Abbau von Arbeitslosigkeit durch flexible Arbeitszeitregelung Mittelfristige Perspektiven staatlicher Arbeitsmarktpolitik
Otto Ulrich
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Zusammenfassung
Das Problem der Arbeitslosigkeit in westlichen Industrienationen ist zum Teil auf die rezessive weltwirtschaftliche Entwicklung zurückzuführen, zum Teil aber auch auf technologische und strukturelle Vorgänge in den nationalen Volkswirtschaften. Systematisch wird Arbeitslosigkeit in hochindustrialisierten Staaten erzeugt durch Rationalisierung und Automatisierung industrieller Fertigungsprozesse zum Zwecke der Arbeitsproduktivitätssteigerung. Das traditionelle Selbstverständnis von Arbeitsmarktpolitik, wie:. Arbeitslosenversicherung, Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und berufliche Weiterbildung, muß angesichts der bestehenden konjunkturellen und strukturellen Beschäftigungskrise als zu eng angesehen werden. Das bisher geläufige Instrumentarium zur Behebung von Arbeitsmarktungleichgewichten ist — in Anlehnung an keynes’sche Rezepte der Global-steuerung — von vornehmlich konjunkturbeeinflussender Art, und es wird überfordert, wenn es auf die heutige Arbeitsmarktstrukturierung mit den zutage tretenden mehrfachen Strukturschwächen adäquat reagieren soll. In Abwendung von den kompensierend wirkenden Mustern lediglich reaktiv-therapeutisch wirkender Arbeitsmarktpolitiken werden hier Überlegungen zu einer „integrierten" bzw. „simultan" angelegten Beschäftigungspolitik angestellt. „Integriert“ zielt auf das Zusammenspiel von unternehmerischen Personalrekrutierungsmaßnahmen mit außerbetrieblich ansetzenden beschäftigungsorientierten Ansätzen (z. B. Fortbildung, Berufsberatung, Arbeitszeitregelung etc.). „Simultane" Beschäftigungspolitik versucht, die indirekt wirksamen staatlichen Beeinflussungsmöglichkeiten des marktwirtschaftlichen Systems — keynesianisch orientierte Wirtschaftspolitik — zu verzahnen mit spezifisch beschäftigungswirksamen Instrumenten (Arbeitszeit, Erwerbsquote, Mobilitätsbereitschaft). Die Funktionsweise des Konzeptes Arbeitszeitflexibilität wird in einem Gedankenmodell an dem Beispiel „Abbau von Überstunden" dargestellt. Sodann wird die Frage der politischen Realisierbarkeit flexibler Arbeitszeitregelungen anhand der Anforderungen untersucht, denen ein solches Konzept standhalten muß. Kann mit Arbeitszeitpolitik die einzelbetriebliche Arbeitsproduktivität mindestens gesichert werden bzw. wie ist das Engagement und die Stärke solidarischen Verhaltens von Erwerbstätigen gegenüber dem arbeitslosen Mitbürger einzuschätzen?
I. Umkehrung der arbeitsmarktpolitischen Problemstellung
Die aktuelle rezessive weltwirtschaftliche Entwicklung stellt mit ihren komplexen Auswirkungen eine ernst zu nehmendeHerausforderung an die westlichen Industriestaaten dar. Die Tatsache, in eine Phase langfristig wirksamer Wachstumsverlangsamung eingetreten zu sein, ist für diese nationalen Volkswirtschaften unbestreitbar und hat einen steigenden Problemdruck auf die sozialen und politischen Systeme in marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaftsordnungen zur Folge.
Staatliche Aufgabenpolitik konnte bislang von einem kontinuierlichen Anstieg des wirtschaftlichen Wachstums ausgehen. Auf der Basis von verstetigten Projektionen über die zukünftige wirtschaftliche Wachstumsentwicklung konnte politisch-planerisch die wünschenswerte Gestaltung öffentlich beeinflußbarer Bereiche vorgenommen werden. Exemplarisch für diese Vorgehensweise sind z. B. die „Überlegungen zu einer vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik" wie sie Mitte 1973 von dem Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit (BA) in Nürnberg vorgelegt wurden. Die Konkretisierung arbeitsmarktpolitischer Zielperspektiven bis 1985 stand hier klar im Zeichen der Erwartung, daß eine Fortsetzung des bisherigen Wachstumstrends von mindestens real 4 Prozent für das Bruttosozialprodukt angestrebt wurde. Diese „Überlegungen" versuchten den Ergebnissen einer Problem-analyse gerecht zu werden, die angesichts der demographisch zu erwartenden Verhältnisse in der Bundesrepublik langfristig eine Lücke im benötigten Arbeitskräftepotential voraussagte. Wohlgemerkt: dieses „Problem“ war entstanden aus der Annahme eines anhaltenden Wachstumstrends von real 4 Prozent BSP. Die Mobilisierung einheimischer Arbeitskraftreserven sowie die Steuerung ausländischer Zu-wanderungen wurden als Gegenstand einer quantitativen Langfristplanung am Arbeitsmarkt begriffen.
Diese Problemauffassung muß angesichts der allgemeinen gegenwärtigen Rezession und der längerfristig erwarteten Wachstumsverlangsamung verworfen werden, d. h., daß es infolge der gebremsten weltkonjunkturellen Entwicklung für den binnenländischen Arbeits-markt mindestens mittelfristig nicht mehr um das Problem geht, wie durch gezielte Politik die Arbeitskraft-Nachfrage von selten des Beschäftigungssystems befriedigt werden kann, sondern umgekehrt darum, wie die arbeitsmarktpolitischen Folgen einer nicht ausgelastet „fahrenden" nationalen Volkswirtschaft aufgefangen werden können.
Die solcherweise entstehenden Ungleichge-wichtsprobleme auf dem Arbeitsmarkt können brisant für die soziale und politische Sta-bilität eines Landes werden. Wieweit auf diese arbeitsmarktpolitische Problemumkehrung mit den herkömmlichen Mitteln der globalen nachfrage-wie angebotsseitigen Arbeitsmarktbeeinflussung adäquat reagiert werden kann, muß angesichts der Entwicklungen auf den nationalen, aber auch auf den internationalen Arbeitsmärkten mit Recht als Frage aufgeworfen werden.
Denn vorbei sind die Zeiten einer naiven Wachstumseuphorie, in denen ein ungehemmtes Wachstum der Produktion und der Produktivität von selber für Vollbeschäftigung sorgte. Seitdem dieser Mechanismus nicht mehr per se funktioniert — rationalisierungsbedingte Arbeitslosigkeit ungehindertes Produktivitätswachstum zwar garantiert, aber doch eben die Arbeitslosenquote erhöht —, wird Arbeitsmarktpolitik zum Krisenmanagement abgestempelt. Sicher ist, daß die bisherige, kompensierend einsetzende, reaktiv-thera-peutische Arbeitsmarktpolitik von der Aufgabe überfordert wäre, die sowohl inhaltlich als auch quantitativ anders geartete Problem-situation von heute befiedigend zu bewältigen. Im folgenden soll es darum gehen, die Notwendigkeit einer neuen Qualität von Steuerungsinstrumenten des Arbeitsmarktes herauszustellen. Eingeflochten werden dabei polit-strategische Überlegungen zu einer „integrierten" bzw. „simultan" angelegten Arbeitsmarktpolitik. „Integriert" zielt auf das Zusammenspiel von unternehmerischen Personalre-krutierungs-und Arbeitsplatzmaßnahmen (von der Personalpolitik über die Qualifizie-rung von Arbeitsplätzen bis zur Humanisierung am Arbeitsplatz) mit außerbetrieblich ansetzenden beschäftigungsorientierten Ansätzen (z. B. Fortbildung, Umschulung, Ermittlung von vertikalen und horizontalen Arbeitsplatzflexibilitäten, Berufsberatung, Arbeitszeitregelungen). „Simultane" Beschäftigungspolitik versucht die indirekt wirksamen staatlichen Beeinflussungsmöglichkeiten des marktwirtschaftlichen Systems — keynesianisch orientierte Wirtschaftspolitik — zu verzahnen mit spezifisch beschäftigungswirksamen Instrumenten (z. B. Beeinflussung der Arbeitszeit, der Erwerbsquote, der Mobilitätsbereitschaft).
Da nach obiger Definition beide Politikmuster die Beeinflussung von Arbeitszeiten als beschäftigungswirksames Instrument ansehen, soll das Modell Arbeitszeitflexibilität am Beispiel des Überstundenausgleichs abstrakt entwickelt werden, um von daher plausible erste Abschätzungen zur mittelfristigen Realisierung eines solchen Vorschlages zu erhalten — um sehr viel mehr kann es sich im Rahmen dieser Arbeit nicht handeln.
II. Arbeitslosigkeit als politische Herausforderung
Die globale Folge aus der Weltinflation seit dem Vietnamkrieg, aus der Krise des Welt-währungssystems und aus der Vervierfachung der ölpreise ist ein international nahezu synchron auftretender Konjunkturabschwung (Weltrezession) mit noch nie in solchem Außmaß dagewesener Weltarbeitslosigkeit. Nach Angaben des International Labor Office (ILO) hat sich allein in den letzten zwei Jahren die Unterbeschäftigung in den westlichen Industrienationen nahezu verdoppelt. Nach Angaben des ILO sind in USA, Kanada, Japan, Australien und Westeuropa nahezu 15 Millionen Menschen arbeitslos bzw. 5 bis 6 Millionen mit Teilzeitarbeit beschäftigt
Darüber hinaus ist kurzfristig mit einer weiteren Verschärfung der Arbeitsmarktsituation infolge der Stagnation des realen Sozialproduktanstiegs in den einzelnen Staaten zu rechnen. So werden im Bereich der OECD bis 1985 nahezu 70 Millionen junger Menschen in das berufsfähige Alter eintreten. Gegenüber 1970 hat sich das internationale Erwerbspersonenpotential in den 24 OECD-Staaten dann um 17 Prozent erhöht. Der Test auf die Flexibilität und Absorptionsfähigkeit der nationa-len Arbeitsmärkte steht noch bevor. Geburtenstarke Jahrgänge drängen gerade zu einem solchen Zeitpunkt auf den Arbeitsmarkt, zu dem der gegenwärtig ablaufende Wandlungsprozeß der einzelnen Volkswirtschaften noch nicht soweit abgeschlossen ist, daß schon konkret die zukünftig quantitativ notwendigen neuen Arbeitsplatzstrukturen sichtbar wären.
Dieses zeitgleiche Zusammentreffen inhaltlich unterschiedlicher Entwicklungstrends wirkt sich rein quantitativ für den Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland wie folgt aus:
— Das deutsche Erwerbspersonenpotential nimmt von 1975 bis 1988 um durchschnittlich jährlich 77 000 Erwerbspersonen zu.
D. h. von 1975— 1988 ist allein aus demographischen Gründen eine Erhöhung des Arbeitskräftepotentials von 1 Millionen zu erwarten
— In seiner jüngsten Analyse der Auslands-konjunktur rechnet das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung mit einer Schrumpfungsrate des realen Sozialproduktes für 1975 von 2 bis 3 Prozent für alle OECD-
Länder. Für die Bundesrepublik heißt dies, daß die Arbeitslosenzahl Anfang 1976 bei normaler Witterung auf 1, 4 bis 1, Millionen steigen könnte 5).
Die Trends dieser Entwicklungen sind eindeutig. Die absehbaren Auswirkungen auf die soziale Sicherung können gravierend sein, wenn auf das ernst zu nehmende Phänomen strukturell bedingter Dauerarbeitslosigkeit nicht adäquat* in Form von wohlfahrtsstaatlichen und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen reagiert wird.
Der soziale Friede wurde in der Bundesrepublik trotz einer Millionen Arbeitslose bislang nicht gefährdet. Wenn auch die Liquidität der Bundesanstalt für Arbeit durch Darlehen des Bundes in Milliardenhöhe weiterhin gesichert werden kann, so bietet diese Art der individuellen sozialen Absicherung der Arbeitslosen mittelfristig keine Gewähr dafür, daß „Berufsarbeitslosigkeit“ über die unausbleiblichen psychischen und physischen Belastungen hinaus nicht doch zur Gefahr für die politische Stabilität des Landes werden kann.
Machiavellistische Anwandlungen zur Ignorierung von möglicherweise bis zu 1, 5 Millionen Arbeitslosen zu Beginn des Jahres 1976 können — sollte dies von Dauer sein — auf selten der Bevölkerung zum Abbau von Regierungsloyalität, aber auch zum Zweifel an der Leistungs-und Handlungsfähigkeit bestimmender demokratischer Institutionen des Staates führen. Der demokratische Staat ist gezwungen, will er das demokratische Grundelement in sich zum Tragen bringen, arbeitsmarktpolitische Steuerungsansätze zu entwik-keln, um für vorhandene Arbeitskräfte Arbeitsplätze zu beschaffen bzw. — und dies war bislang notwendiges Ziel der Arbeitsmarktsteuerung — vorhandene Arbeitsplätze mit Arbeitskräften zu besetzen.
Die Grenzen eines marktwirtschaftlich organisierten Systems, das durch seine bestimmende Privatheit ein hohes Maß an Flexibilität erreichen kann, sind deutlich in dem Falle erreicht, wo das politische System gezwungen ist, zur Aufrechterhaltung seiner demokratischen Prinzipien weitgehend systematisch erzeugte und privat sanktionierte Arbeitskräftefreisetzungen durch beschäftigungspolitische „Aufräumungs" arbeiten zu neutralisieren. Eine Überhöhung marktwirtschaftlicher Ordnungsprinzipien ist ein untauglicher Beitrag zur Lösung der Arbeitslosenproblematik, denn ohne eine aktive staatliche Arbeitsmarktlenkung ist das hohe Niveau der Arbeitslosigkeit nicht abzubauen.
III. Zur Inadäquanz heutiger Arbeitsmarktpolitik
Die Systemlogik einer privatwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaft steht vor einer Bewährungsprobe. In Zeiten stetigen Sozialproduktanstiegs waren die marktwirtschaftlichen Strukturprinzipien und die darin angelegten Spielräume für private Initiativen Generator für die weltwirtschaftlich starke Stellung der Bundesrepublik von heute. Aber wurde nicht gerade in den „fetten" Jahren versäumt, auch die Prinzipien und Grundlagen für differenzierte staatliche Lenkungsmöglichkeiten in den privat-determinierten ökonomischen Organismus einzuarbeiten? Die gerade in dieser Zeit stattfindende Emotionalisierung und Polarisierung der Diskussion um Grundfragen unserer Wirtschaftsordnung weist auf dieses Versäumnis hin.
Die naive Gläubigkeit an quantitatives Wachstum rächt sich jetzt in der Unzulänglichkeit der vorhandenen arbeitsmarktpolitischen Steuerungsinstrumente, die die prekäre Arbeitslosensituation von heute nicht verhindern konnten. Mit anderen Worten: Das traditionelle Selbstverständnis von Arbeitsmarkt-politik, das sich in außerbetrieblichen Maßnahmen erschöpfte, wie: Arbeitslosenversicherung, Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und beruflicher Weiterbildung, muß angesichts der bestehenden konjunkturellen und strukturellen Beschäftigungskrise als zu eng aufgefaßt werden.
Das bisher geläufige Instrumentarium zur Behebung von Arbeitsmarktungleichgewichten ist — in Anlehnung an keynes'sche Rezepte der Globalsteuerung — von vornehmlich konjunkturbeeinflussender Art und durch seine globale Wirkungsweise auf einen. mengenmäßigen Ausgleich von Arbeitskräften und Arbeitsplätzen gerichtet.
Mit den Instrumenten der Steuer-und Finanz-politik, der Kredit-, Zins-und Währungspolitik sollte eine Steigerung der Nachfrage nach Gütern mit entsprechend beschäftigungspolitischen Konsequenzen erzeugt werden. Der Einsatz dieser marktkonformen Mittel zur indirekten Arbeitsmarktregulierung erfolgte in Reaktion und als Kompensation auf Marktdefizienzen. Eine Arbeitskraft-Politik, die sich in ihrem Selbstverständnis an das bislang gläubig hingenommene, alle Probleme scheinbar von selbst lösende Regulierungsprinzip „Markt" anhängt, kann aber nicht mehr adäquat auf die heutige Arbeitsmarktstrukturierung mit den zutage tretenden mehrfachen Strukturschwächen reagieren.
Neuere Konzeptionen der Arbeitsmarktstrukturierung betrachten den Gesamtarbeitsmarkt als ein Konglomerat von Teilarbeitsmärkten, die durch mehr oder weniger institutionalisierte Regelungen voneinander getrennt sind. Die Struktur dieser Teilarbeitsmärkte ist durch die Dimension der Zugangs-und Abgangsregelung, durch die Regelung des Einsatzes und der Entlohnung von Arbeitskräften innerhalb des Teilarbeitsmarktes und durch die fachliche und räumliche Ausdehnung des Teilarbeitsmarktes beschreibbar. Die Mobilität der Arbeitskräfte wird innerhalb des Teil-arbeitsmarktes erleichtert, zwischen den Teil-arbeitsmärkten erschwert, denn das Interesse, Teilarbeitsmärkte abzuschirmen, wächst mit dem Umfang der Kosten (z. B. für Umschulung), die mit einem Arbeitsplatzwechsel entstehen
Gegenüber dieser Fragmentierung und Abschottung der einzelnen Teilarbeits„märkte“ bleibt das überlieferte Politikmuster einer keynesianisch-global einsetzenden Arbeitskraft-Politik zwangsläufig unsensibel. Ebenso gilt dies für das Unvermögen, die Gleichzeitigkeit von Unter-und Überbeschäftigung, die Widersprüche zwischen Qualifikation der Arbeit und ihrem tatsächlichen Einsatz, die relativ große offene und latente Arbeitslosigkeit in spezifischer Hinsicht (Jugendliche, Alte, regional-spezifisch, branchen-spezifisch etc.) in der Vergangenheit nicht verhindert zu haben bzw. ihr jetzt nicht entgegenwirken zu können. Die Problematik ist offengelegt, die in dem Glauben an die stetigen Selbstheilungskräfte der Wirtschaft vernachlässigte Pflege jetzt benötigter Instrumente muß nachgeholt werden
Dies um so mehr, als das Hoffen und Vertrauen auf die „problemlösende, selbstheilende Kraft der privaten Wirtschaft“ allein nicht ausreicht, in absehbarer Zeit einen wesentlichen Beitrag zur Entspannung des Arbeitsmarktes zu liefern: Die Kapazitätsauslastung der verarbeitenden Industrie sinkt seit 1971/72. Die vorhandenen Kapazitäten sind gegenwärtig im Durchschnitt nur zu 60 Prozent ausgelastet, bei einer „Normalauslastung" von 88 bis 90 Prozent Wieweit die Arbeitslosigkeit durch einen ähnlich starken Aufschwung wie 1968 abgebaut werden kann, muß mit Skepsis beurteilt werden. Damals stieg das Bruttosozialprodukt real um 7,3 % bei einer gesamt höheren gesamtwirtschaftlichen Kapazitätsauslastung von 78 %. Gegenwärtig muß der Start also von einem niedrigeren Auslastungsgrad industrieller Anlagen-nutzung ausgehen, d. h., bei der optimistischen Annahme eines realen Zuwachses des Brutto-sozialproduktes von vier bis fünf Prozent ist nach Schätzungen des Instituts für Wirt-Schaftsforschung (Ifo) trotzdem die durchschnittliche Arbeitslosigkeit 1976 über dem Niveau von 1975, d. h. über 1, 1 Millionen.
Unter diesen Voraussetzungen muß die Möglichkeit eines „Absaugens" des Arbeitsmarktes allein von der Nachfrageseite des Beschäftigungssystems her in naher mit Zukunft Distanz beurteilt werden. Verstärkt müssen angebotsorientierte Ansätze berücksichtigt werden, die den faktisch vorhandenen Uberschuß an Arbeitskräften — bei einer offenen Stellenzahl, die das fluktationsbedingte Minimum kaum noch oder gar nicht mehr übersteigt — durch beschäftigungspolitische Alternativen abzubauen versuchen.
Die Diskussion der angebotsseitigen Entlastungseffekte des Arbeitsmarktes ist relativ weit fortgeschritten und bestimmt teilweise längst die tägliche Praxis der Arbeitsämter.
Die Ausschöpfung der Möglichkeiten der Fortbildung und Umschulung ist aufgrund des Arbeitsförderungsgesetzes längst Bestandteil des Programmhaushaltes der Bundesanstalt für Arbeit Die Grenzen solcher Maßnahmen sind rein quantitativ abgesteckt durch das Angebot an Fortbildungs-und Umschulungsplätzen. Die Nettoeffekte bei der Nutzung von Fortbildungsmöglichkeiten für den Arbeitsmarkt sind unter den ausschöpfbaren Ausbildungsplatz-Angebotsbedingungen mit 50 000 Auszubildenden relativ gering einzu-schätzen Die Wahrscheinlichkeit, daß nach dem Ausbildungsförderungsgesetz fortgebildete Arbeitslose nach Absolvierung von Fortbildungs-und Umschulungsveranstaltungen bei allgemeiner Arbeitsplatzunsicherheit und anhaltendem Schrumpfen des Arbeitsplatzpotentials trotzdem keine adäquate, vertragliche Bestätigung ihrer Fortbildungsbemühungen erhalten, ist leider vorhanden.
Weitere kurzfristig wirksame Maßnahmen, die Zahl der Arbeitslosen zu reduzieren, sollen hier nur stichwortartig angeführt werden. Wenn es auch gelingen mag, durch Verlängerungder Schulzeiten — falls eine entsprechende Zahl von Lehrern und ausreichende Raumkapazität vorhanden sind — und durch vorzeitige Beendigung des Erwerbslebens (flexible Altersgrenze) sowohl eine Verzögerung des jahrgangsbedingten Zuwachses an Erwerbspersonen bzw. eine beschleunigte Verringerung der Alterserwerbstätigkeit zu erreichen, so haftet diesen Maßnahmen stets ein Hauch von menschenverachtender, technokratisch-perspektivloser Arbeitsmarktbeeinflussung an. Auf die sozialen und psychischen Folgeprobleme sowohl der jungen Menschen — die etwa ein Jahr länger in Schulen gehortet werden — als auch der frühzeitig „flexibel" aus dem aktiven Erwerbsleben herausgenommenen älteren Menschen kann bei solch grober Mechanik — eben weil z. Z. noch keine verfeinerten Methoden einsetzbar sind — keine Rücksicht genommen werden.
Ebenso sind Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wohl kurzfristig geeignet, als eine „ergiebige“ Instrumentenvariable den lokalen Arbeitslosenbestand zu reduzieren. Voraussetzung ist allerdings das Vorhandensein von fortgeschrittenen Arbeitsprogrammen, die nicht sowieso in Kürze in Arbeit genommen werden sollen bzw. von Gewährleistungen, daß die von der BA für solche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bereitgestellten Gelder nicht zur Substituierung von kommunalen Haushalts-lücken benutzt werden.
Ein „Einfrieren" der Ausländerbeschäftigung und der forcierte Abbau des „Gastarbeiter“bestandes in der Bundesrepublik ist nur formal und letztlich nicht endgültig ein Ausweg, von dem hohen Sockel der Arbeitslosigkeit herunterzukommen. Zweifel müssen sich regen, wieweit dieser Ausweg gangbar ist. Tatsache ist doch, daß sich die Rückwanderung ausländischer Arbeitnehmer in die Entsendeländer verlangsamt und ein „harter Kem“ von Ausländern sichtbar wird, der sich durch langjährige Tätigkeit die Aufenthalts-berechtigung im Bundesgebiet längst erarbeitet hat.
IV. Zum Selbstverständnis erweiterter Beschäftigungspolitik
Mit solchen beschäftigungspolitischen Instrumenten allein kann nicht der Weg von dem enggefaßten Begriff der Arbeitsmarktpolitik hin zu dem notwendigerweise weitergefaßten Begriff der Beschäftigungspolitik begangen werden. Es fehlt bei allen kurzfristigen Erfolgen, die mit dieser Art Krisenmanagement erzielt werden können, die Einbettung und Einfügung dieser Maßnahmen in ein zumindest mittelfristiges arbeitsmarktpolitisches Grundkonzept. Um allerdings der komplexen Arbeitsmarkt-mechanik mit dieser Anforderung bewußt steuernd gerecht zu werden, müßte ein Instrumentarium vorhanden sein, das ausreicht, die relativ anonyme, auf betriebskalkulatorische Eigenheiten rücksichtnehmende private Personalpolitik der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes einzubeziehen in außerbetrieblich ansetzende Maßnahmen einer Beschäftigungsplanung, die von den mehr oder minder beeinflußbaren Eckgrößen der Arbeitszeit, der Erwerbsquote und der regionalen Mobilitätsbereitschaft bestimmt wird.
Eine instrumentelle Einlösung dieses theoretischen Anspruches muß der zentralen Problematik öffentlich unkontrollierter Freisetzungen von Arbeitskräften wirksam entsprechen können. Im Kern wird es darum gehen, die Personalpolitik der privaten Einzelunternehmen durch sowohl externe (staatliche) Anreize als auch durch eine betriebsintern sich auswirkende gewerkschaftlich durchzusetzende Vertragspolitik zu beeinflussen.
Jeder zukunftsorientierte Ansatz einer „integrierten" Beschäftigungspolitik — also der Versuch des koordinierten Zusammenspiels zwischen außer-und innerbetrieblich ansetzenden arbeitsmarktwirksamen Maßnahmen — sieht sich einem „objektiven“ Dilemma ausgesetzt, nämlich die Mechanismen privat-
wirtschaftlicher Tätigkeit in gesamtgesellschaftliche Funktionserfordernisse besser einordnen zu müssen. Die vielfach bestehende Ansicht, daß staatliche Politikintention der Starrheit des Zwangsmechanismus einer privaten Kapitalverwertung stets unterzuordnen ist (wie es undifferenzierte staatsmonopolistische Ansätze unterstellen), muß aufgrund vorliegender Forschungsergebnisse einer polit-ökonomisch-systemtheoretisch vorgehenden Verwaltungswissenschaft mindestens relativiert werden Wer das marktwirtschaftliche System mit seinem bestimmenden privaten Kem absolut als „black-box" betrachtet, und von hier aus z. B. krisentheoretische Folgerungen ableitet übersieht, daß mittels spezifischer staatlicher Politiken (s. u.) sensitive Einwirkungsfelder und Beeinflussungsmöglichkeiten auf die privat getroffenen Investitionsentscheidungen vorhanden sind.
Mindestens folgende Politikfelder haben von ihren untereinander bestehenden Dependenzen her sowohl direkt als auch indirekt Einfluß auf die stets fluktuierenden Angebots-Nachfrage-Salden des Arbeitsmarktes: — Auf die arbeitsmarktwirksamen Möglichkeiten global ansetzender staatlicherKonjunktur-, Steuer-, Währungs-und Zinspolitik und auf deren Chancen, bei der jetzigen unzulänglichen Anlagenausnutzung industrieller Kapazitäten eine nachhaltige Beeinflussung des angebotenen Beschäftigungsvolumens zu erreichen, wurde schon eingegangen.
— Das Scheitern bildungsökonomischer Bedarfsprognosen ist offensichtlich. Die Ableitung von Schüler-bzw. Studenten-Relationen je Berufsfeld aus einem langfristig prognostizierten Bruttosozialproduktanstieg — wie es dem klassischen Manpower-Ansatz entspricht — ist als Entscheidungshilfe für die administrative Bildungsplanung nicht länger haltbar. Die Bildungspolitik in ihrem Verhältnis zum Beschäftigungssystem hat sich vermehrt die Ergebnisse neuerer Untersuchungen zu eigen zu machen. Gerade die Erkenntnis, daß sich der Arbeitsmarkt „unscharf“ verhält — d. h. spezifische Ausbildungs -qualifikation werden von unterschiedlichen Berufsfeldern absorbiert —, hat verstärkt Eingang zu finden in die Vermittlungsvorgänge von Arbeitskräften.
Die Tatsache, daß das Beschäftigungssystem sich qualifikationsmäßig allgemein als „Allesschlucker" auffassen läßt, hat neben bildungsreformerischen (vgl. die Begründungen zur Einführung des Berufsgrundbildungsjahres) auch arbeitsmarktwirksame Folgen. Die Abschottung branchenspezifischer Teilarbeitsmärkte sollte auf der Basis dieser Erkenntnisse — mindestens von Seiten der Arbeitsvermittlung — nicht mehr als fluktationshindernd angesehen werden. — Mit der Verteidigungspolitik und der Anpassung der Personalrekrutierungspolitik der Bundeswehr an die jeweilige Konjunkturlage kann für deutsche Verhältnisse ein neuer Weg begangen werden (vgl. das Beispiel Schweden). Darüber hinaus sollte es zur Praxis werden, die Vergabe von spezifischen Rüstungsaufträgen an die Industrie mit beschäf-tigungswirksamen Vereinbarungen zu koppeln. — Der Erfolg der Sozialpolitik wird angesichts der zu erwartenden wirtschaftlichen Stagnationsphase daran zu messen sein, wieweit es ihr gelingt, die im individuellen Bereich auftretenden Folgen einer Erosion des Glaubens an die unbegrenzte Wohlstands-mehrung aufzufangen. Aktive Sozialpolitik ist notwendig, um mit dem im Ausbildungsförderungsgesetz institutionalisierten Solidarprinzip in modifizierter Form ein wesentliches Instrument zukünftiger Beschäftigungspolitik zu erhalten (s. u.).
— Die Bedeutung der regionalen Strukturpolitikläßt sich daran messen, daß in wirtschaftlich schwachen Branchen und Regionen bzw. in einseitig strukturierten Gebieten besonders hohe Arbeitslosigkeit anzutreffen ist. Um eine verbesserte und gleichgewichtigere regionale Verteilung der Arbeits-und Lebensbedingungen zu erreichen, muß eine intensivere Abstimmung einzelner wirtschafts-und sozialpolitischer Maßnahmen erfolgen. Die Koordinierung hat die sektorale Strukturpolitik in ihren möglichen Auswirkungen auf die regionale Beschäftigungslage einzubeziehen, um daraus dann Maßnahmen zur beruflichen Anpassung durch Verteilung von Bildungs-und Ausbildungsmöglichkeiten abzuleiten
— Aufgabe der Europapolitik ist es, der Internationalität der Arbeitsmarktproblematik von heute gerecht zu werden. Entscheidungen mit Langfristwirkung sind heute notwendig: Steht z. B. industrielle „Sanierung“ der Entsende-länder von ausländischen Arbeitnehmern durch die hochindustrialisierten westlichen Industrienationen letztlich im Widerspruch zu Erfordernissen, langfristig — auch noch über 1985 hinaus — das Erwerbspersonenpotential durch „Gastarbeiter" ergänzen zu müssen? Es könnte sich empfehlen, den „harten Sockel“ der momentan im Inland befindlichen ausländischen Arbeitnehmer schon deshalb nicht um jeden Preis abzubauen, weil mit der sozialen Integration dieser Menschen ein Aspekt notwendiger Arbeitsmarkt-Langfriststrategie abgedeckt wird
Diese Darstellung von Politikfeldern, die mit dem Arbeitsmarkt in einem interdependenten Wirkungszusammenhang stehen — die Gesundheits-und Familienpolitik müssen dazu-gerechnet werden —, kann hier nur skizzenhaft bleiben. Deutlich sollte aber geworden sein, daß das Arbeitsmarktgeschehen verständlicher werden kann, wenn stets die Wechselwirkungen dieser Politiken untereinander — in bezug auf den Arbeitsmarkt — und in ihren mindestens diffusen Auswirkungen auf das Produktionsund Absatzverhalten der Arbeitsorganisationen (Betriebe, Unternehmen usw.) berücksichtigt wird.
Dieser komplexe Anspruch umreißt noch am ehesten die Rolle und übergreifende Bedeutung einer zukünftigen Beschäftigungspolitik. Adäquat läßt sich der öffentlich bislang nicht abzudeckende Informationsmangel — über die ablaufenden Vorgänge in dem privatwirtschaftlichen Teilsystem der bestehenden Gesellschaftsformation — nur durch Mitbestimmungszugeständnisse offenlegen.
Eine Beschäftigungspolitik, die trotz dieses Informationsdefizites Probleme struktureller Dauerarbeitslosigkeit abarbeiten muß, ist dazu noch am ehesten in der Lage, wenn sie berücksichtigt, daß das informationsmäßig vorab nicht erschließbare private Wirtschaftssystem eingewoben ist in erreichbare Beeinflussungsfelder staatlicher Teilpolitiken, daß es aufgrund seiner systemischen Eigendynamik (Konzentrationsvorgänge, Arbeitsteilung, Rationalisierung) und der damit verbundenen beschäftigungswirksamen Effekte mindestens partiell in seinen Entwicklungstendenzen transparent ist.
Ein Ergebnis dieser beschäftigungspolitischen „Philosophie" muß sein, daß angesichts der dargelegten tiefgreifenden, strukturell bedingten Beschäftigungskrise sehr viel mehr Phantasie erforderlich ist, um über die arbeitsmarktwirksamen Notmaßnahmen von heute hinaus zu gekoppelt ansetzenden Lenkungsansätzen zu kommen. D. h., die schon vorhandenen indirekten Möglichkeiten zur Beeinflussung der Nachfrageseite des privaten Sektors müssen mindestens ergänzt werden um Ansätze zu einer flexiblen Bereitstellung von benötigtem Arbeitsvolumen (Arbeitskraft X Arbeitszeit). Ein solcher Ansatz zur „Simultanpolitik“ liegt z. Zt. schon im Bereich staatlicher „Steu-erungs" möglichkeiten der privaten Wirtschaft, nur ist diese notwendige beidarmige Ausrichtung (spezifisch könnte dies sein: Kopplung wirtschaftspolitischer Maßnahmen mit branchenspezifisch und regional unterschiedlichen flexibel einsetzbaren Arbeitszeit-verordnungen) der Politikintentionen noch zu wenig im administrativen Problembewußtsein vorhanden; noch fehlen konkrete Möglichkeiten, durch z. B. variable Arbeitszeitpolitik das jeweils vom Markt benötigte Arbeitsvolumen bereitzüstellen; noch fehlt ein Instrumentarium, um durch flexible zeitliche Herausnahme von Erwerbspersonen aus Teil-arbeitsmärkten auf die spezifische Situation unausgelastet fahrender bzw. sich durch Rationalisierung wettbewerbsfähiger machender Wirtschaftsbranchen zu reagieren.
Um an einem Beispiel zu zeigen, was nicht simultane Politikintention ist, soll hier ein vom BMWi herausgegebenes Merkblatt über die Kooperationserleichterungen für kleine und mittlere Unternehmen nach § 5 b des Kartell-gesetzes vom 15. April 1975 werden.
Dabei geht es darum, die „Leistungsfähigkeit kleinerer und mittlerer Unternehmen“ zu fördern. Eine Ergänzung des Kartellgesetzes erlaubt demnach bindende zwischenbetriebliche Verträge von mittelständischen Unternehmen untereinander. Ziel dieser Art der Kooperationsvereinbarungen ist — wenn „der Wettbewerb auf dem Markt nicht wesentlich beeinträchtigt wird" —, zu einer „Rationalisierung wirtschaftlicher Vorgänge" zu kommen.
Die spezifischen Wettbewerbsschwierigkeiten des Mittelstandes versucht der Gesetzgeber durch Kooperationszugeständnisse abzumildern. Allerdings, die beschäftigungswirksamen Folgeeffekte dieser öffentlich zugestandenen zwischenbetrieblichen Rationalisierungsmöglichkeiten werden nicht durch entsprechende kompensierende Auflagen ausgeglichen. Der solcherart „freigesetzte" Arbeitnehmer wird eindeutig hinter das abstrakte Funktionieren wettbewerbsorientierter Markt-mechanismen gestellt. Die „Simultanität", die in solchen Zugeständnissen an verbesserte einzelbetriebliche Auftragslage, Gewinnerwartung und Investitionsplanung steckt, ist beschäftigungspolitisch eindeutig negativ einzuschätzen. Bislang setzt — wenn solch rationalisie-rungs,, geschädigte" Arbeitslose das Arbeitsmarktkonto belasten —stets ein längst ritualisierter Mechanismus zur Zahlung von Arbeitslosenunterstützung, zur Fortbildung und Umschulung, zur „Verrentung" ein. Mit diesem vom AFG vorgeschriebenen, letztlich doch passiven Reaktionsmuster werden die beschäftigungswirksamen Folgen von wettbewerbsfördernden Gefügeverschiebungen zu kompensieren versucht. Die dynamisch — d. h. auch in ihrer Richtung unkontrolliert — verlaufenden Schrumpfungsund Anpassungsprozesse sowohl im Wettbewerbs-als auch im von Marktwidrigkeiten weitgehend gelösten Oligopolsektor sind der Generator für die Einspeisung von „Anpassungsund Schrumpfungsopfern“ (d. h. Arbeitslosen) in den Arbeitsmarkt.
Vor dem Hintergrund dieser systematischen Vorgänge muß ein beschäftigungspolitischer Ansatz diskutiert werden, der — von der Intention her — solche systemisch bedingten Arbeitskraft-Freisetzungen vor dem Abstoß auf den Arbeitsmarkt durch Flexibilität in zwischenbetrieblicher Arbeitszeitpolitik aufzufangen versucht
Auch in der publizistischen öffentlichen Diskussion machte dieser Vorschlag in jüngster Vergangenheit Schlagzeilen: „Durch kürzere Arbeitszeit die Arbeitslosenzahl verringern", so der Hamburger Senator für Arbeit und Soziales in der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" vom 15. 7. 1975. „ 100 verdienen, 50 stehen draußen", so der Tenor eines „Spiegel" -Interviews mit Hamburgs Bürgermeister Klose über Arbeitslosigkeit („Spiegel" vom 28. 7. 1975).
Im Kontext dieser Arbeit soll dieser Vorschlag nun logisch am Beispiel des Abbaues von Überstunden entwickelt werden. Problematisierende Fragestellungen zur Umsetzbarkeit sollen die plausiblen Schwierigkeiten offenlegen, die unter den gegebenen Bedingungen der Gesamtsystemstruktur einer Realisierung dieses Vorschlages entgegenstehen; offengelegt werden sollen aber auch die Chancen für eine „integrierte" bzw. „simultane" Beschäftigungspolitik.
V. Arbeitszeitflexibilität als Konzept
1. Das Modell
Zur Entwicklung des Grundprinzips eignet sich folgendes Gedankenmodell:
In einem Arbeitsamtsbezirk — irgendwo in der Bundesrepublik — sind verschiedene Branchen A, B, C (Chemie, Textil-, Luftfahrt-beitsorganisationen angesiedelt.
_ Die interne Situation in den Unternehmen A der chemischen Industrie (6 000 Beschäftigte) ist aufgrund der hohen Exportabhängigkeit der ganzen Branche sehr angespannt. An die Einstellung neuer Mitarbeiter kann schon seit längerem nicht mehr gedacht werden. Stets muß das Arbeitsamt mit der Ankündigung von weiteren Entlassungen rechnen.
— In den B-Unternehmen (3 000 Beschäftigte) der Textil-Branche ist nach schwierigen Zeiten verhaltener Optimismus eingekehrt. Textilien werden wieder gekauft. Trotzdem herrscht weiter ein genereller Einstellungstop vor. Einige Firmen müssen allerdings noch Kurzarbeit einlegen.
— Die Lage in den C-Unternehmen (5 000 Erwerbspersonen), die der Luft-und Raumfahrt-, aber auch der Automobilindustrie zuarbeiten, ist z. Zt. dank interessanter Projekte und eines anhaltenden „Frühlings" im Kraftfahrzeugsektor relativ stabil und die mittleren Aussichten einer weitgehenden Kapazitätsauslastung werden positiv eingeschätzt. Die Mitarbeiter, die aus Altersgründen ausscheiden oder fluktuationsbedingt diese C-Unternehmen verlassen, werden durch Neueinstellungen ersetzt. In einigen dieser marktstarken Firmen werden Überstunden gefahren. Die Personalabteilungen haben Anweisung, Personalaufstockungen vorzunehmen.
Während die A-Unternehmen das Arbeitsmarktkonto belasten, sind die B-Unternehmen arbeitsmarktneutral. Die C-Unternehmen suchen sich sowohl auf dem lokalen als auch auf dem überregionalen Arbeitsmarkt ihre neuen Mitarbeiter.
Die Zahl der Arbeitslosen in diesem Arbeitsamtsbezirk umfaßt zum Zeitpunkt t 125 Personen. Eine Differenzierung dieser Arbeitslosen nach Berufsanfängern, nach gesundheitlich Eingeschränkten, Teilzeitarbeitungssuchenden usw. soll im Rahmen dieses Gedankenmodells nicht vorgenommen werden. Der Einfachheit halber gelte dies ebenso für die möglichen Rechtsformen der einzelnen Arbeitsorganisationen (AG., GmbH., stille Teilhaber usw.).
Die tariflich vereinbarte normale Arbeitszeit soll, für alle Branchen gleich, mit 40 Stunden pro 5-Tage-Woche angenommen werden. 2. Die Wirkungsweise des Konzeptes auf der Zeitebene Auf einem — imaginären — Zeitkonto der C-Unternehmen sammeln sich nicht nur Woche an (5 000 Erwerbspersonen multipliziert mit 40 Stunden normaler Wochenarbeitszeit), sondern dadurch, daß 1 000 Personen noch zusätzlich wöchentlich je 10 Überstunden arbeiten können, erhöht sich das erreichte und damit produktiv verbrauchte Zeitpotential um 10 000 Stunden auf 21104 Stunden.
Das tariflich zugestandene ausschöpfbare Zeitvolumen in den B-Unternehmen von (3 000 X 40) 12 • 104 Wochenstunden kann aufgrund der Situation in der Textilbranche nicht voll „ausgefahren" werden. Für 500 Personen mußte nämlich wiederholt verkürzte Arbeitszeit von 10 Stunden/Woche angemeldet werden. Die real verbrauchte kollektive Arbeitszeit blieb demnach um 5 000 Stunden unter dem ausschöpfbaren Zeitbudget.
Das Niveau des erreichten Zeitpotentials in den A-Unternehmen schrumpft ständig. Das Zeitkonto auf der Basis von 6 000 Beschäftigten betrug 24 • 104 Wochenstunden. 125 Personen mußten insgesamt in letzter Zeit von A-Unternehmen entlassen werden. D. h., das ab-fahrbare Zeitvolumen ist in t um 5 000 Wochenstunden geringer als vor den Entlassungen.
Eine Bilanzierung der geleisteten bzw. nicht geleisteten globalen Arbeitszeit für den hier angenommenen fiktiven Arbeitsamtsbezirk ergibt den trivialen Schluß, daß ein branchen-übergreifender, imaginärer Zeitfonds — unter den Bedingungen dieses Modells — als ausgeglichen anzusehen ist. (Den 10 000 Überstunden stehen 5 000 „gefeierte" Kurzarbeiterstunden und 5 000 durch Entlassung verlorene Stunden gegenüber.)
Arbeitszeitflexibilität auf der logischen Ebene bedeutet bei dieser Konstellation, daß die 1 000 Überstunden leistenden Erwerbstätigen der C-Unternehmen zur normalen 40-Stunden-arbeitszeit pro Woche zurückkehren müßten. Die zur Abarbeitung bereitstehenden 10 000 „über" stunden pro Woche können dann — mindestens rechnerisch — durch Einbeziehung der 125 freigesetzten ehemaligen Chemie-Mitarbeiter und der 500 Textil-Kurzarbei-ter „abgefahren" werden.
Da die Wochenarbeitszeit der Kurzarbeiter in t„ = 30 Wochenstunden beträgt, muß den 125 entlassenen Chemie-Werkern (alle stehen dem Arbeitsmarkt zur „Verfügung") zunächst die Aufholung dieses arbeitszeitlichen „Vorsprunges" der Kurzarbeiter vor den Arbeitslosen zugestanden werden. D. h. von den 10 000 Stunden, die die C-Unternehmen dem Arbeitsmarkt zur Abarbeitung zur Verfügung stellen, werden (125 Personen X 30 Stunden) = 3 750 siunuen von aen „Aroeitsiosen'abgedeckt. Das darüber hinaus noch vorhandene Arbeitszeitvolumen von 6 250 Stunden wird unter den 625 „betroffenen" Erwerbspersonen (500 Kurzarbeiter, 125 ehemalige Arbeitslose) gleichmäßig aufgeteilt.
3. Ergebnis und Ausblick Unter den hier gesetzten „freischwebenden" Annahmen des Gedankenmodells konnte deutlich gemacht werden, daß rein rechnerisch und logisch nach dem hier am Beispiel des Abbaues von Überstunden auf der Zeit-ebene entwickelten Konzepts ergiebige Entlastungseffekte auf dem Arbeitsmarkt zu erwarten sind. Grundlage des Wirkungsmechanismus ist die abstrakte Vorstellung, daß sich das Prinzip der Solidargemeinschaft auf die Dimension Arbeitszeit ausdehnen läßt. Grundsätzlich kann dieses Konzept dann zum Tragen kommen, wenn analog zu dem herkömmlichen Solidarprinzip des AFG, d. h. über die Zahlung von Beiträgen an die Bundesanstalt für Arbeit hinaus, von den Arbeitnehmern und Arbeitgebern diejenigen Zeitkapazitäten, die die Normalarbeitszeit überschreiten, an einen „Zeitfonds" weitergemeldet werden. Die Abdeckung von auftretenden Arbeitsmarkt-diskrepanzen sollte in einem lokalen Arbeitsamtsbezirk dann gelingen, wenn potentiellen Arbeitszeitbedürftigen ein individuell abarbeitbares Zeitpaket aus dem „Zeitfonds“ zugeteilt wird.
Die beschäftigungswirksame Ergiebigkeit eines solchen variablen Arbeitszeitinstrumentes kann über die Arbeitszeit-Äquivalenz zwischen angemeldetem Überstunden-Zeitvolumen und damit einsetzbaren Arbeitslosen auf die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit und auf den tariflichen Jahresurlaub ausgedehnt werden
Vorliegende optimistische Rechnungen über die erreichbaren beschäftigungsmäßigen Entlastungseffekte des Arbeitsmarktes — unter den Bedingungen praktikabler Arbeitszeitflexibilitäten — seien der Vollständigkeit halber angeführt
— Im Durchschnitt der gesamten Industriearbeiter wurden im Januar 1974 noch wöchentlich zwei Überstunden geleistet. Könnte dieses Maß um die Hälfte reduziert werden, ergäbe sich ein Entlastungseffekt von ca. 2bt) Mill. Stunden, das entspräche dem Äquivalent von ca. 144 000 Arbeitslosen.
— Würden die für die beiden nächsten Jahre vorgesehenen Verkürzungen der wöchentlichen oder monatlichen Arbeitszeit schon in diesem Jahr vorgenommen, d. h. die jährliche Arbeitszeit um 0, 2 Prozent bzw. 3, 5 Stunden verkürzt, könnten für 86 000 Arbeitslose produktiv zu nutzende Zeitkontingente „ausgegeben“ werden.
— Die Entlastung des Arbeitsmarktes durch Verlängerung des tariflichen Jahresurlaubes — d. h. die Vorverlegung dieser Entwicklung auf dieses Jahr — bedeutet den Gewinn eines Arbeitszeitvolumens, das auf ca. 245 000 Arbeitslose aufzuteilen wäre.
Diese hypothetischen Zahlenspiele sollen hier nur verdeutlichen, welchen instrumenteilen Rang eine flexible Arbeitszeitpolitik einnehmen kann.
Allerdings ist die Frage nach der Operationa-lisierbarkeit dieser abnormen — weil neuen — Vorstellungen bisher nicht soweit konkretisiert worden, daß der politisch-administrative Entscheidungsbedarf ermittelt werden könnte. Aber wenn es richtig ist, daß bei anhaltender technologisch und strukturell bedingter Arbeitslosigkeit nur eine Verstärkung der kompensierenden Funktionen des Wohlfahrtsstaates systematische Fehlentwicklungen des marktwirtschaftlichen Systems ausgleichen kann — um so die Gefahr von destabilisierenden bereichsspezifischen Legitimationseinbrüchen aufzufangen dann muß weitergehend geprüft werden, ob der Anspruch, zu einer „integrierten" Beschäftigungspolitik zu kommen, Realisierungschancen besitzt.
VI. Realisierungschancen beschäftigungswirksamer Arbeitszeitpolitik
In den folgenden Ausführungen soll skizzenhaft durch zwei „Einstiege" aufgezeigt werden, welchen Anforderungen ein Realisierungsversuch zur Einführung flexibler Arbeitszeitregelungen standhalten muß. Schwerpunktartig bezieht sich die Ableitung von notwendigem Entscheidungsbedarf auf industrielle Tätigkeitsfelder, also auf jene Unternehmen, deren Tätigkeit überwiegend durch maschinelle Fabrikation bestimmt wird.
Ziel des privatwirtschaftlichen Produktionsprozesses ist es, die Bedingungen zur Profiterzielung laufend zu verbessern. Diese Orientierung äußert sich gegenüber dem einzelnen Unternehmen als ein Zwangsmechanismus, der den Kapitaleigner dazu treiot, äiCil Stets gegenüber den konkurrierenden Unternehmen behaupten zu müssen. Das unterste Ziel in diesem Wettbewerbsprozeß ist dann erreicht, wenn es gelingt, mindestens den üblichen Gewinn auf das eingesetzte Kapital zu erzielen. Unter diesem Diktat stehend, muß das einzelne Unternehmen permanent versuchen, die eigenen Produktionsbedingungen zu verbessern, um eben besser als der Durchschnitt produzieren zu können.
Ein wichtiger Indikator zur Feststellung unternehmerischen Erfolges ist die Arbeitsproduktivität. (Produktmenge pro Beschäftigten in DM zu konstanten Preisen.)
Kann Arbeitszeitpolitik — mit ihrem Anspruch, gesamtgesellschaftliche Bedürfnisse von einzelwirtschaftlichen Interessen eingelöst zu bekommen — einen Beitrag dazu erbringen, daß bei gegebener spezifischer einzelbetrieblicher Produktionsstruktur und Arbeitsorganisation mindestens eine Sicherung des erreichten Standes der Arbeitsproduktivität zu erzielen ist?
Wird schon durch die jeweilige Produktionstechnik Inhalt und Umfang der von Menschen auszuführenden Tätigkeiten festgelegt und werden im Rahmen der spezifischen Arbeitsablauforganisation auch die Arbeitsplatzstrukturen mit den erforderlichen Qualifikationen bestimmt, liegt es an der Tragfähigkeit des Konzeptes Arbeitszeitflexibilität, ob der sicherlich mitunter auch diskontinuierliche Wechsel der einzelbetrieblichen Arbeitszeitpartizipanten die Produktivität des Betriebes mindestens sichern kann.
Nahezu schon technisch sind Fragen nach Art und Inhalt der Ausgestaltung kollektiv abgeschlossener Arbeitszeitverträge. Dies gilt auch für die Frage nach der konkreten, flexiblen Ausgestaltung des elementaren Arbeitsplatzes. Wird in Zukunft das privat angebotene Arbeitsplatzpotential „sozialisiert" zugunsten von zeitweilig „Arbeitslosen" und zeitweilig „Erwerbstätigen" ?
Hier soll die Problematisierung dieses Aspektes nicht weitergetrieben werden. Deutlich geworden sollte sein, daß sich Arbeitszeitpolitik systemintegrativ in die Funktionsbedingungen gegenwärtiger Produktionsprozesse und Arbeitsablauforganisationen einpassen lassen muß. Neben der wissenschaftlichen Analyse dieses Problemkomplexes und der Erarbeitung von umsetzbaren Realisierungskonzepten werden auf der sozialpsychologischen Ebene vermehrt von Kapitaleignern bzw. Vertretern des betrieblichen Managements Zugeständnisse an übergreifende Pro-Dlemlosungerlvlvenuryvcruvl, ur-xnJucEv mit gesamtwirtschaftlichem Anspruch umsetzen zu können.
Auf einer anderen Ebene ist die Frage nach dem Engagement und der Stärke solidarischen Verhaltens von Erwerbstätigen gegenüber Arbeitslosen anzusiedeln. Gerade in einer Gesellschaft, die die Individualisierung und Vereinzelung des Menschen zum Prinzip erhoben und eine spezifische Konsumenten-mentalität durch Überhöhung des materiellen Wohlstandsdenkens herangezüchtet hat, ist es zunächst eine offene Frage, ob der Noch-Er-werbstätige ohne Gratifikation von sich aus bereit ist, auf z. B. anstehende Uberstunden-angebote zu verzichten zugunsten eines — meist sicherlich unbekannten, aber arbeitslosen — Mitbürgers?
Ein notwendig noch weiter zu differenzierender Vorschlag, der u. U. hier materielle Gratifikationsangebote schaffen könnte, zielt auf ein erweitertes Verständnis des Solidarprinzips.
Möglich sollte es sein, die Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern an die Bundesanstalt für Arbeit um einen gewissen Prozentsatz zu erhöhen, um dann aus diesem Fonds nicht nur wie bislang die Arbeitslosenunterstützung zu finanzieren (bzw. die Aufgaben der BA nach dem AFG zu ermöglichen), sondern mit diesen solidarisch abgezweigten Beiträgen den Verzicht auf individuelle Nutzung des Überstunden-Zeitvolumens zugunsten von Arbeitslosen zu honorieren.
Auch dieser Problematik der zeitlichen Substitution von „freiwilliger Teilarbeitslosigkeit durch Teilerwerbstätigkeit bei einem z. Z. global schrumpfenden Arbeitsplatzangebot und bei privater Personalrekrutierungspolitik muß in vertiefenden Analysen nachgegangen werden.
VII. Schlußbemerkung
Es hat sich gezeigt, daß allein schon die aufgezeigten Problemlinien, wie — Sicherung der Arbeitsproduktivität bei übergreifender Arbeitszeitpolitik und — Zweifel an der Qualität solidarischen Gemeinschaftsdenkens der Erwerbstätigen ausreichen, die Realisierungschancen des Vorschlages Arbeitszeitflexibilität mindestens kurzfristig als sehr gering erscheinen lassen. 1r-urosvibtuurunruernUIKretserungeres Konzeptes Arbeitszeitpolitik ist kein politisch-administrativ zu bewältigender Entscheidungsbedarf offenzulgen. D. h.der Ansatz Arbeitszeitflexibilität als ein Kernstück sowohl integriert als simultan operierender zukünftiger Beschäftigungspolitik ist von den Strukturprinzipien eines marktwirtschaftlichen Systems solange politisch-planerisch nicht umzusetzen, als die Problemsensibilität der agierenden Kapitaleigner nicht — um ihrer selbst willen — die objektive Notwendigkeit erkennen, in ihre spezifischen betriebswirtschaftlichen Rentabilitätskalküle auch Elemente gesamtgesellschaftlicher Problemlösungsansätze aufzunehmen.
Aber die Forderung, daß extrem werdende Problemsituationen unbequeme und neue Lösungswege notwendig machen, bleibt bestehen.
Das momentane Starren auf den Anstieg bzw. das relative Absinken der globalen Arbeitslosenquote und politische Bemühungen, durch internationale „Weltkonjunkturpolitik" einen mindestens partiellen Abbau der nationalen Erwerbslosenzahlen zu erreichen, kann nur eine erste Teillösung sein, um die arbeitsmarktpolitischen Folgen des technisch-organisatorischen Wandels in den Produktionstechniken aufzufangen.
Darüber hinaus müssen angesichts des anhaltenden Schrumpfungsprozesses in strukturgefährdeten Branchen — allein in den ersten 6 Monaten des Jahres 1975 mußten 4481 Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland den Konkurs anmelden — langfristige Betrachtungen über die Tatsache und Auswirkungen von Dauerarbeitslosigkeit in demokratischen Staaten angestellt werden. Möglicherweise müssen vermehrte wohlfahrtsstaatliche Anstrengungen unternommen werden, zumindest muß das diskriminierende Element im sozialen Status des Arbeitslosen abgebaut werden. Dieses Arrangement mit einem sich noch stetig stärker bemerkbar machenden Phänomen Arbeitslosigkeit ist notwendig als Kompromiß zu einer Entwick-1 luny, tnn'uer SICH höhte scnon abzeichnet, daß die bisherigen „Abräumungsmuster" des Arbeitsmarktes nicht mehr funktionieren.
Nicht macchiavellistisch inspirierte Ignoranz ist zukünftig geboten, sondern unpolemische Klarheit zu der Erkenntnis, daß die unbestreitbaren Vorteile marktwirtschaftlicher Systeme auch unleugbare negative Folgewirkungen haben, die mit ihrer strukturellen Dominanz nur durch eine übergreifende, die anonyme Marktdynamik notwendigerweise zügelnde und lenkende staatliche Wirtschaftspolitik aufzufangen ist. Es gilt, die marktwirtschaftliche Organisationsweise als ein vorgegebenes Instrument zu begreifen, denn nur mit einem solchen Selbstverständnis kann es gelingen, den zu kontrollierenden „Regler Markt" als Mittel zur Erreichung von gesellschaftlichen Zielen zu gebrauchen. Dieses anerkennen heißt aber auch einsehen, daß ein sich selbst überlassener Marktmechanismus destruktive, freiheits-und fortschritts-feindliche Effekte erzeugen kann. Wie anders ist es sonst zu erklären, daß ein von dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung für 1976 prognostizierter „Aufschwung“ wohl zu einer besseren Kapazitätsauslastung und somit höheren Arbeitsproduktivität führt, dies aber voraussichtlich ohne eine nennenswerte beschäftigungswirksame Entlastung der Arbeitsmarktkonten?
Die damit sich ergebende schärfere Herausprofilierung systemisch bedingter struktureller und technologisch bedingter Arbeitslosigkeit wird verstärkt die unkontrollierte Logik marktwirtschaftlicher Funktionsprinzipien in die öffentliche Diskussion bringen.
Der politischen Entscheidungsplanung in westlichen Industrienationen obliegt es mittelfristig — neben der Installierung von beschäftigungswirksamen Steuerungsinstrumenten—, die Problematik der „Berufsarbeitslosigkeit"
durch attraktive Aktionsprogramme und sozialstaatliche Leistungen sozial zu entschärfen, um so einem sich abzeichnenden vorläufigen Dauerzustand die ideologisch-polemischen Angriffsflächen zu nehmen.
Otto Ulrich, Physikingenieur, M. A., geb. 1942 in Deilinghofen, Kreis Iserlohn; Schlosserlehre; Fachhochschulausbildung; mehrjährige industrielle Ingenieurpraxis; Studium der Bildungsökonomie, Politischen Wissenschaft und Soziologie in Berlin; z. Z. wissenschaftlicher Berater in der politischen Planung. Veröffentlichungen u. a.: Berufsbildungsreform und das Veto der Wirtschaftsverbände, in: Die Neue Gesellschaft, 4/75; Berufliche Bildung und politisches System. Analyse staatlicher Durchsetzungsschwierigkeiten von Berufsbildungsreformen (erscheint im Frühjahr 1976).