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Grundwerte in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie | APuZ 11/1976 | bpb.de

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APuZ 11/1976 Artikel 1 Der Mannheimer Parteitag der SPD 1975 Grundwerte in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie

Grundwerte in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie

Susanne Miller

/ 41 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im Godesberger Programm der SPD (1959) werden Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als „die Grundwerte des sozialistischen Wollens" bezeichnet. Im Gegensatz zum Erfurter Programm (1891) und zum Heidelberger Programm (1925), deren erster Teil eine Analyse der Gesellschaft und ihrer Entwicklungstendenzen enthält, werden im Godesberger Programm das Bekenntnis zu diesen „Grundwerten" und die aus ihm abgeleiteten „Grundforderungen“ den Ausführungen zu den einzelnen Sachbereichen vorangestellt. Diese explizite Orientierung an ethischen Kategorien bedeutete eine Abwendung von der marxistischen Fundierung früherer „Grundsatzprogramme" der deutschen Sozialdemokratie. Bedeutet sie jedoch gleichzeitig einen Bruch mit der im vorigen Jahrhundert begründeten Tradition dieser Partei? Ein Rückblick auf die Anfänge der Arbeiterbewegung und die Frühzeit der sozialdemokratischen Parteien in Deutschland — dem von Ferdinand Lassalle 1863 ins Leben gerufenen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein und der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die sich 1875 in Gotha zusammenschlossen — ergibt, daß die im Godesberger Programm genannten Grundwerte bereits damals in ihren Zielvorstellungen einen zentralen Platz einnahmen. Aber auch nachdem der Marxismus zur parteioffiziellen Lehre wurde, war die praktische Politik der Sozialdemokratie vom Bestreben bestimmt, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität im bestehenden Staat Geltung zu verschaffen. Die Widersprüchlichkeit zwischen theoretischem Bekenntnis und tatsächlicher Praxis kennzeichnete allerdings lange Zeit das Erscheinungsbild dieser Partei. An Bemühungen, sie zu überwinden, hat es nicht gefehlt. Im Exil nach 1933 und insbesondere nach der Wiedergründung der SPD 1945 wurden sie verstärkt. Die Neuformulierung sozialdemokratischen Selbstverständnisses in Godesberg hat historische Wurzeln, die weit in die Geschichte dieser Partei zurückreichen. Sie zu erkennen, ermöglicht die Einordnung dieses Programms in die Tradition der deutschen Arbeiterbewegung.

Die parteipolitische Szene der Bundesrepublik Deutschland war in den letzten Jahren durch ein von vielen als verwirrend empfundenes Phänomen gekennzeichnet: Während sich der Streit zwischen Regierung und Opposition verschärfte, erklärten sich alle Beteiligten in ihren programmatischen Äußerungen für die gleichen „Grundwerte". Dies mag einerseits als ein für jedes demokratische Gemeinwesen notwendiger Grundkonsensus gedeutet und begrüßt werden, andererseits erweckt diese Übereinstimmung im Bekenntnis bei gleichzeitiger Gegensätzlichkeit in der praktischen Politik den Verdacht, daß diese „Grundwerte" über die wirklichen Motive, Absichten und Zielvorstellungen der Parteien nichts besagen, ja daß die Berufung auf sie nur deren Camouflierung dienen solle.

Die SPD konnte durch ihren Mannheimer Parteitag vom November 1975, was ihre eigene Haltung angeht, solch einen Verdacht von sich weisen und entkräften. Nach fünfjähriger Arbeit mehrerer Kommissionen und einer intensiv geführten Diskussion in der Partei verabschiedete der Parteitag einstimmig den „ökonomisch-politischen Orientierungsrahmen für die Jahre 1975— 1985" (OR ’ 85). Damit wurde der zwei Jahre zuvor vom Hannoveraner Parteitag erteilte Auftrag erfüllt, „auf der Grundlage des Godesberger Programms die Grundwerte des demokratischen Sozialismus zu präzisieren und zu konkretisieren, eingetretene und zu erwartende gesellschaftliche Entwicklungen zu analysieren und aufzuzeigen, wie durch Reformen die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland in Richtung auf mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit und mehr Solidarität verändert werden kann" Was Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, die im Godesberger Programm von 1959 niedergelegten Grundwerte, für die deutsche Sozialdemokratie im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts bedeuteten, das wird im OR '85 ausgeführt. Diese Grundwerte liefern dort den Maßstab zur Untersuchung und Beurteilung des Bezugsrahmens und der Bedingungen politischen Handelns heute und in vorhersehbarer Zukunft sowie den Wegweiser für die Aufgaben und Schwerpunktsetzungen sozialdemokratischer Politik.

Erst aufgrund konkreter, an aktuellen Sachfragen orientierter Analyse und Programmatik, für die der OR '85 ein in der Bundesrepublik vorläufig einzigartiges Beispiel bietet, lassen sich mit den Begriffen Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität inhaltliche Vorstellungen verbinden, die dem einzelnen ein Urteil darüber ermöglichen, was die betreffende Partei unter diesen Grundwerten versteht und welches Gewicht sie ihnen bei ihren Entscheidungen zumißt. Durch die detaillierten Aussagen des OR '85 ist der mitunter erhobene Vorwurf widerlegt, bei den Grundwerten des Godesberger Programms handele es sich um „Leerformeln", bar jeder Konsequenz für das politische Handeln der SPD. Eine für das Erscheinungsbild dieser Partei und das Selbstverständnis ihrer Mitglieder nicht unerhebliche Frage bleibt dennoch nur ungenügend beantwortet: Wie verhält sich die Entscheidung der Sozialdemokraten, die Trias der Grundwerte an die Spitze ihres Grundsatzprogramms zu stellen, zur Tradition der deutschen Arbeiterbewegung? Warum wurde gerade dieser Trias — Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität — der Rang von „Grundwerten“ zuerkannt? Welchen Stellenwert hat sie im Verlauf der langen, wechselvollen Geschichte der deutschen Sozialdemokratie besessen? Im OR ’ 85 heißt es dazu nur sehr summarisch: „Die deutsche Sozialdemokratie hat seit jeher in Solidarität mit den Unterdrückten und Benachteiligten für politische Freiheit und Gerechtigkeit gestritten und die heutige rechtsstaatliche Demokratie erkämpft." Diese Feststellung bedarf der Interpretation durch einen Rückblick auf die Parteigeschichte.

Anfänge der Arbeiterbewegung Die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) durch Ferdinand Lassalle am 23. Mai 1863 in Leipzig gilt als die Geburtsstunde der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Als die SPD im Jahre 1963 ihr hundertjähriges Jubiläum feierte, folgte sie einer im Bewußtsein der Partei seit Jahrzehnten verankerten Tradition. Weniger Har war sie sich jedoch der Tatsache bewußt, daß der Lassalleschen Parteigründung eine bis in die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückreichende Bewegung vorausgegangen war, deren Bestrebungen sich auf Ziele richteten, die erst sehr viel später in organisatorischer Kontinuität verfolgt werden konnten. Zu dieser Bewegung gehörten hauptsächlich von deutschen Handwerksgesellen und emigrierten Intellektuellen getragene Vereinigungen im Ausland wie Neues Deutschland, Junges Deutschland, Bund der Geächteten, Bund der Gerechten. Kennzeichnend ist das Programm, das 1834 vom „Bund der Geächteten" unter der Überschrift „Menschen-und Bürgerrechte" in Paris herausgegeben wurde. Seine ersten fünf Artikel lauten: „Art. 1. Der Zweck der Gesellschaft ist das Glück aller ihrer Glieder.

Art. 2. Um dieses Glück zu sichern, muß die Gesellschaft einem jeden verbürgen: Sicherheit der Person;

Die Mittel, sich auf eine leichte Weise ein Auskommen zu verschaffen, welches ihm nicht nur die Bedürfnisse des Lebens, sondern auch eine menschenwürdige Stellung in der Gesellschaft sichert;

Entwicklung seiner Anlagen;

Freiheit;

Widerstand gegen Unterdrückung;

Art. Da alle Bürger, wie groß immer die Verschiedenheit ihrer Kräfte sein mag, ein gleiches Recht auf diese Zusicherung haben, so ist Gleichheit das Grundgesetz der Gesellschaft. Art. Die Sicherheit entspringt aus der Mitwirkung Aller zum Schutze der Person und der Rechte jedes Einzelnen und zur sicheren Bestrafung dessen, der sie beeinträchtigt.

Art. 5. Das Gesetz schützt die öffentliche und persönliche Freiheit gegen die Unterdrückung derer, welche regieren. Es hält das Volk für gut, die Beamten für zugänglich dem Irrtum und der Verführung."

Unverkennbar ist in diesem Dokument der Einfluß der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der Deklaration der französischen Nationalversammlung vom 26. August 1789. Von der Idee der Menschenrechte waren diese Auslandsvereine, die von der heutigen Geschichtsschreibung als „Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung" 3) * betrachtet werden, bei ihren Plänen für „eine von Grund auf neue, bessere Welt" 4) inspiriert. Es lag in erster Linie an der Situation in dem staatlich zersplitterten, industriell unentwickelten und politisch repressiv-reaktionären Deutschland, daß solche Programme Zukunftsvisionen darstellten und keine realistischen Wege zu ihrer Verwirklichung wiesen. „Die „Allgemeine Arbeiterverbrüderung"

Erst die Revolution von 1848 gab der, Arbeiterbewegung die Möglichkeit, auf deutschem Boden als politische Kraft mit präzisierten Vorstellungen, Forderungen und Aktionen aufzutreten. Unter dem bezeichnenden Namen „Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung" wurde, vornehmlich durch die Tatkraft des jungen Schriftsetzers Stephan Born, eine Organisation ins Leben gerufen, die sich die Aufgabe stellte, die Arbeiter mit Selbstbewußtsein zu erfüllen und die Anerkennung ihrer Interessen durchzusetzen. Der Berliner Gründungskongreß der Arbeiterverbrüderung vom 2. September 1848 übersandte der in Frankfurt tagenden Nationalversammlung ein Manifest, in dem er die von ihm beschlossenen „Grundzüge einer den Anforderungen der Zeit entsprechenden Organisation" darstellt und „zu geneigter Berücksichtigung bei der Beratung der Grundrechte des deutschen Volkes angelegentlichst empfiehlt". Der Wahlspruch der Arbeiterverbrüderung „Einer für Alle, Alle für Einen" war Ausdruck des Leitgedankens dieser Organisation: durch solidarische Selbsthilfe das Los der Arbeiter zu erleichtern. Die Vereine der „Arbeiterverbrüderung" richteten genossenschaftliche Unternehmungen, Krankenkassen und Kassen für die Unterstützung der Handwerksgesellen auf Wanderschaft ein, die auch noch eine kurze Zeit weiterbestanden, als bereits ihre Hoffnung auf Erfüllung ihrer Forderungen durch die Paulskirchenversammlung — Koalitionsfreiheit und Arbeitsnachweis, sozialpolitische Maßnahmen und Besserung der Arbeitsbedingungen — gescheitert war.

Die „Arbeiterverbrüderung" teilte das Schicksal der mißglückten Revolution von 1848/49. In ihrer kurzen Wirkungszeit verkörperte sie jedoch bereits Elemente, die für die Praxis der Arbeiterbewegung konstitutiv wurden: den Anspruch auf politische Gleichberechtigung der Arbeiter und auf Berücksichtigung ihrer besonderen Interessen als sozial schwächste Gruppe der Gesellschaft; das Be-mühen, auf parlamentarischem Wege diesen Interessen Geltung zu verschaffen; das Vertrauen, durch verfassungsmäßig verankerte „Grundrechte", Freiheit und Gerechtigkeit für „das Volk" sichern zu können; und schließlich die Überzeugung, daß Solidarität die unerläßliche Voraussetzung für den Erfolg der Bestrebungen einer um ihre Rechte kämpfenden Gruppe ist. Die „Arbeiterverbrüderung" bildete einen integralen Bestandteil der 1848 in Deutschland zum Durchbruch gekommenen — und zunächst durch staatliche Unterdrükkung verschütteten — demokratischen Strömung, der sie die ersten Ansätze einer nach zeitgerechten Prinzipien organisierten Arbeiterschaft zuführte.

Marx und Engels als Programmatiker Die „Arbeiterverbrüderung" kann, um einen später aufgekommenen Begriff zu gebrauchen, als Vorläufer des Reformismus in der deutschen Arbeiterbewegung bezeichnet werden. In das Revolutionsjahr 1848 fällt aber auch die Herausgabe des Dokuments, das von deren revolutionärem Flügel als „Grundstein der modernen Arbeiterbewegung" (so Wilhelm Liebknecht 1896) betrachtet wird: das Kommunistische Manifest, verfaßt von Karl Marx und Friedrich Engels im Auftrag des „Bundes der Kommunisten".

Allen idealistischen Entwürfen über eine kommende Gesellschaft und allen Bestrebungen, im Rahmen der bestehenden Ordnung die Menschenrechte für alle verwirklichen zu können, erteilen die Verfasser des „Manifests" eine Absage: „Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sjnd. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfs, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung". Und als der „nächste Zweck der Kommunisten" wird verkündet: „Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisieherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat." Daß dies nicht auf friedlichem Wege geschehen kann, wird klargestellt: „Wenn das Proletariat ... durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes der Klassen überhaupt und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf. An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ über die „Stellung der Kommunisten zu den verschiedenen oppositionellen Parteien" heißt es: » .. die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände. In allen diesen Bewegungen heben sie die Eigentumsfrage ... als die Grundfrage der Bewegung hervor." Während der Gesamttext im Stil apodiktischer deskriptiver Aussagen gehalten ist, schließt das Manifest abrupt mit einem wuchtigen Appell: „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“

Wenn auch das „Kommunistische Manifest" in der deutschen Sozialdemokratie erst von den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an allgemein bekannt wurde, also zu einer Zeit, als sie sich bereits konstituiert und sich ihre ersten Programme gegeben hatte, muß es doch bereits an dieser Stelle erwähnt werden. Denn die unspektakulären, auf realisierbare Verbesserungen gerichteten Äußerungen und Taten der „Arbeiterverbrüderung" und die sich auf den unerbittlichen Gang der Geschichte berufende Kampfansage des „Kommunistischen Manifests" gehören beide von Anfang an zur Geschichte der Sozialdemokratie. Und es zeigte sich, wie Dieter Dowe schreibt, „bereits in dieser frühen Phase der deutschen Arbeiterbewegung jener Dualismus von sozialer Revolution und sozialer Reform .. ., der in den späteren Auseinandersetzungen eine so wichtige Rolle gespielt hat"

Die Haltung von Marx und Engels zu den Menschenrechten generell kann hier übergangen werden, zumal diese Frage von Willy Strzelewicz bereits vorzüglich behandelt wurde Erwähnt sei jedoch, daß sich Marx in den Dokumenten, die dem Bewußtseinsstand und der Gefühlslage eines internationalen Kreises von Sozialisten und Demokraten in einem weit höheren Maße entsprechen mußten als das „Kommunistische Manifest" (das das Programm eines kleinen Geheimbundes war), nämlich in der Inauguraladresse und in den Statuten der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) von 1864, jeder Herabsetzung von „Ideen", „Prinzipien" und „Weltverbesserern'enthält. Die von ihm entworfenen Statuten erklären in ihrer vom Kongreß der IAA 1866 angenommenen Fassung, es sei „Pflicht des Mannes, die Rechte eines Mannes und Bürgers nicht bloß für sich selbst, sondern für jedermann, der seine Pflicht tut, zu fordern". Es ist auch kein Zufall, daß in der deutschen Arbeiterbewegung diese Statuten früher bekannt und als programmatische Aussage akzeptiert wurden als das „Kommunistische Manifest". Auf dem Nürnberger Arbeitervereinstag (1868) gelang es dessen Vorsitzendem, August Bebel, eine Mehrheit für ein Programm zu gewinnen, das die Leitgedanken der Gründungsdokumente der Internationalen Arbeiterassoziation übernahm und den Anschluß an diese erklärte: Die Emanzipation der arbeitenden Klassen müsse durch diese selber erkämpft werden; das Ziel dieses Kampfes sei die Abschaffung aller Klassenherrschaft; die „ökonomische Abhängigkeit des Mannes der Arbeit von den Monopolisten" bilde die „Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, des sozialen Elends, der geistigen Herabwürdigung und der politischen Abhängigkeit"; die politische Freiheit sei die unentbehrliche Vorbedingung für die ökonomische Befreiung der arbeitenden Klassen und die Lösung der sozialen Frage daher nur im demokratischen Staat möglich. Das Programm schließt mit einem Bekenntnis zur internationalen Solidarität der Arbeiter und der Erklärung zum Anschluß an die Internationale Arbeiterassoziation.

Ferdinand Lassalle und August Bebel Die Politisierung der Arbeitervereine, die Bebel, Wilhelm Liebknecht und deren engere politische Freunde in Nürnberg erreichten, war eine der Vorbedingungen für die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Eisenach im August 1869, deren führende Männer Bebel und Liebknecht waren. Um diese Zeit bestand jedoch bereits eine politische Arbeiterbewegung in Deutschland. Sie nach den auf die Revolution von 1848 folgenden Jahren der Reaktion wieder ins Leben gerufen zu haben, war, um Karl Marx zu zitieren, das „unsterbliche Verdienst" von Ferdinand Lassalle. Lassalles Reden und Schriften leisteten in den frühen sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts die wirkungsvollste Werbung für die sozialistische Idee in Deutschland. Seine Rede „Uber den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes", die er am 12. April 1862 vor Arbeitern der Großen Maschinenfabriken im Norden Berlins gehalten hat und die unter dem Titel „Arbeiterprogramm“ in die Literatur einging, veranlaßte ein in Leipzig gebildetes „Central-Comite zur Einberufung eines allgemeinen deutschen Arbeitertages", Lassalle um konkrete programmatische Vorschläge zu bitten. Die Konstituierung des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins" (ADAV) am 23. Mai 1863 unter der Präsidentschaft Lassalles war die unmittelbare Folge des Anstoßes, der vom „Arbeiterprogramm" ausgegangen war. Die Resonanz, die es fand, ist in erster Linie auf seinen Appell zurückzuführen, daß der „Arbeiterstand", der „vierte Stand", zu der historischen Aufgabe bestimmt sei, zum herrschenden Stand im Staate zu werden, um den Staat seinem wahren Zweck entsprechend zu gestalten: für „die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechtes zur Freiheit". Ein Staat unter der „Herrschaft der Idee des Arbeiterstandes" würde „einen Aufschwung des Geistes, die Entwicklung einer Summe von Glück, Bildung, Wohlsein und Freiheit herbeiführen, wie sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte".

Den Arbeitern selber rief Lassalle zu, sie hätten „die Pflicht einer ganz neuen Haltung", denn: „Nichts ist mehr geeignet, einem Stande ein würdevolles und tiefsittliches Gepräge aufzudrücken, als das Bewußtsein, daß er zum herrschenden Stande bestimmt ... ist.“ Bereits im „Arbeiterprogamm" erklärte Lassalle zur wichtigsten Aufgabe der Arbeiter die Erkämpfung des allgemeinen, direkten Wahlrechts. In seiner zweiten berühmten Programmschrift, dem „Offenen Antwortschreiben", werden ferner Produktionsassoziationen mit Staatskredit gefordert, um die Arbeiter aus der Lohnabhängigkeit zu lösen, sie selber zu Unternehmern zu machen und ihnen so ihren vollen „Arbeitsertrag" zu sichern.

Was Lassalle den Arbeitern bedeutete und was er ihnen verhieß, hat nach dessen Tode der Gründer der Zigarrenarbeitergewerkschaft, F. W. Fritzsche, in einem langen Gedicht zum 2. Stiftungsfest des ADAV in Leipzig (1865) zum Ausdruck gebracht, dem nur folgende Zeilen entnommen seien: „Demosthenes in seinen Reden, In krit'scher Schärfe Lessing gleich, Ein Jonathan für einen jeden, Der sich bekennt zu seinem Reich.

Zum Reich der wahren Bruderliebe, Der Wahrheit und Gerechtigkeit!

Und daß nicht Ideal nur bliebe Dies Reich der Allgerechtigkeit, Hat er voll Ernst den Bund gegründet, Dess'Stiftungsfest wir heut’ begehen." Das Gothaer Programm Trotz der hauptsächlich durch tagespolitische Stellungnahmen und persönliche Aversionen bedingten Streitigkeiten zwischen den Anhängern des ADAV und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bestand zwischen ihnen Übereinstimmung in grundsätzlichen Forderungen: demokratische Rechte für alle Staatsbürger und Abschaffung des „Lohnsystems"

durch genossenschaftliche Organisation der Arbeit.

Das Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit sahen die Lassalleaner nicht anders als es August Bebel in seiner Schrift „Unsere Ziele" erläuterte:

„Die bürgerliche Demokratie geht von der Ansicht aus, daß die politische Freiheit eigentlich alles sei, was der Mensch verlangen könne, höchstens habe der Staat für eine ausreichende Bildung aller Staatsbürger zu sorgen und die Steuern so einzurichten, daß keiner ungerecht betroffen werde. Das sind drei Dinge, die wir akzeptieren, die aber nicht ausreichen. Der Staat soll allerdings — so meinen auch die Sozialdemokraten — die Freiheit garantieren, aber auch darauf sehen, daß die Freiheit des einen der Freiheit des anderen keinen Schaden bringe. Die politische Freiheit aber kann keine gleiche sein, wenn ökonomische Ungleichheit existiert. ... an einem Staat, in dem die politische Freiheit bloß der Zweck ist, hat der Arbeiter wenig Interesse. .. . Was nützt ihm die bloße politische Freiheit, wenn er dabei hungert.. ., um schließlich elend zugrunde zu gehen? .. . als Zweck betrachtet die Sozialdemokratie die Herstellung der ökonomischen Gleichheit, also die Errichtung eines auf voller Freiheit und Gleichheit basierenden Staats-und Gesellschaftswesens. “

Dem Zusammenschluß von Lassalleanern und Eisenachern, der 1875 in Gotha erfolgte, standen keine ideologischen Differenzen im Wege. Es war der Sprecher des ADAV, der die „rückhaltlose Anerkennung des Klassenkampfes" durch beide Parteien als Bedingung ihrer Verschmelzung anmeldete. Das von Wilhelm Liebknecht verfaßte Programm von Gotha erfüllte diese Forderung durch den in seinen ersten Teil aufgenommenen Satz: „Die Befreiung der Arbeit muß das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle anderen Ma. ssen nur eine reaktionäre Masse sind." Die zunächst erfolglos gebliebene ätzende Kritik von Marx am Programmentwurf, der sich Engels anschloß, ist bekannt. Das Gothaer Programm sei, wie Engels höhnisch schrieb, ein Gemisch aus „Lassalleschen Phrasen und Stichwörtern" [z. B. „Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes" ], „einer Reihe vulgär-demokratischer Forderungen ...der Volkspartei" [der Bebel und W. Liebknecht bis zur Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei angehörten] und „einer Anzahl kommunistisch sein sollender Sätze" [womit wohl vor allem die Forderung nach „Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft" gemeint war].

Die Tatsache, daß nach der Publizierung des Entwurfs weder von den Mitgliedern noch von den Delegierten in Gotha grundsätzliche Einwände gegen ihn erhoben wurden (allerdings hatten einige führende Sozialdemokraten, so Bebel und Wilhelm Bracke, erhebliche Bedenken), beweist, daß Liebknechts Konzeption den damals in der deutschen Sozialdemokratie vorherrschenden Auffassungen durchaus entsprach: Sie basierten nicht auf einem theoretischen Lehrgebäude, sondern waren, wie Bernstein später schrieb, durch Eklektizismus gekennzeichnet. Zu den auch von bürgerlichen Demokraten geteilten Forderungen nach politischen Freiheitsrechten kam als charakteristisch sozialdemokratisches Element die Forderung nach Gerechtigkeit in ökonomischer Hinsicht hinzu. Der Frage des Eigentums wurde eine zentrale Position zuerkannt, die auch konstitutiv war für den Klassenbegriff und der aus ihm abgeleiteten Unvermeidlichkeit des Klassenkampfes. Diesen Klassenkampf zur Durchsetzung von Gerechtigkeit und Freiheit führen zu können, setzte die Solidarität der Unterprivilegierten voraus, das heißt ihren Zusammenschluß in einer zielbewußten, effektiven Organisation. Die „Grundwerte" der Französischen Revolution erfuhren also durch die sozialdemokratische Arbeiterbewegung eine inhaltliche Erweiterung und Vertiefung, die durch die Lage und Bedürfnisse des „Vierten Standes“ bedingt waren.

Das Erfurter Programm Die Annahme des Erfurter Programms von 1891, bei dessen Abfassung — nach Engels Worten — die Marxsche Kritik des Gothaer Programmentwurfs „komplett durchgeschlagen hat“, markiert den Übergang der deutschen Sozialdemokratie von einer in ihren theoretischen Grundlagen eklektizistischen zu einer marxistischen Partei. Zum erstenmal wird in einem Programm dieser Partei eine klare Trennung zwischen einem „grundsätzli chen“ und einem „praktischen" Teil vorgenommen. Der grundsätzliche Teil besteht im wesentlichen aus einer Gesellschaftsanalyse und Geschichtsprognose, die das 24. Kapitel (7. Abschnitt) des Marxschen „Kapital" paraphrasiert. Das Fazit sowohl von Analyse als auch Prognose wird in dem Satz gezogen, der für Bewußtseinsbildung und Zielvorstellung der Sozialdemokraten von größter Bedeutung wurde:

Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln — Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel — in gesellschaftliches Eigentum, und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion, kann es bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger, harmonischer Vervollkommnung werde.“

Wenn auch in allen sozialdemokratischen Programmen die Frage des Eigentums einen zentralen Platz einnahm, so wurde doch bis Erfurt in keinem die Vergesellschaftung der Produktionsmittel mit der gleichen Radikalität und Ausschließlichkeit gefordert wie hier. Und erst seit der Geltung des Erfurter Programms läßt sich eine Identifizierung von . Sozialismus" mit „Sozialisierung“ feststellen. Wenn es im „grundsätzlichen" Teil des Erfurter Programms heißt, es sei Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei, dem „Kampf der Arbeiterklasse . . .sein naturnotwendiges Ziel zu weisen", so ist damit zweifellos die Vergesellschaftung der Produktionsmittel gemeint. (Vermerkt sei, daß die Sozialisierung der Produktionsmittel die Zielvorstellung auch nicht-marxistischer Parteien bildete. So hat z. B. die britische Labour Party an ihr länger und zäher festgehalten als die SPD.) Allerdings schließt dieser Teil des Programms mit einer weiteren Aussage über den Kampf der Partei: . Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands kämpft also nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller, ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Von diesen Anschauungen ausgehend bekämpft sie in der heutigen Gesellschaft nicht nur die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse."

Der zweite, der „praktische" Teil des Erfurter Programms nimmt im wesentlichen den bereits im Gothaer Programm aufgestellten Katalog von Forderungen wieder auf, den er in einigen Punkten präzisiert und erweitert. Er sieht gesetzgeberische Maßnahmen und die Errichtung von Institutionen zur Demokratisierung von Staat und Gesellschaft und zur Berücksichtigung spezifischer Interessen der Arbeiter vor. Während die Erreichung des im ersten Teil des Programms aufgezeigten „naturnotwendigen Ziels" eine radikale Änderung der Struktur der bestehenden Gesellschaft voraussetzte, richteten sich die Forderungen des zweiten Teils an die Legislative und Exekutive des bestehenden Staates. Der erste Teil prognostizierte also unter Berufung auf die geschichtliche Entwicklung, die zu einer zunehmenden Zuspitzung der Klassengegensätze und mit ihr parallel laufenden Verschärfung des Klassenkampfes führe, die Unvermeidlichkeit einer sozialen Revolution. Der zweite Teil hingegen verlangte Reformen in Richtung auf mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit. Der Revisionismusstreit Die innerparteilichen Auseinandersetzungen um das theoretische Selbstverständnis der Partei, die im sogenannten „Revisionismusstreit" ihren Höhepunkt fanden, lassen sich — wenn eine Schematisierung erlaubt ist — auf die Gegensätzlichkeit in der Konzeption der beiden Teile des Erfurter Programms zurückführen. Eduard Bernstein, dem es um die Übereinstimmung von Theorie und Praxis ging, forderte die Sozialdemokratie auf, die Propagierung eines nur durch eine Revolution realisierbaren „Endziels" aufzugeben und sich als das zu bekennen, was sie aufgrund ihrer tatsächlichen Politik in Wirklichkeit war: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei. Nachdem Bernstein aufgrund empirischer Erkenntnisse die Richtigkeit der Analyse und Prognose des „grundsätzlichen" Teils des Erfurter Programms bestritten hatte, fragte er: „Aber wozu die Ableitung des Sozialismus aus dem ökonomischen Zwange? Wozu die Degradierung der Einsicht, des Rechtsbewußtseins, des Willens der Menschen?" Mit einer ethischen Begründung des Sozialismus schien aber den Antirevisionisten gerade das preisgegeben, was ihrer Meinung nach den großen Fortschritt des Erfurter Programms gegenüber seinen Vorgängern ausmachte: die „Wissenschaftlichkeit". In scharfer Polemik wies Rosa Luxemburg Bernstein zurück: „Da sind wir glücklich bei dem Prinzip der Gerechtigkeit angelangt .. . bei der klapprigen Rosinante, auf der alle Don Quichottes der Geschichte zur großen Weltreform hinausritten, um schließlich nichts anderes heimzubringen als ein blaues Auge." (Es wäre übrigens leicht nachzuweisen, wie stark Rosa Luxemburg selber vom Prinzip der Gerechtigkeit geleitet war.)

Die Verurteilung des Revisionismus durch eine überwältigende Mehrheit der Delegierten des Parteitages von Dresden (1903) darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die deutsche Sozialdemokratie vor und nach Dresden eine „demokratisch-sozialistische Reformpartei" war und blieb. In ihrer politischen Praxis war sie — unbeschadet ihres Bekenntnisses zum „wissenschaftlichen Sozialismus" — von Erwägungen geleitet, deren Orientierung an Vorstellungen von Gerechtigkeit und Freiheit unverkennbar ist. Das sei an drei Beispielen gezeigt.

Bedeutung der Grundwerte In Bebels und Liebknechts Ablehnung, im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 für die Kriegsanleihe zu stimmen, und im Protest aller Sozialdemokraten (Lassalleaner wie Eisenacher) gegen eine Fortführung dieses Krieges nach dem Sieg von Sedan sowie in ihrer einmütigen Opposition gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen manifestierte sich eine Haltung, die Wilhelm Liebknecht in einer Reichstagsrede (19. Februar 1878) eindrucksvoll formulierte. Er forderte, daß „sich die Reiche der Welt auf die Gerechtigkeit gründen", „ein neues Völkerrecht, ... ein wahres Völker-und Menschenrecht" geschaffen werde und die „sittlichen Grundsätze des Privatlebens" auch für das öffentliche Leben, insbesondere für die Außenpolitik, gelten sollen.

Der Kampf um demokratische Freiheitsrechte und um soziale Gerechtigkeit für die Unterprivilegierten war eine Selbstverständlichkeit für eine Partei, die sich ausgesprochenermaßen als Repräsentantin der Arbeiterschaft verstand. Bemerkenswert aber ist, daß sich die Sozialdemokraten gegenüber Maßnahmen zur Verbesserung des Loses der Arbeiter ablehnend verhielten, wenn ihnen diese mit der Freiheit und Würde des arbeitenden Menschen nicht vereinbar erschienen. Zu der während des Sozialistengesetzes von Bismarck initiierten Sozialgesetzgebung erklärte der Sozialdemokrat Karl Grillenberger: „Wir wollen die sozialen Beglückungspläne nicht von reaktionären Händen, sondern vom demokratischen Volksstaat haben." Weil die Arbeiter durch diese Gesetzgebung als Objekte behandelt wurden und sie deren Institutionen nicht in Selbstverwaltung übernehmen konnten, versagten die Sozialdemokraten ihr zunächst die Zustimmung. (Freilich spielte dabei ihre Feindschaft gegen Bismarck, ihren Verfolger, eine ausschlaggebende Rolle.)

In den Auseinandersetzungen um die „Ler Heinze" (eine Art „Schund-und Schmutz'-Gesetz) setzten sich die Sozialdemokraten an die Spitze derer, die für die Freiheit der Kunst eintraten. Der Argumentation des Zentrums, man dürfe Kunstwerke, die gegen das „gesunde Volksempfinden" verstoßen, nicht in der Öffentlichkeit zeigen, widersprach Georg von Vollmar, der Führer der bayerischen Sozialdemokratie, mit aller Entschiedenheit. Erst durch Hebung der sozialen Verhältnisse und der Allgemeinbildung könne „das Volk'in die Lage versetzt werden, einen Geschmack zu entwickeln, der es zur Beurteilung von Kunstwerken befähige

Ein zentrales Anliegen sozialdemokratischer Politik im Jahrzehnt vor Kriegsausbruch war die Demokratisierung des Wahlrechts in den Ländern des Deutschen Reichs. Das Scheitern aller Bemühungen, das Dreiklassenwahlrecht in Preußen abzuschaffen und der Arbeiterschaft im größten und wichtigsten Bundesland eine entsprechende parlamentarische Vertretung zu sichern, zeigt deutlich die Grenzen des von Sozialdemokraten im Wilhelminischen Reich „Machbaren".

Obwohl die Sozialdemokraten 1912 die stärkste Fraktion im Reichstag wurden, blieben sie weiterhin von allen Ämtern in Verwaltung und Regierung ausgeschlossen. Ihr faktischer Einfluß auf die Gestaltung der deutschen Politik war minimal, in der Außenpolitik gleich null. Die Intransigenz der Regierung und der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber ihren politischen und sozialen Forderungen lieferte immer wieder Argumente zur Stützung der Theorie, zu der sich die Sozialdemokratie seit Erfurt bekannte. Für die breite Mitgliedschaft war die Aussicht auf ein im Gang der Geschichte vorgezeichnetes „Endziel" die Verheißung, mit der sie sich in ihrer täglichen Misere trösten konnte. Der als Realität erlebte Klassenkampf „von oben" bestärkte ihre Überzeugung von der Notwendigkeit des Zusammenstehens der Ausgebeuteten und Unterdrückten. „Die Kämpfe mit dem Kapital, die die klassenbewußte Arbeiterschaft im letzten halben Jahrhundert durchgefochten hat, bilden ein einziges großes Heldenepos der Solidarität", schrieb ein sozialdemokratischer Redakteur im Rückblick auf die Aufstiegszeit der Sozialdemokratie

Für Führung und Mitgliedschaft der Sozialdemokratie gewann die Idee der Solidarität — die in dem eben zitierten Artikel als „nicht nur eine Sache des Verstandes, sondern innerster Kern des proletarischen Ehrgefühls“ bezeichnet wird — eine besondere Ausprägung. Die Partei mit all ihren Einrichtungen zur Befriedigung ökonomischer, politischer und kultureller Interessen der Mitglieder — ihre Presse, Büchereien, Konsumgenossenschaften, Schrebergärtner-, Gesangs-, Turnund Sportvereine, Schachklubs, Freidenker-und Feuerbestattungsverbände — wurde ihren Mitgliedern, wie Otto Bauer es einmal ausdrückte, „Vaterhaus und Heimat“. Die Enttäuschungen, die Sozialdemokraten in ihrem Bemühen erlebten, Staat und Gesellschaft im Sinne von Freiheit und Gerechtigkeit zu reformieren, verstärkten ihren Eifer, in solidarischer Selbsthilfe dieses Vaterhaus auszubauen und immer wohnlicher zu gestalten. Da dieses Haus in feindlicher Umgebung stand, mußte es durch den unerschütterlichen Zusammenhang seiner Bewohner gesichert werden. Die strikte Parteidisziplin der deutschen Sozialdemokratie, auf deren Schattenseiten und mitunter verhängnisvolle Folgen hier nicht eingegangen werden kann, war eine spezifische Ausformung des Solidaritätsbegriffs. Sie hängt aufs engste mit den äußeren Bedingungen zusammen, unter denen sich diese Partei konstituiert und entwickelt hat.

Wandel im Ersten Weltkrieg Der Erste Weltkrieg bildet einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Nachdem sie noch in den letzten Julitagen gegen den drohenden Kriegsausbruch protestierte und demonstrierte, bewilligte ihre Reichstagsfraktion am 4. August 1914 einstimmig die Kriegskredite und verpflichtete sich zur Einhaltung eines innenpolitischen Burgfriedens. Man mag, wie die Verfasserin, die Entscheidung vom 4. August und die Politik der Parteimehrheit im Kriege für falsch halten, und dennoch die Frage, ob sie damit bewußt Verrat an den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität geübt hat, nicht uneingeschränkt bejahen. Die Gründe für die Bereitschaft der deutschen Sozialdemokraten, sich für den Sieg der deutschen Waffen einzusetzen, sind vielfältig.

Sieht man davon ab, daß die Mitgliedschaft noch mehr als die Führung der Partei vom Taumel der allgemeinen Kriegsbegeisterung miterfaßt wurde, so ergeben sich auch rationale Erwägungen für die „Politik des Vierten August", die mit der Parteitradition nicht in Widerspruch stehen. Schon Marx und Engels hielten den russischen Zarismus für den Weltfeind Nummer 1 der Freiheit; die deutschen Sozialdemokraten waren der Überzeugung, daß ihr Land gegen diesen Feind einen Verteidigungskrieg führe. Die Barrieren, die sie in ihrem innenpolitischen Kampf um Demokratisierung und soziale Gerechtigkeit nicht zu überwinden vermocht hatten, hofften sie durch den Beweis ihrer patriotischen Zuverlässigkeit beseitigen und eine „Neuordnung" des Reiches im Sinne ihrer Vorstellungen erreichen zu können. Und als Vertreter der Interessen der deutschen Arbeiter fühlten sie sich verpflichtet, ihr Land vor einer Niederlage zu bewahren, denn sie befürchteten — und wie es sich zeigen sollte, mit Recht—, daß die Lasten eines verlorenen Krieges in erster Linie auf die unteren Schichten abgewälzt werden würden.

Hatte sich die Sozialdemokratie bis zum 4. August 1914 als prinzipielle Oppositionspartei verstanden, so reihte sie sich von da an — wenn auch mit gewissen Vorbehalten — in die nationale Front ein. Eine Minderheit in der Partei lehnte diese Politik als einen durch keine objektiven Gründe gerechtfertigten Bruch der Tradition ab. Insbesondere stand dieser Minderheit auch im Kriege die internationale Solidarität der Arbeiter weit höher als eine bedingungslose Solidarität mit dem eigenen Lande, zumal sie die Kriegsziele der deutschen Regierung ebenso verurteilte wie deren Innenpolitik. So kam es im Laufe des Krieges zu einer Spaltung der Partei in Mehrheitssozialdemokraten unter Führung von Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann und in Unabhängige Sozialdemokraten (USPD) unter Führung von Hugo Haase. Die zunächst nur sehr kleine Gruppe um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht bildete den Kern der Ende 1918 gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands. Die bis dahin innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung trotz bestehender Meinungsverschiedenheiten und Richtungskämpfen geübte Solidarität, wenn es um den Kampf gegen den „Klassenfeind" (den kapitalistischen Unternehmer, die monarchischen Regierungen und ihre Vertreter, die bürgerlichen Parteien) ging, war endgültig zerbrochen.

Trotz des vollzogenen Wandels von einer Oppositionspartei zu einer Partei des Burgfrie23 dens sah die Mehrheitssozialdemokratie im Krieg keinen Grund, an ihrem Bekenntnis zum Marxismus zu rütteln. Im Oktober 1917 beschloß sie auf einem Parteitag, durch ein Aktionsprogramm das Erfurter Grundsatzprogramm zu ergänzen, nicht etwa es außer Kraft zu setzen.

Die Problematik des „Endziels“

Fragt man sich, welche Elemente des Marxismus nach 1914 Allgemeingut der Partei blieben, so schälen sich im wesentlichen zwei Gedankenkomplexe heraus: die Erkenntnis der Existenz eines Klassenkampfes in der kapitalistischen Gesellschaft und die Identifizierung des Sozialismusbegriffs mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Selbst die eifrigsten Befürworter der Burgfriedenspolitik während des Krieges lehnten entrüstet „die Zumutung" ab, dem Klassenkampf „abzuschwören", ebensogut könne man verlangen, Naturerscheinungen „abzuschwören", denn wie diese sei auch der Klassenkampf keine Theorie, sondern eine Tatsache, argumentierten sie. Ändern könne und solle man nur seine Formen. Ebenso unbestritten wurde von allen Richtungen der sozialdemokratischen — und später auch der kommunistischen — Arbeiterbewegung unter dem „Endziel" des Sozialismus die Vergesellschaftung der Produktionsmittel verstanden. Und selbst Philipp Scheidemann, ein ausgesprochener Pragmatiker, der sich um die marxistische Theorie niemals groß Gedanken machte, äußerte noch 1917 die Überzeugung, daß die geischichtliche Entwicklung unvermeidlich diesem Ziel zustrebe.

Für die Gleichsetzung von Sozialismus und Sozialisierung lieferte Karl Kautsky, der Verfasser des ersten Teils des Erfurter Programms und marxistischer Lehrmeister der deutschen und der internationalen Sozialdemokratie, das erstaunlichste Zeugnis. In seiner 1918 erschienenen Schrift „Demokratie oder Diktatur" heißt es: „Man unterscheidet mitunter zwischen der Demokratie und dem Sozialismus, also der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der Produktion in der Weise, daß man sagt, diese sei unser Endziel, der Zweck unserer Bewegung, die Demokratie bloßes Mittel zu diesem Zweck, das unter Umständen untauglich, ja sogar hinderlich sein könne. Genau genommen ist jedoch nicht der Sozialismus unser Endziel, sondern dieses besteht in der Aufhebung jeder Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Gescnlecht, eine Rasse. [Erfurter Programm] ...

Die sozialistische Produktionsweise setzen wir uns in diesem Kampfe deshalb als Ziel weil sie bei den heute gegebenen techni.sehen und ökonomischen Bedingungen als das einzige Mittel erscheint, das Proletariat zu befreien. Würde uns nachgewiesen, daß wir darin irren, daß etwa die Befreiung des Proletariats und der Menschheit überhaupt auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln allein oder am zweckmäßigsten zu erreichen sei, .. . dann müßten wir den Sozialismus über Bord werfen, ohne unser Endziel im geringsten aufzugeben, ja wir müßten es tun, gerade im Interesse dieses Endzieles".

Vorrang der Grundrechte Weder Kautsky noch die meisten anderen Sozialdemokraten jener Zeit, ob sie politisch links oder rechts von ihm standen, glaubten damals aber, daß sie sich in ihrer Definition des „Endziels", nämlich der Identifikation von Sozialisierung mit dem Sozialismus, in dem die im oben zitierten Erfurter Programm genannten Übel des Kapitalismus aufgehoben sein werden, geirrt hatten. In die allergrößten Schwierigkeiten gerieten sie jedoch, als ihnen mit der Novemberrevolution von 1918 die politische Macht zugefallen war und die Masse ihrer Anhänger, die von ihnen jahrzehntelang beeinflußten ebenso wie die nach der Revolution neu zu ihnen gestoßenen, nun energische Schritte in Richtung auf dieses „Endziel" erwarteten. Da zeigte sich — neben verschiedenen Hemmungen gegen die Sozialisierung, auf die hier nicht eingegangen werden kann —, daß die Sozialdemokraten auf diese Situation nicht vorbereitet waren und kein praktikables, von einer breiten Mehrheit innerhalb der Partei getragenes Konzept besaßen, wie sozialisiert werden sollte. Dieser Mangel an Vorbereitung hängt bis zu einem gewissen Grade auch mit dem allzu mechanistischen Marxismus-Verständnis der SPD zusammen, mit dem Glauben, daß die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft automatisch zur Vergesellschaftung treibe und man sich darum über Einzelheiten keine Gedanken zu machen brauche. Die Folgen dieser Passivität in der Sozialisierungsfrage waren verhängnisvoll: Die alten wirtschaftlichen Machtstrukturen wurden nicht angetastet und große Teile der enttäuschten Massen wandten sich — allerdings nicht allein aus diesem Grunde — extremistischer Bewegungen und Parteien zu.

Zeigte sich in der Revolution vom November 1918, als SPD und USPD gemeinsam die Übergangsregierung bildeten (den „Rat der Volksbeauftragten“, aus dem die Unabhängigen Ende 1918 austraten), eine allgemeine Unsicherheit beider Parteien in der Sozialisierungsfrage, so präsentierte die Demokratisierung zunächst keine Schwierigkeiten. Am 12. November verkündete der „Rat der Volks-beauftragten" mit Gesetzeskraft die Aufhebung aller Beschränkungen der Meinungs-, Gewissens-und Koalitionsfreiheit, ferner das gleiche, geheime, direkte, allgemeine Wahlrecht für Frauen und Männer über 20 Jahren, das für alle öffentlichen Körperschaften, auch für eine Konstituierende Versammlung, gelten solle. Umstritten war zwischen SPD und USPD der Termin für die Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung: Die SPD wollte sie zu einem möglichst frühen Termin wählen lassen, um den „Rat der Volksbeauftragten", dem durch das ungeschriebene „Recht der Revolution" Exekutive und Legislative zugleich zugefallen waren, durch ein Parlament und eine Regierung mit demokratischer Legitimation abzulösen. Die USPD hingegen verlangte eine Aufschiebung der Wahlen, weil zunächst die Errungenschaften der Revolution konsolidiert werden sollten. Die führenden Männer und Frauen der USPD waren in der Revolutionszeit keineswegs grundsätzliche Gegner einer parlamentarischen Demokratie. Das Bekenntnis zur „Diktatur des Proletariats" in der Form des Rätesystems — eine Konzeption, die dem russischen Muster nachgebildet war und in Deutschland zunächst im wesentlichen von den Anhängern des Spartakusbundes (der späteren KPD) vertreten wurde — setzte sich in der USPD erst später durch und wurde niemals von allen Mitgliedern dieser heterogenen Partei geteilt. Im „Rat der Volks-beauftragten" einigten sich SPD und USPD darauf, daß der vom 16. bis 20. Dezember 1918 tagende „Allgemeine Kongreß der Arbeiter-und Soldatenräte" den Wahltermin bestimmen solle. Der Kongreß entschied sich für den 19. Januar 1919 — ein Zeichen, wie sehr die „Träger der Revolution" (als solche betrachteten sich die Arbeiter-und Soldatenräte) in ihrer Mehrheit auf eine demokratisch-parlamentarische Ordnung drängten.

Noch ehe die Nationalversammlung ihre Verfassungsberatungen aufnahm, hatte auf Initiative und unter Leitung des Staatsrechtlers Hugo Preuß ein kleiner Ausschuß einen Entwurf ausgearbeitet. Preuß war am 15. November vom „Rat der Volksbeauftragten" zum Staatssekretär des Reichsinnenministeriums berufen worden. Damit war auch für die Verfassungsarbeit eine Vorentscheidung getroffen, denn Preuß war zwar Demokrat und Gegner des Obrigkeitsstaates, jedoch konnte man von ihm keine „sozialistische Amtsführung" erwarten, wie Ebert erklärte. Was Ebert von einer Verfassung tatsächlich erwartete, betonte er in einer Beratung des Preuß’schen Entwurfs am 14. Januar 1919: „Vor allem vermisse ich in der Vorlage die scharfe, ins Auge fallende Betonung gewisser demokratischer Gesichtspunkte: persönliche Freiheit, Freiheit der Wissenschaft in ihrer Lehre, Gewerbefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit usw.." Nach Preuß'Entgegnung, er habe die Grundrechte in die Verfassung nicht aufgenommen, „weil man darüber allein drei Monate reden kann" (wobei er an die Erfahrung der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 dachte), insistierte Ebert, unterstützt von anderen Sozialdemokraten: „Wie steht es mit den Grundrechten?" Darauf erklärte der engste Mitarbeiter von Preuß bei den Verfassungsarbeiten, R. A. Schulze: „Ich werde sie aus der 48er Verfassung abschreiben, soweit sie heute noch paßt." Diese Episode ist bezeichnend. Für den führenden Mann der SPD besaßen mitten in den Wirren einer revolutionären Situation die Kodifizierung und Verwirklichung der 1848 vergeblich erstrebten Freiheitsrechte absoluten Vorrang. So wurden sie in die Weimarer Verfassung aufgenommen. Daß diese „freieste Verfassung der Welt", wie die Sozialdemokraten immer wieder stolz betonten, aber keine Sicherungen gegen die Feinde der Freiheit vorsah, gehört zur Tragödie der Weimarer Republik.

Die Wahlen zur Nationalversammlung brachten den sozialdemokratischen Parteien keine Mehrheit. Die USPD lehnte eine Regierungsbeteiligung ab, die SPD als stärkste Partei stellte den Regierungschef und bildete mit dem Zentrum und den Demokraten das Kabinett. Die ersten Jahre der Republik sind gekennzeichnet durch Hunger und Massen-elend, Streiks und Unruhen, vor allem durch die erbitterten Kämpfe von Regierung und SPD auf der einen und USPD und Kommunisten auf der anderen Seite. Die Regierung, besonders der sozialdemokratische Reichswehrminister Gustav Noske, ging mit aller Härte gegen rebellierende Arbeiter vor, um verfassungsmäßige Zustände und die für das ausgeblutete Land so bitter nötige Produktion zu sichern. Die Unruhen hatten aber tiefere Ursachen, die durch Repressionsmaßnahmen eher verschärft als behoben wurden. Daß durch die Einführung einer parlamentarischen Demokratie, ohne gleichzeitige Demokratisierung von Verwaltung und Justiz, und durch eine ver25 besserte Sozialgesetzgebung, ohne strukturelle Änderungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems, die tiefe Enttäuschung der Massen über die Revolution und die Republik nicht aufgefangen werden konnte, haben sich die Verantwortlichen damals offenbar nicht klargemacht.

Es ist hier nicht der Ort, ein Urteil darüber zu fällen, ob die SPD bei größerer Zielklarheit, insbesondere in der Wirtschaftspolitik, und bei mehr Entschlußkraft gegenüber den reaktionären Kräften in Staat und Gesellschaft ihren eigenen Einfluß auf die Gestaltung der Weimarer Republik hätte erhöhen können. Trotz aller Rückschläge und zeitweiliger Ohnmacht fühlte sie sich wie keine andere Partei für das Schicksal dieser Republik bis zuletzt verantwortlich.

Sozialdemokratische Programmatik in der Weimarer Zeit Ihre Identifizierung mit dem neuen Staat prägte sich in dem neuen Programm aus, das sich die SPD 1921 auf ihrem Parteitag in Görlitz gab: „Die Sozialdemokratische Partei ist entschlossen, zum Schutz der errungenen Freiheit das Letzte einzusetzen. Sie betrachtet die demokratische Republik als die durch die geschichtliche Entwicklung unwiderruflich gegebene Staatsform, jeden Angriff auf sie als ein Attentat auf die Lebensrechte des Volkes."

Allerdings betont das Görlitzer Programm, daß auch in dieser Republik die Sozialdemokratie noch weit davon entfernt ist, ihre Ziele verwirklicht zu haben: „Die kapitalistische Wirtschaft hat die wirtschaftliche Ungleichheit gesteigert und einer kleinen, im Überfluß lebenden Minderheit weite Schichten entgegengestellt, die in Not und Elend verkümmern. Sie hat damit den Klassenkampf für die Befreiung des Proletariats zur geschichtlichen Notwendigkeit und zur sittlichen Forderung gemacht."

Die „Überführung der großen konzentrierten Wirtschaftsbetriebe in die Gemeinwirtschaft und darüber hinaus die fortschreitende Umformung der gesamten kapitalistischen Wirtschaft zur sozialistischen" wird — der Sache nach ähnlich wie im Erfurter Programm — auch im Görlitzer Programm gefordert. Die Sozialisierung wird hier jedoch mit keinerlei „Endziel" -Vorstellungen verknüpft, sondern als das „notwendige Mittel" bezeichnet, „um das schaffende Volk aus den Fesseln der Kapitalherrschaft zu befreien, die Produktionserträge zu steigern, die Menschheit zu höheren Formen wirtschaftlicher und sittlicher Gemeinschaft emporzuführen".

Im Gegensatz zum Programm von Erfurt werden auch alle Prognosen über einen „naturnotwendigen" Geschichtsprozeß unterlassen. Obwohl sich das Görlitzer Programm vom marxistischen Vokabular nicht freigemacht hat (z. B. in seiner Charakterisierung; des Klassenkampfes als „geschichtliche Notwendigkeit"), zieht es Kategorien der Ethik sowohl bei der Kennzeichnung der Mittel (Klassenkampf auch als „ethische Forderung" verstanden) als auch bei der Zielsetzung (Sozialisierung als Weg zur Erreichung von „höheren Formen wirtschaftlicher und sittlicher Gemeinschaft") heran. Bemerkenswert ist am Görlitzer Programm auch, daß sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands dort „zur Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und Land" erklärt — eine Distanzierung von ihrem früheren Selbstverständnis als Arbeiterpartei. Bezeichnenderweise wird auch der in der vor-marxistischen Phase der deutschen Arbeiterbewegung gängige Terminus „Volksstaat" als Zielvorstellung wieder aufgegriffen.

Das Görlitzer Programm war das kurzlebigste aller sozialdemokratischen Grundsatzprogramme. Schon ein Jahr nach seiner Verabschiedung beschloß der Parteitag von Nürnberg, auf dem die Einigung zwischen einet Minderheit der USPD (ihre Mehrheit hatte sich der KPD angeschlossen) mit der SPD vollzogen wurde, eine Kommission zur Erarbeitung eines neuen Programms einzusetzen, dem auch die früheren Unabhängigen zustimmen könnten. Zwei Jahre später klagte Adolf Braun, der Sekretär der Programm-kommission, in bewegten Worten über die Teilnahmslosigkeit der Partei an deren Tätigkeit. Und auch der sachlichen Schwierigkeiten war er sich bewußt: „ ... die eigentliche sozialistische Forderung, das Streben, aus der kapitalistischen Ordnung in eine sozialitische Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung zu gelangen", sei „im wesentlichen völlig gleich geblieben". Auch, so erklärte Braun, „unser Endziel ist im wesentlichen das gleiche geblieben. Trotzdem können wir nicht wie 1890 formulieren“. Tatsächlich ist aber der „grundsätzliche Teil" des Heidelberger Programms dem des Erfurter angeglichen worden, wenn auch erweitert um einige Erkenntnisse, deren Berücksichtigung auf den Einfluß des ehemals führenden USPD-Mitglieds Rudolf Hilferding zurückgeht. Symptomatisch für die geringe geistige Produktivität sozialistischer Theoretiker der Nachkriegszeit ist die Tatsache, daß Hilferdings Beitrag über die Bedeutung des Finanzkapi-tals auf seinem bereits 1910 veröffentlichten Buch beruht.

In der Weimarer Republik verkümmerte die theoretische Diskussion innerhalb der deutschen Sozialdemokratie. Geistige Auseinandersetzungen fanden meist am Rande der Partei statt, so in ihren Jugend-und Studentenorganisationen, in Akademikerzirkeln, bei den Religiösen Sozialisten oder aber in sozialistischen Gruppen, die weder der SPD noch der USPD angehörten. Bei diesen Auseinandersetzungen hat es nicht an Versuchen gefehlt, verschiedene Aspekte des Marxismus, vor allem den Historischen Materialismus, in Frage zu stellen, und das Gedankengut der Sozialdemokratie durch alte und neue Erkenntnisse der Philosophie, der Religionswissenschaft, der Psychologie zu bereichern. Im allgemeinen war die Führung der SPD solchen Versuchen gegenüber tolerant oder an ihnen uninteressiert. Allerdings wurde eine grundsätzliche Kritik des Marxismus, wie sie der Göttinger Philosoph Leonard Nelson übte, der die Marxsche Gesellschaftsanalyse zwar akzeptierte, jedoch Begründung und Zielsetzung sozialistischen Wollens aus der Ethik Kants ableitete, von der SPD abgelehnt. Die SPD hat es nicht vermocht, den Staat von Weimar vor der Zerstörung durch den Nationalsozialismus zu retten. Sie war in seiner Endphase jedoch die einzige Partei, die vorbehaltlos seiner Verfassung gegenüber loyal blieb. Als einzige Fraktion des Reichstags (die Kommunisten waren zu der Sitzung nicht mehr zugelassen) verweigerte sie dem Ermächtigungsgesetz für Hitler die Zustimmung. Umgeben von SS-Männern mit umgeschnalltem Revolver, vor einer Geräuschkulisse drohender Sprechchöre der SA, gab der Fraktionsvorsitzende Otto Wels am 23. März 1933 die Begründung für die Ablehnung dieses Gesetzes ab. Der Schluß seiner Rede sei wörtlich zitiert:

. Die Verfassung von Weimar ist keine sozialistische Verfassung. Aber wir stehen zu den Grundsätzen des Rechtsstaats, der Gleichberechtigung, des sozialen Rechts, die in ihr festgelegt sind. Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu verDichten. Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen. Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft."

Wels'Vergleich der Hitlerdiktatur mit Bismarcks Sozialistengesetz beweist, daß er damals das Wesen einer totalitären Diktatur noch nicht voll erkannte. Daß aber trotz der ungleich grausameren Verfolgung Hunderttausende standhaft blieben und der Sozialdemokratie die Treue bewahrten, kann nicht anders erklärt werden als durch die Über-zeugung, der Wels Audruck gab: daß die Ideen von Gerechtigkeit, Freiheit und Humanität, zu denen sich diese Partei bekannte und bekennt, „ewig und unzerstörbar sind" und immer wieder zur Motivation solidarisch handelnder Menschen werden.

Neue Ansätze im Exil Nicht die Überzeugungen, zu denen sich Otto Wels in jener „historischen Stunde" noch einmal bekannte, stellten die Sozialdemokraten nach dem Sieg Hitlers in Frage, wohl aber die Politik ihrer Partei während der Novemberrevolution und in den Jahren der Weimarer Republik. Die Kritik an der Parteiführung richtete sich gegen ihre Unfähigkeit, die Feinde der Demokratie zu entmachten, die kapitalistische Wirtschaft umzugestalten, die Arbeiterbewegung zum Kampf gegen Reaktion und Faschismus zu einigen. Das Ende Januar 1934 veröffentlichte sogenannte „Prager Manifest" des sozialdemokratischen Exil-vorstandes dokumentiert seinen Willen, aus der Niederlage des demokratischen Sozialismus Lehren zu ziehen und angesichts der völlig veränderten Kampfbedingungen neue Wege einzuschlagen. Wenn es in diesem Manifest heißt, daß es „im Kampf gegen die nationalsozialistische Diktatur ... für Reformismus und Legalität keine Stätte" gibt, wird — jedenfalls was die Legalität angeht — nur eine allen Hitlergegnern gemeinsame Einsicht in die Voraussetzungen eines Widerstandes gegen eine totalitäre Diktatur gekennzeichnet. Ein neues Selbstverständnis der SPD zeigt sich jedoch bereits in der Über-schrift des Manifests: „Kampf und Ziel des revolutionären Sozialismus /Die Politik der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands". Die revolutionäre Perspektive kommt am klarsten zum Ausdruck in seiner Feststellung, daß „der Sturz der Despotie .. ., wenn nicht äußere Katastrophen ihn herbeiführen, nur in der gewaltsamen Niederringung, nur durch den Sieg im revolutionären Kampfe“ erfolgen könne. Einer „siegreichen revolutionären Regierung" obliege „die sofortige Durchführung einschneidender politischer und sozialer Maßnahmen zur dauernden völligen Entmachtung des besiegten Gegners". Unverkennbar war der nachfolgende Maßnahmenkatalog mit dem Willen konzipiert, eine Wiederholung der Fehler und Versäumnisse der Revolution von 1918 nicht zuzulassen: „Erst nach der Sicherung der revolutionären Macht" solle „der Aufbau des freien Staatswesens mit der Einberufung einer Volksvertretung" beginnen. Aber auch dieses Dokument, das so offensichtlich eine Gegenposition zur Praxis der SPD seit Ausbruch des Ersten Weltkrieges aufrichtet, rekurriert auf die alten Grundwerte der demokratisch-sozialistischen Arbeiterbewegung: „Die sozialistische Neuordnung der Wirtschaft ist mehr als eine materielle Angelegenheit. Sie ist selbst Mittel zum Endziel der Verwirklichung wahrer Freiheit und Gleichheit, der Menschenwürde und voller Entfaltung der Persönlichkeit."

Die politischen Erwartungen, auf denen das „Prager Manifest" beruhte, erwiesen sich bald als illusorisch: Der Widerstandskampf in Deutschland vermochte die sich immer mehr festigende NS-Herrschaft nicht zu erschüttern und eine Einheitsfront mit den Kommunisten kam weder in Deutschland noch im Exil zustande. So blieb dieses Dokument Episode. Die Exilsozialdemokratie nach 1935 war charakteristisiert durch „eine intensive Neubesinnung auf die liberaldemokratischen Freiheits-und Humanitätsideen des Westens, deren Realisierung und konsequente radikal-demokratisch-sozialistische Weiterentwicklung zur Aufgabe der künftigen freien Arbeiterbewegung erklärt wurden" In diese Richtung gingen auch die Diskussionen der während des Zweiten Weltkrieges in London gegründeten „Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien", einem losen Zusammenschluß der Sopade (wie sich die Exil-SPD nannte) mit drei Exilgruppen (Neu-Beginnen, ISK, SAP, die 1945 in die SPD eintraten). Bei den Überlegungen über die Schaffung einer geeinten demokratisch-sozialistischen Partei — unter Ausschluß der Kommunisten — nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur bestand in der „Union" Einigkeit darüber, daß diese Partei „ohne doktrinäre Enge“ jedem offenstehen müsse, „der sich mit ihren Zielen und ihrer Politik verbunden fühlt und bereit ist, für ihre Erfüllung zu wirken" In den von der „Union" Ende 1945 veröffentlichten „Programmatischen Richtlinien" wird der Sozialdemokratie empfohlen von der Einsicht auszugehen, daß das Bekenntnis zu ihr „aus den verschiedensten Motiven entspringen kann".

Der Weg zum Godesberger Programm Kurt Schumacher, bis zu seinem Tode (1952)

erster Vorsitzender der wiedergegründeten SPD, unterstrich die von seinen Parteigenossen im Exil anvisierte weltanschauliche Öffnung der Partei, als er 1946 erklärte, es sei nicht entscheidend, „ob die Notwendigkeiten von Sozialismus, Demokratie und Weltfrieden mit den Mitteln marxistischer Analyse, rationalistischer Philosophie, moralischer Kräfte oder aus dem Geiste der Bergpredigt heraus gefunden werden". Eine programmatische Festlegung der SPD auf eine neue Grundlage erfolgte zunächst nicht. Schumacher selber hielt die Zeit dafür noch nicht für gekommen, Fragen sozialistischer Theorie wurden jedoch auch in jener Anfangszeit vielerorts diskutiert.

Als ein bemerkenswerter Versuch, den geistigen Standort der Partei neu zu bestimmen, ist die „Ziegenhainer Erklärung" vom August 1947 anzusehen, die das Ergebnis einer von rund 80 Sozialdemokraten besuchten Kulturpolitischen Konferenz zusammenfaßte. Erich Ollenhauer, damals stellvertretender Vorsitzender der SPD, nahm an der Tagung teil, ebenso die Vorstandsmitglieder Willi Eichler, der über „Die Geschichte als Lehrmeisterin" sprach, und Carlo Schmid, der die „Erklärung" redigierte. Weitere Referenten waren Gerhard Weisser über „Soziologie und Politik", Arno Hennig (der Leiter der Sozialistischen Kulturzentrale und Initiator der Konferenz) über „Die naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse des letzten halbenJahrhunderts" und Guntram Prüfer zur Frage „Wie sehen wir heute den Menschen?'. Hauptthema der „Ziegenhainer Erklärung" ist das Problem der Gültigkeit des Marxismus angesichts der Erkenntnisse moderner Wissenschaft auf den in den Referaten behandelten Gebieten. Nachdem einleitend erklärt wurde, die Sozialdemokratie kämpfe „für die Verwirklichung der Gerechtigkeit auf allen Lebensgebieten und für die Gestaltung des Volkslebens im Geiste der Freiheit und Gemeinschaft", wird die Haltung zu Marx prä-zisiert: „Die Ergebnisse der marxistischen Methode sind ihr [der Sozialdemokratie] eine unverzichtbare Quelle politischer Einsicht, sie sind ihr jedoch nicht alleinige und absolute Grundlage aller Erkenntnis. Sie anerkennt die geistige Freiheit des Menschen und seine sittliche Verantwortlichkeit als gestaltende Faktoren auch des geschichtlichen Prozesses. Sie kämpft für ihre letzten politischen Ziele nicht allein in Verfolgung der Tendenzen der ökonomischen Entwicklung oder aus Gründen materieller Zweckmäßigkeit, sondern um der Würde des Menschen willen."

Die Lösung von dogmatischen Fixierungen und die Berufung auf ethische Grundsätze, die aus verschiedenen Quellen stammen können, blieb nicht auf die deutsche Sozialdemokratie beschränkt. Im Mai 1951 beschloß die Sozialistische Internationale eine Erklärung über „Ziele und Aufgaben des Demokratischen Sozialismus", an deren Beratungen Willi Eichler als Vertreter von Kurt Schumacher teilnahm. Im Punkt 11 ihrer Präambel wurde der oben zitierte Standpunkt von Schumacher dem Sinn nach ohne irgendwelche Modifikation übernommen. Weit differenzierter als die bis dahin geltenden Programme der deutschen Sozialdemokratie äußerte sich diese Prinzipienerklärung der Internationale zur Frage der Vergesellschaftung der Produktionsmittel. So wird ausdrücklich betont, daß sozialistische Planung mit der Existenz von Privateigentum in der Landwirtschaft, im Handwerk, im Kleinhandel und in der Klein-und Mittelindustrie vereinbar sei. Dieser Gedanke wird in dem in Dortmund 1952 beschlossenen und in Berlin 1954 erweiterten Aktionsprogramm der SPD besonders unterstrichen.

Das Godesberger Programm, das ein Außerordentlicher Mitte der SPD November 1959 verabschiedete, gilt allgemein als ein Durchbruch dieser ehemals marxistischen Arbeiterpartei zu einer weltanschaulich auf pluralistischer Grundlage aufgebauten Volkspartei, die in ihrer Wirtschaftspolitik die Sozialisierung als ein Mittel unter verschiedenen anderen in Erwägung zieht. Selbstverständlich erhält dieses Programm schon dadurch eine herausgehobene Position, daß die deutsche Sozialdemokratie sich in Godesberg das erste Mal seit 1925 ein „Grundsatzprogramm" gegeben hat. Zweifellos war dies ein Markstein in der Parteigeschichte, zumal das Programm aus einem alle Ebenen der Partei — in einer ausgedehnten, intensiven Diskussion — engagierenden Willensbildungsprozeß hervorging.

Jedoch darf in einem geschichtlichen Rückblick nicht übersehen werden, daß der Sache nach bereits mit den Aktionsprogrammen von Dortmund und Berlin, insbesondere mit der „Ziele und Aufgaben" überschriebenen Präambel, die auf dem Berliner Parteitag 1954 verabschiedet wurde, der Weg nach Godesberg beschritten war. Eine gewisse Vorarbeit für die Präambel des Berliner Aktionsprogramms wurde durch eine Studienkommission sozialdemokratischer Wissenschaftler geleistet, der u. a. Wolfgang Abendroth, Fritz Borinski, Georg Eckert, Otto Stammer, Otto Suhr und Gerhard Weisser angehörten. In einer von Willi Eichler geleiteten Tagung in Mehlem bei Bonn verabschiedete sie im April 1953 14 Thesen, auf deren Formulierung insbesondere Weisser Einfluß nahm. Die Präambel des Berliner Aktionsprogramms verbindet mit einer in großen Strichen skizzierten Gesellschaftsanalyse das nachdrückliche Bekenntnis „zu den großen Ideen der Demokratie und des Sozialismus — zur Befreiung der Menschen aus unwürdiger sozialer Abhängigkeit und geistiger Hörigkeit, zu einer Gesellschaft des Friedens und der Gerechtigkeit". Sie enthält bereits den ins Godesberger Programm übernommenen Hinweis, daß der Sozialismus in Europa in Christentum, Humanismus und klassischer Philosophie wurzele.

Als der Parteitag von Berlin (1954) dem Vorstand den Auftrag erteilte, den Entwurf eines Grundsatzprogramms ausarbeiten zu lassen, bestanden über Form und Inhalt solch eines Programms nur vage Vorstellungen. Eichler, dem die Federführung der Programmkommission übertragen wurde, hatte zweifellos zunächst die Absicht, der Empfehlung der Mehlemer These 4 zu folgen, bei der „Darstellung der geistigen Grundlagen des politischen Willens der freiheitlich-sozialistischen Bewegung .. . über die sittlich-kulturellen Maßstäbe Rechenschaft ab[zu]legen, aus denen sich die sozialistische Kritik der geschichtlich vorliegenden Situation und die Forderung zur Neugestaltung der der Gesellschaft ergeben". Diese Aufgabe sollte durch einen Ausschuß „Grundsatzfragen" erfüllt werden, dessen Leitung er selber übernahm. Die Beratungen dieses Ausschusses verliefen jedoch ergebnislos. Seine Mitglieder waren fast ausschließlich Akademiker: Soziologen, Politologen, Nationalökonomen, Sozialwissenschaftler, Philosophen. Es erwies sich in diesem Kreis als unmöglich, sich auf eine von allen akzeptierte Konzeption zu einigen, so daß der Plan, den „Grundsatzteil" des Programms unter unmittelbarer Beteiligung dieser Aus-29 Schußmitglieder zu formulieren, fallengelassen werden mußte.

Der Abschnitt „Grundwerte des demokratischen Sozialismus" im Entwurf der Programm-kommission, der im Mai 1958 dem Parteitag von Stuttgart vorgelegt wurde, stammt aus der Feder von Eichler. Dieser Abschnitt — wie der gesamte Entwurf der Programmkommission — wurde durch die nach dem Stuttgarter Parteitag vom Parteivorstand eingesetzte Kommission sowie durch eine auf dem Godesberger Parteitag (1959) gebildete Redaktion, die die dem Parteitag vorgelegten Änderungsanträge zu berücksichtigen hatte, gestrafft, ergänzt und in die Abschnitte „Grundwerte des Sozialismus" und „Grundforderungen für eine menschenwürdige Gesellschaft" aufgeteilt. Die Grundgedanken des ursprünglichen Entwurfs blieben dabei erhalten. Damit war akzeptiert, die in allen bisherigen programmatischen Erklärungen der Sozialdemokratie anerkannten Werte an die Spitze des neuen Programms zu stellen. Entscheidende Aussagen des ersten Entwurfs sind fast unverändert in die endgültige Fassung des Grundsatzprogramms eingegangen: „Freiheit und Gerechtigkeit bedingen einander". „Der demokratische Sozialismus .. . will keine letzten Wahrheiten verkünden [im 1. Entwurf: „macht keine Aussagen über letzte Wahrheiten" ] . . . aus Achtung vor den Glaubensentscheidungen der Menschen ..." und: „Der Sozialismus ist eine dauernde Aufgabe [im 1. Entwurf: „dauernd eine Aufgabe" ] — Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren [im 1. Entwurf: „wahren" ] und sich in ihnen zu bewähren." Die Legitimation des Sozialismus durch ethische Kategorien, die Anerkennung der Unterschiedlichkeit ihrer Begründung und die Absage an ein durch die Geschichte vermeintlich vorgegebenes „Endziel" war Gemeingut der SPD geworden.

In den Jahren, die seit der Verabschiedung des Godesberger Programms verstrichen sind blieb es in der SPD unbestritten, daß die in diesem Programm genannten „Grundwerte des sozialistischen Wollens" zu Recht als solche bezeichnet werden. Wohl aber wurde gefragt, ob die Beschränkung auf die Trias „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität" gerechtfertigt sei, und es wurde verschiedentlich gefordert, den Wertekatalog zu erweitern. Die SPD wird in den kommenden Jahren entscheiden müssen, ob und wie sie solch eine Forderung erfüllen kann. Sollte das Godesberger Programm revidiert oder durch ein neues ersetzt werden, darf dennoch ein Gedanke nicht verloren gehen, dem Kurt Schumacher auf dem ersten Parteitag der SPD nach ihrer Wiedergründung Ausdruck gab: „Der deutsche Sozialismus ist entstanden aus der deutschen klassischen Philosophie und aus dem Ideengehalt der großen westeuropäischen Revolutionen, vor allen Dingen aus den Ideen von 1789, wie sie damals in die Öffentlichkeit kamen und die Welt eroberten. Diese Idee der Menschenrechte ist nicht das Ideal der Bürger, es gibt darüber hinaus keine Idee besonderer Arbeiterrechte. In den menschlichen Rechten der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit, der Menschlichkeit, sind auch alle Klassenrechte und Klassenforderungen der Arbeiterschaft enthalten ..."

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Schieder, Wolfgang: Die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung, Stuttgart 1963.

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Strzelewicz, Willy: Der Kampf um die Menschenrechte, Frankfurt/M. 1968.

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Hinweis In der Ausgabe B 9/76 ist der Beitrag von Christian Graf von Krockow auf Seite 25 irrtümlich mit der ersten Kapitelüberschrift „Die Bedingungen der Reform" betitelt worden. Der richtige Titel lautet wie auf der ersten Umschlagseite angegeben: „Reform als politisches Prinzip".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe Vorbemerkung zu der in Mannheim verabschiedeten Fassung des OR '85.

  2. OR '85, S. 15.

  3. Vgl. das gleichnamige Buch von Wolfgang Schieder, Stuttgart 1963.

  4. Schieder, a. a. O., S. 309.

  5. Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, hrsg. u. eingel. von Dieter Dowe und Kurt Klotzbach, Berlin/Bonn-Bad Godesberg 1973, S. 10.

  6. Der Kampf um die Menschenrechte, Frankfurt a. M. 1968, S. 127— 137 u. S. 167— 176.

  7. 1869 erschienen; hier zitiert nach der 14. Aufl., Berlin 1913, S. 17 ff.

  8. Reichstagsdebatte vom 14. 12. 1882.

  9. Debatte im Reichstag am 15. 3. 1900 und im Bayerischen Landtag am 20. 4. 1900.

  10. Rheinische Zeitung v. 3. 7. 1919.

  11. Kurt Klotzbach, Einführung zu Dowe/Klotzbach, Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, S. 37.

  12. Erich Ollenhauer in einem Referat vor der „Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien" am 6. 12. 1942.

Weitere Inhalte

Susanne Miller, Dr. phil., geb. 1915, studierte in Wien und Bonn Geschichte, Politische Wissenschaft ul l Pädagogik; seit 1964 wissenschaftliche Referentin bei der Kommission lur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn-Bad Godesberg. Veröffentlichungen: Das Problem der Freiheit im Sozialismus, Frankfurt/M. 1964; Burgfrieden und Klassenkampf, Düsseldorf 1974; Die SPD vor und nach Godesberg, Bonn-Bad Godesberg 1974; Editionen und Dokumentationen; Beiträge in wissenschaftlichen und politischen Publikationen.