen.
Das in den verschiedensten Freizeittheorien und im öffentlichen Bewußtsein gegenwärtig noch wirksame Denk-und Handlungsmuster spiegelt sich auch und gerade in den Institutionsbereichen der Erziehung und Bildung, der Forschung und Lehre, der Kirche, der öffentlichen Verwaltung, Planung und Politik wider.
Die westdeutsche, aber auch fast die gesamte westeuropäische und amerikanische Freizeit-forschung stehen bis heute noch im Banne der protestantisch-puritanischen Berufsethik — mit Ausnahme der romanischen, insbesondere katholischen Länder wie Spanien, Portugal und teilweise auch Frankreich. Der durch Luthertum und Reformation in Deutschland entstandene Protestantismus führte zur Bildung von Staatsreligionen und Nationalkirchen in Schweden, Dänemark, Norwegen, Island und übte — durch das Wirken von U. Zwingli und J. Calvin noch verstärkt — einen großen Einfluß auf die Länder Schweiz, Niederlande, Schottland, England und Nordamerika aus. Bezeichnenderweise nehmen heute die Länder, in deren Sprachen Luthers spezifische Wortprägung und Wortbedeutung . Beruf eingegangen ist, — englisch/amerikanisch: „calling“
— schwedisch: „kallelse"
— dänisch: „kald"
— niederländisch: „beroeb", eine dominierende Stellung innerhalb der internationalen Freizeitdiskussion ein. In den vom Protestantismus, Calvinismus, Puritanismus und Pietismus beeinflußten Ländern wie USA, England, Schweden, Dänemark, Norwegen, Niederlande und der Schweiz ist folgerichtig die Institutionalisierung der Freizeit (z. B. durch eigene Ministerien für Freizeit, Freizeitämter, Freizeitorganisationen, Freizeitiorsdiungsinstitute und Freizeitberufe) am weitesten fortgeschritten. In diesen Ländern ist »Freizeit“ als Problem und Aufgabe in das öffentliche Bewußtsein eingedrungen — als Folge einer Verabsolutierung der Arbeit. Es ist weiterhin kein Zufall, daß im Zusammenhang mit der protestantischen bzw. ein Jahrhundert später pietistischen Bewegung Namen wie Kant und Hegel und schließlich auch Karl Marx genannt werden müssen.
Die Emanzipation von der religiös-kirchlichen Herrschaft ist heute abgeschlossen, die Über-bewertung der Arbeit weitgehend infragegestellt — der Glaube an den Gegensatz von »Arbeit“ und „Freizeit“ aber geblieben und mit ihm die ideologische Aufteilung der menschlichen Existenz in einen „Arbeitsstatus“ und einen „Freizeitstatus“. Freizeit gilt noch immer als Restgröße, die unter dem Diktat der Arbeit steht. Dem „Geist des Kapitalismus“ (im Sinne Max Webers) verpflichtet, wird Freizeit zur . zweiten Arbeitswelt“ (W. Flitner) degradiert.
Diese Bewertung und Gewichtung der Freizeit hat schwerwiegende Folgen für Individuum, Gemeinwesen und Gesellschaft, was im folgenden exemplarisch und thesenhaft anhand einiger Fakten erhärtet werden soll.
Die gegenwärtige Freizeitplanung steht unter dem Diktat von Arbeit und Industrie und Ist von den Gesetzen der Produktion abhängig.
Infolge der Konzentrationsbestrebungen in der Wirtschaft und der wachstumsorientierten Kommunalpolitik in der Bundesrepublik konkurrieren und buhlen die Gemeinden um die Gunst mobiler Menschen und Betriebe: „Um sich bundesweit als Standort zu empfehlen, suchen die Kommunen Publizität. Sie bemühen sich um aktive Öffentlichkeitsarbeit und eine bewußte Imagegestaltung, um bei möglichst vielen Menschen Interesse und Zuneigung zu erwecken." Mit dem zu vermittelnden Image soll der Wunsch geweckt werden, in einer solch lebenswerten und freizeit-freundlichen Stadt wohnen und arbeiten zu wollen. Hinter allen freizeitplanerischen Bestrebungen und Maßnahmen aber steht das Hauptmotiv, Bewohner und damit Betriebe an sich zu binden.
Der durch Freizeitplanung angestrebte „Freizeitwert“ dient als attraktive Zauberformel, durch die Industrien seßhaft gemacht werden sollen. Die kommunale Freizeitplanung steht unter dem Diktat von Arbeit und Industrie; sie ist lediglich Mittel zum Zweck. Die Selbst-zerstörung ist einkalkuliert und einprogrammiert: Mit der Ansiedlung und Seßhaftmachung von Industriebetrieben gewinnt der Lohn-und Arbeitswert wieder die gewünschte Oberhand — der Freizeitwert hat dann seine Schuldigkeit getan.
Als erstes Unternehmen in der Bundesrepublik hatte die Eurocan GmbH 1970 die Viertagewoche eingeführt, um die Arbeitnehmer angeblich nicht nur mit Geld, sondern auch „mit Freizeit" zu entlohnen. Das Unternehmen hatte vorher durch das kostspielige Anwerben von ausländischen Arbeitnehmern ein Defizit von einer Million Mark gemacht. Das werbewirksame Erperiment zahlte sich jedoch aus: Nadi Einführung der neuen Arbeitszeit machte das Unternehmen gleich im ersten Jahr einen Gewinn von 500 000 Mark: Die Publicity um die Viertagewoche verhalf dem Werk zu qualifizierten Arbeitskräften und günstiger Auftragslage, so daß am 1. April 1973 die Viertagewoche wieder abgeschafft und der Zwei-Schicht-Betrieb eingeführt wurde 8a).
So haben ferner z. B. die Gemeinden Witten, Hagen und Herdecke gemäß einer Empfehlung der nordrhein-westfälischen Landesregierung im „Nordrhein-Westfalen-Programm 1975“ mit dem Bau eines Freizeitzentrums begonnen. Während auf dem linken Ufer der Ruhr das „Freizeitzentrum Harkort-see'ausgebaut wurde, wies die Landesregierung das rechte Ufer als gewerbliche Bauzone aus und genehmigte nachträglich den Bau eines 600 Mega-Watt-Kraftwerks, dessen optischer Schwerpunkt ein 120 Meter hoher Kühl-turm mit einem Durchmesser von 85 Metern ist und der pro Minute 12 000 Liter Wasserdampf ausstoßen wird — mehr verdunstet der ganze Harkortsee nicht Laut Gesetz und Gewerbefreiheit darf die Elektromark ihr Kraftwerk bauen; nach dem gleichen Gesetz pochen die betroffenen Bewohner auf den Paragraphen 35 des Bundesbaugesetzes, nach dem Vorhaben im Außenbereich nur zulässig sind, wenn keine öffentlichen Belange entgegenstehen. Womit sich die Frage stellt, ob — angesichts der Gewerbesteuerhoffnung der Gemeinden — Freizeitbelange der Bewohner . öffentliche Belange" darstellen.
Hier zeichnet sich eine verhängnisvolle Tendenz ab: Freiheit in der Freizeit ist ein humanes Postulat, Gewerbefreiheit aber ein gesetzlich verankertes Recht. Der Freizeitwert bemißt sich nach dem Wert der Arbeit. In unserer Gesellschaft bekommt die Freizeit einen bestimmten Stellenwert im Arbeitssystem zugewiesen; ein sich am Menschenrecht „Freiheit" orientierender Eigenwert wurde der Freizeit bisher verwehrt.
Die in der Bundesrepublik entstehenden integrierten Freizeitzentren (z. B. „Freizeitparks“ im Ruhrgebiet) und städtischen Freizeitentwicklungsplanungen (z. B. Frankfurter „Dezernat für Freizeit und Soziales“) sind primär ein Resultat politischen, insbesondere wirtschafts-und arbeitsmarktpolitischen Kalküls, weniger eine Antwort auf offene Lebensbedürfnisse der Bewohner selbst. Der durch solche Maßnahmen suggerierte „Freizeitwert“ soll von Mängeln des Arbeitsalltags ablenken und ein lebenswertes Wohnmilieu vortäuschen.
Während der älteste gesetzlich begründete Regionalverband Europas, nämlich der von 18 Mitgliedsstädten und neun Mitgliedskreisen mit rund 5, 5 Millionen Einwohnern an Rhein und Ruhr getragene Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk im Mai dieses Jahres den 3. Freizeitkongreß in Dortmund eröffnete und man in der Begrüßungsrede auf „für ganz Deutschland beispielgebende Taten" verwies, lag die Arbeitslosenquote im gesamten Ruhrgebiet erheblich über dem Bundesdurchschnitt und hielt die Stadt Gelsenkirchen, der Standort des Freizeitparks Nienhausen und des Fußballweltmeisterschaftsstadions, mit 4, 2 Prozent (Bundesdurchschnitt Ende Mai 1974; 2, 1 Prozent) allein die Arbeitslosenspitze. Der „Freizeitwert" der Freizeitparks im Ruhrgebiet soll daher vor allem über wirtschaftsstrukturelle Mängel hinwegtäuschen und dadurch Bevölkerungszuzug und Seßhaftigkeit bewirken.
Nach eigenen Aussagen des . geistigen Vaters'der Revier-und Freizeitparks, Arno Mittel-bach, wird „mit den wachsenden Produktionsund Konsumziffern die Konkurrenz um Absatzmärkte und Arbeitsmärkte steigen“, so daß die „Haltekraft und Anziehungskraft auf Menschen und Bevölkerungsteile" immer mehr von den angebotenen „Freizeitwerten beeinflußt werden wird" 10a). Dies ist eine der wenigen, ideologisch nicht verbrämten Stellungnahmen zur tatsächlichen Bedeutung der Freizeitparks, durch deren Existenz die Wohnungen im Revier weder wohnlicher noch die Arbeitsbedingungen am Arbeitsplatz besser werden.
Die weithin ungelösten gesellschaftlichen Probleme lassen sich nicht durch spezialisierte, zeitlich und zum Teil auch räumlich vom übrigen Arbeitsleben abgetrennte Freizeiteinrichtungen neutralisieren: „Auch in der Freizeit muß endlich mit dem Auftrag des Grundgesetzes ernst gemacht werden: Dem Bürger nicht nur Recht, sondern auch Gelegenheit zur Selbstbestimmung seiner kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu geben. Aus diesem Grunde ist die Aufgabe . Revierpark'falsch! Sie lenkt von den heutigen und den zu erwartenden Problemen unserer Gesellschaft ab." 10b)
Als erste und bisher einzige Großstadt in der Bundesrepublik hat Frankfurt/Main ein „De-zemat für Freizeit und Soziales'geschaffen. Auch hier erfüllt das Zauberwort „Freizeit" eine bloße Ersatz-und Alibifunktion: Von allen deutschen Städten hat Frankfurt den miserabelsten Ruf: Straßenschlachten, Hausbesetzungen und Bodenspekulationen gehören zum Image dieser Arbeits-und Wirtschaftsmetropole am Main. So hat die Stadt Frankfurt kürzlich mit einem Kostenaufwand von 50 000 DM einen eigenen „Stadtplan für die Freizeit" in einer Auflage von 125 000 Exemplaren herausgegeben, um den Besuchern der Stadt den hohen „Freizeitwert“ im wahrsten Sinn des Wortes als Ersatz-Urbanität in die Hand zu drücken, ihn handgreiflich zu machen, wo er nicht von selbst sichtbar, erlebbar und begreifbar ist.
Die schleswig-holsteinische Hauptstadt Kiel hat bereits vor vier Jahren eine professionelle Werbeagentur beauftragt, das ramponierte Arbeitsimage durch die Herausstellung des Freizeitwertes vergessen zu machen. Eine sinkende Bevölkerungszahl, vor allem eine Abwanderung jüngerer Arbeitskräfte, eine starke Abhängigkeit vom krisenanfälligen Schiffbau und der mit dieser Branche eng verbundenen Maschinenindustrie lösten eine großangelegte Anzeigenkampagne aus, in der die . Stadt als Platz für Menschen, die dort wohnen und lernen und studieren und arbeiten und freizeiten wollen“ gepriesen wurde.
Immer mehr Großstädte gehen dazu über, sich von den Werbeagenturen ihren Freizeitwert dokumentieren zu lassen. Dazu gehören z. B. — die krisenanfällige Stadt Berlin, die die negativen Vorstellungen von Studentenkrawallen und überalterter Bevölkerung korrigiert wissen will, — die geschichtsträchtige Stadt Nürnberg, die von unliebsamen Assoziationen wie Reichsparteitagen, Nürnberger Rassegesetzen und Kriegsverbrecher-Prozessen befreit werden will, — die auf Expansion angewiesene Industriestadt Hannover, die durch die Aktion „Straßenkunst“ das Freizeitgefühl der Bewohner und Besucher beeinflussen und steigern will
Alle Freizeitwert-Appelle verfolgen vorrangig den Zweck, Industrie-Ansiedler und Arbeitskraftreserven zu . ködern', um die negative Wanderungsbilanz aufzuhalten. Hierbei handelt es sich weniger um Humanisierungsbestrebungen zur Verbesserung der Lebens-und damit auch der Freizeitqualität der Bewohner, sondern um Public-Relations-Aktionen zur Erhöhung der städtischen Attraktivität für potentielle Zuzügler. „Freizeit ist an ihren Gegensatz gekettet" (Th. W. Adorno) Dem arbeitspolaren Freizeitverständnis entspricht ein auf die Produktions-und Konsumsphäre eingeengter Freizeitbegriff. „Freizeit" stellt sich gegenwärtig dar als eine total vom Produktionsbereich abhängige Größe. „Ist Mobilität ohnehin schon ein ökonomischer Faktor , in'unserer Gesellschaft, so scheint sie in der Freizeit zum Fetisch zu werden" So gibt es beispielsweise zahlreiche empirische Untersuchungen über den Wochenendverkehr der Großstadtbevölkerung, dagegen sind Aussagen über das nicht mit Motorverkehr verbundene Freizeitverhalten geradezu rar.
Ein weiteres Indiz für das rein arbeitspolare Freizeitverständnis ist die Tatsache, daß die bisherige Freizeitforschung im Wesentlichen Konsumforschung ist, d. h. in der ökonomischen Sicht-und Denkweise wird nur der Konsumaspekt erfahren, so daß konsequenterweise von den meisten Kritikern auch nur „Konsumerziehung“ gefordert wird Infolgedessen wird die Existenz arbeitsunabhängiger Verhaltensweisen weitgehend geleugnet und ökonomisch irrelevante soziale und psychische Momente des Freizeitverhaltens bleiben außer Betracht. Eine „Psychologie des Freizeitverhaltens" gerät erst dann in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses, wenn sie für die Freizeitmarkt-, insbesondere Urlaubs-und Tourismusforschung verwertbar wird.
Im Arbeitsrecht gilt Freizeit nur als Kurzformel für eine Zeit, in der ein Arbeitnehmer keine Lohnarbeit zu verrichten hat. Die Arbeit, die beispielsweise eine Arbeitnehmerin im eigenen Haushalt verrichtet, fällt in ihre „Freizeit" und gilt infolgedessen als „freier (?) Hausarbeitstag"
Im Urlaubsrecht gelten Urlaub und Ferien als eine dem Arbeitnehmer zum Zweck der Erholung gewährte Freizeit. Wesentlich ist hierbei die Zweckbindung, also die Erholung von der geleisteten Arbeit und die Erholung für die noch zu leistende Arbeit. Aus dieser Sicht resultiert z. B. auch der Grundsatz der Unteilbarkeit des Urlaubs. Der Urlaub soll zusammenhängend genommen werden, weil nur dadurch eine „nachhaltige" Erholung gewährleistet sein soll.
Unter diesem eingeengten Aspekt muß auch die aktuelle Forderung des Deutschen Gewerkschaftsbundes auf Erweiterung des Jahresurlaubs von derzeit durchschnittlich 4 Wochen auf 6 Wochen gesehen werden. Der DGB geht dabei weniger von veränderten Lebens-gewohnheiten oder sich wandelnden Lebensbedürfnissen der Menschen aus, vielmehr soll mit der Durchsetzung dieser Forderung „arbeitsmedizinischen Erkenntnissen Rechnung getragen" werden.
Gegenwärtig sind Arbeitgeber gleichzeitig Freizeit-und Urlaubgeber. Freizeit und Urlaub müssen durch Arbeit und Leistung „verdient" werden. Und selbst dann sind sie kein soziales Grundrecht, über das der Bürger frei verfügen kann: — Ein Angestellter hatte 14 Tage lang in den bayerischen Alpen Kletterpartien unternommen, nach seiner Rückkehr ins Büro aber war er müde, konnte sich nicht konzentrieren und machte Fehler: „Sein Chef: , Das ging eine Woche so. Da mußte ich ein Exempel statuieren. Ich zog ihm das Urlaubsgeld ab'. Der Leiter der Rechtsabteilung des DGB, Clemens Körner: , Der Chef hat recht gehandelt'"
— Camping kann nicht als „erholungsgerechter Urlaub" angesehen werden. Zu diesem Schluß kam das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen (Az. 2 K 78/69). Ein Kriegsbeschädigter mußte seinen vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe erhaltenen Urlaubszuschuß zurückzahlen, weil er anstelle eines dreiwöchigen Aufenthalts in einer Pension einen vierwöchigen Urlaub auf dem Campingplatz verbrachte.
— In der deutschen Justiz wird der Urlaub als väterliche Geste fürsorgender Arbeitgeber begriffen. In einem Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf (OLG Düsseldorf 5 U 225/72) wird festgestellt, daß der Urlaub von Arbeitnehmern keinen Geldwert habe und sein Verlust folglich keinen in Geld meßbaren Schaden bringe. Zur Urteilsbegründung wird angeführt: Urlaub von Arbeitnehmern werde nach überwiegender Juristenmeinung vom Arbeitgeber zur Erhaltung von Gesundheit und Arbeitskraft aus , Fürsorge -Erwägungen gewährt. Auch die Lohnfortzahlung während des Urlaubs stelle sich als bloße . Unterhaltsgewährung' dar.
Urlaub wird als almosenhafte Fürsorge verstanden, nicht als Rechtsanspruch und Bürgerrecht. In der Landes-und Raumplanung werden freizeitrelevante Maßnahmen überwiegend von der „Berufstätigkeit“ des Menschen her begründet, wofür das . Programm Freizeit und Erholung'der Bayerischen Staatsregierung vom Juli 1970 symptomatisch ist: „Die physischen und psychischen Anforderungen an den berufstätigen Menschen bedingen andere Formen der Erholung und Freizeitgestaltung als früher. Je weniger körperliche Bewegung und je mehr Nervenanspannung die Berufsarbeit abverlangt, umso stärker muß in der Freizeit durch Sport, Spiel und Wandern ein Bewegungsausgleich gesucht und gefunden werden. In den nächsten Jahren ist mit einer weiteren Arbeitszeitverkürzung zu rechnen"
Der Begriff „Erholung" ist in ökonomischen Notzeiten entstanden und hatte in der Industrialisierungsphase Ende des Jahrhunderts eine außerordentliche Bedeutung. Auch gegenwärtig findet Erholung in der Freizeit statt und sind Erholungsgebiete gleichzeitig Freizeitgebiete, aber: Das Freizeitproblem ist nicht nur ein Erholungsproblem! 19) Freizeit ist heute — Entspannungs-und Erholungszeit („Rekreation'),
Erholung stellt hierbei nur einen Aspekt unter anderen dar.
Die allmählich um sich greifende Bewußtseinsänderung, der die Erkenntnis und Einsicht zugrundeliegt, daß Arbeit nicht automatisch Freiheit Zwang bedeutet und kein Privileg der Freizeit sein kann, zwingt zur Aufgabe des arbeitspolaren Freizeitverständnisses und macht eine grundlegende Umwertung der Werte „Arbeit“ und „Freizeit" erforderlich.
Habermas und die Neue Linke haben das ideologische Gegensatzpaar „Arbeit/Freizeit" im öffentlichen Bewußtsein wachgehalten und zugleich das konserviert, was sie kritisieren.
Jürgen Habermas hat nicht nur deutsche die und internationale Studentenbewegung entscheidend beeinflußt, seine in den Jahren 1954 bis 1958 veröffentlichten Schriften „Die Dialektik der Rationalisierung", „Notizen zum Mißverhältnis von Kultur und Konsum", „Konsumkritik — eigens zum Konsumieren“ und „Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit" stellen die auch heute noch bedeutendsten und folgenschwersten Abhandlungen zum Phänomen „Freizeit" im deutschsprachigen Raum dar. Paradoxerweise haben gerade der Gesellschaftskritiker Habermas und mit ihm die Neue Linke, indem sie permanent auf das Mißverhältnis von Kultur und Konsum verweisen und die Freizeit als eine von der kapitalistisch bestimmten Arbeit abhängige Restgröße definieren, in Gesellschaft, Wissenschaft und Politik das Bewußtsein von der Zweiteilung des Lebens in „Arbeit" und „Freizeit“ wachgehalten und verstärkt.
Ihr verbalisiertes Unbehagen an der Freizeit-und Konsumkultur ist zu einem festen Bestandteil des sich mehr und mehr verselbständigenden Freizeitsystems geworden. Damit habeg sich die „Freizeit" -Kritiker eben diesen Maßstäben des Freizeitsystems unterworfen, das seine Legitimation nicht zuletzt von der nun auch wissenschaftlich bestätigten Existenz der beiden Lebensbereiche „Arbeit“ und „Freizeit“ herleitet. Habermas'soziologische Notizen zum „Verhältnis von Arbeit und Freizeit“ kritisieren und machen sich gleichzeitig — schon vom Titel her — selbst zum Ausdruck des Kritisierten. Freizeit und Konsumgenuß auf der einen und Arbeit und Produktionsbedarf auf der anderen Seite bilden die beiden Eckpfeiler des Habermas'schen Kompensationsmodells Dieses Kompensationsmodell unterstellt eine nur aus „Arbeitnehmern" bestehende Gesellschaft, in der die Menschen zum Ausgleich für die entfremdende Arbeitswelt in die — menschliche Erfüllung suggerierende — Freizeit fliehen. Die von Habermas sauber getrennten Bereiche Arbeit und Freizeit, Produktion und Konsum sowie die von ihm konstatierte Aufspaltung des Menschen in einen Arbeitsfunktionär und einen Freizeit-konsumenten täuschen über die subjektiv und objektiv potentielle Chance hinweg, die Spaltung der menschlichen Existenz und der Gesellschaftsbereiche aufzuheben und aus -„Ar beitszeit" und „Freizeit“ gleichermaßen „Freie Zeit“ zu machen.
Die Habermas’sche Polarisierung von Arbeit und Freizeit, Produktion und Konsum basiert auf einem ideologisch verengten Ansatz. Die „Freizeit" der Massen wird als „Degenerationsform der Muße“ und die Demokratisierung von Kulturgütern als „Profanisierung“ verketzert. Ganz im Sinne des polaren Modells von Arbeit und Freizeit entwickelt Habermas das polare Modell von (elitärer) . Kultur’ und (profanem) . Konsum". Dies verdeutlicht die folgende pointierte Gegenüberstellung:
Konsum Kultur Mußevolle Geschäftiger Beschäftigung Müßiggang Befriedigung von Befriedigung von Bedürfnissen der Bedürfnissen der Menschen als Produktion Individuen Unaufhebbare Behebbarer Bedarf Bedürftigkeit des des Menschen Menschen Konsum Kultur Gewährte Gemachte Kulturgüter Kulturprodukte Angebot von Stil Angebot von Stimulation Anstrengung Entlastung Askese Lust Sammlung Zerstreuung Sicherheit Scheinsekurität des verdrängten Risikos Selbstbewegung Zerstreute Beweglichkeit Selbstüberwindung Fremdregelung Stellvertretende Lebenschancen Konsumchancen Leben Konsumierbare Vitalität Souveränität Ohnmacht Habermas und die Anhänger der Kritischen Theorie geraten in den Verdacht, Kritik mit Denunziation zu verwechseln — als Reaktion auf die Bedrohung oder Vernichtung ihrer privilegierten Stellung als Philosophen und Wächter über „Freie Zeit“? Wie sagte doch Th. W. Adorno: „Meine Arbeit, die philosophische und soziologische Produktion und das Lehren an der Universität (ist) mir bislang so glückvoll gewesen, daß ich sie nicht in jenen Gegensatz zur Freizeit zu bringen vermöchte". Weil „Freie Zeit" offenbar exklusiv bleiben soll, wird die Kultur, die die Frankfurter Schule für sich selbst in Anspruch nimmt, in ihrer demokratisierten Form als profaner Kulturkonsum abgewertet.
So sehr Habermas und die Neue Linke zur Verfestigung des polaren Modells Arbeit/Freizeit beigetragen haben, so nachhaltig hat aber auch ihre Kritik an den Leistungszwängen, Konsumzwängen und Scheinfreiheiten in der „Freizeit" die Fachdiskussion der letzten Jahre bestimmt, verstärkt durch die von den Studenten getragene Protestbewegung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Die durch sie ausgelöste emanzipatorische Bewegung ist in der Bundesrepublik nicht folgenlos geblieben. „Freizeit“ gilt nun nicht mehr als suspekt, sondern wird im Rahmen einer antikapitalistischen Strategie als Innovationspotential und Ansatzpunkt politischen Handelns entdeckt. Es wird erkannt, daß ein verändertes Freizeitverhalten mehr das Verhalten am Arbeitsplatz rückwirkend bestimmen und zu einer Veränderung der Produktionsverhältnisse führen kann als vordergründige politische Agitationen. Das beste Beispiel hierfür liefern die Jungsozialisten; ihre Forderung ist, „die Freizeit bewußt unabhängig von der organisierten Freizeit-und Bewußtseinsindustrie zu gestalten'und „den möglichen emanzipatorischen Charakter der Freizeit hervorzuheben“ Seither versuchen die Jungsozialisten, durch kommunale Aktivitäten auf die inhaltliche Gestaltung von öffentlichen Freizeiteinrichtungen Einfluß zu nehmen — vom Kindergarten und Spielplatz über das Jugendfreizeitzentrum bis hin zur Volkshochschule.
Die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) propagierte auf ihrer Aktionskonferenz im März 1974 in Saarbrücken gar ein neues „Grundrecht auf Freizeit“ und stellte die Forderung auf: „Die Jugend will Zeit für sich selber, sie will sich frei entfalten und ihre Fähigkeiten und Talente entwickeln. Sie braucht mehr Zeit für Erholung von der Arbeit, mehr Urlaub. Vor allem will sie selbst über ihre Freizeit bestimmen." Auch die Junge Union verabschiedete eine Entschließung, in der unter Hinweis auf die in der Freizeit liegenden Chancen und Möglichkeiten jeder Bürger „zur Freizeitfähigkeit angeleitet“ werden soll.
Dieses neue politische Selbstbewußtsein löste die bundesweite „Jugendzentrums-Bewegung" aus, in der die unbefriedigende Freizeitsituation der Jugendlichen Anlaß und Auslöser für weitergehende gesellschaftliche Forderungen war. Gleichzeitig wurde auf spezielle Mängel in Schule und Betrieb aufmerksam gemacht. In Selbstorganisation und Solidarität mit Gleichbetroffenen wurden Problemlösungsstrategien entwickelt und praktiziert. Jugend-Zentren und Jugendfreizeithäuser werden heute als die verbindende Klammer zwischen Elternhaus und Wohnbereich einerseits und schule und Betrieb andererseits gesehen. Damit distanziert sich die gegenwärtige Jugend-zentrums-Bewegung eindeutig von der Jugendbewegung der zwanziger Jahre, die seinerzeit mit dem Kampf-und Schlagwort „sinnvolle Freizeit" gegen „sinnlose“ Arbeit und . entseelte“ Kultur protestierte und dabei nach untauglichen, weil unpolitischen Mitteln griff zur Flucht in Romantik und Vagantentum. Es bleibt somit festzuhalten, daß die kritisch-emanzipatorische Bewegung des letzten Jahrzehnts das politische Selbstbewußtsein der Gesellschaft verändert hat in Richtung auf — die Entstaatlichung der Politik (z. B. durch Demokratisierung der Institutionen, Mitbestimmung in Schule und Betrieb, Selbst-organisation in Jugendfreizeitzentren) und — die Entästhetisierung der Kunst (z. B. durch Entwicklung von Kreativitätskonzepten wie Happenings, spontane Aktionen, soziale Rollenspiele).
Darüber hinaus hat die emanzipatorische Bewegung den Fatalismus und Gehorsam der Unterschicht gebrochen und das „Leistungsethos“ der Mittelschicht als alleinige Kategorie ihres Selbstverständnisses weitgehend in Frage gestellt
Wir stehen vor einer grundlegenden Umwertung der Werte „Arbeit" und „Freizeit“.
Die Entscheidung für eine Umwertung der Werte und damit eine Aufhebung des Gegensatzpaares Arbeit/Freizeit ist eine machtpolitische Frage, die in erster Linie von den Gewerkschaften und Arbeitgebern als den beiden bedeutsamsten gesellschaftsund wirtschaftspolitischen Machtfaktoren entschieden werden muß.
Die Gewerkschaften Schon vor über zehn Jahren sah Alois Schardt den Hauptgrund für die Polarisierung von Arbeit und Freizeit darin, daß die Gewerkschaften als die organisierte Interessenvertretung der Arbeitnehmer glaubt, durch die thematische Verknüpfung von Arbeit und Freizeit einen Primäranspruch auf das Frei-zeitverhalten ableiten zu können
Die Gewerkschaften nehmen für sich das Verdienst in Anspruch, die öffentliche Freizeit-diskussion in Gang gebracht zu haben. Ende der fünfziger Jahre hatten sie im Hinblick auf die Behandlung des Themas „Freizeit“ tatsächlich eine unbestrittene Vorhandposition in der öffentlichen Diskussion, die sie inzwischen allerdings an die Sportverbände wie auch die Kirchen und Arbeitgeber abgetreten haben. Den Höhepunkt des gewerkschaftlichen Einflusses bildete die große Freizeittagung des DGB (das sogenannte „VI. Europäische Gespräch“) im Jahre 1957 in Recklinghausen. Seither gilt Freizeit im sozialpolitischen Kampf der Gewerkschaften als „Zwillingsbegriff zur Arbeitszeitverkürzung" (A. O. Schorb). Arbeitszeitverkürzung ist aus gewerkschaftlicher Sicht mit „wachsender Freizeit" identisch. Entsprechend ihren Vorstellungen von der Zweiteilung des Lebens kann „weniger Arbeit“ nur „mehr Freizeit" bedeuten. Eine differenziertere Sicht würde das polare Modell Arbeit/Freizeit insgesamt in Frage stellen. 1957 formulierte Siegfried Braun in der Zeitschrift des Wirtschafts-und Sozialwissenschaftlichen Instituts des Deutschen Gewerkschaftsbundes den Grundsatz: „Die Gewerkschaften und die Arbeiterbewegung sind der Motor der Arbeitszeitverkürzung und der . wachsenden Freizeit'." Dieser Grundsatz gilt seither als freizeitpolitisches Glaubensbekenntnis der Gewerkschaften. So schreibt z. B. Heribert Kohl 1974 in der gleichen Zeitschrift: „(Freizeit wurde) von der Gesellschaft unter Führung der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung erkämpft.“
Im Hinblick auf das Verhältnis von Arbeit und Freizeit gehen die Gewerkschaften von folgender „gesellschaftspolitischer Grundentscheidung" (dieses wie auch alle weiteren Zitate von H. Kohl) aus:
1. „Arbeit und Freizeit" bilden die beiden grundlegenden Lebensbezüge.
2. Die Arbeit stellt dabei den zentralen „Kern der menschlichen Existenz" dar und bestimmt „weitgehend die Inhalte" der Freizeit. „Freizeitpolitik“ ist in gewerkschaftlicher Sicht in erster Linie „Arbeitspolitik.“ 3. Auch die nicht erwerbstätige Bevölkerung ist durch „Arbeits-und Freizeitverhalten" charakterisiert. Dazu gehören sowohl „die aus dem Arbeitsprozeß bereits Ausgeschiedenen" (Rentner, Pensionäre, Frühinvaliden) als auch die Kinder und Jugendlichen, die „durch berufsvorbereitende Schulen (Arbeitslehre!)" noch „in das Arbeitsleben integriert werden" müssen.
4. Da die Freizeitforschung die von den Gewerkschaften (aus Gründen der Selbsterhaltung) gewünschte Dominanz des Arbeitslebens „vernachlässigt, wenn nicht gar leugnet", wird sie als „nicht arbeitsorientiert" und darum als „zu undifferenziert" abgetan.
Unter diesen Umständen muß jeder Versuch, die Gewerkschaften zur Aufgabe ihres ideologischen Ansatzes von „Arbeit und Freizeit" zu bewegen, als außerordentlich schwierig, wenn nicht gar auf lange Zeit als unmöglich angesehen werden.
Die Arbeitgeber Doch auch die Arbeitgeber zeigen kein sonderliches Interesse an einer Aufhebung des Gegensatzes von Arbeit und Freizeit. Die Vermutung, daß industrielle Kreise aus Angst vor politischen Veränderungen an einer gewissen „Disziplinierung" der Massen und an einer Aufrechterhaltung der rigiden Trennung von Arbeit und Freizeit interessiert sein könnten und daher die Freizeit — im Gegensatz zur „Öffentlichkeit" der Berufsphäre — als „Privatheit", das heißt als Raum privater, also unpolitischer Interessen bestehen lassen wollen, liegt zumindest nahe.
Vor rund hundert Jahren gab der Begründer der Krupp-Werke, Alfred Krupp (1812-1887), bei ihm beschäftigten Arbeitern unter dem Titel,, Wort an meine Angehörigen" folgende Freizeit-Empfehlung heraus:
„Genießet, was euch beschieden ist. Nach getaner Arbeit verbleibt im Kreise der Eurigen, bei den Eltern, bei der Frau und den Kindern und sinnt über Haushalt und Erziehung. Das sei eure Politik, dabei werdet ihr frohe Stunden erleben. Aber für die große Landespolitik erspart euch die Aufregung. Höhere Politik treiben erfordert mehr freie Zeit und Einblick in die Verhältnisse, als dem Arbeiter verliehen ist. Ihr tut eure Schuldigkeit, wenn ihr durch Vertrauenspersonen empfohlene Leute wählt."
Diese Bemühungen um die rechte Arbeitsgesinnung und Freizeithaltung spiegeln sich selbst 1962 noch in den Äußerungen des damaligen Hauptgeschäftsführers des Deutschen Industrie-und Handelstages, Albrecht Düren, wider: „Die Jugend braucht einen Bildungsraum, in dem sie im Ernst der Arbeit und des Lebens erzogen wird ... Es ist selbstverständlich für den, der weiß, daß unser Volk sich auch in der Zukunft nicht auf Freizeit und Konsum verlegen kann, sondern auf harte Arbeit konzentrieren muß."
In der Beurteilung der Freizeitproblematik haben die Arbeitgeber in letzter Zeit eine deutliche Wandlung vollzogen. In ihren im vergangenen Jahr veröffentlichten „Grundsätzlichen Überlegungen zum Freizeitproblem“ wird die Freizeit als ein „umfassendes Problem“ (S. 24) und eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe" dargestellt. „Der Bildung und dem sozialen und politischen Engagement in der Freizeit“ wird eine besondere Bedeutung beigemessen.
An dem bestehenden Dualismus „Arbeitswelt und Freizeit" wird allerdings nicht gerührt, das heißt, Freizeit wird ganz selbstverständlich als die „von Arbeit freie Zeit“ definiert. Hohe gesellschaftspolitische Ziele und Werte werden bezeichnenderweise , nur'für die Freizeit . reserviert'. Würde man die von den Arbeitgebern entwickelten gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen von ihrem isolierten Freizeit-Status befreien und für alle Lebensbereiche (auch für den Arbeitsbereich!) wirksam werden lassen, nämlich — „Persönliche Lebensbereicherung"
— „Selbst zu gestaltende Arbeit"
— „Eigene Initiative"
— „Freie Verantwortung"
— „Soziale Verpflichtung“
— „Mehr Lebensqualität"
— „Freiheitliche Lebensordnung"
so wäre die Umwertung der Werte „Arbeit/Freizeit" bereits im Ansatz vollzogen. Vom Konzeptionellen her muß den Arbeitgebern — ganz im Gegensatz zur verengten Perspektive der Gewerkschaften — eine sehr viel reali-stischere und auch wissenschaftlich differenziertere Sicht bescheinigt werden, auch wenn die Arbeitgeber aus ihrer Analyse — Freizeit als „ein integrierter Bestandteil des individuellen und gesellschaftlichen Lebens" — bisher noch nicht die erforderlichen gesellschafts-, wirtschaftsund arbeitspolitischen Konsequenzen gezogen haben.
Die Arbeitgeber sollten deshalb beim Wort genommen werden, daß „Arbeit und Freizeit . . . zusammen mit anderen Bereichen des menschlichen Daseins eine Einheit' bilden und die Lösung der anstehenden Probleme „mit Fragen nach dem Sinn des Lebens verknüpft' ist. Diese „ganzheitliche Betrachtung" hat allerdings zur Konsequenz, daß „man den Menschen in seiner Ganzheit anerkennen“ und auch ganzheitliche Lebensziele wie . Selbstgestaltung“, „freie Verantwortung“ und „soziale Verpflichtung" in allen Lebensbereichen, also in Familie, Kindergarten, Schule und Betrieb verwirklichen muß.
Das gegenwärtige Freizeit-Problem ist das un-bewältigte Problem der Überwindung von „Freizeit", das künftige Ziel die Umwandlung der „Freizeit" in „Freie Zeit". „Freizeit“ bezeichnet ein gesellschaftliches Phänomen, so wie es sich im Bewußtsein des heutigen Menschen und in den Äußerungen und Maßnahmen von Wissenschaft, Politik und Planung gegenwärtig „noch" widerspiegelt. „Freie Zeit" hingegen reicht über diesen Tatbestand hinaus und bezeichnet etwas Neues, das sich nur aus einem allgemeinen Bewußtseinswandel ergeben kann, z. B. aus einer veränderten Einstellung zur Arbeitszeit, die als Zeit der freien Arbeit morgen das sein kann, was wir heute Freizeit nennen. Die Überwindung der Freizeit zielt auf die Über-windung eines gesellschaftlichen Gesamtzustandes, „in dem wir die Zeit außerhalb der Arbeit in einem pathetischen Sinne als Zeit der Freiheit empfinden, weil wir die Arbeitszeit pathetisch oder nüchtern als Zeit des Zwanges erfahren. Offenbar drückt sich die fatale Abhängigkeit der heutigen Freizeit vom Arbeitszwang auch sprachlich in der Bildung des Kuppelwortes . Freizeit'aus, ein zweiter Grund, der . Freizeit'das Ziel zu setzen, sich in .freie Zeit'zu verwandeln.“ Freie Zeit ist befreite Freizeit und steht am
Ende eines langwierigen Umwandlungsund Umwertungsprozesses.
Die Polarisierung von Arbeit und Freizeit — vom protestantisch-frühkapitalistischen Geiste geprägt, — die sozialen Kämpfe des 19. Jahrhunderts widerspiegelnd und — für die Lebensordnung arbeits-und leistungsorientierter Kriegs-und Nachkriegs-generationen von existentieller Bedeutung wird das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts nicht mehr repräsentieren können. Ein sich unter der Leitidee der Emanzipation weltweit ausbreitendes Freiheitsbewußtsein löst sich vom überholten Zustand des zweigeteilten Lebens und erzwingt die Setzung neuer Ziele und Werte.
Lebenszeit wird als eine mit mehr oder weniger hohen Freiheitsgraden verbundene dreidimensionale Handlungszeit begriffen werden müssen, deren integrierte, nicht isolierbare Bestandteile 1. die frei verfügbare, einteilbare und selbst-bestimmbare Dispositionszeit (= „Freie Zeit"), 2. die verpflichtende, bindende und verbindliche Obligationszeit, 3. die festgelegte, fremdbestimmte und abhängige Determinationszeit sind. Unter Zugrundelegung dieser dreidimensionalen Handlungszeit ist eine rigide Trennung und kategorische Aufteilung des Lebens in freie und unfreie Bereiche nicht mehr möglich. Damit verliert der traditionelle Wertbegriff „Freizeit“ vom Namen und vom Anspruch her seinen Sinn. Das Erlebnis des Freiseins bleibt nicht auf die „Freizeit" beschränkt, sondern ist grundsätzlich zu jeder Zeit, in jeder Lebenssituation und in allen Lebensbereichen, auch und gerade in der Berufsarbeit möglich. Hat das Individuum aber erst einmal die Möglichkeit, Freiheit auch in der Arbeit zu verwirklichen und die Arbeitszeit zur Zeit der freien Arbeit zu machen, bedarf es gar keines eigenen „Freizeit" -Lebensraumes mehr.
Mit der sich wandelnden Berufsethik, den Bestrebungen zur Humanisierung der Arbeitswelt und der damit einhergehenden wachsen-den Wahlfreiheit in bezug auf Zeit, Ort, Dauer und Art der Arbeitstätigkeit erweisen sich die überlieferten Begriffe „Arbeit" und „Freizeit" mit allen damit zusammenhängenden Wortbedeutungen und möglichen Assoziationen (z. B. „sinnlose Arbeit" /„sinnvolle Frei-zeit als semantische Fallen. Sie entsprechen nicht mehr der gesellschaftlichen Realität.
Infolgedessen muß das starre polare Lebens-modell durch ein variables, mehr dimensionales Lebensmodell ersetzt werden:
Mit der Überwindung der starren Zweiteilung des Lebens in „Arbeit“ und „Freizeit" wird der Weg frei für eine variable Zeitordnung, in der „Freie Zeit" zur dominanten Lebensdimension wird.
Entsprechend dem eingangs skizzierten Konzept, in dem die gesamte zur Verfügung stehende Zeit als mehrdimensionale Handlungszeit („Dispositionszeit“ /,, Obligationszeit“ /„De-terminationszeit") aufgefaßt wird, muß — die Dispositionszeit (= „Freie Zeit") in optimaler Weise auf alle Lebensbereiche ausgedehnt, — die Obligationszeit auf einen für das Zusammenleben der Menschen sozial notwendigen Umfang beschränkt, — die Determinationszeit auf ein individuell und gesellschaftlich vertretbares Mindestmaß zurückgedrängt werden. 1. Bedingung: Befreiung von zeitlichen Zwängen Der Franzose Jacques de Chalendar sieht die Hauptursache für das Bestehen einer erstarrten Zeitordnung darin, daß wir alles zu derselben Zeit wie alle anderen tun wollen, so daß einer Gewohnheit zuliebe schließlich Zwang daraus wird: „Ob wir es wollen oder nicht, unsere Zeit ist zum größten Teil eine Funktion der Zeit von anderen: eine Art von Solidarität, die man teils hinnimmt, teils sogar sucht, die aber, falsch verstanden, oft nur als Vorwand dient, um uns unserer eigenen Freiheit zu berauben."
Ist es wirklich unumgänglich, daß alle Menschen zur gleichen Zeit am gleichen Ort zusammenkommen? Diese Frage bezieht sich nicht nur auf die Arbeit, sondern auf jede Art von Tätigkeit. Wenn der Tagesdualismus von Arbeit und Freizeit aufgehoben werden soll, so muß die gesamte Handlungszeit, das gesamte aktiv-tätige Leben einer flexiblen Neuordnung der Zeit unterworfen werden. Wir müssen zu einem neuen Lebensrhythmus finden, indem wir verpflichtende Zeitpläne weitgehend durch dynamische Zeitpläne („ho-raire dynamique“) ersetzen, z. B. durch das System der gleitenden Arbeitszeit, bei dem nur einige wenige Stunden festgelegt, die übrigen aber variabel und frei einteilbar sind.
Durch die flexible Arbeitszeitordnung — wird die Arbeitszeit des einzelnen den Erfordernissen der öffentlichen Verkehrsmittel und der allgemeinen Verkehrssituation angepaßt. Die Stoßzeiten werden abgeschwächt; der einzelne gewinnt auf diese Weise einen Teil der Zeit zurück;
— werden die Lebensbedingungen der Arbeitnehmer verbessert, weil sie jetzt berufliches und außerberufliches Leben besser miteinander koordinieren können (z. B.
Öffnungszeiten der Kindergärten und Schulen, gemeinsame Mahlzeiten in der Familie, Behördengänge, Erledigungen). Auch in der Schule könnte eine flexible Unterrichtszeitordnung eingeführt werden, wobei man es den Lehrern, Eltern und Schülern freistellen sollte, ihre freien Tage selbst zu bestimmen. Unter Beibehaltung der üblichen Gesamtstundenzahl könnte man z. B. in einer Gesamt-und „Ganztagsschule" (die Bezeichnung wäre dann allerdings irreführend) folgendes flexibles Unterrichts-und Frei-Zeit-Modell (im 14-Tage-Rhythmus) einführen: Unterricht: Montag, Dienstag, Mittwochvormittag Frei: Mittwochnachmittag Unterricht: Donnerstag, Freitag Frei: Samstag, Sonntag, Montag Unterricht: Dienstag, Mittwoch, Donnerstag-vormittag Frei: Donnerstagnachmittag Unterricht: Freitag, Samstag Frei: Sonntag.
Zur Zeit sind wir von diesem System der freien Zeiteinteilung noch weit entfernt, ein Großteil der Arbeitnehmer kann nicht einmal seine Urlaubszeit frei bestimmen. In Zukunft sollte eine mit einem Minimum an Vorschriften verbundene und so variabel wie möglich gehandhabte Zeiteinteilung im Beruf den Arbeitnehmern einen breiten Raum für eigene Entscheidungen lassen und für sie mit Erreichen des 55. Lebensjahres eine Übergangszeit für freiwillige und jederzeit kündbare Berufsausübung vorsehen, die bis zu 60, 65 oder gar 70 Jahren verlängerbar sein sollte.
Die Realisierung des orientierenden Lebensprinzips „Mehr Freie Zeit für Alle" wird nicht nur zu einer Aufhebung des Tagesdualismus Arbeit/Freizeit, sondern auch zur Aufgabe der traditionellen Dreiteilung — Ausbildung für den Jugendlichen, — Beruf für den Erwachsenen, — Ruhestand für den alten Menschen führen müssen. Zur neuen Lebensdimension „Freie Zeit“ gehört das Nebeneinander von Arbeiten und Lernen, Erholen und Vergnügen. Dieses Lebenskontinuum muß in veränderter Form auch im Ruhestand (z. B. Teilzeitbeschäftigung, Weiterbildungskurse) möglich sein.
Unter Einbeziehung dieser Überlegungen und Zugrundelegung sozialpolitisch anerkannter Ziele wie Wahlfreiheit, Flexibilität, Eigenent-scheidung und soziale Mitverantwortung wird für die Zielgruppe „Abhängige Berufstätige“ folgende mittelfristige Alternative (ab 1980) als wünschenswert angesehen:
Projektionsmodell 1980 (Verteilung und Flexibilität von Arbeitszeit und Freier Zeit bei abhängigen Berufstätigen)
6-Wochen-Urlaub, davon: Erholungsurlaub 4 Wochen Ferien, grundsätz-lich zusammenhängend); Dispositionsurlaub (5 Frei-Tage, grundsätzlich aufteilbar und frei verfügbar für Familienangelegenheiten, Erledigungen, Hobbies, Arbeiten im Haushalt, Exkursionen, Kurzreisen u. a.);
Bildungsurlaub: eine Woche pro Jahr, alternativ (oder periodisch wechselnd): zwei Wochen jedes 2. Jahr.
Lebensarbeitszeit Zweckgebundene „Sabbatzeit" (nach dem in Amerika üblichen akademischen Forschungsjahr, „sabbatical" genannt): Alle sieben Jahre eine 12wöchige Freistellung vom Beruf mit fortlaufenden Bezügen für abhängige Berufstätige zwischen 34 und 55 Jahren:
— für gesundheitsfördernde Zwecke (z. B. Langzeit-Kur), — für berufserweiternde Zwecke z. B. spezialisierte Fortbildung, Praktikum/on-the-job-Training in anderen Berufsfeldern), — für gesellschaftlich-soziale Zwecke (z. B. Fach-/Praxisunterricht in allgemein-, berufsbildender oder Sonderschule, Gemeinde-, Krankenhaus-, Entwicklungsdienst), Abgestufte Pensionierungszeit mit eigenverantwortlichen Wahlmöglichkeiten und flexibler Altersgrenze für abhängige Berufstätige zwischen 55 und 63 Jahren Altersgrenze: 60 Jahre — ab 55 Jahre: 4-Tage-Woche — ab 58 Jahre: 3-Tage-Woche alternativ:
Altersgrenze: 63 Jahre — ab 58 Jahre: 4-Tage-Woche — ab 60 Jahre: 2-Tage-Woche.
Im Gegensatz zu dem von Külp/Mueller im Auftrag der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel erstellten Gutachten „Alternative Verwendungsmöglichkeitenwachsender Freizeit", das für 1980 eine Verdoppelung der Erholungsurlaubszeit auf insgesamt 8 Wochen vorschlägt, dagegen die Wochen-arbeitszeit auf 41 Stunden , einfriert', wird in dem hier skizzierten Pro/ektionsmodeil 1980 — ein Produktivitätszuwachs von etwa vier Prozent unterstellt — einer Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 35 Stunden der Vorrang gegeben. Dadurch werden die Voraussetzungen für einen fließenden Lebensrhythmus zwischen Arbeiten, Erholen, Wohnen, Lernen und Vergnügen geschaffen, so daß eine weitere Verschärfung des Gegensatzes von „Berufsarbeit“ und „Urlaubsfreizeit’ (Urlaubsforschung: „Auszug aus dem Alltag’/„Gegenwelt des Alltags'7„Zweites Leben’) verhindert werden kann.
Dieses Modell hat nur dann eine Realisierungschance, wenn die gesetzlichen Bestimmungen entsprechend verändert und künftige tarifvertragliche Vereinbarungen daraufhin abgestimmt werden. Um den gesellschaftlichen und politischen Meinungsbildungs-und Entscheidungsprozeß in der gewünschten Richtung zu beschleunigen, sollte die Bundesregierung — ähnlich wie in Frankreich Ende der sechziger Jahre — die Initiative zur Bildung einer „Kommission für die Neuordnung der Arbeitszeit und die alternative Verteilung der Freien Zeit" ergreifen. 2. Bedingung: Befreiung von räumlichen Zwängen Eine Befreiung von zeitlichen Zwängen setzt eine Befreiung von räumlichen Zwängen voraus und umgekehrt. Die neue Lebensdimension „Freie Zeit“ erfordert eine synchrone Neuordnung von Raum und Zeit. Wohnung und Arbeitsstätte müssen enger zusammenrücken, die gesamte Infrastruktur, insbesondere die Verkehrsanlagen, müssen der Freien Zeit des Menschen dienstbar gemacht werden. Sie müssen ihm helfen, Zeit zu sparen und nicht wie bisher, Zeit zu nehmen. Auch die Einrichtungen für spezielle Freizeitbeschäftigungen dürfen vorhandene Zeit nicht bloß ausfüllen helfen. Nicht Isolation und Ausgliederung aus dem städtischen Alltag, sondern Integration der Freizeiteinrichtungen in das städtische Alltagsleben, dorthin, wo die Menschen ihre meiste Freie Zeit verbringen, also im unmittelbaren Wohnbereich, ist erforderlich. Dabei können die Wochenend-„Freizeit-zentren" kein Ersatz für die lebensnotwendigen Freiräume und Freiflächen in Wohnung, Wohnquartier und Stadtteil sein.
Auch die Freizeitzentren und Freizeitparks von regionaler Bedeutung bedürfen einer neuen, sich an der Lebensdimension „Freie Zeit“ und nicht an den Freizeitaktivitäten orientierenden Konzeption. Sie können keine Aktivi-täten-Kulisse mehr sein, die zu spezialisiertem, jedenfalls nicht frei bestimmbarem Verhalten zwingt, indem man jede Fläche konsequent nur einem vorbestimmten Zweck, d. h.
einer speziellen Beschäftigung zuteilt: „Wanderwege und Naturlehrpfade mit aufmuntern-
den Lehrtafeln, die einen daran erinnern, daß man eine Ausstellung besichtigt, abgeteilte Kinderspielplätze für bestimmte Altersgruppen, . beschauliche'Plätze für alte Menschen, die heute obligaten Schachecken und Mini-golfplätze, geplante Einsamkeit als Auslauf etc. All dies ist zwar wie . zufällig'durcheinandergewürfelt, um Vielfalt vorzutäuschen, aber dennoch durch und durch organisierte Erholung, die gerade nicht das leisten kann, was sie ursprünglich intendierte: Entspannung und Befreiung vom Alltag."
Eine bisher nur auf Produktion und Arbeit eingerichtete Raumplanung, erwachsen aus der mittelalterlichen Verteidigungskonzeption, dem Profitstreben der Gründerzeit, den Wirkungen des Bodenrechts und der Unangemessenheit des Verkehrssystems im 19. Jahrhundert sowie orientiert an Produktivität, Leistungssteigerung, ökonomischer Effizienz, Wirtschaftswachstum und Maximierung des Sozialprodukts muß technisch, strukturell und durch Umwertung der Werte verändert und auf neue Lebensbedürfnisse ausgerichtet werden. Nicht die Schaffung einer „Infrastruktur für eine neue Freizeitwelt“ d. h. einer nur für die Freizeit geplanten eindimensionalen Umwelt, sondern die Planung einer mehrdimensional integrierten Umwelt, die der freiheitlichen Lebensweise, der neuen Lebensdimension „Freie Zeit“, den veränderten Bedingungen der Arbeitswelt, der sich wandelnden Einstellung zur Arbeit selbst und zum Leben allgemein Rechnung trägt, ist das gesellschaftlich und politisch reflektierte Planungsziel. „Frei-Raum“, verstanden als Handlungsspielraum für freie Tätigkeit, muß zur sozialen Grundausstattung jeder Gemeinde gehören. Die Schaffung von Frei-Raum ist eine Forderung der Daseinsvorsorge, die „gleichwertig neben die klassischen Bereiche der Daseinsvorsorge zu treten hat.
Es müssen wieder Städte geplant und gebaut werden, in denen man wohnen, lernen, arbei-ten und sich erholen kann. Ein Musterbeispiel hierfür ist das von Frangois Spoerry in Südfrankreich errichtete Port Grimaud mit zweitausend Wohnungen und Häusern für fast zehntausend Menschen, jedes Haus mit Bootsliegeplatz davor und einem Garten statt Garage dahinter. Die Autos werden vor dem Stadttor abgestellt. Während in der Pyramiden-stadt la Grande Motte, dem Paradeobjekt der staatlich geförderten Ferienwelt Languedoc-Roussillon zwischen Rhone und Spanien an die dreißigtausend Freizeitmenschen für Bewegung sorgen — aber nur in den Ferienmonaten Juli und August, ist das um Rathaus, Kirche und Einkaufszentrum gruppierte Port Grimaud das ganze Jahr über mit Leben gefüllt. Die Menschen, die hier arbeiten, sind seßhaft und nicht nur für eine Saison angestellt. Nach ähnlichen Plänen, jedoch in größeren Dimensionen, soll die für zwanzigtausend Menschen ausgeschriebene Wohnund Arbeitsstadt Senlis am Rande von Paris erbaut werden. Um einen lebendigen Marktplatz als Stadtzentrum gruppiert sind Schulen und Arbeitsplätze, dazwischen Appartementhäuser von höchstens vier Stockwerken sowie Einfamilienhäuser. Die Verkehrsplanung ist so angelegt, daß das städtische Zentrum gleichzeitig ein von Elektrobussen umkreister Fußgängerbereich ist.
Beide Planungsmodelle lassen sich nicht ohne weiteres auf bundesrepublikanische Verhältnisse übertragen, geben jedoch die Richtung an: Die Einheit von Wohnen, Lernen, Arbeiten und Erholen und damit die Wiederherstellung und Erhaltung der sozialen Synchronisierung des Lebens. Dem entspricht bereits das vom Bayerischen Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen geförderte Projekt des Planers Herrmann Grub, der die öden Hinterhöfe des Münchner Stadtteils Schwabing in „Stadtoasen" mit Schwimmbad, Sauna, Grill-, Boccia-und Kinderspielplätzen umwandeln und den vorhandenen Wohn-und Arbeitsbereich mit Kommunikationsflächen und Spielstätten verbinden will. „Schule ohne Mauern“
Auch und gerade im Schulbereich müssen die Voraussetzungen für die Realisierung von mehr Freiheit, größerer Offenheit insgesamt und damit auch für die Humanisierung der Institution , Schule' selbst geschaffen werden. Dies beginnt bei den räumlichen Strukturen der Schule, der Schulplanung und dem Schulbau, in dem von Anfang an die Freiheit mit eingeplant werden muß. Lage, Standort und bauliche Attraktivität der Schule müssen auf das gesellschaftliche Leben einer Stadt-bzw. eines Stadtteils einwirken Die Schule muß mit dem Stadtteilzentrum und dessen kommunalen, kulturellen und Versorgungseinrichtungen verbunden werden. Ebenso müssen die Einrichtungen der Weiterbildung wie die des Sports, aber auch spätere Erweiterungsmöglichkeiten („Freiflächen") vorgesehen werden. Nur dann kann die Schule als gesellschaftliches Bildungs-und Kulturzentrum zu einer Kommunikationsstätte eingeplanter Freiheit werden.
Für sozialpädagogisch-didaktische Prozeßmodelle muß ein optimales Angebot wechselnder Raumgrößen und Raumgruppen erstellt werden. Anstelle der alten Klassenzimmer müssen offene und differenzierende Raumzonen geschaffen werden, die aufgrund ihrer fließenden Raumzusammenhänge eine ständige Kommunikation von Schülern, Lehrern und Sozialpädagogen gewährleisten.
Die neuen Raumstrukturen sollen zu Situationen führen, in denen die Schüler andere Verhaltensweisen entwickeln können. Das bisherige Flursystem ist nicht für einen längeren Aufenthalt von Schülern gedacht und geeignet. Heute werden freie Flächen zur individuellen Beschäftigung für den Pausenaufenthalt und für die unterrichtsfreie Zeit benötigt. Hierzu gehören auch Freiräume für ungeplante und spontane Aktivitäten wie z. B. Schüler-und Lehrerclubs. Wird eine derartige raum-funktionale Ordnung bei der Planung von Schulzentren zugrundegelegt, so können die schulinternen Strukturelemente erste Voraussetzungen schaffen, um gleichzeitig Funktionsträger des übergeordneten Gesellschafts-und Bildungssystems zu werden, insbesondere dann, wenn öffentliche Einrichtungen der Erwachsenenbildung, wenn Informationssysteme, Standortbedingungen und Lebensgewohnheiten integriert werden und ein so beschaffenes Bildungszentrum allen Bürgern für die kontinuierliche Lebensaufgabe der Mitwirkung an der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung zur Verfügung steht.
Gegenwärtig besteht die schulische Vorbereitung auf die Freie Zeit im wesentlichen darin, daß man dem Schüler die Freie Zeit nimmt und Arbeitszeit daraus macht: „Am Ende ent-spricht weder die Freizeit noch die Arbeit der der Erwachsenen. Weniger Schule — und das Kind hätte vermutlich von beidem mehr.'Ist die Forderung Hartmut von Hentigs unvorstellbar, — „daß wir die Schulen, statt sie in Gebäude zu sperren, die in jeder Hinsicht anders sind als die Gebäude, in denen man lebt, arbeitet, einkauft, Kaffee trinkt, tanzt und Filme sieht oder Ausstellungen (so daß man immer schon von weitem weiß: dies ist eine Schule!), — daß wir unsere Schulen in der Stadt aufgehen lassen, in normalen Wohn-und Geschäfts-und Versammlungsgebäuden, konturlos unter die anderen gemischt mit viel Aus-und Eingängen . ..
— so daß die Kinder sich schnell vor der Schule nach Hause retten können und schnell vor ihrem Zuhause in die Schule?
Die Lehrer und andere, die Kinder gern haben, könnten mitten im Bereich der Schul-Tätigkeit wohnen."
So gering derzeit die Chancen zur Verwirklichung dieser beinahe noch utopisch anmutenden Schule auch sein mögen, dieses Gedankenmodell zeigt zumindest die Grundlinie für eine offene Schule auf, in der wesentliche Grundlagen für die Realisierung von Freiheit als einem lebensorientierendem Prinzip geschaffen werden können. Die moderne Schule bedarf der Integration von Innerschulischem und Außerschulischem, der Einbeziehung des gesamten sozialen und kulturellen Umfelds. Der augenfällige Ghetto-Charakter der traditionellen Schule muß räumlich aufgelöst und Lernen auf verschiedene Lernorte verlagert werden. Die Diskussion um die „Entschulung der Schule" hat gezeigt, daß die Schule langfristig nur verändert werden kann, wenn ihre Veränderen nicht vor der Schwelle des Schulhauses stehen bleiben. Einen ersten Ansatz hierzu liefert die stadtteilbezogene Käthe-Kollwitz-Schule in einem Wiesbadener Arbeiterviertel, in der die Schüler für das politische und soziale Umfeld der Schule und für offenes situationsorientiertes Lernen sensibilisiert werden. In der Fachliteratur werden neuerdings Community Schools und „Schulen ohne Mauern" diskutiert Dahinter steht die Bemühung, der Schule ihre gesellschaftliche Isolierung zu nehmen, und die Forderung: die Schule muß selbst unter die Menschen gehen.
Das etablierte Gerede von der künftigen „Freizeitgesellschaft“ dient der gegenwärtigen Leistungsgesellschaft als Alibi 'für die Überbewertung der Arbeit. Die Ideologie der „Freizeitgesellschaft“ muß durch die Idee der Gesellschaft freier Bürger ersetzt werden.
Entsprechend der freiheitlichen Zielprojektion muß die gesamte dem Menschen zur Verfügung stehende Handlungszeit, insbesondere die Arbeitsund Unterrichtszeit, zu einer Zeit der freien Tätigkeit werden, so daß „Freizeit" kein abgrenzbarer, „eigenständiger Lebensbereich" (W. Nahrstedt) sein kann Die Umwandlung der bisher weitgehend fremdbe-stimmten, abhängigen und festgelegten Arbeits- und Unterrichtszeit in eine durch freie Wahlmöglichkeiten und Eigenentscheidung gekennzeichnete Handlungszeit muß auf der politischen Ebene entschieden und durchgesetzt werden. Mit der Umwertung der Werte geht zugleich die Umverteilung von Macht einher; den entstehenden Interessen-und Machtkonflikten darf nicht aus dem Wege gegangen werden. Für die Zukunft stellen sich zwei wesentliche Alternativen:
Alternative 1: Fortschreibung des Status quo in Richtung auf eine nachindustrielle „Freizeitgesellschaft", in der der „Freizeiter" den Eindruck einer „imperialen Figur" (W. Nahrstedt) erweckt — auf Kosten der Humanisierung aller Lebensbereiche. Die Zweiteilung des Lebens in „Arbeit" und „Freizeit“ bleibt — wenn auch unterschiedlich gewichtet — erhalten. Ein neu entstehendes „Freizeitethos" wird auf subtile Weise ökonomisch begründete Abhängigkeiten und Machtstrukturen einerseits und bestehende Ungleichheiten und inhumane Gesellschaftsstrukturen andererseits verdrängen helfen und vergessen machen. *
Alternative 2: Qualitative Entwicklung in Richtung auf eine humane, sozial gerechte und für Veränderungen offene demokratische Gesellschaft freier Bürger, in der „Freie Zeit" zur dominanten Zeitdimension in allen Lebensbereichen wird und Familienleben, schulisches Lernen, Berufsausbildung und Arbeitstätigkeit durch das gleiche Ziel der Freiheit als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft zusammengehalten werden. Die Realisierung dieses ganzheitlichen Menschen- und Weltbildes muß als ein individuell-gesellschaftlicher Prozeß der Befreiung — von strukturellen Zwängen, — vom Existenzminimum, — vom Milieu als lebenslangem sozialem Schicksal, — von der sozialen Determination der Geschlechtskontrolle,
— von der Totalität der Berufsrolle
und als ein pädagogisch-politisches Ziel der Befreiung — für Selbstbestimmung (Verwirklichung des Prinzips „Freiheit"), — für Mitbestimmung (Verwirklichung des Prinzips „Fortschritt"), — für soziale Verantwortung (Verwirklichung des Prinzips „Solidarität“), — für Chancengleichheit (Verwirklichung des Prinzips „Gerechtigkeit"),
• — für Lebensqualität (Verwirklichung des Prinzips „Humanität“) gesehen werden. Diese mit einer neuen Sinngebung des Lebens verbundenen Ziele können nicht für einen Lebensbereich reserviert (wie z. B. bisher für die „Freizeit“) oder für einen anderen ausgeklammert (wie z. B. bisher für die „Arbeit") werden. Die Verwirklichung dieser Ziele ist nicht allein eine pädagogische, sondern vor allem auch eine politische Aufgabe. „Solange die Gesellschaft als Ganze nicht der Kontrolle der mündigen Menschen unterworfen ist, wird die Freiheit eines ihrer Teilbereiche (wie der Freizeit) nur eine partikulare sein können. An dieser Stelle verzahnt sich übrigens die didaktische Problematik der politischen Bildung mit der der Preizeiterziehung: Eine mündige, aufgeklärte menschliche Existenz ist auch nur als Ganze möglich, nicht als partikulare (z. B. nicht nur in der Freizeit).“ Dies sei wiederum verdeutlicht am Beispiel der Organisation der Arbeit im Betrieb und der Organisation des Unterrichts in der Schule.
Auf dem Wege zur Humanisierung und Demokratisierung aller Lebensbereiche stellt die freiheitliche Gestaltung und Organisation des Arbeitslebens einen Meilenstein dar. Dabei kann sich die Humanisierung der Arbeitswelt nicht in „human-relations" -Versuchen erschöpfen. Ästhetische Formgebung der Maschinen, die die reine . Mechanik" verkleiden, Musik in den Großraumbüros („music while you work"), Blumenkästen oder Wintergärten, Hobbywerkstätten und spezielle Freizeit-einrichtungen sind repräsentative Äußerlichkeiten, die unzulängliche Arbeitsbedingungen nicht verbessern, sondern vergessen machen sollen. Zu den wirklichen Verbesserungen gehören Fragen — der Beteiligung der Arbeitnehmer am Gewinn des Unternehmens, — der Vergabe von Aufträgen, — der Gestaltung des Produktionsprogramms und — der Personalpolitik.
Ohne eine gerechtere Verteilung des Gewinns an der gesellschaftlichen Arbeit, eine Aufhebung entfremdeter Arbeitssituationen und ohne echte Mitbestimmung im gesamten Arbeitsbereich bleibt die Forderung nach frei verfügund selbstbestimmbarer Handlungszeit eine Leerformel. Erst vermehrte Freiheiten in der Wahl — der Arbeitstätigkeit, verbunden mit der Dezentralisation der Macht und dem Abbau verfestigter Autoritätsstrukturen, — des Arbeitstempos und der Arbeitsintensität,
— des Arbeitsumfangs und der Gestaltung der Arbeitsbedingungen in den Betrieben und Büros können die „häßliche" Arbeit humaner und das Leben lebenswerter machen. Erst dann ist die Arbeit nicht mehr „sinnlos" und die Menschen brauchen auch nicht mehr nach „sinnvoller" Freizeit Ausschau zu halten. Wenn auch hochindustrialisierte Gesellschaften nie ganz auf monotone und sinnlos wirkende Arbeitstätigkeiten verzichten können, so sollten doch die Überwindung instrumentaler Arbeitshaltungen und die Einführung ganzheitlicher Arbeitsfunktionen als vordringliche Zukunftsaufgabe erkannt und angestrebt werden.
Wenn sich unsere Gesellschaft zu einer stärker sozialen und freiheitlichen Form entwik-keln soll, dann muß sich auch die Organisation der Schule von Grund auf verändern. Sie muß so strukturiert werden daß sie ein Maximum — an Selbstbestimmung, — an freiwilliger Entfaltung der Leistungsfähigkeit und — an innerer Demokratie zuläßt. Mit der Propagierung von Chancen-gleichheit und Individualisierung im Unterricht allein ist es nicht getan. Individualisierung bedeutet noch lange keine Selbstbestimmung. Individualisierung ist es auch, wenn die Kinder Niveaukursen zugewiesen werden oder wenn leistungsfähigere Schüler mit Zusatzstoffen beschäftigt werden. In diesen Fällen können die Schüler weder nach Interesse noch nach Leistung eigene Entscheidungen treffen und dementsprechend eigene Verantwortung übernehmen.
Es müssen daher der obligatorische Unterrichtsbereich erheblich eingeschränkt und der Leistungsbereich so konstruiert werden, daß die Schüler ihre Leistungen da erbringen können, wo ihre Interessen liegen. Außerdem müssen Frei-Räume für Schülerinitiativen eingeplant sein. Hier können sozial-kommunikative Aktivitäten initiiert und Formen selbst-bestimmten Lernens, wie spontanes Spielverhalten, kreatives Gestalten und selbstbestimmte Projekte, realisiert werden. Dieser Frei-Zeit-Bereich kann zu einem Aktionsfeld „strategischen Lernens" werden, in dem der Abbau der Fremdbestimmung im Unterricht vorbereitet wird.
Im Zusammenwirken von Pädagogik, Planung und Politik müssen freiheitliche Lebensbedingungen geschaffen werden, in denen der Mensch seine heutige „Arbeitsidentität“ durch lebenslanges Lernen zu einer wirksamen sozial-kulturellen Identität ausweiten kann.
Die vom Verfasser 1971 aufgestellte Forderung — . Freizeitpädagogik sollte mit dazu bei-tragen, Freizeit in individuell disponible freie Zeit umzuwandeln" — hat auch heute noch Gültigkeit, wenn es der Pädagogik im Zusammenwirken mit Planung und Politik gelingt, inhumane und undemokratische Gesellschaftsstrukturen, insbesondere im Arbeitsbereich und im Erziehungsund Bildungswesen abzubauen für eine und die Voraussetzungen freiheitliche Lebensentwicklung und für den kritisch-selbstverantwortlichen Umgang mit Wahlfreiheit (Schulstufenwahl, Lehrerwahl, Berufswahl, Konsumwahl, Massenmedien-wahl, Partnerwahl u. a.) zu Die Befähigung zur Wahl-, Entscheidungsund Handlungsfreiheit in allen Lebensbereichen ist durch . lebenslanges Lernen" möglich, wenn Veränderungsprozes sie mit entsprechenden -sen in der Gesellschaft d. h. Gesellschaftsstrukturen vorhanden sind, in denen die Werte — Freiheit und Solidarität, — Individualisierung und Sozialisierung, — persönliche Weiterentwicklung und soziale Aktion, — Distanz und Engagement gelebt und realisiert werden können.
Dabei wird der einzelne lernen müssen, mit seinen jeweiligen Grenzen und mit denen der Gesellschaft zu leben. In seiner Freien Zeit muß er lernen, „seine besten Möglichkeiten im Kontakt mit seiner Umgebung zu entdek-ken. Die Entfaltung dieser eigenen Identität wird zu einer permanenten Aufgabe für jeden, ganz gleich, wie alt er ist. Die Erwachsenenbildung muß dem Menschen Gelegenheit geben, sein Dasein zu gestalten, so lange er lebt und noch etwas ändern kann.“
Der Prozeß lebenslangen Lernens ist nur auf dem Wege über seine Institutionalisierung, also durch die Einführung des gesetzlichen . Bildungsurlaubs' langfristig gewährleistet, da Bildungsfähigkeit und Bildungswille nicht bei allen Bürgern in gleicher Weise vorausgesetzt werden können. „Bildung" kann dabei nur als Ganzes gesehen werden, dessen integrierte Bestandteile persönliche, berufliche, staatsbürgerliche, politische und kulturelle Bildung sind. „Urlaub" ist als ein zeitlicher Prozeß des Sich-Befreiens und Frei-Werdens zu verstehen. Anspruch auf „Bildung" und „Urlaub" in diesem Sinne haben nicht nur Arbeitnehmer, sondern alle Bürger einschließlich der Hausfrau, des Frühinvaliden und des Rentners.
In der heutigen Diskussion um die Inhalte der Weiterbildung wird eine Synthese von beruflichem Fachwissen und gesellschaftspoliti -schem Orientierungswissen allgemein anerkannt — unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß der Bildungsurlaub-Nehmer erwerbstätig ist. Weiterbildung und damit auch Bildungsurlaub werden als ein „die ganze Berufszeit begleitender Qualifizierungsprozeß" verstanden. Insbesondere durch Bildungsurlaub sollen der berufliche Abstieg vermieden und die Fähigkeit zur beruflichen Mobilität gesteigert werden. Das polare Lebensmodell Arbeit/Freizeit hat im bildungspolitischen Bereich damit einen seiner stärksten Befürworter gefunden.
Da das kürzlich im Auftrag der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel erstellte Planungsgutachten „Alternative Verwendungsmöglichkeiten wachsender Freizeit" von Külp/Mueller von der naiven Formel „Arbeitszeitverkürzung (= Freizeitverlängerung)“ und von der ebenso vorbehaltlos akzeptierten „Zweiteilung Arbeitszeit — Freizeit“ ausgeht, wird auch der Bildungsurlaub ausschließlich als „Freistellung von der Arbeit" gesehen. Angesichts dieses verengten Blickwinkels überrascht es nicht weiter, wenn dem Bildungsurlaub — im Hinblick auf alternative Verwendungsmöglichkeiten für Arbeitszeitverkürzung — eine vorrangige Stellung eingeräumt wird: Der Bildungsurlaub soll die „Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer" erhalten und ihre „Berufschancen" verbessern. Nur ein radikales Umdenken, das die „Aufteilung des Zeithaushaltes in Arbeitszeit und Freizeit" nicht schicksalhaft als „von den Präferenzen der Individuen dominiert“ definiert, sondern selbst wünschbare Ziele setzt und . social creativity'zum Durchbruch verhilft, wird langfristig eine Verbesserung der Lebensbedingungen erreichen können.
über den Bildungsurlaub als Bürgerrecht hinaus haben die nicht oder noch nicht — zur freien Selbstregulierung (z. B. Kinder), * — zu kommunikativem und kooperativem Handeln (z. B. Jugendliche), — zur Selbstorganisation ihrer Interessen (z. B. ältere Menschen, ausländische Arbeitnehmer), — zur Durchsetzung spezifischen Bedürfnisse (z. B. Behinderte, Frühinvaliden)
befähigten Bürger einen besonderen Anspruch auf ein gruppenspezifische und situationsgerechte Beratung und Betreuung. Diese soziale Dienstleistung darf nicht als eine nur auf die „Freizeit" bezogene Lebenshilfe verstanden werden. Sie ist keine Spezialberatung für die „Freizeit“, sondern eine Beratung, die sich in Freier Zeit vollzieht und durch Freie Zeit erst möglich wird.
Lernen in Freiheit durch Freiheit wird derzeit ökonomisch und sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen weitgehend noch verwehrt. Hier stoßen alle pädagogischen Bemühungen und Bildungsabsichten auf ihre zunächst vorgegebenen Grenzen, wenn sie nicht gleichzeitig auch ökonomische Probleme, Institutionenkritik und Sozialstaatsproblematik mitreflektieren und Planung und Politik zu ihren Verbündeten machen.
Die scheinbare Paradoxie des Begriffs „FreiZeit-Planung“ darf nicht darüber hinwegtäuschen,
— daß in hochindustrialisierten Gesellschaften die Erhaltung von Freier Zeit nur durch vorausschauende und vorsorgende Planung gewährleistet und — die Sicherung von Freiflächen und Freiräumen lebensnotwendig ist.
Eine die soziale Ungleichheit in der Verteilung der Lebenschancen ausgleichende Infrastruktur setzt allerdings eine Freiheitspotentiale erst ermöglichende und erhaltende „Frei-Zeit-Politik" voraus, die, „wie auch Jugend-, Familien-, Gesundheits-, Sozial-oder Bildungspolitik, Bestandteil der Gesamtpolitik, Teil einer umfassenden Daseinsvorsorge für den Bürger ist" Auch in der zur Zeit entwickelten freizeitpolitischen Konzeption der Bundesregierung wird Freizeit im Sinne von „Freier Zeit" und nicht isoliert von ande-ren Lebensbereichen verstanden. Eine die Freie Zeit im individuellen und gesellschaftlichen Bereich erhaltende und fördernde Politik muß daher von vornherein „integriert“ und „ressortübergreifend" angelegt sein, um gegen ideologische Verdächtigungen, insbesondere im Hinblick auf die Kraft-durch-Freude. Politik der NS-Zeit, gewappnet zu sein. Die KdF-Politik konzentrierte sich seinerzeit ausschließlich auf den „arbeitenden Menschen" und die Erhaltung und Stärkung seiner Arbeitskraft. Freizeit und Freude dienten — ganz im-Sinne des polaren Lebensmodells — der Legitimierung von Arbeit und Kraft. Eine moderne, den Dualismus von Arbeit und Freizeit überwindende Frei-Zeit-Politik muß daher die Voraussetzungen für die Eigenentscheidung und freien Wahlmöglichkeiten aller Bürger schaffen und Nichtstun und individuellen Genuß ebenso fördern wie die Sicherung der Gesundheit: „Die freie Entscheidung des einzelnen, wieviel seiner freien Zeit er in welcher Weise verwenden will, darf nicht eingeengt werden. Freizeitpolitische Bemühungen dienen dem Abbau jener Schranken, die einer selbstbestimmten, unter Alternativen frei wählbaren Nutzung der freien Zeit entgegenstehen Humanisierung der Arbeitswelt und Erhaltung der Arbeitskraft können dabei nur Teilaspekte einer umfassenden, planenden Vorsorge für die Schaffung humaner, sozial gerechter und demokratischer Lebensbedingungen für alle Bürger sein.
Die Humanisierung der Gesellschaft im Gefolge der sich allmählich vollziehenden Umwertung der Werte „Arbeit" und „Freizeit“ erzwingt einen neuen Fortschrittsglauben und damit auch einen neuen Lebenssinn. Das faszinierte Starren auf die durch Arbeit und Fleiß hervorgebrachten Wachstumsraten hat uns für nicht-ökonomische Wertvorstellungen blind gemacht. Wir müssen jetzt genug Phantasie und vor allem Mut aufbringen, um die weitere gesellschaftliche Entwicklung qualitativ zu steuern. Die ausschließliche Konzentration auf Wachstumssteigerung und die Einführung technischer Neuerungen sind abzulehnen, wenn schwerwiegende sozial und ökologisch nachteilige Folgen zu erwarten sind. Wir brauchen eine Gesellschaft freier Bürger, in der Freie Zeit zur neuen Lebensdimension und zu einem verfassungsmäßig garantierten Bürger-recht wird. Nur dann ist die individuelle und soziale Selbstverwirklichung in allen Lebensbereichen potentiell gewährleistet.
Horst W. Opaschowski, Dr. phil., geb. am 3. 1. 1941 in Beuthen/OS; Wiss. Assistent für Erziehungswissenschaft an der Gesamthochschule Siegen; Mitglied des Beraterkreises Freizeitpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Freizeit; 1973 in die Projektgruppe zur Erarbeitung einer freizeitpolitischen Konzeption der Bundesregierung berufen. Veröffentlichungen u. a.: Jugendauslandsreisen. Geschichtliche, soziale und pädagogische Aspekte, 1970; Jugendkundliche Gegenwartsprobleme, 1971 (Hrsg.); Der Jugendkult in der Bundesrepublik, 1971 (in niederländ. übers., Amsterdam 1973); Freizeitpädagogik in der Leistungsgesellschaft, 19732 (Hrsg.); Im Brennpunkt: Der Freizeitberater, 1973; Pädagogik der Freizeit. Grundlegung für Wissenschaft und Praxis (im Druck); Soziale und pädagogische Freizeitberufe. Berufsbild — Ausbildung — Tätigkeitsfelder (im Druck).