Probleme wissenschaftlicher Beratung der Politik Gezeigt am Beispiel des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung | APuZ 43/1975 | bpb.de
Probleme wissenschaftlicher Beratung der Politik Gezeigt am Beispiel des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
Karl-Heinz Dignas
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Zusammenfassung
In einer immer komplexer werdenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwelt sehen sich die Politiker steigenden Ansprüchen der Gesellschaft gegenüber, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse im Sinne bestimmter Zielsetzungen zu steuern. Um dieser Aufgabe mit mehr Rationalität nachkommen zu können, suchen die Politiker — in den letzten Jahrzehnten verstärkt — Entscheidungshilfen bei einer gesellschaftlichen Institution, die geradezu als Inkarnation der Rationalität gilt, der Wissenschaft. Am Beispiel des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wird hier gezeigt, welche Probleme eine solche Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik aufwirft. Nach einer ausführlichen Darstellung des Gesetzesauftrages an den Sachverständigenrat werden zunächst die Fragen behandelt, die im Zusammenhang mit den im Gesetz genannten wirtschaftspolitischen Zielen beantwortet werden müssen. Es handelt sich um die Interpretation, die Rangfolge, die Kompatibilität (Vereinbarkeit) der Ziele und die Beziehungen der ausdrücklich genannten zu anderen wirtschafts-und gesellschaftspolitisch wichtigen Zielen. Im Anschluß daran wird die Frage untersucht, ob und in welcher Weise die Wissenschaft in der Lage ist, die von der Politik gewünschten Prognosen und Strategiehilfen zu liefern. Die Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Aufgabe zeigen sich anhand der Prognosen des Sachverständigenrates. Auch wenn es sich erweist, daß die Wissenschaft Handlungsmöglichkeiten aufzeigen kann, so wäre es doch ein Irrtum zu meinen, daß sie dem Politiker die Entscheidung für das politische Handeln abnehmen könnte. Erwartungen, die davon ausgehen, daß wissenschaftliche Beratung eine hinreichende Bedingung für erfolgreiche Politik darstellt, müssen enttäuscht werden. Die Politik wird nur dadurch rationaler, daß die Theorien der Wissenschaft und die Maßnahmen der Politik immer wieder der kritischen Prüfung unterzogen werden. Die gegenseitige Kritik von Wissenschaft und Politik kann dabei eine wichtige Funktion ausüben.
I. Wissenschaft und Politik
Wer die wirtschaftspolitische Szene in modernen Industriegesellschaften überblickt, wird nicht übersehen können, daß Wissenschaft und Politik eng miteinander verflochten sind. Viele Politiker haben eine wissenschaftliche Ausbildung; einige Politiker waren, bevor sie „in die Politik gingen", in der Wissenschaft tätig. Wissenschaftlich ausgebildete Experten geben in Regierung, Verwaltung, Parlamenten, Parteien und Verbänden den Politikern Hilfestellung für ihre Entscheidungen. All dies wird aber normalerweise nicht als wissenschaftliche Beratung der Politik angesehen.
Abbildung 4
Prognose
Prognose
Unter „wissenschaftlicher Beratung der Politik" versteht man im allgemeinen die Beratungsleistungen solcher Personen, die sozusagen im Hauptberuf Wissenschaftler sind, d. h. an Hochschulen, Universitäten und Forschungsinstituten forschen und lehren. Diese Beratungsleistungen können unterschiedliche Formen annnehmen: So fallen von Politikern bei Wissenschaftlern bestellte Einzelgutachten unter den Begriff wissenschaftliche Beratung der Politik ebenso wie die Gutachten der wissenschaftlichen Beiräte der Bundesministerien und die jährlichen Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Abbildung 5
Daten zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung für das Jahr 1974 Veränderung gegenüber 1973 in v. H.
Daten zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung für das Jahr 1974 Veränderung gegenüber 1973 in v. H.
Die Existenz einer wissenschaftlichen Beratung der Politik im eben dargelegten Sinne ist also nicht abzuleugnen. Ist sie aber notwendig? Oder anders ausgedrückt: Könnte die heutige Politik ohne wissenschaftliche Beratung auskommen? Diese Frage wird heute mit folgender Begründung verneint: Die sozialen Gebilde werden immer komplexer und damit komplizierter zu steuern, die Organisierungsbedürftigkeit wirtschaftlicher und sozialer Prozesse nimmt immer mehr zu, so daß der gesunde Menschenverstand, die Intuition, das Fingerspitzengefühl des Politikers nicht mehr für eine erfolgreiche Politik ausreichen.
Abbildung 6
Annahmen des SVR über Lohnpolitik, Fiskalpolitik, Geldpolitik und außenwirtschaftliche Entwicklung Lohnpolitik Fiskalpolitik Geldpolitik außenwirtschaftliche Entwicklung
Annahmen des SVR über Lohnpolitik, Fiskalpolitik, Geldpolitik und außenwirtschaftliche Entwicklung Lohnpolitik Fiskalpolitik Geldpolitik außenwirtschaftliche Entwicklung
Aber wenn man auch der Hypothese zustimmen kann, daß die sozialen Gebilde immer komplexer werden, so führt dies noch nicht automatisch zu (mehr) wissenschaftlicher Beratung der Politik. Hinzukommen muß einmal der poliische Wille, diese komplexer werdenden gesellschaftlichen Prozesse in Richtung auf bestimmte Zielsetzungen steuern zu wollen, und zum zweiten die Meinung, daß man diese politischen Zielsetzungen besser mit Hilfe wissenschaftlicher Beratung erreichen kann.
Zum ersten wäre zu sagen, daß es heute wohl kaum noch jemanden gibt, der den „Nachtwächterstaat“ liberalen Andenkens zurückfordert und der meint, daß die Gesellschaft — sich selbst überlassen — ohne jede politische Steuerung zu einem Optimum hintendiert. Man kann vielmehr sagen, daß die Ansprüche an die staatlichen Steuerungsinstanzen weiter zunehmen und noch kein Ende dieser Tendenz abzusehen ist.
Andererseits ist heute die Meinung, daß die politischen Zielsetzungen besser mit Hilfe wis-senschaftlicher Beratung erreicht werden können, daß m. a, W. die Politik durch die Wissenschaft rationaler gestaltet werden kann, allgemein verbreitet und wird selten angezweifelt. Wenn aber — vermeintlich oder tatsächlich — wissenschaftliche Beratung die Politik rationaler und erfolgreicher machen kann, so liegt es auf der Hand, daß die Politiker eine große Nachfrage nach wissenschaftlicher Beratung entfalten. Denn mit dem Erfolg der Politik ist auch der persönliche Erfolg des einzelnen Politikers verbunden, der sich darin ausdrückt, daß er an der Macht bleiben bzw. an die Macht kommen kann.
Auf Seiten der Wissenschaft ist man andererseits nicht abgeneigt, dieser Nachfrage nach Beratung entgegenzukommen. Wissenschaftliche Beratung der Politik bedeutet u. a. die Chance der Überprüfung von Theorien an der Realität, bedeutet aber auch — was man nicht übersehen sollte — mehr Einfluß, mehr Macht, mehr Einkommen für den Wissenschaftler. Politiker und haben Wissenschaftler also ein großes Interesse an einer wissenschaftlichen Beratung der Politik, weil beide von einer rationalen — im Sinne von erfolgreicher — Politik profitieren können.
Im folgenden soll nun anhand des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) gezeigt werden, wie eine solche wissenschaftliche Beratung der Politik aussehen kann, mit welchen Problemen sie verbunden ist und ob man sagen kann, daß durch wissenschaftliche Beratung die Wirtschaftspolitik tatsächlich rationaler gestaltet werden kann.
II. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
Der SVR ist gemäß dem „Gesetz über die Bildung eines Sachverstähdigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" vom 14. August 1963 ins Leben gerufen worden. Er besteht „aus fünf Mitgliedern, die über besondere wirtschaftswissenschaftliche Kenntnisse und volkswirtschaftliche Erfahrungen verfügen müssen" Seine Mitglieder „dürfen weder der Regierung oder einer gesetzgebenden Körperschaft des Bundes oder eines Landes noch dem öffentlichen Dienst des Bundes, eines Landes oder einer sonstigen juristischen Person des öffentlichen Rechts, es sei denn als Hochschullehrer oder als Mitarbeiter eines wirtschafts-oder sozialwissenschaftlichen Instituts, angehören. Sie dürfen ferner nicht Repräsentant eines Wirtschaftsverbandes oder einer Organisation der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer sein oder zu diesen in einem ständigen Dienst-oder Geschäftsbesorgungsverhältnis stehen. Sie dürfen auch nicht während des letzten Jahres vor der Berufung zum Mitglied des Sachverständigenrates eine derartige Stellung innegehabt haben."
Er „erstattet jährlich ein Gutachten (Jahresgutachten) und leitet es der Bundesregierung bis zum 15. November zu. Das Jahresgutachten wird den gesetzgebenden Körperschaften von der Bundesregierung unverzüglich vorgelegt und zum gleichen Zeitpunkt vom Sachverständigenrat veröffentlicht."
Wenn die einleitenden Ausführungen über die „Notwendigkeit“ wissenschaftlicher Beratung richtig sein wollen, so muß auch im Mittelpunkt des gesetzlichen Auftrags an den SVR die Aufforderung stehen, zur Konzipierung einer rationalen Politik Hilfestellung zu leisten. Es müssen also bestimmte wirtschaftspolitische Ziele genannt werden, zu deren Erreichung die 'Sachverständigen Entscheidungshilfen vorzulegen haben. Diese Aufforderung lautet: der Staat soll „untersuchen, wie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außen-wirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum gewährleistet werden können. In die Untersuchung sollen auch die Bildung und die Verteilung von Einkommen und Vermögen einbezogen werden."
Darüber hinaus soll der Rat „in seinen Gutachten die jeweilige gesamtwirtschaftliche Lage und deren absehbare Entwicklung darstellen"
Der Gesetzgeber skizziert des weiteren gewissermaßen selbst schon eine rudimentäre Theorie zur Erklärung der Gefährdung der Ziele, wenn er den SVR auffordert, „die Ursachen von aktuellen und möglichen Spannungen zwischen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und dem gesamtwirtschaftlichen Angebot auf(zu) zeigen, welche die ... Ziele gefährden" Spezifiziert wird dann der Auttrag noch dadurch, daß „bei der Untersuchung ... jeweils verschiedene Annahmen zugrunde gelegt und deren unterschiedliche Wirkungen dargestellt und beurteilt werden (sollen)"
Weiterhin macht der Gesetzgeber ganz deutlich, daß nach seiner Vorstellung die Sachverständigen zwar „beraten", Entscheidungs„hilfen" geben sollen, aber nicht die Entscheidung der zuständigen Politiker vor-wegnehmen sollen: „Der Sachverständigenrat soll Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder deren Beseitigung aufzeigen, jedoch keine Empfehlungen für bestimmte wirtschaftsund sozialpolitische Maßnahmen aussprechen."
In bezug auf die wirtschaftspolitischen Ziele, die das Gesetz nennt, müssen an den SVR folgende Fragen gestellt werden: 1. Werden die Ziele des Gesetzes vom SVR als klar und präzise genug angesehen? 2. Welchen Rang bestimmt der SVR für die einzelnen Ziele? 3. Hält der SVR die Ziele für miteinander vereinbar?
4. Beschränkt sich der SVR auf die genannten Ziele oder sieht er Beziehungen zu anderen, nichtgenannten Zielen?
III. Die Interpretation der Ziele
Das Problem, das hinter dieser Frage steht, ist folgendes: Wie kann man wissen, ob die Ziele erreicht bzw. nicht erreicht sind, wenn man die Ziele nicht präzisiert und operationalisiert hat? Oder am Beispiel des Zieles Geldwertstabilität gezeigt: Haben wir noch Preisstabilität, wenn die Veränderungsrate des allgemeinen Preisniveaus, gemessen an irgendeinem Preisindex für die Lebenshaltung, gegenüber dem Vorjahr 3, 4 oder 5 Prozent beträgt?
Eine Antwort auf diese Frage für alle Ziele hat der SVR bis zu seinem Jahresgutachten 1967/68 nicht gegeben. Erst in diesem Gutachten widmet er ein Kapitel „Ziele und Zielkonflikte — auf mittlerer Sicht" diesem Problem. Aber auch da wehrt sich der SVR gegen die Forderung nach Interpretation, wenn er schreibt: „Wenn wir im folgenden die verschiedenen Gesichtspunkte erörtern, die für eine genauere Abgrenzung der Ziele wichtig erscheinen, so wollen wir uns keine Interpretation dieser Ziele anmaßen. Uns geht es vielmehr um die Frage, in welchem Maße es möglich ist, die Ziele gleichzeitig zu erreichen, und wie man diesen Möglichkeitsbe-reich gegebenenfalls erweitern kann“ (JG 1967/68, Ziffer 247).
An diese ausdrücklich formulierte Abstinenz in der Interpretation der Ziele hat sich der SVR allerdings logischerweise nicht halten können.
So heißt es für das Ziel Preisniveaustabilität im Gutachten 1964/65: „Gelänge es, diesen Preisindex (Preisindex für die Lebenshaltung) auch nur annähernd konstant zu halten, könnte das ... Ziel der Stabilität des Preisniveaus als erreicht angesehen werden" (Ziffer 149). Fünf Jahre später, im Gutachten 1969/70, ist eine Modifizierung festzustellen: „Annähernde Konstanz des Preisindex für die Le• benshaltung wäre unserer Meinung nach schon erreicht, wenn dieser Index nicht mehr als 1 Prozent je Jahr steigt" (Ziffer 158).
Der Adressat der Gutachten wird also, wenn er lange genug sucht, mehr oder weniger präzise Interpretationen der Ziele Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und stetiges und angemessenes Wachstum finden. Er wird aber vergeblich nach einer expliziten Definition dessen suchen, was „im Rahmen marktwirtschaftlichen Ordnung“ bedeutet. der
IV. Die Rangfolge der Ziele
Die nächste Frage lautet, wie der SVR die Formulierung des Gesetzgebers, der SVR solle „untersuchen, wie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum gewährleistet werden können", auf die Rangfolge der Ziele hin ausgelegt hat. Denn diese Formulierung macht keine Aussage über die Rangfolge. Deshalb ist es etwas überraschend und wird von Kritikern als „logisch kühne Volte" bezeichnet, daß der Rat diese Frage schon im ersten Jahresgutachten 1964/65 wie folgt beantwortet: „Da das Gesetz vorsieht, daß die Ziele gleichzeitig erreicht werden sollen, sind sie für den Sach-verstunuryemat—yrumusatznIyermyry (Vorwort Ziffer 3). Das Wort „grundsätzlich“ muß hier aber besonders beachtet werden, denn es heißt im folgenden Satz: „Daraus folgt, daß der Sachverständigenrat immer jenen die größte Aufmerksamkeit widmen muß, die in der jeweiligen gesamtwirtschaftlichen Lage und deren absehbarer Entwicklung am wenigsten verwirklicht sind.“ Damit besteht grundsätzlich zwar eine Gleichrangigkeit, faktisch aber eine gefährdungsbestimmte Rangfolge der Ziele.
Dann stellt sich aber das Problem, ob eine solche Auslegung des Gesetzesauftrages z. B. für folgende Situationen sinnvoll ist: Es herrsche ein außenwirtschaftliches Ungleichgewicht, während die anderen Ziele realisiert sind. Sollen in einer solchen Situation Maßnahmen getroffen werden, die das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht beseitigen, aber möglicherweise andere Ziele wie die Vollbe-. schäftigung gefährden? Das normative Postulat der von den Sachverständigen aufgestellten Gleichrangigkeit der Ziele käme in diesem Falle sicherlich in Konflikt zu den faktischen politischen Interessen in unserer Gesellschaft. Dieses fiktive Beispiel zeigt schon bestimmte Konfliktmöglichkeiten auf, die zwischen Ratgebern und Ratempfängern aufkommen können.
V. Die Kompatibilität der Ziele
Aber auch wenn man die Ziele normativ für gleichrangig ansieht, so stellt sich die Frage, ob sie überhaupt miteinander kompatibel (vereinbar) sind. Dabei muß man mehrere Arten der Kompatibilität bzw. Inkompatibilität unterscheiden:
1. Logisch kompatibel sind die wirtschaftspolitischen Ziele dann, wenn sie sich (logisch) nicht widersprechen, d. h. „ex definitione" miteinander vereinbar sind.
2. Theoretisch kompatibel sind die Ziele dann, wenn es keine (ökonomischen) Gesetzeshypothesen gibt, die ihre gleichzeitige Realisierung ausschließen.
3. Faktisch kompatibel sind die Ziele dann, wenn ihre gleichzeitige Realisierung in einer bestimmten historischen Situation möglich ist. Oder negativ ausgedrückt: Es kann historische Situationen geben, in denen die gleichzeitige Realisierung unmöglich ist, obwohl UIree 3UZeanyptEuIyrTZETyeTEG lisierung nicht ausschließen.
Es besteht m. E. ein allgemeiner Konsens darüber, daß die Ziele des SVR-Gesetzes logisch miteinander kompatibel sind. Eine gewisse Begriffsverwirrung ergibt sich nur dadurch, daß die Ziele hoher Beschäftigungsstand und stetiges Wachstum meistens nicht logisch unabhängig voneinander definiert sind Definiert man nämlich Wachstum als bloße Mengen-steigerung, z. B. als Steigerung des realen Bruttosozialprodukts, so kann Wechstum entweder durch eine bessere Ausnutzung des ve rhandenen Produktionspotentials (Erhöhung des Beschäftigungsstandes) oder durch die Ausdehnung des Produktionspotentials herbeigeführt werden. Logisch befriedigender wäre es, unter Wachstum nur die Erhöhung des Produktionspotentials zu verstehen, was allerdings mit relativ großen Meßschwierigkeiten verbunden ist. Gewissermaßen einen Kompromiß hat mittlerweile der SVR gefunden: Wenn er ganz global über Wachstum und Wachstumschancen spricht (z. B. JG 1974/75 Ziffer 220 ff.), steht das „Produktionspotential" im Vordergrund der Betrachtung, wenn er „genauer" angeben will, wie es um das Wachstum bestellt ist, gebraucht er häufig den Indikator „Zunahme des realen Sozial-produkts“ (JG 1974/75, Tabelle 24, Seite 117).
So eindeutig man eine allgemeine Überein-stimmung über die logische Kompatibilität der Ziele feststellen kann, so deutlich ist in Wissenschaft und Politik der Dissens über die theoretische und faktische Kompatibilität der Ziele des Gesetzesauftrags: Die einen sehen einen Konflikt zwischen den Zielen — zumindest zwischen bestimmten Zielen — als gegeben an, den die anderen leugnen. Die Anhänger der Konflikthypothese sagen, daß Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität immer und überall unvereinbar miteinander sind. Sie leugnen also die theoretische und damit auch die faktische Kompatibilität der Ziele
Die Gegner der Konflikthypothese meinen, daß Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität grundsätzlich durchaus gleichzeitig erreichbar sind. Sie geben aber zu, daß dies unter bestimmten historischen Bedingungen nicht der Fall zu sein braucht. Sie halten also die Kompatibilität dieser Ziele theoretisch für gegeben, faktisch aber nicht immer für erreichbar. Wie wichtig es für eine rationale Wirtschaftspolitik ist, wer in diesem Streit Recht hat, liegt klar auf der Hand: Ist die Konflikt-hypothese richtig, so wäre es unter allen historischen Umständen unmöglich, die Ziele gleichzeitig zu erreichen. Dies hieße aber nichts anderes, als daß die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik inkompatible Ziele verfolgt und somit schon von denCielen her gesehen irrational ist. Für den SVR bedeutete dies: Würde er auf der Seite der Konflikt-theoretiker stehen, so müßte er sich weigern, überhaupt einen Federstrich an der Erfüllung des Gesetzesauftrags zu tun. Andernfalls würde er Hilfestellung für eine irrationale Wirtschaftspolitik geben.
Ein erstes, aber sicherlich nicht überzeugendes und nur indirektes Indiz dafür, daß der SVR nicht ins Lager derjenigen gehört, die immer und überall von einem Konflikt zwischen Geldwertstabilität und Vollbeschäftigung ausgehen, ist darin zu sehen, daß mittlerweile das 11. Jahresgutachten erschienen ist, ohne daß vom SVR die Irrationalität des Gesetzesauftrages angeprangert wurde.
In seinen Äußerungen zu diesem Problem in den verschiedenen Gutachten scheint sich der Rat zuweilen in Widersprüche zu verwickeln. So heißt es im JG 1972/73, Ziffer 345:
„Nichts ist überzeugend an der Vorstellung, man müsse etwa 1 Prozent mehr Geldwertstabilität für 1 Prozent mehr Arbeitslosigkeit eintauschen." Dies ist eine klare Absage an die Konflikthypothese. Wie soll man aber den nächsten Satz (Ziffer 346) verstehen: „Andererseits darf nicht verkannt werden: eine Rückkehr zu mehr Geldwertstabilität ohne die Bereitschaft, notfalls auch vorübergehend geringe Abstriche bei den Zielen Wachstum und hoher Beschäftigungsstand zu machen, erscheint nicht mehr möglich."
Dieser Widerspruch löst sich nur dann auf, wenn man den Unterschied zwischen theoretischer und faktischer Kompatibilität macht: Man kann hier den SVR dahingehend interpretieren, daß er eine faktische Inkompatibilität „vorübergehend" durchaus anerkennt. Bestätigt wird diese Interpretation der Haltung des SVR in diesem Streit durch eine Passage aus dem ersten Jahresgutachten 1964/65, Ziffer 144: „Offensichtlich ist Geldwertstabilität unter den politischen, soziologischen und institutioneilen Bedingungen, die in der Bundesrepublik und im internationalen Wirtschaftsverkehr herrschen, — wenn überhaupt — nur mit unkonventionellen Mitteln erreichbar und nur unter Preisgabe anderer Werte, Ziele oder Interessen."
Hiermit postuliert der SVR nicht nur die Harmonie der angesprochenen Ziele, sondern er behauptet sogar noch mehr: Preisniveaustabilität ist langfristig eine notwendige Voraussetzung für Vollbeschäftigung und Wachstum Das folgende Schaubild zeigt noch einmal die unterschiedlichen Hypothesen über die Beziehung zwischen Geldwertstabilität und Vollbeschäftigung.
In seinem letzten Gutachten 1974/75 zerstreut der Rat dann alle Zweifel über seinen Standpunkt, indem er schreibt (Ziffer 364): „Es gehört zu den folgenschwersten Mißverständnissen der Wirtschaftspolitik, daß die Frage eines Konflikts zwischen den Zielen der Vollbeschäftigung, des Wirtschaftswachstums und einer gerechteren Einkommensverteilung einerseits und dem Ziel der Geldwertstabilität andererseits vordergründig, verkürzt und deshalb falsch gesehen wird... (es) ist nicht möglich, Vollbeschäftigung auch morgen, angemessenes Wachstum auf die Dauer... zu haben, wenn man fortwährend hohe oder gar zunehmende Inflationsraten *zuläßt.
Diese Aussage wird dann noch in Ziffer 370 des gleichen Gutachtens unterstrichen, wo der SVR schreibt: „Der Auftrag des Stabili-täts-und Wachstumsgesetzes, gleichzeitig ei-nen hohen Beschäftigungsstand, Stabilität des Preisniveaus und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem wirtschaftlichem Wachstum zu sichern, ist nicht Ausdruck einer Illusion des Gesetz-gebers ,.
Damit hat der SVR den Vorwurf der Irrationalität des wirtschaftspolitischen Zielbündels seines Gesetzesauftrags und des Stabilitäts-und Wachstumsgesetzes zurückgewiesen. Ob seine Argumentation stichhaltig ist, kann an dieser Stelle nicht untersucht werden
VI. Beziehungen zu anderen (nicht im Gesetz genannten) Zielen
Es bringt schon, wie gezeigt, genügend Probleme für den SVR mit sich, die im Gesetzes-auftrag ausdrücklich genannten Ziele unter den genannten Aspekten zu analysieren.
Deshalb liegt es auf der Hand, daß die Einbeziehung anderer, nicht genannter Ziele diese Probleme potenziert. Eine solche Einbeziehung anderer Ziele wird aber immer wieder gefordert Dafür spricht zum einen, daß die genannten wirtschaftspolitischen Ziele ohne Zweifel instrumental im Hinblick auf andere übergeordnete Ziele sind. Deshalb liegt, wenn auf diesen Instrumentalcharakter nicht deutlich hingewiesen wird, die Gefahr einer Verabsolutierung dieser Ziele immer im Bereich des Möglichen
Zum zweiten gibt es Ziele, von denen behauptet wird (z. B. das Ziel einer gerechten Einkommens-und Vermögensverteilung), daß sie höherrangig als manche der im Gesetz genannten Ziele wären und deshalb unbedingt in die Betrachtung miteinbezogen werden, müßten '
Dagegen spricht aber meines Erachtens, daß es unendlich viele andere Ziele gibt. Es ist praktisch unmöglich, alle irgendwie relevanten Ziele in die Untersuchung einzubeziehen. Eine mögliche Lösung wäre, sich grundsätzlich auf die Untersuchung der ausdrücklich genannten Ziele zu beschränken, darüber hinaus aber, wenn es notwendig erscheint, andere Ziele in die Analyse mitaufzunehmen Bei einer solchen Lösung muß man sich allerdings im klaren darüber sein, daß die Einbeziehung anderer Ziele dann in das Belieben der vr’ssenschaftlichen Berater gestellt ist.
Wie hat sich nun der SVR diesem Dilemma gegenüber verhalten? Der SVR hat an vielen Stellen seiner Gutachten immer wieder darauf hingewiesen, daß der Katalog der Ziele vollständig sei (Jg 1964/65, Ziffern 138, 164, 241; JG 1965/66, Anhang II/2). Andererseits konnte er nicht umhin, in der Gutachtenpraxis immer wieder von diesem Postulat abzuweichen. JG 1967/68 Ziffer 256 mag das für die Beziehung zu übergeordneten Zielsetzungen verdeutlichen: „Wichtiger vielleicht als alle geschilderten ökonomischen Konsequenzen sind für die Entscheidung über den erstrebenswerten Beschäftigungsstand gesellschaftspolitische Erwägungen. Sie anzustellen, ist zwar nicht unbedingt eine Aufgabe, die im Kern des gesetzlichen Auftrags an den Sachverständigen-rat liegt, aber das Bild wäre verzeichnet, bliebe der eine oder andere außerökonomische Aspekt gänzlich unerwähnt."
Speziell dem Ziel einer gerechten Einkommens-und Vermögensverteilung hat der SVR im JG 1972/73 ein Sonderkapital „Grundprobleme der Einkommensverteilung" gewidmet. In Ziffer 440 dieses Kapitels heißt es: „Der Sachverständigenrat hat als gegeben zu nehmen, daß Einkommensverteilung als ein selbständiges gesellschaftspolitisches Ziel von allen Beteiligten anerkannt wird. Er sieht es als Aufgabe an, die Bedingungen aufzuzeigen, wie ein solches Ziel erreicht werden kann, ohne daß andere Ziele, Rückgewinnung und Erhaltung der Geldwertstabilität, Sicherung eines hohen Beschäftigungsstandes, zusätzlich gefährdet werden."
Diese Analyse war sicherlich nicht zuletzt auch auf die vielstimmige Kritik an der gewollten und immer wieder betonten Abstinenz des SVR im Hinblick auf andere Ziele zurückzuführen. Hier zeigt sich deutlich die positive Funktion der notwendigen Kritik an den Ergebnissen von Beratern, sei es, daß diese Kritik aus dem eigenen Bereich der Wissenschaft, sei es, daß sie aus dem Bereich der Politik kommt.
VII. Prognose und Strategie
Neben den Problemen, die die den wissenschaftlichen Ratgebern vorgegebenen Ziele betreffen, steht die Hauptfrage jeder rationalen Politik, die von den Ratgebern beantwortet werden muß: Mit welchen Instrumenten, Mitteln, Maßnahmen lassen sich die Ziele erreichen?
Eine grundsätzliche Antwort auf diese Frage läßt sich auf der Basis des folgenden Modells geben: 1. Gesetze, Hypothesen, Theorien 2. Anwendungsbedingungen a) Anfangsbedingungen b) Randbedingungen* 3. Explanandum — Ereignis Verbal ausgedrückt: Um ein bestimmtes Ereignis (3.), das bekannt ist, erklären zu können, braucht man die Kenntnis von empirischen Gesetzmäßigkeiten, Hypothesen, Theorien (1.) und Informationen über das Vorhandensein bestimmter Anwendungsbedingungen dieser Gesetze (2.)
Dabei Anwendungsbedingungen sind die noch zu untergliedern in die Anfangsbedingungen (2 a), die im Gesetz explizit genannt werden, und die Randbedingungen (2 b). Diese Randbedingungen können explizit genannt sein (spezifizierte ceteris-paribus-Klausel) oder nicht genannt sein (unspezifizierte ceteris-pa-ribus-Klausel). Gesetze und Anwendungsbedingungen stellen die Prämissen bzw. Annahmen, auch Explanans genannt, dar, aus denen dann das Explanandum logisch abgeleitet werden kann.
Dieses Schema läßt sich nicht nur für die Erklärung vergangener oder gegenwärtiger Ereignisse, sondern auch für die Lösung konkreter wirtschaftspolitischer Probleme anwenden. Bei diesen praktischen Problemen lassen sich zwei Arten unterscheiden: Einmal wird danach gefragt, wie es in der Zukunft um ökonomische Variable wie z. B. Geldwert, Beschäftigungsstand aussehen wird — das Explanandum liegt also in der Zukunft und ist unbekannt—, wenn bestimmte ökonomische Gesetzmäßigkeiten gelten und bestimmte Anwendungsbedingungen, die sich auf Gegenwart und Zukunft beziehen können, gegeben sind. Dies kann man eine Informationsprognose nennen. Bei der zweiten Art von Problemen tritt an die Stelle des Explanandum eine bestimmte wirtschaftspolitische Zielgröße. Gesucht werden bei Geltung bestimmter ökonomischer Gesetzmäßigkeiten realisierbare Anwendungsbedingungen (Mittel), die den gewünschten Zustand herbeiführen. Dies kann man Entscheidungsprognose oder Technologie-bzw. Strategiemodell nennen.
An einem Beispiel mag das verdeutlicht werden:
1. Informationsprognose: Wenn das Gesetz „wenn die monetäre Gesamtnachfrage größer ist als das Angebot, dann steigt das Preisniveau" gilt, dann wird 1976 das Preisniveau steigen, da 1976 die monetäre Gesamtnachfrage größer sein wird als das Angebot (prognostizierte Anwendungsbedingung).
2. Entscheidungsprognose: Wenn man 1976 ein stabiles Preisniveau (wirtschaftspolitisches Ziel) erreichen will, so muß bei Geltung des oben genannten Gesetzes durch wirtschaftspolitische Maßnahmen (Schaffung der getan Anwendungsbedingungen) alles werden, daß die monetäre Gesamtnachfrage im Jahre 1976 nicht größer ist als das Angebot.
Ergibt ex-post die Erfolgskontrolle, daß die Ziele trotz des Einsatzes von bestimmten Instrumenten nicht erreicht wurden, so zeigt das obige Erklärungsmodell, worauf das logisch zurückgeführt werden kann
1. Die Gesetzmäßigkeiten, aufgrund derer die Maßnahmen ergriffen wurden, sind falsch.
2. Die notwendigen Anfangsbedingungen konnten durch die Maßnahmen nicht hergestellt werden.
3. Die sonstigen Randbedingungen waren anders als erwartet.
Der SVR ist durch seinen Gesetzesauftrag verpflichtet, sowohl Informationsprognosen (§ 2 Satz 1 SVR-Gesetz: „Der Sachverständigenrat soll in seinen Gutachten die jeweilige gesamtwirtschaftliche Lage und deren abseh-bare Entwicklung darstellen ) als auch Entscheidungsprognosen (§ 2 Satz 2 SVR-Gesetz: „Dabei soll er untersuchen, wie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig ... gewährleistet werden können") abzugeben.
Informationsund Entscheidungsprognosen sind seit dem ersten Jahresgutachten 1964/65 fester Bestandteil jedes Gutachtens. So beschreibt das 8. Kapitel des JG 1964/65 bzw. das 3. Kapitel des JG 1974/75 die „voraussehbare E*ntwicklung (Informationsprognose) und das 9. Kapitel des JG 1964/65 bzw.des 4. Kapitel des JG 1974/75 „Voraussichtliche Fehlentwicklungen und mögliche Gegenmit*tel bzw. „Vollbeschäftigung für m* orgen (Entscheidungsprognose).
In diesen Kapiteln äußern sich die Sachverständigen immer wieder über die grundsätzliche Problematik solcher Prognosen. So heißt es im JG 1964/65 Ziffer 217: „Entgegen manchen Vorstellungen, die da und dort bestehen mögen, kann man nicht erwarten, daß irgendjemand, auch nicht ein Gremium, in der Lage ist, die künftige wirtschaftliche Entwicklung vorherzusehen. Was wir verantworten können, ist sehr viel weniger: Wir können nur die Entwicklungen, die unsere Wirtschaft in der Zukunft nehmen konnte, der Reihe nach überprüfen, um aus dem weiten Bereich der Möglichkeiten jene Zukunftshypothese herauszufinden, die nach unserer Meinung am besten mit den uns bekannten Tatsachen und Theoremen in Einklang steht und die wir deshalb als unsere beste Setzung ansehen. Sie ist eine Projektion, der wir zwar eine größere Wahrscheinlichkeit beimessen als allen anderen, aber sie braucht noch nicht einmal eine hohe Wahrscheinlichkeit zu b*esitzen.
Im Klartext gesprochen heißt dies nichts anderes, als daß nach Ansicht des SVR vollkommene, sichere Voraussicht auch für Wissenschaftler ein utopisches, unmögliches Ziel darstellt Dies macht auch unser obiges Erklärungs-und Prognoseschema ganz deutlich: Für die Vorhersage eines konkreten künftigen Ereignisses (z. B. Höhe der zukünftigen Inflationsrate) müßten sämtliche relevanten Gesetzmäßigkeiten und Anwendungsbedingungen genau bekannt sein.
Es ist deshalb keineswegs überraschend, daß auch die Prognosen des SVR nur mehr oder weniger erfolgreich waren, wie die nachfolgende Übersicht anzeigt. Gerade am Beispiel des SVR läßt sich die Problematik solcher Prognosen darlegen. Diese Prognosen werden nämlich von den publizistischen Medien der interessierten Öffentlichkeit bezeichnenderweise als das Produkt der „Fünf Weisen" verkauft. Hinter dieser Wortwahl ist klar der Anspruch erkennbar, daß die Sachverständigen „richtige" Prognosen zu erstellen haben. Die Bedenken — auch des SVR — gegenüber einem solchen Anspruch werden nicht genannt. Um so größer ist dann die Enttäuschung, wenn diese Prognosen nicht zutreffen.
Die Öffentlichkeit glaubt aber nicht nur daran, daß solche todsicheren Prognosen überhaupt möglich sind, sondern es wird sogar der Anschein erweckt, als ob man wirtschaftliche Ereignisse, die in der Zukunft liegen, sogar mit einer Stelle hinter dem Komma genau quantifizieren könnte. Es ist geradezu erstaunlich, mit welcher Naivität bzw. Unverfrorenheit daraus, daß z. B. die Zuwachsrate irgendeines Index um einen Zehntelpunkt gefallen oder gestiegen ist, schon eine „Tendenz zur ..." herausgelesen wird. Hieraus kann man entnehmen, wie wenig bekannt die großen Probleme der Erfassung und Auswahl statistischer Größen sind bzw. wie diese Probleme einfach totgeschwiegen werden.
Ein anderes Problem in diesem Zusammenhang ist folgendes: die sich selbst erfüllenden (self-fulfilling-prophecies) bzw. die sich selbst zerstörenden Prognosen (self-frustrating-prophecies). Dahinter verbirgt sich die Erfahrung, daß sich manche ursprünglich falschen Prognosen durch ihre Veröffentlichung als wahr, andere ursprünglich wahre durch ihre Veröffentlichung als falsch erweisen. Der Unterschied zwischen beiden Arten von Voraussagen läßt sich im folgenden Schema verdeutlichen:
Auch diese sogenannte Eigendynamik von Voraussagen muß derjenige einkalkulieren, der Prognosen abgibt.
Manche Äußerungen des SVR lassen sich dahingehend interpretieren, daß er eine solche Eigendynamik einkalkuliert. So heißt es schon im JG 1964/65 Ziffer 217: „In manchen Fällen würden wir es sogar begrüßen, wenn die Ereignisse unsere Vorhersagen nicht bestätigten. Das gilt vor allem für die Fehlentwicklungen, die sich durch ein vorbeugendes Verhalten des Staates und all derer, die außer ihm gesamtwirtschaftliche Verantwortung tragen, vermeiden lassen."
Fällt aber damit nicht auch der Anspruch in sich zusammen, daß wissenschaftliche Beratung Hilfestellung zu einer rationaleren Politik geben könnte?
Wer es als Aufgabe der Wissenschaft ansieht, „todsichere" Prognosen abzugeben, der muß allerdings enttäuscht werden. Diese Aufgabe kann auch die Wissenschaft nicht lösen. Wer es auf Seiten der Politiker verlangt, muß über die Unmöglichkeit, diesem Wunsch nachzukommen, aufgeklärt werden. Wer es auf Seiten der Wissenschaftler verspricht, ist sich entweder über die Unmöglichkeit im Unklaren oder er handelt unredlich.
Welchen Nutzen hat aber dann überhaupt noch eine solche wissenschaftliche Prognose für die Politik, wenn es keine Garantie für erfolgreiche Prognosen gibt? Der Nutzen wissenschaftlicher Prognosen liegt einmal darin — darauf hat ja der SVR hingewiesen —, daß die wirtschaftspolitischen Instanzen (mit allen genannten Vorbehalten) sehen können, was passieren könnte, wenn alles beim alten bleibt (status-quo-Prognose). Viel wichtiger ist aber, daß gerade die Entscheidungsprognose Handlungsspielräume und Handlungsgrenzen für die Politik aufzeigt.
Es sei nämlich daran erinnert, daß das wichtigste Element solcher Prognosen Gesetzeshypothesen sind. Gesetzeshypothesen zeigen aber, welche Ereignisse eintreten, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Das heißt aber nichts anderes, als daß diese Gesetzes-hypothesen aufzeigen, wie man Ereignisse prinzipiell vermeiden oder wie man sie herstellen kann, in dem man auf die „bestimmten Bedingungen“ Einfluß nimmt Sie geben also Antwort auf die Frage: Was können wir tun?
VIII. Zielrelevante Theorien
Die Frage ist nun, von welchen Theorien der Sachverständigenrat ausgeht, und welche Handlungsmöglichkeiten er damit der Politik eröffnet. Da der Rat grundsätzlich zwar von der Gleichrangigkeit der Ziele ausgeht, faktisch bei seinen Analysen aber das Ziel in den Vordergrund stellt, das am meisten gefährdet erscheint, hat sich der SVR in praktisch allen Gutachten schwergewichtig mit dem Problem beschäftigt, wie die Geldwert-stabilität zu erhalten bzw. zu erreichen sei. Diese normative Entscheidung für das Ziel Preisniveaustabilität ist, wie gezeigt wurde, im Jahresgutachten 1974/75 noch dadurch verstärkt worden, daß der Rat die theoretische Hypothese aufstellte, die Herstellung von mehr Geldwertstabilität sei langfristig auch durch die Erreichung der anderen Ziele gewährleistet. Daraus die Schlußfolgerung für die zielrelevante Art von Theorien zu ziehen, ist nicht schwer: der SVR mußte in seinen Gutachten eine Inflationstheorie entwickeln. Im JG 1966/67 (Ziffer 203 ff.) führt der SVR dazu aus: „Der Sachverständigenrat hält es nach wie vor für verfehlt, die Ursachen der schleichenden Geldentwertung in Teilbereichen der Volkswirtschaft oder bei einzelnen Gruppen zu sehen. ... Dieser Auffassung widerspricht eine Reihe von vereinfachenden Zurechnungsversuchen, die sich früher einmal als plausibel erwiesen haben mögen, aber heute den Blick für die Zusammenhänge verstellen." An solchen vereinfachenden Zurechnungsversuchen zählt der Rat auf: zu großes Geld-und Kreditvolumen, zu hohe Löhne, Expansion der öffentlichen Ausgaben, Liquiditätsstrom aus dem Ausland, Übernachfrage am Arbeitsmarkt und die Erhöhung administrierter Preise. „Der Sachverständigenrat hält alle diese Erklärungsversuche für einseitig und daher unzulänglich: denn sie lassen den Gesamtzusammenhang aller Größen unserer Volkswirtschaft ebenso außer acht wie die Interdependenz zwischen der Geldwertentwicklung im Inland und der im Ausland und die Tatsache, daß die gesamtwirtschaftliche Entwicklung ein historischer Prozeß ist, in dem die verschiedenen Größen zum Teil mit erheblicher zeitlicher Verzögerung aufeinander einwirken."
Konsequenterweise hat der SVR danach im Laufe der Jahre eine Inflationstheorie und darauf aufbauend eine stabilitätspolitische Konzeption entwickelt, die den Gesamtzusammenhang aller Größen unserer Volkswirtschaft berücksichtigen sollte.
Diese stabilitätspolitische Konzeption setzte sich aus folgenden Grundelementen zusammen: — einer außenwirtschaftlichen Absicherung über mehr oder weniger flexible Wechselkurse, — einer Konzertierten Aktion, — einer kostenniveauneutralen Lohnpolitik, — einer potential-orientierten Kreditpolitik, — einer konjunkturneutralen Haushaltsgebarung des Staates.
Um wissenschaftliche Prognosen abgeben und Handlungsmöglichkeiten für die Politik aufzeigen zu können, müssen die dazu verwendeten Theorien möglichst wahr sein. Die Wahrheit von Theorien ist aber niemals mit Sicherheit festzustellen. Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma besteht darin, die bestgeprüfte und bestbestätigte Theorie als Basis zu wählen. Die bestgeprüfte ist aber diejenige, die bis jetzt der Prüfung auf innere Widersprüche, der Prüfung durch Konfrontation mit rivalisierenden Theorien und durch Konfrontation mit den Tatsachen am besten standgehalten hat
Diese Methoden der kritischen Prüfung hat, so muß man annehmen, auch der SVR angewandt, um die theoretischen Grundlagen seiner stabilitätspolitischen Konzeption immer wieder kritisch zu überprüfen. Dies kommt in seinem letzten Gutachten 1974/75 deutlich zum Vorschein, dessen 5. Kapitel „Zur Stabilitätspolitischen Konzeption" genannt ist. Hier zeigt sich, daß einige Elemente der früheren Konzeption nicht mehr auftaudien, andere modifiziert wurden.
Der kritischen Prüfung offensichtlich nicht standgehalten hat die früher vom SVR viel gepriesene Konzertierte Aktion. Im JG 1973/74 Ziffer 332 heißt es: „Durch Aufklärung allein, so bedeutsam sie ist, wird man den anstehenden Problemen nicht gerecht werden können. Das marktwirtschaftliche System, ja das freiheitliche Gesellschaftssystem überhaupt, beruht darauf, daß Interessenkonflikte — in organisierter Form — ausgetragen, nicht aber durch Ex-ante-Harmonisierung beseitigt werden." 32 Auch die Haltung des SVR zu seiner immer wieder vertretenen Hypothese „ohne flexible Wechselkurse keine Geldwertstabilität" ist unter dem Eindruck der jüngsten Erfahrungen nicht mehr so euphorisch wie in früheren Jahren, in denen flexible Wechselkurse noch nicht ihren empirischen Test hinter sich gebracht hatten.
So heißt es in Ziffer 424 des JG 1974/75: „Betonen, daß der wirtschaftspolitische Handlungsspielraum durch flexible Wechselkurse beträchtlich erweitert wird, heißt nicht annehmen, daß die inländische Wirtschaft von allen störenden Einflüssen aus dem Ausland automatisch abgeschirmt ist. Es bleibt nämlich zum einen das Problem, ob und inwieweit inflatorische Impulse aus dem Ausland rechtzeitig abgefangen werden können, zum anderen das Problem, inwieweit eine Lockerung des Konjunkturverbundes mit dem Ausland möglich ist."
Besonders auffällig hat sich die Stellung der Geldpolitik im Rahmen der Stabilitätskonzeption gewandelt. Heute ist von einer „potentialorientierten Kreditpolitik“ nicht mehr die Rede. Die Sachverständigen schwimmen ganz im monetaristischen Fahrwasser: Die „Objektivierung" der Geldversorgung, die Vorgabe einer bestimmten Geldmenge durch die Deutsche Bundesbank, ist für die Sachverständigen eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für eine konfliktfreie Stabilitätspolitik (JG 1974/75, Ziffer 373).
Diese Ausführungen mögen genügen, um zu zeigen, wie sich die theoretischen Grundlagen und damit aber auch die politischen Handlungsmöglichkeiten in den Augen der wissenschaftlichen Berater ändern können.
IX. Prognose der Anwendungsbedingungen
Um eine Entscheidungsprognose abgeben zu können, braucht man aber nicht nur zielrelevante Theorien, sondern auch die Kenntnis der Anwendungsbedingungen, wie unser allgemeines Schema zeigt:
G: Gesetzeshypothesen und Theorien A: Anwendungsbedingungen P (Z): Prognose (Ziele)
Bei gleicher Theorie wird die Prognose bei unterschiedlichen Anwendungsbedingungen unterschiedlich ausfallen. Der Gesetzgeber hat diesem Tatbestand dadurch Rechnung getragen — so kann man ihn zumindest interpretieren —, daß er in § 2 SRG vom Sachver-Ständigenrat verlangt, daß „bei der Untersuchung .. . jeweils verschiedene Annahmen zugrunde gelegt und deren unterschiedliche Wirkungen dargestellt und beurteilt werden (sollen)".
Die grundsätzliche Problematik einer solchen Forderung ist oben schon dargelegt worden: Es ist unmöglich, in einem offenen System, wie es eine nationale Volkswirtschaft darstellt, alle relevanten Anwendungsbedingungen zu kennen, zu nennen und sogar auch noch zu prognostizieren.
So ist es meistens — so auch beim Sachverständigenrat — der Entscheidung der Berater überlassen, welche Bedingungen sie in ihre Prognosen aufnehmen. Damit ist selbstverständlich eine Konfliktmöglichkeit zwischen Ratgebern und Ratempfängern gegeben, denn es kann sicherlich unterschiedliche Meinungen darüber geben, von welchen Anwendungsbedingungen man ausgehen soll.
Der SVR hat diesem Verlangen nach Alternativen dadurch Rechnung getragen, daß er in seinen Jahresgutachten eine sogenannte sta-tus-quo-Prognose abgibt und dazu noch zwei „Alternativen" aufzeigt. Gemäß unserem Schema und in unserer Terminologie bedeutet das nichts anderes, als daß der SVR drei Prognosen mit unterschiedlichen Anwendungsbedingungen vorlegt.
Am Beispiel des Jahresgutachtens 1973/74 sei dies näher erläutert:
Auf Seite 130 des Gutachtens stellt der Rat einen Teil der Anwendungsbedingungen in Form der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wie in der vorstehenden Tabelle dar.
Diese quantitativen „Daten", wie der Rat die Anwendungsbedingungen nennt, basieren wiederum auf anderen Bedingungen, nämlich auf bestimmten „Annahmen" über die Lohnpolitik, die Fiskalpolitik, die Geld-und Kredit-politik und die außenwirtschaftliche Entwicklung. Dies wird in der folgenden Übersicht erkennbar. Das Beispiel zeigt, welche Anzahl von „Annahmen" über bestimmte Anwendungsbedingungen der SVR für notwendig erachtet, um die Prognosen zu erstellen. Dazu kommen weitere Annahmen, die er im Text ausdrücklich nennt und andere, die „zwischen den Zeilen" stehen.
Aber auch die Kenntnis dieser Anwendungsbedingungen ist selbstverständlich nicht hinreichend für eine vollkommene Prognose. Auch unter der Annahme, daß die genannten Bedingungen gegeben wären, ist ja ein Bestandteil jeder Prognose, wie oben gezeigt, eine unspezifizierte ceteris-paribus-Klause], d. h., daß man auch dann, wenn man bestimmte Bedingungen nennt, andere ungenannte als konstant ansehen muß.
Aus diesem Grunde ist es z. B. auch für den Sachverständigenrat unmöglich, den gesamten politischen Datenkranz in seine Prognosen aufzunehmen und auch noch zu spezifizieren. Wenn sich dann dieser Datenkranz ändert, ist die Prognose nicht mehr zutreffend. So mußte der Rat seine oben skizzierten Pro-gnosen aufgrund der sogenannten Olkrise schon einen Monat später in einem Sonder-gutachten „Zu den gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der Ölkrise" revidieren.
X. Handlungsmöglichkeiten und tatsächliches Handeln
Informations-und Entscheidungsprognosen, die wissenschaftliche Berater erstellen, können Möglichkeiten und Grenzen für politisches Handeln aufzeigen. Es führt aber kein direkter Weg von dem Aufzeigen von Handlungsmöglichkeiten durch wissenschaftliche Berater hin zum Ergreifen bestimmter politischer Maßnahmen. Mögen die Berater zwar eine gutbegründete Antwort auf die Frage geben können „Was können wir tun?“, so können sie dies auf keinen Fall auf die Frage „Was sollen wir t. *un?
Es spricht nämlich wenig dafür zu meinen, daß ein Wissenschaftler, der eine Spezialkompetenz, z. B. in Sachen Ökonomie erworben hat, damit gleichzeitig die Befähigung erworben haben soll, politische Entscheidungen zu fällen. Diese politische Kompetenz sollte bei den politischen „Profis“ bleiben und nicht den in der Politik dilettierenden Wissenschaftlern übertragen werden. Schließlich muß sich der Politiker für seine Entscheidungen vor dem Wähler verantworten und nicht der Wissenschaftler.
Moderne Tendenzen in der Politik, sich die Politik von wissenschaftlichen Prognostikern „vorschreiben" zu lassen, mögen die Macht-gelüste mancher Wissenschaftler befriedigen und für die Politiker im Falle eines Mißerfolges eine gewisse Alibifunktion haben. Wünschenswert können sie aber meiner Meinung nach nicht sein. In diesem Zusammenhang muß auf ein weiteres Problem hingewiesen werden, das immer wieder im Rahmen wissenschaftlicher Beratung der Politik auftaucht, und zwar das Verlangen — vor allem von Politikern —, daß die Berater in ihre Analysen die Frage einbeziehen, ob bestimmte Maßnahmen politisch durchsetzbar sind oder nicht.
Diese Forderung scheint auf den ersten Blick ganz plausibel. Nur: Was heißt „politisch durchsetzbar ? Diese Frage’ beantworten sollen Personen, die auf diesem Gebiet — nämlich dem politischen — gerade nicht kompetent sind. Diese Forderung ergeht von Personen, deren tägliches Brot es ja gerade ist, irgend etwas politisch durchzusetzen.
Auch hier wird man den Verdacht nicht los, daß sich manche Politiker dadurch ihrer Verantwortung entziehen wollen und manche Wissenschaftler durch diese Hintertür Einfluß auf die Politik gewinnen wollen.
Das heißt nicht, daß die wissenschaftlichen Berater diese Problematik überhaupt nicht beachten sollen. Sie sollten sie nur nicht in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen. Dadurch ginge nämlich ein großer Teil des kritischen Potentials der Wissenschaft verloren, das ja gerade darin begründet ist, daß sie auf tagespolitische Interessenkonflikte weniger Rücksicht zu nehmen braucht als die beratenen Politiker.
Auch wenn aber eine Trennung von Erkenntnis und Entscheidung wünschenswert ist, so könnte sie doch unmöglich sein. Oder in der Form einer Frage ausgedrückt: Sind die Politiker gezwungen, die Ratschläge ihrer Berater in die Tat umzusetzen?
Rein logisch-methodologisch ist dieser Zwang jedenfalls nicht gegeben. Es kann schon einen Dissens zwischen Ratgebern und Ratempfängern bei der Möglichkeitsanalyse geben, wenn beide Seiten von unterschiedlichen Theorien ausgehen. Ein solcher Dissens kann selbstverständlich auch und gerade auf der normativen Ebene über die anzustrebenden Ziele und anzuwendenden Mittel gegeben sein. Auch bei gleichem Urteil über das „Sein" können die Meinungen über das „Sollen" weit auseinandergehen.
Folgende vier Varianten des Konsenses bzw. Dissenses zwischen Ratgebern und Ratempfängern sind also logisch möglich:
Erkenntnis (Sein)
Abbildung 1
INHALT I. Wissenschaft und Politik II. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung III. Die Interpretation der Ziele IV. Die Rangfolge der Ziele V. Die Kompatibilität der Ziele VI. Beziehungen zu anderen (nicht genannten) Zielen VII. Prognose und Strategie VIII. Zielrelevante Theorien IX. Prognose der Anwendungsbedingungen X. Handlungsmöglichkeiten und tatsächliches Handeln XI. Wissenschaftliche Beratung der Politik und rationale Wirtschaftspolitik
INHALT I. Wissenschaft und Politik II. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung III. Die Interpretation der Ziele IV. Die Rangfolge der Ziele V. Die Kompatibilität der Ziele VI. Beziehungen zu anderen (nicht genannten) Zielen VII. Prognose und Strategie VIII. Zielrelevante Theorien IX. Prognose der Anwendungsbedingungen X. Handlungsmöglichkeiten und tatsächliches Handeln XI. Wissenschaftliche Beratung der Politik und rationale Wirtschaftspolitik
Hypothesen über den Zusammenhang zwischen Geldwertstabilität und Vollbeschäftigung
Hypothesen über den Zusammenhang zwischen Geldwertstabilität und Vollbeschäftigung
gleiche Meinung unterschiedliche Meinung gleiche Meinung unterschiedliche MeinungDer Gesetzgeber hat im Hinblick auf den SVR in nicht gerade überzeugender Art und Weise zu diesem Problemkreis Stellung genommen. So heißt es in § 2 Satz 6 des SVR-Gesetzes: „Der Sachverständigenrat soll Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder deren Beseitigung aufzeigen, jedoch keine Empfehlungen für bestimmte wirt-Schafts-und sozialpolitische Maßnahmen aussprechen." Nicht überzeugend ist diese Formulierung deswegen, weil sie offensichtlich die Furcht des Gesetzgebers zum Ausdruck bringt, der SVR könne seine Kompetenzen überschreiten und politisch tätig werden. Diese Furcht des Gesetzgebers ist aber, wie gezeigt, insoweit unbegründet, als kein zwangsläufiger Weg von wissenschaftlicher Erkenntnis zum politischen Handeln führt.
Selbstverständlich bedeutet das nicht, daß faktisch nicht ein Zwang von den Möglichkeitsanalysen der wissenschaftlichen Berater auf die Politiker ausgehen kann. Dies ist um so eher der Fall, je mehr in der Öffentlichkeit die irrige Meinung verbreitet ist, daß die Wissenschaft die „richtigen" Maßnahmen nennen kann, daß aber die Politiker aus „rein politischen Gründen" diese „Ratschläge der Vernunft" nicht befolgen.
Diesem faktischen Zwang kann man aber nicht dadurch entgehen, daß die zitierten oder ähnliche Formulierungen in den Auftrag für den wissenschaftlichen Berater aufgenommen werden. Ein solcher faktischer Zwang kann nur dadurch vermieden werden, daß in diesem Falle die Bundesregierung die Öffentlichkeit über ihre — vielleicht gegenteilige — Meinung aufklärt, daß Kritik und Gegenkritik öffentlich ausgetragen werden, so daß sich jeder Interessierte eine eigene Meinung bilden kann.
Daß Erkenntnis der Berater und Entscheidung der Politiker nicht zwangsläufig übereinstimmen müssen, zeigt aber nicht nur die logische Analyse, sondern auch die (empirische) Geschichte der Sachverständigenratsgutachten. Hier ist ja der Fall gegeben, daß mögliche Konflikte zwischen Ratgebern und Ratempfängern öffentlich ausgetragen werden. Denn es heißt in § 6 Abs. 4 des SVR-Gesetzes: „Zu den Gutachten nach Absatz 1 Satz 1 nimmt die Bundesregierung gegenüber den gesetzgebenden Körperschaften im Zeitpunkt der Veröffentlichung Stellung. In der Stellungnahme sind insbesondere die wirtschaftspolitischen Schlußfolgerungen, die die Bundesregierung aus dem Gutachten zieht, darzulegen." So findet man z. B. in der „Stellungnahme der Bundesregierung zum Gutachten des Sachverständigenrates", die als Anhang zum ersten Jahresgutachten 1964/65 „Stabiles Geld — stetiges Wachstum" Seite 145 ff. abgedruckt ist, unter II. 6.: „Das Gutachten durchzieht wie ein roter Faden die Aussage, die Bundesrepublik könne sich in einer weniger auf Preisstabilität bedachten Umwelt der Konsequenzen für ihr eigenes Preisniveau nur durch Anpassung des Wechselkurses entziehen. Die Bundesregierung zögert nicht, diese Ansicht des Sachverständigenrats abzulehnen."
Als Gründe für diese Ablehnung nennt die Bundesregierung a) normative: dem steht das Ziel der „Integration bei festen Wechselkursen" entgegen;
b) theoretische: es gibt national und international andere Möglichkeiten, auch ohne flexible Wechselkurse die Geldwertstabilität zu bewahren bzw. wiederzuerringen.
Hier haben wir es also mit der Variante 4 zu tun: es bestanden Meinungsverschiedenheiten zwischen Beratern und Ratempfängern sowohl über die theoretischen Handlungsmöglichkeiten als auch über die anzustrebenden normativen Ziele.
Zum Ziel der Bundesregierung „Integration bei festen Wechselkursen" hat sich der SVR im gleichen Gutachten, Ziffer 241, explizit geäußert: „Eine ausschließlich politische Frage ist es, ob die Integration bei festen Wechselkursen das Opfer rechtfertigt, die Geldwert-stabilität zu vernachlässigen. Sie zu beantworten, ist nicht Aufgabe des Sachverständigenrates, zumal das Gesetz, das die Grundlage seiner Arbeit bildet, nur die Ziele Stabilität des Preisniveaus ... nennt, nicht aber Integration und feste Wechselkurse."
Demgegenüber rechtfertigt die Bundesregierung ihre Ablehnung flexibler Wechselkurse u. a. mit ihren internationalen Verpflichtungen im Rahmen des internationalen Währungsfonds, des Europäischen Währungsabkommens, des EWG-Vertrages. Wer hatte hier Recht? Unter ihren Prämissen — theoretischen und normativen — sicherlich beide.
Damals wurden die flexiblen Wechselkurse nicht eingeführt. Heute sprechen die Erfahrungen mit flexiblen Wechselkursen dafür, daß flexible Wechselkurse neben vielen anderen Bedingungen sicherlich eine notwendige Bedingung für ein Land darstellen, sich etwas gegenüber einer stärker inflationierenden Umwelt abzusetzen; eine ausreichende Bedingung sind sie offensichtlich nicht.
XI. Wissenschaftliche Beratung und rationale Wirtschaftspolitik
Die vorstehende Analyse hat gezeigt, daß die Wissenschaft dem Politiker keine Methode an die Hand geben kann, mit der er seine Ziele mit absoluter Sicherheit erreichen kann. Diese Erkenntnis ist für manchen sicherlich enttäuschend und wirft sofort die Frage auf, ob unter diesen Umständen überhaupt noch der Anspruch aufrechterhalten werden kann, daß nämlich wissenschaftliche Beratung Hilfestellung für eine rationale(re) Wirtschaftspolitik geben könnte.
Wenn man „rational“ als Synonym für „mit Sicherheit erfolgreich“ gebraucht, so ist die Wissenschaft sicherlich nicht in der Lage, für eine rationale Politik in diesem Sinne Hilfestellung zu geben. Daran „schuld" ist aber weder die Unfähigkeit oder sogar Böswilligkeit der Wissenschaftler noch die der Politiker, der Grund dafür liegt allein darin, daß rationale Politik in diesem Sinne ein utopisches Ziel darstellt
Unter rationaler Politik sollte man deshalb zweckmäßigerweise eine Politik verstehen, 1. die (nach dem augenblicklichen Stand der Information) keine inkompatiblen Ziele verfolgt, 2. die die Mittel einsetzt, die (nach dem augenblicklichen Stand der Information) die größtmöglichen Realisierungsaussichten verbürgen und 3. die ihre Ziele mit den (nach der eigenen Wertposition zugelassenen) Mitteln anstrebt, die mit der betreffenden Kombination von Zielen vereinbar sind.
Wenn man „rational“ in dieser Weise versteht, dann kann die Wissenschaft durchaus zu einer rationalen Politik Hilfestellung geben.
Denn die Wissenschaft kann grundsätzlich — das wurde am Beispiel des SVR gezeigt — der Politik sagen, ob ihre Ziele kompatibel oder inkompatibel sind, wobei diese Aussage allerdings immer unter dem Vorbehalt „nach dem augenblicklichen Stand der Information" gilt.
Die Wissenschaft kann darüber hinaus — auch das hat der Sachverständigenrat gezeigt — für die Politik Handlungsmöglichkeiten und Handlungsgrenzen aufzeigen auf der Basis von Theorien, die „nach dem augenblicklichen Stand der Information" als bestgeprüfte und bestbestätigte gelten.
Wichtig ist in beiden Fällen die Einführung der Passage „nach dem augenblicklichen Stand der Information", weil hierdurch klar hingewiesen wird auf die Vorläufigkeit und Relativität des „Wissens". Zu einem bestimmten Zeitpunkt kann es durchaus rivalisierende Theorien, zu verschiedenen Zeitpunkten Änderungen in den Theorien geben, die dazu führen, die Frage der Kompatibilität und der Handlungsmöglichkeiten in einem anderen Licht zu sehen. Die Wissenschaft kann aber kaum sagen, was getan werden soll. Zwar hat die Auffassung, daß die „Weisen" am ehesten in der Lage sind, gute Politik zu machen, viele Freunde in der Gegenwart und Vergangenheit und ist mit großen Namen verbunden Aber es spricht — wie gezeigt — nichts dafür, daß diese Meinung richtig ist.
Handeln muß der Politiker, der in der Regel in unserer arbeitsteiligen Wirtschaft und Gesellschaft eine andere Person als der beratende Wissenschaftler ist. Der Politiker muß gemäß seiner Wertposition handeln, wobei sich die Bewertung auf Ziele und Mittel erstreckt. Es ist ein Irrtum zu meinen, daß nur die Ziele eine Entscheidung verlangen, während die Auswahl der Mittel „wertneutral" auf Vorschlag des Wissenschaftlers vor sich gehen kann.
Akzeptiert man diesen neuen Begriff der „Rationalität", dann liegt der Weg, der Chancen zu einer rationaleren Politik eröffnet, klar vor Augen:
Die Wissenschaftler müssen ihre Theorien immer wieder kritisch überprüfen und weiterhin zu verbessern suchen, um dadurch auch bessere Entscheidungshilfen geben zu können.
Die Politiker müssen ihre politischen Instrumente und Institutionen ebenfalls als „Hypothesen" auffassen, die im Lichte neuer Erkenntnisse (der Wissenschaft) und neuer Normen und Interessen modifizierbar und revidierbar sind.
Karl-Heinz Dignas, Diplom-Volkswirt, geb. 1939, lehrt seit 1973 Volkswirtschaftslehre, Volkswirtschaftspolitik und Wissenschaftslehre an der Fachhochschule Ostfriesland in Emden. Veröffentlichungen u. a.: Soziale Stellung der Kontensparer, in: Sparkasse 12/1971; Begriffsverwirrung in der Vermögenspolitik, in: Sparkasse 7/1972; Vermögenspolitik als Wirtschaftspolitik, in: Sparkasse 10/1972; Methoden und Pläne zur Vermögensbildung, in: Sparkasse 2/1973; (mit Wolf-Dieter Becker) Versuche rationaler Wirtschaftspolitik, in: Sparkasse 4/1972; Politik und Inflation, in: Sparkasse 10/1974; Zehn Jahre Sachverständigenrat, in: Sozialer Fortschritt 4/1974; Zur stabilitätspolitischen Konzeption des Sachverständigenrates, in: Sozialer Fortschritt 4/1975.
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